Heaven Official's Blessing - Light Novel, Band 01 - Mo Xiang Tong Xiu - E-Book

Heaven Official's Blessing - Light Novel, Band 01 E-Book

Mo Xiang Tong Xiu

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Beschreibung

Zweimal schon ist Xie Lian zum Gott aufgestiegen – und zweimal wurde er aufgrund seines Hochmuts wieder verbannt. Als es ihm nun zum dritten Mal gelingt, ist er das Gespött des Himmels. Er hat jedoch inzwischen Demut gelernt und da er in der Menschenwelt keinerlei Anhänger mehr hat, beschließt er, sich selbst seinen ersten Schrein zu errichten. Dabei begegnet er einem seltsamen jungen Mann, der sich als »San Lang« ausgibt und nicht nur viel über die Götter- und Geisterwelt zu wissen scheint, sondern auch über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt. Gemeinsam müssen sie gegen böse Geister kämpfen – doch wer ist dieser mysteriöse Mann in Rot …? Nach der Hitserie The Grandmaster of Demonic Cultivation die neue Light-Novel-Reihe von Mo Xiang Tong Xiu!

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Unter allen Göttern des Himmels befand sich eine »Witzfigur der drei Sphären«.

Der Legende nach gab es vor achthundert Jahren in der Zentralebene ein Königreich namens Xianle. Es war ein großes und reiches Land und die Menschen lebten glücklich und in Frieden. Xianle besaß vier Schätze: unzählige Schönheiten, vielfältige Musik und prächtige Literatur, Gold und Juwelen sowie den berühmten Kronprinzen.

Dieser Kronprinz – nun, wie soll man sagen – war ein sonderbarer Mann.

Für den König und die Königin war er der größte Schatz, sie liebten ihn über alles und pflegten voller Stolz zu sagen: »Eines Tages wird unser Sohn ein großer Herrscher sein, der mit seinem guten Ruf Geschichte schreiben wird.«

Der Kronprinz interessierte sich jedoch nicht im Geringsten für weltliche Dinge wie Macht, Reichtum oder Ruhm. Was ihn interessierte, wie er von sich selbst gern sagte, war: »Ich möchte die Menschen retten.«

In jungen Jahren widmete sich der Kronprinz mit Leib und Seele der Kultivierung und es gab zwei kleine Geschichten über ihn, die sich weit verbreiteten.

Die erste ereignete sich, als er siebzehn Jahre alt war. In jenem Jahr veranstaltete das Königreich Xianle eine feierliche Shangyuan*-Himmelsparade.

Obwohl diese Tradition schon seit Jahrhunderten nicht mehr besteht, lässt sich dank alter Schriften und mündlicher Übermittlung noch immer erahnen, was für ein grandioses Schauspiel es gewesen sein muss.

Am Tag des Shangyuan-Fests hatten sich auf der Kaiserallee zu beiden Seiten der Straße riesige Menschenmengen eingefunden, während sich der heiter plaudernde Adel das Ereignis von den oberen Stockwerken der umgebenden Gebäude aus ansah. Imposante Palastwachen in klirrenden Rüstungen machten den Weg frei und anmutige Tänzerinnen ließen mit ihren schneeweißen Händen Blütenblätter regnen – ein Anblick, der es unmöglich machte, zu entscheiden, ob die Mädchen oder die Blüten schöner waren. Aus einer goldenen Kutsche erklang himmlische Musik, die über der gesamten Hauptstadt schwebte, und den Abschluss bildete eine gigantische Bühne, die von sechzehn weißen Pferden mit goldenem Zaumzeug gezogen wurde.

Dort, auf der hoch aufragenden Bühne, stand die Hauptfigur der Parade: der Gottgefällige Krieger.

Er trug eine goldene Maske und prächtige Kleider und in der Hand hielt er ein Schwert, das zum Dämonenbändigen diente. Er stellte den jahrtausendelangen Anführer der Kriegsgötter dar: den Himmelskaiser Jun Wu.

Für diese Rolle ausgesucht zu werden war die höchste aller Ehren, daher galten strengste Kriterien bei der Auswahl. In jenem Jahr war der Auserwählte der Kronprinz. Das gesamte Königreich war sich sicher, dass die beste Darbietung aller Zeiten bevorstand.

Doch an jenem Tag lief etwas schief.

Die Ehrengarde befand sich auf der dritten Runde durch die Stadt und passierte gerade die über dreißig Meter hohe Stadtmauer, als der Gottgefällige Krieger kurz davor war, den Dämon niederzustechen.

Es war der Höhepunkt der Aufführung, die Menge zu beiden Seiten der Straße jauchzte vor Aufregung. Auch auf die Mauer strömten die Menschen. Es wurde gedrängelt und geschubst, um den besten Blick zu erhaschen.

Da fiel plötzlich ein Kind vom Stadtmauerturm.

Die Schreie der Menge reichten bis zum Himmel. Während die Leute erwarteten, dass die Kaiserallee jeden Moment mit Blut besudelt würde, hob der Kronprinz nur leicht den Kopf und schnellte in die Höhe, um das Kind aufzufangen.

Es war nur ein vogelähnlicher weißer Schatten in der Luft zu erkennen, dann landete er mit dem Kind in seinen Armen auch schon sicher auf dem Boden. Seine Maske fiel herunter und gab sein junges, hübsches Gesicht frei.

Abertausende Jubelschreie ertönten.

Das einfache Volk war in Ekstase, doch die Staatspräzeptoren der Königlichen Riten zuckten innerlich zusammen. Sie hätten niemals gedacht, dass ein derart großes Missgeschick passieren würde.

Das verhieß Unheil, größtes Unheil!

Jede Runde durch die königliche Hauptstadt symbolisierte ein Jahr Frieden und Wohlstand für die Nation, doch nun war die Darbietung unterbrochen worden. War das nicht der Vorbote einer Katastrophe?

Die Staatspräzeptoren waren so besorgt, dass ihnen die Haare ausfielen. Nach langem Überlegen baten sie den Kronprinzen zu sich und fragten vorsichtig: »Eure Hoheit, würdet Ihr euch für einen Monat zurückziehen und Buße tun? Nur den Willen zu zeigen würde auch genügen.«

Der Kronprinz lächelte. »Nein.« Er erklärte: »Es ist nichts falsch daran, ein Menschenleben zu retten. Würde der Himmel mich dafür verurteilen, das Richtige getan zu haben?«

»Ähm … Und was, wenn er Euch doch verurteilt?«

»Dann wäre der Himmel im Unrecht. Warum sollte ich um Vergebung bitten, wenn ich richtig gehandelt habe?«

Die Staatspräzeptoren wussten dem nichts zu entgegnen.

So war der Kronprinz nun einmal. Es gab nichts, was ihm nicht gelang, und auch niemanden, der ihn nicht liebte. Er war die Gerechtigkeit selbst, der Mittelpunkt der Welt.

Und daher brachten die Staatspräzeptoren ihr Leid nur innerlich zum Ausdruck. Einen Scheiß versteht er!

Sie waren nicht in der Position, viel zu sagen, und wagten es auch nicht, ihn weiter zu bedrängen. Seine Hoheit würde sowieso nicht auf sie hören.

Die zweite Geschichte ereignete sich ebenfalls im achtzehnten Lebensjahr des Kronprinzen.

Es hieß, dass es südlich des Gelben Flusses eine Brücke namens Yinian-Brücke gäbe, auf der seit vielen Jahren ein Geist sein Unwesen triebe.

Der Geist war höchst furchteinflößend: Er trug eine kaputte Rüstung, unter seinen Füßen loderten Höllenflammen und sein Körper, an dem überall Blut klebte, war durchbohrt von Schwertern und Speeren. Mit jedem Schritt hinterließ er eine Spur aus Blut und Flammen. Alle paar Jahre tauchte er nachts plötzlich auf und wanderte am Fuße der Brücke auf und ab, um Reisende abzupassen und ihnen drei Fragen zu stellen: »Was ist das hier für ein Ort? Wer bin ich? Was ist zu tun?«

Antwortete jemand falsch, wurde er vom Geist mit Haut und Haaren verschlungen. Allerdings kannte niemand die richtigen Antworten und so waren im Laufe der Jahre unzählige Menschen dem Geist zum Opfer gefallen.

Als der Kronprinz sich auf Reisen begab, kam ihm diese Geschichte zu Ohren, also suchte er die Yinian-Brücke auf und bewachte sie Nacht für Nacht, bis er endlich auf den Geist traf.

Sein Anblick war tatsächlich so furchterregend, wie man sich erzählte.

Er stellte dem Kronprinzen die erste Frage und dieser antwortete mit einem Lächeln: »Das hier ist die Menschenwelt.«

Doch der Geist entgegnete: »Das hier ist die Hölle.«

Ein vielversprechender Anfang, schon die erste Antwort war falsch.

Es werden sowieso alle drei Antworten falsch sein, dachte sich der Kronprinz, warum sollte ich dann warten, bis du alle Fragen gestellt hast? Also zog er sein Schwert und stürzte sich auf ihn.

Es war ein erbitterter Kampf. Der Kronprinz war in der Kampfkunst äußerst versiert, doch der Geist war grausam und unerschrocken. Mensch und Geist lieferten sich eine so heftige Schlacht, dass Sonne und Mond beinahe ihre Plätze tauschten. Letztlich wurde der Geist besiegt.

