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Bei ihrem Versuch, zu verhindern, dass ein neuer Geisterkönig geboren wird, werden Xie Lian und Hua Cheng getrennt. Auf sich allein gestellt, trifft Xie Lian auf einen tot geglaubten Feind aus der Vergangenheit, der Erinnerungen an die schrecklichste Zeit in seinem Leben in ihm weckt – und doch scheint immer auch eine schützende Präsenz in seiner Nähe gewesen zu sein …
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Seitenzahl: 628
Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhalt
Kapitel 91: In der Höhle der zehntausend Gottheiten sind die wahren Gesichter verborgen
Kapitel 92: In der Höhle der zehntausend Gottheiten werden die wahren Gesichter enthüllt
Kapitel 93: Ein Supremus soll geboren werden
Kapitel 94: In der Nacht des Geisterfests eine einsame Seele kaufen
Kapitel 95: Eine kleine Summe bringt den Helden in Bedrängnis
Kapitel 96: Des Kronprinzen misslungener Raubüberfall
Kapitel 97: Dreiunddreißig Himmelsbeamte im Kampf um den heiligen Boden
Kapitel 98: Die warmen Worte eines kalten Geistes verwirren das verlorene Kind
Kapitel 99: Hundert Klingen durchbohren das Herz und ein Rachegeist nimmt Gestalt an
Kapitel 100: Frei von Trauer, frei von Freude bringt der Weiße Unheil in die Welt
Kapitel 101: Der weiß gewandete Geist ernennt den schwarzen Krieger zu seinem General
Kapitel 102: Der namenlose Geist opfert eine namenlose Blume
Kapitel 103: Der Mann im Abgrund erhält einen Regenhut
Kapitel 104: Himmel und Erde in Flammen, der Heilige durchbricht den Schmelztiegel
Kapitel 105: Vier Kriegsgötter verwandeln sich in ein Schwert
Kapitel 106: Der weiße Gott über den geheimnisvollen Staatspräzeptor
Kapitel 107: Fünfhundert Leute rekrutieren und einen alten Freund wiedersehen
Kapitel 108: Mit zwei einfachen Sätzen entfacht der Geisterkönig den Kampfgeist
Kapitel 109: Auf der Suche nach Zuwendung täuscht der Geisterkönig Missfallen vor
Kapitel 110: Das Böse im Spiegel und keine Zuflucht
Kapitel 111: Chaos in der himmlischen Hauptstadt und ein dunkler Sturm im Himmel
Kapitel 112: Weggabelungen sorgen für Verwirrung im Untergrund der himmlischen Hauptstadt
Kapitel 113: Nicht zur Vollkommenheit bestimmt und Bedauern im Herzen
Kapitel 91: In der Höhle der zehntausend Gottheiten sind die wahren Gesichter verborgen
Hua Chengs Atem war warm, doch seine Worte ließen Xie Lian das Blut in den Adern gefrieren.
Hielt sich in der Tempelhalle tatsächlich jemand versteckt?
Plötzlich schoss Xie Lian ein Gedanke durch den Kopf und er warf sich schnell wieder in Hua Chengs Arme.
Natürlich umarmte er ihn nicht, weil er sich fürchtete – sollte sich wirklich, von ihnen unbemerkt, jemand in dem großen Saal aufhalten, müsste derjenige äußerst fähig sein. Sollte er bemerken, dass er von den beiden entdeckt worden war, könnte er sich gezwungen fühlen, etwas zu unternehmen. Es würde verdächtig wirken, wenn nur Hua Cheng ihn umarmte. Erwiderte Xie Lian die Umarmung, würden sie natürlicher und weniger auffällig wirken.
Xie Lian sah sich unauffällig im Raum um. »Was glaubst du, wo hält er sich versteckt?«, flüsterte er.
Es gab nur einen Zugang zum Tempelsaal, nämlich die große Tür, durch die sie eingetreten waren. Der Saal war vollkommen leer, man konnte ihn mit einem Blick überschauen. Es gab nicht einmal einen Tisch oder Schrank, nichts, was ein Versteck geboten hätte. Außer ihnen befanden sich nur die leeren Steinhüllen der Tempeldiener in der Halle.
»Die Steinfiguren«, flüsterten beide gleichzeitig.
Die Figuren waren innen hohl – was bedeutete, dass sie als Versteck dienen könnten. Ein Mensch könnte nicht hineingelangen, wohl aber ein Geist.
Nachdem Xie Lian sich sicher war, dass sie dasselbe dachten, wollte er etwas sagen. Er hob den Kopf – und seine Pupillen verengten sich: Sechs Meter hinter Hua Cheng stand jemand.
Er war einstmals wohl ein junger Mann von höherem Ansehen gewesen. Jede der Steinfiguren legte Zeugnis über den Tod eines ehemaligen Bewohners von Wuyong ab, die meisten hatten sich voller Furcht zusammengekauert oder in Todesangst aufgebäumt. Diese Figur war eines der wenigen stehenden Abbilder. Doch was Xie Lian als Erstes ins Auge fiel, war nicht ihre Körperhaltung, sondern ihr Gesicht.
Obwohl die Züge der Steinfigur kaum zu erkennen waren, konnte Xie Lian einige Einzelheiten ausmachen. Die linke Seite des Gesichts lächelte, während die rechte weinte.
»Es ist diese dort!«, rief er aus.
Augenblicklich zog er sein Schwert und schlug zu, während Hua Cheng noch staunte: »Großer Bruder?«
Das Gesicht der Steinfigur zerbrach in Scherben, die sich über den Boden verteilten. Obwohl sich nichts im Inneren der Hülle befand, blieb Xie Lian wachsam. Er drehte jedes einzelne Steinfragment um, bis Hua Cheng seine Hand ergriff. »Großer Bruder, was hast du da gerade gesehen?«
Xie Lian sammelte einige Steinscherben auf, um es ihm zu zeigen. »San Lang, diese Steinfigur … dieses Antlitz … Es war die Maske des Weißen ohne Gesicht.«
Hua Chengs runzelte die Stirn. »Warte mal.«
Er sammelte die Stücke auf und legte sie aneinander. Als ein Gesicht zu erkennen war, betrachteten beide es schweigend.
Xie Lian hatte ganz deutlich ein halb weinendes, halb lachendes Geistergesicht gesehen. Doch das Gesicht, das Hua Cheng rekonstruiert hatte, hatte kaum erkennbare Züge und war von denen der übrigen Steinfiguren nahezu nicht zu unterscheiden.
War es eine Illusion gewesen? Hatte ihn jemand durch einen Zauber getäuscht?
Untätig herumzusitzen brachte sie der Antwort nicht näher. Also suchten sie den Saal ab und zerschlugen jede einzelne Steinfigur. Als das ohne Ergebnis blieb, dachten sie nach und kamen zu dem Schluss, dass es wichtiger war, sich den anderen anzuschließen, die sich sicherlich schon auf den Weg Richtung Berggipfel begeben hatten. Sie beschlossen, nicht länger im Tempel auf Pei Ming zu warten, sondern loszuziehen, um den Berg zu besteigen.
Vergeblich versuchten sie, sich von den silbernen Schmetterlingen tragen zu lassen. Der Berg schien über eine eigene Schwerkraft zu verfügen. Auf den Schwertern zu fliegen versuchten sie daher gar nicht erst, sodass ihnen keine Wahl blieb, als zu Fuß zu gehen. Je höher sie gelangten, desto steiler wurde der Bergpfad und desto kühler die Luft. Zunächst lag nur spärlicher Schnee, aber als sie in größere Höhen gelangten, wurde er tiefer, bis sie schließlich bis zur Hälfte ihrer Stiefel darin versanken. Nachdem sie vier Stunden bergauf gegangen waren, reichte er ihnen bis zu den Knien und sie kamen immer langsamer voran.
Da sie die ganze Zeit bergauf gingen, fror Xie Lian nicht, er war sogar von einem dünnen Schweißfilm bedeckt und seine roten Wangen bildeten einen starken Kontrast zu seiner ansonsten blassen Gesichtsfarbe. Er wischte sich den Schweiß ab und wandte sich um, um etwas zu Hua Cheng zu sagen – da trat er plötzlich ins Leere und fiel einen halben Meter in die Tiefe.
Sein Körper war in die dicke Schneedecke eingesunken. Hua Cheng, der direkt hinter ihm gegangen war, zog ihn sofort wieder hoch, als hätte er bereits damit gerechnet. »Sei vorsichtig, großer Bruder.«
Xie Lian stand neben ihm und musterte die Stelle, an der er eingesunken war. Ein großes Stück der Schneedecke war weggebrochen und hatte den Blick auf ein dunkles, tiefes Loch freigegeben, das wer weiß wohin führen mochte. Hätte sich Xie Lian nicht an der Kante festhalten können und hätte Hua Cheng langsamer reagiert, wäre er mit Sicherheit hineingestürzt.