Nachdem dieser sich in nichts aufgelöst hatte, pflanzte der Kronprinz am Fuße der Brücke einen blühenden Baum. Da kam ein Kultivierer vorbei und sah, wie er Erde verstreute, um den Geist zu verabschieden. Er fragte: »Warum tut Ihr das?«

Darauf antwortete der Kronprinz mit einem Spruch, der berühmt werden sollte: »Der Körper ist in der Hölle, aber das Herz im Paradies.«

Als der Kultivierer dies hörte, schmunzelte er und verwandelte sich in einen göttlichen Krieger in weißer Rüstung. Er stieg auf eine Wolke, rief einen starken Wind herbei und ritt in den gleißenden Himmel davon. Erst da wurde dem Kronprinzen klar, dass er durch einen glücklichen Zufall dem Himmelskaiser begegnet war, der persönlich herabgestiegen war, um Monster und Dämonen zu bezwingen.

Die Götter waren schon seit dem Vorfall auf der Shangyuan-Himmelsparade auf diesen herausragenden Gottgefälligen Krieger aufmerksam geworden. Nun, da der Himmelskaiser ihn bei der Yinian-Brücke gesehen hatte, fragten sie ihn: »Wie denkt Ihr über diese königliche Hoheit?«

Der Himmelskaiser antwortete: »Die Zukunft dieses jungen Burschen ist grenzenlos.«

Noch in derselben Nacht erschienen ungewöhnliche Zeichen am Himmel über dem Palast und ein Sturm erhob sich.

Umgeben von zuckenden Blitzen und tosendem Donner stieg der Kronprinz in den Himmel auf.

Immer wenn jemand in den Himmel aufstieg, kam es zu einer Erschütterung. Als der Kronprinz in den Himmel fuhr, bebte dieser ganze dreimal.

Durch Kultivierung Göttlichkeit zu erlangen war mühsam und schwer. Es erforderte Begabung, Übung und Glück. Der Weg war lang und oft dauerte es an die hundert Jahre.

Es war nicht so, dass es keine besonders Talentierten gab, die bereits in jungen Jahren Unsterblichkeit erlangten. Doch die meisten plagten sich ein Leben lang und auch nach hundert Jahren Kultivierung trat das erhoffte himmlische Verhängnis ** nicht ein. Und wenn doch, dann überstanden sie es nicht und starben. Und starben sie nicht, endeten sie als Krüppel. Solche gewöhnliche Sterbliche, die bis ans Lebensende ihren Weg nicht fanden, gab es wie Sand am Meer.

Der Kronprinz aber war zweifellos der Liebling des Himmels. Wenn er etwas wollte, bekam er es auch. Wenn er etwas tat, gelang es ihm auch. Er wollte in den Himmel aufsteigen und zum Gott werden, also tat er genau das, als er siebzehn war.

Er hatte schon immer die Zuneigung des Volkes genossen und der König und die Königin vermissten ihn innig, also ließen sie im ganzen Reich zu seinen Ehren riesige Tempel erbauen und errichteten Statuen von ihm, die das Volk anbetete. Je mehr Anhänger sich versammelten, desto mehr Tempel wurden errichtet, wodurch sich die Lebensspanne des Kronprinzen immer weiter verlängerte und seine spirituellen Kräfte immer weiter zunahmen. Und so wurde der Xianle-Palast des Kronprinzen innerhalb weniger Jahre so prunkvoll wie kein Zweiter. Er befand sich auf dem Höhepunkt seiner Pracht …

… bis Xianle drei Jahre später in Chaos versank.

Ursächlich für das Chaos war die Tyrannei der Regierung, gegen die sich Rebellengruppen erhoben. Doch obwohl die Flammen des Krieges in der ganzen Menschenwelt entbrannten, konnten die Himmelsbeamten sich nicht einfach einmischen. Solange keine Monster, Dämonen oder Geister am Werk waren, war alles dem Schicksal zu überlassen. Man denke einmal darüber nach: Überall in der Menschenwelt gab es Konflikte und ein jeder glaubte sich im Recht. Wenn die Götter sich einmischten und heute einer sein Vaterland stützte und morgen ein anderer seine Nachfahren rächte, würde es dann nicht zum Streit zwischen ihnen kommen? Würde dann nicht die Welt in Finsternis versinken? Insbesondere im Falle von Göttern wie dem Kronprinzen war ein Eingreifen mit großem Risiko verbunden.

Den Kronprinzen aber interessierte das nicht und so sagte er zum Himmelskaiser: »Ich möchte die Menschen retten.«

Nicht einmal der Himmelskaiser, der seine Kräfte schon seit Tausenden Jahren kultivierte, wagte es, diese Worte in den Mund zu nehmen. Man kann sich also denken, wie er empfand, als er sie zu hören bekam. Doch aufhalten konnte er ihn nicht. »Ihr könnt nicht jeden retten«, wandte er ein.

Aber der Kronprinz blieb standhaft. »Doch.«

Daraufhin stieg er, ohne zu zögern, in die Welt der Sterblichen hinab.

Das Volk von Xianle war selbstverständlich außer sich vor Freude. Doch seit jeher versuchten Erzählungen, den Menschen eine alte Weisheit näherzubringen: Wenn ein Gott eigenmächtig in die Welt der Sterblichen hinabstieg, nahm das kein gutes Ende.

So kam es, dass die Flammen des Krieges nicht nur nicht erloschen, sondern sogar noch wilder loderten.

Es war nicht so, dass der Kronprinz sich nicht bemüht hätte, doch es wäre besser gewesen, er hätte sich nicht eingemischt. Je mehr er sich anstrengte, desto chaotischer wurde die Schlacht. Das Volk litt schrecklich, überall gab es Tote und Verletzte. Schließlich wurde die Hauptstadt von einer Seuche heimgesucht und die Rebellentruppen eroberten den königlichen Palast.

Man könnte sagen, Xianle hatte am seidenen Faden gehangen und der Kronprinz durchtrennte ihn geradewegs.

Nachdem das Königreich ausgelöscht worden war, wurden die Menschen sich einer Sache bewusst: Ihr angebeteter Kronprinz war gar nicht so mächtig und vollkommen, wie sie geglaubt hatten. War er nicht – wenn man es etwas unschöner ausdrücken wollte – nutzloser Abschaum, der nichts zustande brachte?

Sie hatten ihr Heimatland und ihre Familien verloren. Es schmerzte so sehr, dass sie nicht wussten, wohin mit ihrem Zorn. Und so überfielen sie die Tempel des Kronprinzen, stießen seine Statuen um und brannten alles nieder. Achttausend Tempel brannten sieben Tage und sieben Nächte, bis nichts mehr von ihnen übrig war.

Von da an war der Frieden bringende Kriegsgott verschwunden und ein Katastrophen verheißender Unglücksgott war geboren.

Wen die Menschen einen Gott nannten, der war ein Gott. Wen sie ein Stück Scheiße nannten, der war ein Stück Scheiße. Man war das, was sie in einem sahen. So hatte es sich schon immer verhalten.

Der Kronprinz konnte diese Tatsache nicht akzeptieren. Was er jedoch noch weniger akzeptieren konnte, war die ihm auferlegte Strafe: Verbannung.

Man versiegelte seine spirituellen Kräfte und verbannte ihn in die Welt der Sterblichen.

Er war von klein auf stets verwöhnt worden und hatte nie das Leid der Menschenwelt zu spüren bekommen. Mit dieser Strafe fiel er aus den Wolken geradewegs in den Dreck. Zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr er den Geschmack von Hunger, Armut und Schmutz und tat Dinge, die er nie für möglich gehalten hatte: Er stahl, raubte, fluchte und gab sich selbst auf. Er verlor seine Würde und Selbstachtung und kümmerte sich auch nicht mehr um sein Erscheinungsbild. Selbst seine ergebensten Gefolgsleute konnten diesen Wandel nicht akzeptieren und verließen ihn.

»Der Körper ist in der Hölle, aber das Herz im Paradies.« Diese Worte waren im gesamten Königreich auf allerlei Stelen und Schrifttafeln eingraviert worden. Wären sie nicht fast alle im Krieg zerstört worden, wäre der Kronprinz bei ihrem Anblick wohl der Erste gewesen, der sie zertrümmert hätte.

Derjenige, der diese Worte ausgesprochen hatte, hatte es bereits selbst bewiesen: Wenn der Körper in der Hölle war, konnte das Herz nicht im Paradies sein.

Er war schnell in den Himmel aufgestiegen und noch schneller wieder abgestürzt. Der heldenhafte Sprung auf der Kaiserallee, der epische Kampf auf der Yinian-Brücke – es schien, als wäre all das erst gestern gewesen. Die Götter seufzten. Was vergangen war, war vergangen.

Bis eines Tages, viele Jahre später, der Himmel erneut grollte. Der Kronprinz war zum zweiten Mal aufgestiegen.

Seit jeher war es so, dass Himmelsbeamte, die verbannt worden waren, sich nicht mehr von diesem Rückschlag erholten oder sogar in die Unterwelt hinabstürzten. Es gab kaum jemanden, der das Blatt noch einmal wenden konnte. Zum zweiten Mal aufzusteigen war wirklich außergewöhnlich und spektakulär.

Doch noch spektakulärer war, dass der Kronprinz nach seiner Himmelfahrt sofort losstürmte und umherwütete. Seit seiner Ankunft waren gerade einmal dreißig Minuten vergangen, da wurde er auch schon wieder verstoßen.

Dreißig Minuten. Man konnte es als den stürmischsten und kürzesten Aufstieg aller Zeiten bezeichnen.

Wenn man den ersten Aufstieg als schöne Geschichte betrachtete, war der zweite eine Farce.

Da der Kronprinz nun zum zweiten Mal verbannt worden war, begannen die Götter, ihn zu verachten. Aber sie waren auch alarmiert. Wenn er nach dem ersten Mal schon derart getobt hatte, würde sein Herz nun nicht schwarz vor Wut werden und er würde dem einfachen Volk Schaden zufügen?

Doch entgegen aller Erwartungen wütete er diesmal nicht, sondern fügte sich brav ins Leben eines Verbannten. Er verursachte keinerlei Probleme. Wenn es eins gab, dann war es vielmehr … dass er zu gewissenhaft war.

Manchmal betätigte er sich als Straßenmusiker. Gekonnt spielte er allerlei Instrumente, sang wohlklingende Lieder und bot ein großes Spektakel. Selbst Steinbrocken mit der bloßen Brust zu zerschlagen war für ihn ein Leichtes. Auch wenn die Leute schon seit jeher gehört hatten, dass der Kronprinz singen und tanzen konnte und ein Mann vieler Talente war, löste es dennoch gemischte Gefühle in ihnen aus, ihn so zu sehen. Andere Male sammelte der Kronprinz sogar beflissen Schrott.

Die Götter waren schockiert. Es war nicht zu glauben, dass es so weit gekommen war. Mittlerweile galt »Dein Sohn sei der Kronprinz von Xianle« als höchste aller Beleidigungen, nicht einmal »Mögest du ohne Nachfahren bleiben« kam da heran.

Immerhin war er von königlichem Blut und ein ehemaliger Himmelsbeamter. Es gab niemand anders, der derart tief gefallen war. So also kam die »Witzfigur der drei Sphären« zu ihrem Namen.

Nachdem ordentlich gelacht wurde, stießen manche, die etwas sensibler waren, vielleicht noch einen Seufzer aus. Der Liebling des Himmels, der einst so stolz und hochmütig gewesen war, existierte wahrhaftig nicht mehr.

Seine Statuen waren vernichtet, sein Königreich ausgelöscht und nicht ein einziger Gefolgsmann war ihm verblieben. So geriet der Kronprinz nach und nach in Vergessenheit und niemand wusste mehr, wo er umherwanderte.

Einmal verbannt zu werden war bereits eine ungeheuerliche Schmach, wer könnte nach dem zweiten Mal schon wieder aufstehen?

Viele Jahre vergingen und eines Tages grollte der Himmel plötzlich erneut.

Beinahe stürzte die Himmeldecke herab und spaltete sich die Erde, so sehr bebte der Boden und zitterten die Berge.

Die Laternen des Ewigen Lichts wackelten, ihre Flammen tanzten wild. Die Götter schreckten auf und rannten aus ihren goldenen Palästen, um sich gegenseitig zu fragen: »Welch werte Hoheit mag da wohl aufgestiegen sein? Was für ein grandioser Auftritt!«

Doch wer hätte das gedacht? Im einen Moment stießen sie noch Jubelschreie aus und im nächsten standen sie allesamt da wie vom Blitz getroffen.

Habt Erbarmen mit uns!

Der berüchtigte Spinner, die Witzfigur der drei Sphären, der legendäre Kronprinz, er … er … er … verdammt noch mal, er war schon wieder aufgestiegen!

* Auch bekannt als Laternenfest. Schließt am 15. Tag des ersten Mondmonats nach dem traditionellen chin. Kalender das Neujahrsfest ab.

** Kultivierer ziehen den Zorn des Himmels auf sich, da sie sich der natürlichen Ordnung widersetzen. Erst wenn sie das »himmlische Verhängnis« (meist in Form eines heftigen Gewitters) überstehen, können sie Göttlichkeit erlangen.

»Glückwunsch, Eure Hoheit.«

Als er dies hörte, hob Xie Lian den Kopf und lächelte, bevor er entgegnete: »Danke. Aber dürfte ich fragen, wofür Ihr mir gratuliert?«

Lingwen verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Glückwunsch, Ihr habt dieses Jahr den Titel ›Himmelsbeamter, von dem man sich am meisten erhofft, dass er in die Welt der Sterblichen verbannt werde‹ gewonnen.«

»Nun ja, ein Titel ist immerhin ein Titel. Da Ihr mir gratuliert, gibt es wohl auch einen Grund zur Freude?«

»Den gibt es, der Gewinner bekommt einhundert Tugendpunkte.«

Umgehend erwiderte Xie Lian: »Wenn in Zukunft noch mehr solcher Ranglisten aufgestellt werden sollten, müsst Ihr mich unbedingt berücksichtigen.«

»Wisst Ihr, wer Zweiter geworden ist?«, fragte Lingwen nun.

Xie Lian überlegte eine Weile. »Das ist wirklich schwer zu erraten. Wenn ich mich mit den anderen vergleiche, sollte eigentlich ich allein die ersten drei Plätze belegen.«

»Da liegt Ihr nicht ganz falsch, es gibt keinen Zweitplatzierten. Ihr seid den anderen weit überlegen, niemand kann Euch das Wasser reichen.«

»Ich fühle mich geehrt. Wer hat denn letztes Jahr gewonnen?«

»Niemand. Diese Rangliste gibt es erst seit diesem Jahr. Um genau zu sein, seit heute.«

»Ach?« Xie Lan war verblüfft. »Heißt das etwa, diese Rangliste wurde eigens für mich erstellt?«

»Man könnte es auch so sehen, dass Ihr zufälligerweise gewonnen habt, weil Ihr zufälligerweise zum passenden Zeitpunkt in den Himmel aufgestiegen seid.«

Xie Lian schmunzelte. »Nun gut, wenn ich es so sehe, macht mich das ein wenig glücklicher.«

»Wisst Ihr, weshalb Ihr gewonnen habt?«, fuhr Lingwen fort.

»Weil ich beliebt bin.«

»Lasst es mich erklären. Seht Euch bitte diese Glocke an.«

Xie Lians Blick folgte ihrem Zeigefinger und was er zu sehen bekam, war wunderschön: ein Tempel aus weißer Jade inmitten zahlreicher Pavillons und Türme, an die sich Wolken schmiegten. Bäche plätscherten und Vögel zwitscherten.

Nach einer ganzen Weile fragte Xie Lian: »Zeigt Ihr vielleicht in die falsche Richtung? Da ist keine Glocke.«

»Nein, sie ist genau dort. Seht Ihr sie jetzt?«

Xie Lian starrte noch einmal angestrengt in die angegebene Richtung. »Ich sehe sie noch immer nicht.«

»Das ist richtig. Eigentlich war dort eine Glocke, aber als Ihr aufgestiegen seid, fiel sie durch die Erschütterung herunter.«

Darauf konnte Xie Lian nichts erwidern.

»Diese Glocke war älter als Ihr. Sie war stets munter und lebhaft. Immer wenn jemand aufstieg, läutete sie erfreut. Als Ihr aufgestiegen seid, läutete sie wie verrückt, sie hörte gar nicht mehr auf, bis sie sich vom Turm löste und geradewegs auf eine vorbeigehende Gottheit zustürzte.«

»Das … Ist sie in Ordnung?«

»Nein, sie wird gerade repariert.«

»Ich meinte die Gottheit.«

»Es war ein Kriegsgott. Er hat die Glocke einfach entzwei geteilt. Kommt, seht Euch nun diesen goldenen Palast an.«

Lingwen zeigte in eine andere Richtung und Xie Lians Blick folgte ihr erneut. Zwischen den Wolken blitzte ein goldglasiertes Ziegeldach hervor. »Ah, diesmal sehe ich es.«

»Das ist nicht richtig. Eigentlich sollte dort nichts sein.«

Wieder fehlten Xie Lian die Worte.

»Als Ihr aufgestiegen seid, bebten die Paläste einiger Himmelsbeamter so stark, dass die Säulen einstürzten und die Dachziegel zu Bruch gingen. Manche ließen sich nicht sofort reparieren, also mussten vorläufig neue errichtet werden.«

»Dafür bin ich verantwortlich?«

»In der Tat.«

»Oh …« Xie Lian wollte sich vergewissern: »Ich habe also gleich nach meiner Ankunft schon einige Gottheiten verärgert, nicht wahr?«

»Ihr könnt es wiedergutmachen«, entgegnete Lingwen.

»Wie das?«

»Ganz einfach. Mit acht Millionen achthundertachtzigtausend Tugendpunkten.«

Xie Lian lächelte.

»Natürlich weiß ich, dass Ihr nicht einmal ein Zehntel davon besitzt«, fuhr Lingwen fort.

»Nun, es tut mir wirklich leid, aber wenn wir ehrlich sind, besitze ich nicht einmal ein Zehntausendstel davon.«

Der Glaube der Sterblichen bestimmte, wie stark die spirituellen Kräfte eines Himmelsbeamten waren, und für jedes Räucherstäbchen, das angezündet wurde, oder jedes Opfer, das erbracht wurde, bekam man einen sogenannten Tugendpunkt.

Das Lächeln auf Xie Lians Gesicht erstarb und mit ernster Miene fragte er: »Wärt Ihr dazu bereit, mich hier und jetzt mit einem Tritt wieder nach unten zu befördern und mir im Gegenzug dafür acht Millionen achthundertachtzigtausend Tugendpunkte zu geben?«

»Ich bin eine Gottheit der Schriften«, widersprach Lingwen. »Ihr müsst euch schon einen Kriegsgott suchen. Je kräftiger der Tritt, desto mehr Tugendpunkte solltet Ihr bekommen.«

Xie Lian seufzte tief. »Erlaubt mir, noch eine Weile über eine Lösung nachzudenken.«

Lingwen tätschelte seine Schulter. »Verzagt nicht. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.«

»Wenn ich in einem Boot sitze, sinkt es kurz vor dem Anlegesteg.«

Vor achthundert Jahren, zu der Zeit, als der Xianle-Palast florierte, wären acht Millionen achthundertachtzigtausend Tugendpunkte für den Kronprinzen nicht der Rede wert gewesen. Er hätte sie hergegeben, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch die Zeiten hatten sich geändert, seine Tempel in der Menschenwelt waren längst niedergebrannt worden. Es gab keine Anhänger, keine Räucherstäbchen, keine Opfergaben.

Natürlich hatte er nichts. Nichts und wieder nichts.

Xie Lian kauerte einsam am Rande der Himmlischen Hauptstadtallee und zerbrach sich stundenlang den Kopf, da fiel ihm plötzlich ein, dass er noch gar nicht den spirituellen Kommunikationskanal des Oberen Hofes besucht hatte, obwohl er sich schon seit drei Tagen im Himmelreich aufhielt. Er hatte auch vergessen, Lingwen nach dem Passwort zu fragen.

Die Himmelsbeamten des Oberen Hofes hatten gemeinsam ein System geschaffen, das einem erlaubte, im Geiste mit anderen zu kommunizieren. Es war Pflicht, diesem beizutreten, nachdem man in den Himmel aufgestiegen war. Doch um einen bestimmten Kommunikationskanal zu finden, benötigte man ein Passwort. Das letzte Mal, dass Xie Lian einen solchen spirituellen Kanal betreten hatte, war schon achthundert Jahre her, sodass er sich nicht an das Passwort erinnern konnte. Er löste seinen Geist und ging auf Suche. Als er einen Kanal entdeckte, der in etwa so aussah, als könnte es der richtige sein, betrat er diesen, ohne viel nachzudenken. Kaum war er drin, wurde er von wildem Gebrüll, das aus allen Richtungen auf ihn einprasselte, fast erschlagen.

»Setzt Eure Wetten mit Bedacht, Ihr könnt sie nicht zurückziehen! Na, was denkt Ihr, wie lange wird sich der Kronprinz diesmal hier oben halten?«

»Ich wette auf ein Jahr!«

»Ein Jahr ist viel zu lang, letztes Mal hat es nur dreißig Minuten gedauert! Drei Tage sollten hinkommen. Ich wette auf drei Tage!«

»Nicht doch, Ihr seid ein Hohlkopf! Drei Tage sind doch fast schon vorbei. Versteht Ihr überhaupt was vom Wetten?!«

Still und leise verließ Xie Lian den Kanal wieder.

Das konnte nicht der richtige gewesen sein. Auf keinen Fall.

Die Himmelsbeamten des Oberen Hofes waren allesamt wichtige Persönlichkeiten, die über eine bestimmte Region wachten. Sie waren weit und breit bekannt und hatten eine Unmenge Aufgaben zu erledigen. Zudem waren sie ehrbar in den Himmel aufgestiegen, also verhielten sie sich gemäß ihrem Status eher reserviert und spielten sich nicht auf. Einzig Xie Lian hatte sich vor lauter Aufregung nach seinem ersten Aufstieg jeden Einzelnen aus dem Kommunikationskanal geschnappt, um ihn zu grüßen und sich mit größter Ernsthaftigkeit vorzustellen.

Xie Lian suchte weiter und betrat erneut unüberlegt einen Kanal. Diesmal konnte er sich entspannen. Es ist so ruhig hier, das muss der richtige sein.

Da fragte jemand leise: »Eure Hoheit sind also wieder zurück?«

Die Stimme war äußerst wohlklingend. Sie war sanft und vornehm. Doch hörte man genau hin, entdeckte man auch eine gewisse mitschwingende Kälte. Die Person, der sie gehörte, schien verstimmt. Sie wirkte nun nicht mehr sanft, sondern bedrohlich.

Xie Lian hatte eigentlich nur vorgehabt, dem Kanal beizutreten, wie es die Regeln vorschrieben, und sich dann bedeckt zu halten. Aber da ihn nun jemand angesprochen hatte, konnte er nicht so tun, als wäre er taubstumm. Außerdem stimmte es ihn fröhlich, dass aus dem Oberen Hof noch jemand gewillt war, mit diesem Unglücksgott zu sprechen, und so antwortete er augenblicklich: »Ja. Hallo an alle, ich bin wieder da.«

Er hatte nicht geahnt, dass sämtliche Götter im Kanal nach diesem kurzen Wortwechsel die Ohren spitzen würden.

Gelassen fuhr die Stimme fort: »Welch außerordentlichen Aufstieg Eure Hoheit diesmal hingelegt hat, nicht wahr?«

Im Oberen Hof waren Regenten und Generäle überall zu finden, Helden gab es in Hülle und Fülle.

Wollte man Göttlichkeit erlangen, musste man zunächst in der Menschenwelt zum Helden werden. Wer Großes vollbrachte oder außergewöhnliches Talent besaß, hatte natürlich bessere Chancen, in den Himmel aufzusteigen. Folglich war es keineswegs übertrieben, zu sagen, dass Könige, Prinzen oder Generäle hier keine Seltenheit waren. Wer von ihnen war nicht ein Liebling des Himmels? Demgemäß waren sie alle überaus höflich zueinander und sprachen sich gegenseitig mit »Eure Majestät«, »Eure Hoheit«, »Herr General« oder was auch immer es noch für schmeichelnde Titel gab an. Doch das »Eure Hoheit«, das Xie Lian gerade vernahm, hatte einen faden Beigeschmack.

»Eure Hoheit« hier, »Eure Hoheit« da, es steckte kein bisschen Höflichkeit dahinter. Wie Nadeln traktierte die Stimme Xie Lian mit diesen Worten. Auch den anderen königlichen Hoheiten, die sich gerade im Kanal befanden, lief es kalt den Rücken hinunter.

Xie Lian hatte bemerkt, dass die Stimme nichts Gutes im Schilde führte, aber er wollte keinen Streit anfangen und nahm sich vor zu flüchten. Lächelnd entgegnete er: »Es war ganz in Ordnung.«

Doch der Gott ließ ihn nicht entkommen, in einem neutralen Tonfall sagte er: »Für Eure Hoheit mag es wohl ganz in Ordnung gewesen sein. Ich habe allerdings nicht das Glück, Eure Hoheit zu sein.«

Plötzlich hörte Xie Lian Lingwen, die in seinem persönlichen Kanal zu ihm sprach. Sie sagte nur zwei Worte: »Die Glocke.«

Xie Lian begriff augenblicklich.

Die Stimme gehörte also dem Kriegsgott, auf den die Glocke herabgestürzt war.

In dem Fall war verständlich, dass er verärgert war. Xie Lian war schon immer gut darin gewesen, sich zu entschuldigen, und so antwortete er ohne Umschweife: »Ich habe von dem Vorfall mit der Glocke gehört. Es tut mir schrecklich leid, ich bitte um Entschuldigung.«

Sein Gegenüber schnaubte. Es war unklar, was das zu bedeuten hatte.

Renommierte Kriegsgötter gab es im Himmel viele und die meisten von ihnen waren nach Xie Lian aufgestiegen. Allein anhand der Stimme konnte Xie Lian nicht erraten, um wen es sich handelte. Aber wenn er sich aufrichtig entschuldigen wollte, sollte er den Namen der Person kennen. Daher fragte er: »Verzeiht mir, wie darf ich Euch anreden?«

Dem Kriegsgott verschlug es die Sprache.

Doch nicht nur ihm. Es war, als wäre der gesamte Kommunikationskanal für einen Moment erstarrt, die Luft stand vollkommen still.

Lingwen sprach wieder zu Xie Lian: »Eure Hoheit, nachdem ihr so viele Worte gewechselt habt, solltet Ihr ihn eigentlich schon erkannt haben, aber ich möchte Euch dennoch ermahnen. Das ist Xuanzhen.«

»Xuanzhen?« Xie Lian erstarrte. Erst nach einer Weile konnte er sich etwas von dem Schock erholen. »Das ist Mu Qing?«

General Xuanzhen, der Kriegsgott, der über den Südwesten wachte, besaß siebentausend Tempel und war in der Menschenwelt geradezu eine Berühmtheit. Sein Geburtsname lautete Mu Qing. Vor achthundert Jahren war er Unteroffizier im Xianle-Palast gewesen.

Nun war auch Lingwen schockiert. »Habt Ihr ihn wirklich nicht erkannt?«

»Das habe ich tatsächlich nicht. Er hat früher auch nicht auf diese Weise mit mir geredet. Und außerdem kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern, wann ich ihn zuletzt gesehen habe, vielleicht vor fünf-, sechshundert Jahren. Ich weiß nicht einmal mehr recht, wie er aussieht, wie könnte ich da noch seine Stimme erkennen?«

Im Kanal war es nach wie vor still. Mu Qing sagte kein Wort. Und die anderen Himmelsbeamten gaben vor, nicht zuzuhören, während sie insgeheim gespannt darauf warteten, dass einer von beiden endlich weitersprach.

Die Beziehung zwischen Xie Lian und Mu Qing war kompliziert. Über die Jahre hinweg waren so viele Gerüchte in Umlauf gekommen, dass jeder nahezu die ganze Geschichte kannte. Damals, als Xie Lian noch der werte Kronprinz war, trainierte er im Huangji-Tempel, dem königlichen Tempel für Kultivierung von Xianle. Die Aufnahmekriterien für Schüler waren entsprechend strikt. Mu Qing stammte aus armen Verhältnissen und sein Vater war ein Schandtäter gewesen, den man enthauptet hatte. Jemand wie er hatte keinerlei Befähigung, um als Schüler aufgenommen zu werden. Er konnte im Tempel nur niedere Tätigkeiten ausüben und so fegte er das Zimmer des Kronprinzen und brachte ihm Tee oder Wasser. Xie Lian, der sah, wie emsig er war, bat die Staatspräzeptoren daraufhin, eine Ausnahme zu machen und ihn als Schüler zu akzeptieren. Nur dank seiner Worte konnte Mu Qing also im Tempel seine Kräfte kultivieren – Seite an Seite mit dem Kronprinzen. Als dieser schließlich in den Himmel aufstieg, ernannte er Mu Qing zu seinem Unteroffizier und nahm ihn mit in die himmlische Hauptstadt.

Doch nachdem Xianle ausgelöscht worden und Xie Lian in die Welt der Sterblichen verbannt worden war, folgte Mu Qing ihm nicht. Nicht nur folgte er ihm nicht, er brachte nicht ein Wort zu Xie Lians Verteidigung vor. Jedenfalls war der Kronprinz fort und er war nun frei. Also suchte er sich einen günstigen Ort zum Kultivieren und arbeitete hart an sich, bis nur wenige Jahre später ein Verhängnis über ihn hereinbrach und er aus eigener Kraft in den Himmel fuhr.

Zuvor war einer im Himmel und einer auf Erden gewesen. Nun war wieder einer im Himmel und einer auf Erden – nur hatten sich ihre Positionen umgekehrt.

»Er ist wütend«, fuhr Lingwen fort.

»Das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte Xie Lian.

»Ich werde ihn ablenken. Nutzt die Gelegenheit und geht.«

»Nicht nötig. Ich tue einfach, als sei nichts gewesen.«

»Seid Ihr sicher? Selbst ich fühle mich unwohl, wenn ich Euch beide zusammen sehe.«

»Es ist schon in Ordnung.«

Für Xie Lian war außer dem Tod so gut wie alles akzeptabel. Er besaß zwar nicht viel, aber peinliche Erfahrungen hatte er reichlich gesammelt. Er hatte noch viel Schlimmeres durchgestanden, wenn er es also sagte, dann war es für ihn auch wirklich in Ordnung.

Doch er hatte zu früh gesprochen, denn plötzlich brüllte jemand los: »Wer zum Teufel hat meinen Palast zerstört?! Zeig dich gefälligst!«

Die Stimme brüllte so laut, dass die Köpfe der versammelten Götter beinahe explodierten.

Obwohl Wut in ihrem Bauch aufstieg, hielten sie weiterhin konzentriert die Luft an und warteten wortlos auf Xie Lians Reaktion. Aber es wurde noch spannender als gedacht. Bevor Xie Lian antworten konnte, fing Mu Qing plötzlich an zu lachen.

Der Neuankömmling entgegnete kalt: »Du warst das? Also schön, wart’s nur ab.«

Doch Mu Qing antwortete gleichgültig: »Ich habe nicht gesagt, dass ich es war. Mach keine falschen Anschuldigungen.«

»Warum lachst du dann? Hast du sie noch alle?«

»Du amüsierst mich, das ist alles. Der Schuldige befindet sich gerade im Kanal, frag ihn selbst.«

Da es nun so weit gekommen war, konnte Xie Lian nicht einfach verschwinden. Betreten räusperte er sich. »Ich war das. Es tut mir leid.«

Kaum hatte er ausgesprochen, verstummte der Neuankömmling.

Lingwen meldete sich wieder bei Xie Lian: »Eure Hoheit, das ist Nanyang.«

»Ich weiß«, erwiderte Xie Lian. »Aber er scheint mich nicht erkannt zu haben.«

»Doch. Er wandert nur viel in der Welt der Sterblichen umher und kehrt nicht oft zurück in die himmlische Hauptstadt, daher wusste er nicht, dass Ihr wieder aufgestiegen seid.«

Der Kriegsgott Nanyang wachte über den Südosten. Er besaß an die achttausend Tempel und das einfache Volk liebte ihn zutiefst. Sein Geburtsname war Feng Xin und vor achthundert Jahren war er oberster Offizier im Xianle-Palast gewesen.

Feng Xin hatte einen sehr loyalen Charakter. Seit er vierzehn war, begleitete er den Kronprinzen als dessen Leibwächter. Sie wuchsen zusammen auf, fuhren zusammen in den Himmel, wurden zusammen verbannt und streiften zusammen durch die Menschenwelt. Doch ihre Freundschaft überstand die achthundert Jahre nicht, sie zerstritten sich und gingen schließlich getrennter Wege. Seitdem hatten sie sich nicht wieder gesehen.

Ihr einstiger Herr war zur Witzfigur ohne Räucherstäbchen, ohne Tempel und ohne Opfergaben degradiert worden. Die beiden Untertanen aber hatten die Prüfung des Himmels indes selbst bestanden und waren nun große Kriegsgötter, die über ihr eigenes Gebiet wachten. Unter diesen Umständen konnte sich jeder seinen Teil denken.

Hätte Xie Lian wählen müssen, ob er sich in Anwesenheit von Feng Xin oder von Mu Qing unwohler fühlte, hätte er geantwortet: »Egal wer von beiden, es ist in Ordnung.« Doch würde man die Zuschauer fragen, ob sie lieber Xie Lian und Feng Xin oder Xie Lian und Mu Qing aufeinander losgehen sehen wollten, käme kein eindeutiges Ergebnis dabei heraus. Schließlich hatte ein jeder der drei gute Gründe, sich mit den anderen zu prügeln, es war also eine Frage des persönlichen Geschmacks.

Folglich waren sie alle zutiefst enttäuscht, als Feng Xin auch nach einer Ewigkeit nicht antwortete und sich verbarg. Um die Sache seinerseits zum Abschluss zu bringen, senkte Xie Lian noch einmal den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass mein Aufstieg so viel Chaos anrichten würde. Das war nicht meine Absicht, entschuldigt bitte.«

»Oh, welch ein Zufall«, erwiderte Mu Qing eisig.

Zufälligerweise hatte auch Xie Lian bei sich Welch ein Zufall gedacht. Wie konnte die Glocke ausgerechnet auf Mu Qing herabfallen und ausgerechnet Feng Xins Palast zusammenstürzen? In den Augen der anderen musste es wirken, als hätte er sich gezielt gerächt. Aber tatsächlich gehörte er zu jenen, die es schafften, sich aus tausend Bechern Wein den einen vergifteten zu nehmen. Was andere dachten, ließ sich jedoch nicht ändern, und so sagte Xie Lian nur: »Ich werde alles tun, um für den Schaden aufzukommen. Ich hoffe, Ihr könnt mir noch etwas Zeit gewähren.«

Man musste nicht besonders intelligent sein, um zu wissen, dass Mu Qing noch weiter sticheln wollte. Da sein Palast jedoch keinen Schaden genommen hatte und die Glocke entzweit war, ziemte es sich nicht, Xie Lian weiter herauszufordern. Er wollte seine Würde wahren, also verstummte er ebenfalls und verbarg sich. Sobald Xie Lian sah, dass die beiden Unruhestifter fort waren, machte auch er sich schnell aus dem Staub.

Xie Lian grübelte noch immer angestrengt darüber nach, wie er an die acht Millionen achthundertachtzigtausend Tugendpunkte kommen könnte, als Lingwen ihn am darauffolgenden Tag zu sich in den Palast einlud.

Lingwen verwaltete das himmlische Personal und verhalf den Menschen zu einer glücklichen und schnellen Karriere. Ihr Palast war randvoll mit Dokumenten und Schriftrollen, die sich bis an die Decke stapelten. Es war ein beeindruckender Anblick, der einem geradezu Angst einjagte. Ein jeder der Beamten, die Xie Lian aus dem Palast entgegenkamen, trug einen Dokumentenstapel, der hoch über seinen Kopf ragte. Mit ihren aschfahlen Gesichtern wirkten sie, als würden sie gleich zusammenbrechen oder wären benommen. Als sie den Hauptsaal erreicht hatten, drehte sich Lingwen zu Xie Lian um und kam gleich zum Punkt: »Eure Hoheit, Seine Majestät benötigt Hilfe bei einer Angelegenheit. Wärt Ihr gewillt, ihm zur Hand zu gehen?«

Es gab jede Menge »Hoheiten« im Himmelreich, doch nur der Himmelskaiser durfte sich »Majestät« nennen. Wenn er etwas wollte, brauchte er nicht zu fragen, daher stutzte Xie Lian kurz. Dann fragte er: »Um was geht es?«

Lingwen überreichte ihm eine Schriftrolle. »In letzter Zeit erreichen uns aus dem Norden immer wieder Gebete von einer großen Schar Tiefgläubiger. Es scheint, als herrsche dort Unruhe.«

Diese sogenannten »Tiefgläubigen« ließen sich in drei Gruppen unterteilen: Die erste Gruppe waren Reiche, die viel Geld für Räucherstäbchen und den Bau von Tempeln ausgaben, die zweite bestand aus Missionaren und die dritte aus Menschen, deren Leib und Seele von tiefstem Glauben erfüllt waren. Die erste Gruppe war auch die umfangreichste. Umso größere Reichtümer jemand besaß, desto ehrfürchtiger war er, und Reiche gab es unterm Himmel wie Sand am Meer. Am seltensten traf man die dritte Gruppe an, denn wenn jemand diesen Zustand wahrhaftig erreicht hatte, war er selbst nicht mehr weit davon entfernt, in den Himmel aufzusteigen. Die Schar Tiefgläubiger, von der Lingwen sprach, gehörte natürlich zur ersten Gruppe.

»Seine Majestät kann sich im Moment nicht um den Norden kümmern«, erklärte Lingwen. »Wenn Ihr an seiner Stelle nach dem Rechten sehen könntet und diese Tiefgläubigen zukünftig ihr Gelübde erfüllen, würde alles Euch angerechnet werden, egal wie viele Opfergaben sie darbringen. Was denkt Ihr?«

Xie Lian nahm die Schriftrolle mit beiden Händen entgegen. »Danke.«

Jun Wu wollte ihm offensichtlich helfen. Er tat nur so, als würde er Xie Lians Hilfe benötigen. Wie könnte er das nicht durchschauen? Doch außer »Danke« fiel ihm nichts ein, um auszudrücken, was er empfand.

»Ich bin lediglich dafür zuständig, diese Sache in die Wege zu leiten. Wenn Ihr euch bedanken wollt, bedankt euch bei Seiner Majestät, wenn er wieder zurück ist«, entgegnete Lingwen. »Ach ja, möchtet Ihr Euch eine magische Waffe von mir ausleihen?«

»Nicht nötig«, antwortete Xie Lian. »Ich habe keine spirituellen Kräfte, magische Waffen könnte ich dort unten sowieso nicht einsetzen.«

Nachdem er zweimal verbannt worden war, waren seine spirituellen Kräfte erschöpft. Im Himmelreich machte das nichts, hier, wo sich die Paläste der Unsterblichen drängten, gab es spirituelle Energie im Überfluss, sie war unendlich. Er brauchte nur seinen Finger auszustrecken, um sich ihrer zu bedienen. Doch in der Menschenwelt war er aufgeschmissen. Wollte er spirituelle Energie einsetzen, blieb ihm leider nichts anderes übrig, als sie sich von anderen zu leihen.

Lingwen dachte kurz nach. »Dann wäre es wohl am besten, wenn ich ein paar Kriegsgötter bitte, Euch zu begleiten.«

Die amtierenden Kriegsgötter kannten ihn entweder nicht oder mochten ihn nicht, darüber war sich Xie Lian im Klaren. »Auch das ist nicht nötig. Es würde sich sowieso niemand anbieten.«

Doch Lingwen hatte ihre eigenen Überlegungen. »Ich werde es dennoch versuchen.«

Es machte ohnehin keinen Unterschied, ob sie es versuchte oder nicht, also sagte Xie Lian nichts weiter.

Daraufhin betrat Lingwen den Kommunikationskanal des Oberen Hofes und fragte fröhlich: »Herrschaften, Seine Majestät hat eine Angelegenheit im Norden, für die ein paar Leute gebraucht werden. Welcher werte Kriegsgott könnte aus seinem Palast zwei Offiziere bereitstellen?«

Kaum hatte sie ausgesprochen, erhob sich auch schon Mu Qings Stimme leicht wie eine Feder: »Soweit mir bekannt ist, befindet sich Seine Majestät zurzeit nicht im Norden. Ihr sucht wohl Unterstützung für den Kronprinzen?«

Verbringst du etwa den ganzen Tag hier im Kanal?, dachte sich Xie Lian.

Auch Lingwen ging es nicht anders. Am liebsten hätte sie ihn mit einer Ohrfeige aus dem Kanal befördert, damit er sie nicht mehr bei der Arbeit behindern konnte. Lächelnd entgegnete sie: »Xuanzhen, wie kommt es, dass ich Euch in letzter Zeit immerzu hier im Kanal antreffe? Ihr müsst wohl zu viel Muße haben? Meinen Glückwunsch.«

»Meine Hand ist verletzt. Ich ruhe mich momentan aus«, konterte Mu Qing kühl.

Die anderen Himmelsbeamten höhnten innerlich nur: Mit dieser Hand hast du zuvor mühelos Berge gespalten und Meere geteilt. Was könnte dir da eine dämliche Glocke anhaben?

Lingwen hatte ursprünglich vorgehabt, sich erst einmal zwei Offiziere zu erschleichen und dann weiterzusehen. Doch Mu Qing hatte sie durchschaut und es auch noch laut ausgesprochen. Nun fand sich gewiss keiner mehr. Und tatsächlich antwortete auch nach einer halben Ewigkeit niemand.

Xie Lian fand jedoch nichts dabei und sagte zu Lingwen: »Ich habe Euch gesagt, dass das nichts wird.«

»Wenn Xuanzhen sich nicht eingemischt hätte, hätte es funktioniert.«, entgegnete Lingwen.

Xie Lian lächelte. »Ihr habt es angepriesen wie eine Pipa ***-Spielerin, die ihr halbes Gesicht verdeckt. Bekommt man nicht alles zu sehen, erscheint es einem viel schöner. Solange sie gedacht hätten, dass Seine Majestät begleitet werden soll, hätte es natürlich funktioniert. Aber sobald sie erfahren hätten, dass ich es bin, hätten sie sich wahrscheinlich aufgelehnt. Wie hätten wir da zusammenarbeiten können? Ich bin sonst auch allein gereist und habe noch immer alle Glieder. Belassen wir es also dabei. Ich danke Euch für Eure Mühen, ich breche dann auf.«

Lingwen wusste auch keine andere Lösung mehr, also legte sie zum Gruß die Hand um ihre Faust. »Nun gut. Ich wünsche Euch, dass alles glattgehen wird, Eure Hoheit. Der Segen der Himmelsbeamten sei mit Euch.«

»Alle Wege sollen mir offenstehen.« Xie Lian winkte zum Abschied und ging unbeschwert fort.

Drei Tage später im Norden der Menschenwelt. Am Rande der Hauptstraße stand ein Teehaus. Es war nicht besonders groß und schlicht. Was es vorzuweisen hatte, war der Ausblick: Berge und Flüsse, Menschen und Stadt – alles war zu sehen, wenn auch nicht viel davon. Nicht viel, aber es war genau richtig. Wenn man hier jemandem begegnete, würde es sicherlich eine wundervolle Erinnerung werden.

Der Besitzer hatte viel Muße. Wenn es keine Gäste gab, nahm er sich einen Hocker und setzte sich vor die Tür. Von dort aus betrachtete er die Berge und die Flüsse, die Menschen und die Stadt. Er blickte heiter in die Ferne, bis er einen Kultivierer in weißen Kleidern entdeckte. Dieser sah aus, als hätte er eine lange, anstrengende Reise hinter sich. Der Mann kam immer näher und lief schließlich am Teehaus vorbei, doch dann hielt er plötzlich inne. Mit langsamen Schritten ging er rückwärts, bis er wieder vor dem Haus stand. Er schob seinen Bambushut nach oben und warf einen Blick auf das Aushängeschild, dann sagte er lächelnd: »Haus der Begegnungen – ein interessanter Name.«

Trotz seiner Erschöpfung strahlte sein Lächeln. Wer ihn ansah, dessen Mundwinkel wanderten unweigerlich ebenfalls nach oben. Nun fragte der Mann: »Entschuldigt, ist der Yujun-Berg hier in der Nähe?«

Der Besitzer wies in eine Richtung und antwortete: »Das ist er.«

Der Kultivierer atmete so tief auf, dass beinahe seine Seele entwich. Endlich war er angekommen.

Dieser Kultivierer war niemand Geringeres als Xie Lian.

Bevor er hinabgestiegen war, hatte er eigentlich festgelegt, dass er beim Yujun-Berg landen wollte. Unbeschwert verließ er die himmlische Hauptstadt und sprang hinunter, doch sein Ärmel blieb an einer Wolke hängen – ja, an einer Wolke. Er wusste auch nicht, wie das passieren konnte. Jedenfalls kullerte er Tausende Meter durch die Luft und als er auf der Erde ankam, wusste er nicht mehr, wo er war. Nach drei Tagen Fußmarsch hatte er endlich sein Ziel erreicht. Seine Emotionen schäumten über.

Xie Lian betrat das Teehaus, suchte sich einen Fensterplatz und bestellte Tee und Gebäck. Endlich konnte er etwas zur Ruhe kommen, doch kaum hatte er sich hingesetzt, ertönte draußen endloses Gewimmer begleitet von Gong- und Trommelschlägen.

Er blickte auf die Straße hinaus und entdeckte eine Gruppe Menschen – Männer und Frauen, jung und alt –, die eine leuchtend rote Brautsänfte geleitete. Gerade kamen sie am Teehaus vorbei.

Es herrschte eine seltsame Stimmung. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würde die Prozession eine Verwandte zu ihrem Bräutigam geleiten, doch sah man genauer hin, erkannte man in ihren Gesichtern Ernsthaftigkeit, Trauer, Zorn und Panik, eine Gefühlsregung fehlte jedoch gänzlich: Freude. Wie man es auch betrachtete, es wirkte nicht wie Brautzug. Dennoch waren sie alle in Rot **** gekleidet, trugen Blumen und musizierten. Es war eine skurrile Szene. Der Besitzer des Teehauses hob den kupfernen Teekessel und kippte ihn leicht, um Xie Lian einzuschenken. Auch er bemerkte die Prozession, doch er schüttelte nur den Kopf und ging wieder.

Xie Lian folgte der seltsamen Gruppe mit Blicken, bis sie in der Ferne verschwunden war. Für einen Moment verfiel er ins Grübeln. Gerade wollte er die Schriftrolle hervorholen, die Lingwen ihm gegeben hatte, um sie sich noch einmal anzusehen, da huschte irgendetwas Glitzerndes an ihm vorbei.

Er hob den Kopf und sah einen silbernen Schmetterling vor seinen Augen flattern.

Der Schmetterling war durchsichtig und schimmerte. Auf seinem Weg hinterließ er eine Spur aus Glitzer in der Luft. Unwillkürlich streckte Xie Lian die Hand nach ihm aus. Es war ein äußerst intelligentes Wesen, es erschrak nicht und setzte sich sogar auf seine Fingerspitze. Seine Flügel glänzten, es war ein wunderschöner Anblick. Im Sonnenlicht wirkte er wie eine Illusion, die jeden Augenblick zerbrechen könnte. Einen Moment später flog der Schmetterling auch schon wieder davon.

Xie Lian winkte ihm hinterher, als würde er sich verabschieden wollen, dann drehte er sich um. Plötzlich saßen zwei Leute am Tisch.

Die beiden hatten jeweils links und rechts von ihm Platz genommen. Es waren junge Männer, in etwa achtzehn, neunzehn Jahre alt. Der linke war etwas größer und hatte ein hübsches, markantes Gesicht. In seinem Blick lagen Stolz und Unbändigkeit. Der rechte hatte einen hellen Teint und sehr feine, vornehme Züge. Sein Gesichtsausdruck war jedoch kühl und abwesend, er wirkte unzufrieden. Genau genommen schienen beide nicht sonderlich erfreut zu sein.

Xie Lian blinzelte. »Ihr zwei seid …?«

»Nan Feng«, kam es von links.

»Fu Yao«, von rechts.

Ich habe nicht nach euren Namen gefragt …, dachte Xie Lian.

Da meldete sich Lingwen im Geiste bei ihm: »Eure Hoheit, zwei Offiziere aus dem Mittleren Hof haben sich bereit erklärt, Euch zu unterstützen. Sie sind bereits hinabgestiegen und sollten jederzeit ankommen.«

Der sogenannte »Mittlere Hof« war das Gegenstück zum Oberen Hof. Die Himmelsbeamten ließen sich grob in zwei Gruppen unterteilen: die, die selbst aufgestiegen waren, und die, die nicht selbst aufgestiegen waren. Die Beamten des Oberen Hofes waren allesamt aus eigener Kraft in den Himmel gefahren, es gab keine Hundert von ihnen und daher waren sie hochangesehen. Die Beamten des Mittleren Hofes hingegen waren nur durch Ernennung aufgestiegen. Streng genommen sollten sie eigentlich »mittlere Beamte« heißen, aber in der Regel wurde das »Mittlere« einfach weggelassen.

Nun könnte man sich fragen, wenn es einen Oberen und einen Mittleren Hof gab, müsste es dann nicht auch einen »Unteren Hof« geben?

Gab es aber nicht.

Tatsächlich hatte es zu der Zeit, als Xie Lian zum ersten Mal aufgestiegen war, noch einen Unteren Hof gegeben. Damals unterschied man zwischen Oberem und Unterem Hof. Doch dann war man auf ein Problem gestoßen: Wenn sich jemand mit »Ich bin Soundso vom Unteren Hof« vorstellte, hörte sich das äußerst unschön an. Bei »Unterem Hof« dachte man sofort an Untergebene, also an Personen niederen Ranges. Man durfte allerdings nicht vergessen, dass es auch in diesem Hof viele hochtalentierte Himmelsbeamte gab, deren spirituelle Kräfte sehr mächtig waren. Das Einzige, was sie unterschied, war das ausstehende himmlische Verhängnis, und vielleicht würde es sie ja schon bald heimsuchen. Aus diesem Grund wurde vorgeschlagen, den Unteren in »Mittleren Hof« umzubenennen. »Ich bin Soundso vom Mittleren Hof« hörte sich schon viel besser an, auch wenn es in Wirklichkeit dasselbe bezeichnete. Dennoch konnte sich Xie Lian lange Zeit nicht an den neuen Namen gewöhnen.

Er musterte die beiden jungen Offiziere. Es war schwer zu sagen, wer von beiden finsterer dreinblickte. Sie wirkten nicht so, als hätten sie sich freiwillig gemeldet, weshalb er einfach fragen musste: »Meine liebe Lingwen, es sieht nicht so aus, als wären die beiden hergekommen, um mich zu unterstützen. Ich befürchte vielmehr, dass sie meinen Kopf wollen. Ihr habt sie doch nicht etwa getäuscht?«

Doch leider schien die Nachricht nicht übermittelt worden zu sein und er hörte Lingwen auch nicht mehr in seinem Ohr. Vermutlich war er bereits zu lange zu weit weg von der himmlischen Hauptstadt, die spirituelle Energie war erschöpft. Es ließ sich nicht ändern, also setzte Xie Lian ein Lächeln auf und sagte zu den jungen Männern: »Nan Feng und Fu Yao also? Danke, dass Ihr mir freiwillig zur Seite steht.«

Die beiden nickten nur. Da sie sich so hochmütig gaben, mussten sie gewiss zu Palästen renommierter Kriegsgötter gehören. Xie Lian ließ den Besitzer des Hauses zwei weitere Tassen bringen, dann nahm er seine eigene Tasse und spielte mit den Teeblättern. Wie beiläufig fragte er: »Aus welchen Palästen kommt Ihr?«

»Aus dem Nanyang-Palast«, antwortete Nan Feng.

»Aus dem Xuanzhen-Palast«, erwiderte Fu Yao.

Da konnte man ja nur panisch werden.

Xie Lian stürzte den Tee hinunter. »Haben Eure Herren Euch geschickt?«

»Mein Herr weiß nichts davon«, kam es einstimmig zurück.

Xie Lian überlegte kurz, bevor er fragte: »Wisst Ihr, wer ich bin?«

Sollte Lingwen die beiden ausgetrickst haben und sie unterstützten ihn nun, würden sie später sicherlich Ärger mit ihren Herren bekommen. Das war es nicht wert.

Nan Feng antwortete: »Eure Hoheit, der Kronprinz.«

Fu Yao erwiderte: »Die Gerechtigkeit selbst, der Mittelpunkt der Welt.«

Xie Lian verschluckte sich. Dann vergewisserte er sich bei Nan Feng: »Hat er gerade die Augen verdreht?«

»Ja«, antwortete dieser. »Sagt ihm, dass er sich verziehen soll.«

Es war kein Geheimnis, dass Nanyang und Xuanzhen sich nicht leiden konnten. Daher war Xie Lian auch nicht überrascht gewesen, als er von ihrer Fehde gehört hatte. Auch früher schon hatten die beiden sich nicht sonderlich verstanden. Aber zu jener Zeit waren sie seinen Befehlen gefolgt und er hatte sie stets ermahnt, nicht mehr zu streiten und sich zu vertragen. Also hatten sie sich zurückgehalten und sich höchstens ein paar spitze Bemerkungen erlaubt. Doch mittlerweile brauchten sie sich nicht mehr zu verstellen. Selbst ihre jeweiligen Anhänger im Südosten und im Südwesten verachteten einander, da war es nur natürlich, dass der Nanyang-Palast und der Xuanzhen-Palast seit etlichen Jahren verfeindet waren. Die beiden jungen Offiziere, die nun vor ihm saßen, waren das beste Beispiel.

»Lingwen hat gesagt, jeder Freiwillige kann kommen«, stichelte Fu Yao. »Wer bist du, dass du mir sagst, ich soll mich verziehen?«

Das Wort »Freiwilliger« klang bei seiner Miene nicht sehr überzeugend. »Lasst mich noch einmal sichergehen«, mischte Xie Lian sich daher ein. »Ihr seid also tatsächlich freiwillig gekommen? Ihr müsst Euch wirklich nicht zwingen.«

»Ich bin freiwillig hier«, kam es erneut einstimmig zurück.

Da sie dreinblicken, als wären sie auf einer Beerdigung, meinen sie wohl eher Ich bin freitodsuchend hier, überlegte Xie Lian.

»Wie auch immer, lasst uns erst einmal zum eigentlichen Problem kommen«, sagte Xie Lian. »Ihr wisst sicherlich, warum wir uns hier im Norden befinden. Wir können also gleich …«

»Das wissen wir nicht«, entgegneten die beiden jungen Männer einhellig.

Xie Lian kam also nicht umhin, die Schriftrolle hervorzuholen. »Dann erkläre ich es Euch von Anfang an.«

Vor vielen Jahren, so sagte man, wurde am Yujun-Berg eine Hochzeit gefeiert. Das Brautpaar liebte sich innig. Der Bräutigam wartete auf die Ankunft des Hochzeitszuges, doch er wartete und wartete und die Brautsänfte war noch immer nicht zu sehen. Er wurde unruhig und so machte er sich auf zum Haus seiner Liebsten, aber ihre Eltern erzählten, der Hochzeitszug sei schon vor Langem aufgebrochen. Daraufhin meldeten beide Familien die Braut als vermisst und suchten alle Winkel ab, doch sie wurde nie gefunden. Wäre sie im schlimmsten Fall auf dem Berg von einer Bestie gefressen worden, hätte man zumindest einen Arm oder ein Bein entdecken müssen. Wie konnte sie sich einfach in Luft auflösen? Letztlich vermuteten die Leute, dass sie gar nicht hatte heiraten wollen, also hatte sie sich wohl mit der Gruppe, die sie geleitete, zusammengetan und war abgehauen. Doch wer hätte gedacht, dass sich der Albtraum einige Jahre später wiederholen würde?

Wieder gab es eine Hochzeit und wieder verschwand die Braut. Doch diesmal gab es eine Spur. Auf einem Pfad fand man ein Bein, das nicht ganz aufgefressen worden war.

***Chinesische Laute.

**** Rot soll Glück bringen und ist daher die traditionelle Hochzeitsfarbe.

In den hundert Jahren danach waren in der Region um den Yujun-Berg insgesamt siebzehn Bräute verschwunden. Manchmal herrschte jahrzehntelang Frieden, andere Male verschwanden in weniger als einem Monat gleich zwei Frauen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Spuklegende von einem Geisterbräutigam, der auf dem Yujun-Berg lebte. Wenn er einen Hochzeitszug sah und ihm die Braut gefiel, entführte er sie und fraß das Geleit.

Eigentlich hätte diese Angelegenheit nicht den Himmel erreicht, denn auch wenn siebzehn Frauen verschwunden waren, so gab es doch Tausende, die wohlbehalten bei ihrem Bräutigam ankamen. Man konnte die Bräute nicht finden und sie zu beschützen gelang auch nicht, also musste man sich einfach damit abfinden. Es gab nun weniger Familien, die gewillt waren, ihre Töchter in diese Region zu verheiraten, und die Einheimischen wagten es nicht, aus den Hochzeiten ein großes Spektakel zu machen, das war alles. Doch der Vater der siebzehnten Braut war ein einflussreicher Beamter. Er liebte seine Tochter über alles und als er von der Legende erfuhr, wählte er mit größter Sorgfalt aus den besten Offizieren vierzig tapfere Männer für das Geleit seiner Tochter aus. Leider verschwand sie dennoch.

Diesmal hatte der Geisterbräutigam jedoch in ein Wespennest gestochen. Kein Mensch, den der Vater aufsuchte, konnte etwas gegen den Geist ausrichten, also versammelte er in seinem Zorn seine befreundeten Beamten und hielt wie verrückt religiöse Zeremonien ab. Zudem öffnete er gemäß den Anweisungen eines daoistischen Meisters die Türen der Vorratskammern, um den Armen zu helfen, und vieles mehr. Er veranstaltete einen riesigen Tumult und so erreichte die Sache endlich die Ohren einiger Himmelsbeamter. Auf anderem Wege würden solch nichtige Sterbliche wohl kaum von den Göttern erhört werden.

»Das ist im Großen und Ganzen alles«, beendete Xie Lian seine Ausführungen.

An ihren mürrischen Gesichtern konnte er nicht erkennen, ob die beiden zugehört hatten oder nicht. Wenn Letzteres der Fall war, blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als noch einmal von vorn zu beginnen. Doch wider Erwarten hob Nan Feng den Kopf, zog die Augenbrauen zusammen und fragte: »Haben die verschwundenen Bräute irgendwelche Gemeinsamkeiten?«

»Unter ihnen sind reiche und arme, hübsche und hässliche, Erstfrauen und Zweitfrauen«, antwortete Xie Lian. »Kurz gesagt: Es gibt keinerlei Gemeinsamkeiten. Wir können unmöglich feststellen, welche Vorlieben der Geisterbräutigam hat.«

Nan Feng raunte ein »Hm« und nahm einen Schluck von seinem Tee. Er schien in Gedanken versunken.

Fu Yao hingegen hatte den Tee, den Xie Lian ihm eingeschenkt hatte, noch gar nicht angerührt. Stattdessen hatte er sich die ganze Zeit über mit einem weißen Taschentuch gemächlich die Finger gesäubert. Er tat es noch immer und sagte mit gleichgültiger Miene: »Eure Hoheit, woher wollt Ihr wissen, dass es sich um einen Geisterbräutigam handelt? Das ist nicht gewiss, Niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen. Woran wollt Ihr festmachen, ob er Mann oder Frau, jung oder alt ist? Seid Ihr da nicht etwas zu voreilig?«

Xie Lian schmunzelte. »Den Inhalt der Schriftrolle haben Beamte aus dem Lingwen-Palast zusammengetragen, ›Geisterbräutigam‹ ist nur eine Bezeichnung des Volkes für den Geist. Aber Eure Einwände sind nicht falsch.«

Sie unterhielten sich noch etwas weiter und Xie Lian stellte fest, dass die Gedanken der beiden klar und strukturiert waren. Obwohl sie böse dreinblickten, dachten sie gründlich über die Sache nach. Er war erleichtert.

Als die drei sahen, dass es draußen dunkel wurde, machten sie fürs Erste Schluss und verließen das Teehaus. Xie Lian setzte seinen Bambushut auf und lief los – bis er bemerkte, dass die anderen beiden ihm nicht folgten. Verwirrt drehte er sich um und sah, dass sie ihn genauso verwirrt anstarrten.

Nan Feng fragte: »Wohin geht Ihr?«

»Ich suche einen Platz, wo wir nächtigen können«, erwiderte Xie Lian. »Fu Yao, warum verdreht Ihr schon wieder die Augen?«

Nan Feng war nach wie vor verwirrt. »Warum lauft Ihr dann in die Wildnis?«

Xie Lian war es gewohnt, im Freien sein Lager aufzuschlagen. Es machte ihm nichts aus, einfach eine Decke auszubreiten und sich darauf schlafen zu legen. Folglich hatte er wie von selbst die Wildnis angesteuert, um eine Höhle zu suchen und Feuer zu machen. Doch nach Nan Fengs Frage ging ihm plötzlich ein Licht auf: Nan Feng und Fu Yao waren Offiziere aus göttlichen Palästen. Sollte es in der Nähe einen Tempel geben, der einem ihrer Herren geweiht war, könnten sie diesen einfach betreten. Warum sollten sie draußen schlafen?

Es dauerte nicht lange, bis die drei in einer unscheinbaren Ecke den heruntergekommenen Schrein einer Erdgottheit ***** entdeckten. Überall lagen Reste von Räucherstäbchen und zerbrochene Teller, es war ein äußerst deprimierender Anblick. Verehrt wurde hier ein kleiner, runder Steingott. Xie Lian rief ein paarmal nach ihm. Es waren etliche Jahre vergangen, seit jemand Opfergaben gebracht oder ihn gar gerufen hatte. Da nun plötzlich jemand nach ihm rief, riss er die Augen auf und sah drei Himmelsbeamte vor seinem Altar stehen. Die beiden links und rechts waren in reiches göttliches Licht gehüllt – sie erinnerten an Neureiche –, ihre Gesichter waren kaum zu erkennen. Der Erdgott erschrak fürchterlich und fragte mit zittriger Stimme: »Werte Herren, womit kann ich Euch dienen?«

Xie Lian nickte zum Gruß. »Wir haben keine Befehle für dich, nur eine Frage: Gibt es in der Gegend vielleicht einen Tempel, der General Nanyang oder General Xuanzhen geweiht ist?«

Der Erdgott wagte nicht zu widersprechen. »I… I… Ich …« Er benutzte seine Finger, um zu zählen, dann sagte er: »Zweieinhalb Kilometer von hier gibt es einen Tempel, d… d… der General Nanyang geweiht ist.«

Xie Lian faltete die Hände vor der Brust. »Ich danke vielmals.«

Die beiden Lichtbälle links und rechts blendeten den Erdgott so stark, dass er beinahe blind wurde. Schleunigst verbarg er sich.

Xie Lian kramte ein paar Münzen hervor und legte sie auf den Altar. Dabei entdeckte er auf dem Boden einige halb abgebrannte Räucherstäbchen, hob sie auf und zündete sie an. Währenddessen verdrehte Fu Yao unentwegt die Augen. Xie Lian wollte ihn schon fragen, ob sie noch nicht schmerzten.

Zweieinhalb Kilometer später fanden sie am Straßenrand tatsächlich einen prunkvollen Tempel. Dieser war zwar klein, aber bestens ausgestattet. Menschen kamen und gingen, er war außerordentlich belebt. Die drei verbargen ihre Gestalt und traten ein, gehuldigt wurde hier einer Lehmskulptur in Rüstung und mit Bogen – der Kriegsgott Nanyang.

Ha! Mehr dachte Xie Lian sich nicht, als er die Statue erblickte.

Auf dem Land konnte man in der Regel nur grob angefertigte Skulpturen erwarten und tatsächlich hatte sie kaum Ähnlichkeit mit dem Feng Xin aus Xie Lians Erinnerung.

Die Himmelsbeamten waren jedoch daran gewöhnt, dass ihre Statuen entstellt waren. Oft erkannten nicht einmal sie selbst oder ihre eigenen Mütter sie wieder. Immerhin gab es nicht viele Bildhauer, die die Götter, die sie abbilden sollten, wirklich gesehen hatten, also verschönerten oder verunstalteten sie die Skulpturen. Man musste sich auf die Haltung, die magische Waffe und die Kleidung verlassen, um zu erkennen, um welche Gottheit es sich handelte.

Im Allgemeinen galt: Je wohlhabender die Gegend, umso mehr Gefallen fand der Gott an seiner Statue, je ärmer die Ortschaft, umso schlimmer war der Geschmack des Bildhauers und umso abstoßender das Bildnis. Derzeit waren nur die Statuen von General Xuanzhen besser geraten. Warum das so war? Nun, die anderen Götter fanden sich einfach damit ab, aber wenn Xuanzhen eine hässliche Statue von sich sah, machte er sie heimlich kaputt, sodass man eine Neue beauftragen musste, oder er erschien jemandem im Traum und brachte seinen Unmut zum Ausdruck. Mit der Zeit hatten die Tiefgläubigen gelernt, dass sie einen Bildhauer suchen mussten, der schöne Statuen anfertigen konnte.

Die Offiziere aus dem Xuanzhen-Palast unterschieden sich nicht von ihrem Herrn, sie alle legten viel Wert auf Ästhetik. Nachdem Fu Yao den Nanyang-Tempel betreten hatte, brachte er geschlagene zwei Stunden damit zu, die dortige Statue von Kopf bis Fuß zu kritisieren. Er nannte ihre Form krumm, die Farben vulgär, die Kunstfertigkeit minderwertig, den Geschmack eigenartig und so fort.

Xie Lian sah, wie die Venen auf Nan Fengs Stirn allmählich anschwollen. Er sollte wohl lieber schnell das Thema wechseln. Zufälligerweise kam gerade eine junge Frau herein, um zu beten. Als sie niederkniete, sagte Xie Lian in sanftem Ton: »Nanyangs Territorium ist doch der Südosten. Ich hätte nicht gedacht, dass hier im Norden auch so viele Räucherstäbchen für ihn angezündet werden.«