»Hier in der Gegend gibt es viele Löcher wie dieses«, mahnte Hua Cheng. »Ich kann mich noch ungefähr daran erinnern, wo sie sind. Bleib am besten dicht bei mir. Geh langsam und vorsichtig, dann wird nichts passieren. Gerade warst du zu schnell.«
Es stellte sich heraus, dass der Berg unter der Schneedecke ziemlich brüchig war und überall kleinere und größere Löcher aufwies. Wie viele es waren und wohin sie führten, war unbekannt. Doch während ihres Aufstiegs schien Hua Cheng sich tatsächlich daran zu erinnern, wo sich die Löcher befanden.
Xie Lian atmete auf. »In Ordnung. Lass uns dicht zusammenbleiben. Und was auch passiert, auf einem Berg, der so von Schnee bedeckt ist, dürfen wir auf keinen Fall rufen oder laute Geräusche machen. Falls etwas passieren sollte, wird es schwierig, um Hilfe zu rufen …«
Plötzlich hörte er zornige Schreie von weiter oben und hielt abrupt inne.
»War’s das jetzt?«
Wer brüllte auf diesem steilen und gefährlichen Bergpfad so herum?
Xie Lian sah verärgert in die Richtung, aus der das Geschrei gekommen war. In der schneebedeckten Landschaft konnte er zwei kleine schwarze Punkte ausmachen, die gegeneinander kämpften. Das Klirren ihrer Waffen war deutlich zu hören. Einer von ihnen hielt einen Langbogen und schoss einen Pfeil nach dem anderen ab. Der andere war mit einem Säbel bewaffnet, den er fortwährend durch die Luft schwang, während er verbissen wie ein Tiger kämpfte. Sowohl die Klinge des Säbels als auch die Pfeile waren von einem spirituellen Glanz umgeben und die beiden Gegner beschimpften einander ohne Unterlass.
»Ich habe doch schon gesagt, dass ich den kleinen Bastard nicht umgebracht habe. Ich bin selbst auf der Suche nach ihm!«, schrie der mit dem Säbel.
Es waren Nan Feng und Fu Yao.
Xie Lian versucht nicht einmal, zu erraten, warum die beiden ebenfalls hergekommen waren. Beinahe hätte er »Hört auf!« gerufen, doch er konnte sich gerade noch beherrschen, zusätzlich zu dem Lärm beizutragen. Hätte er ebenfalls angefangen, Krach zu machen, und sie alle drei hätten aneinander angeschrien, wer weiß, ob der Berg ruhig geblieben wäre.
Hua Cheng verschränkte die Arme und zog eine Augenbraue hoch. »Haben die keine Angst, dass sie mit ihrem Gebrüll eine Lawine auslösen?«
»So … dumm können sie doch eigentlich nicht sein«, entgegnete Xie Lian. »Vielleicht wissen sie es nicht. Aber so sind die beiden nun einmal – wenn sie sich aufregen, vergessen sie alles um sich herum.«
Nan Feng und Fu Yao kochten vor Wut und beschimpften einander ohne Unterlass. Aber sie waren zu weit entfernt. Ihre Flüche waren nur undeutlich zu hören, daher konnte Xie Lian nicht ausmachen, worüber sie stritten. Sie selbst waren zu abgelenkt, um zu bemerken, dass jemand sich ihnen näherte.
Xie Lian wollte sich am liebsten auf sie stürzen und sie voneinander trennen, aber in dem tiefen Schnee, in den er bei jedem Schritt einsank und unter dem die gefährlichen Löcher nur auf ihn lauerten, kam er nicht schnell genug vorwärts. Er lief zwei Schritte vor, stolperte wieder über ein Loch und blieb stehen. »Wir können sie nicht einfach so kämpfen lassen. Wir müssen sie aufhalten.«
Kaum hatte er ausgesprochen, schoss ein silberner Schmetterling wie ein Pfeil an ihm vorbei. Xie Lian erschrak, bevor er erleichtert aufatmete.
Das war eine gute Idee. Sie waren nicht schnell genug, aber durch einen Schmetterling könnten sie ihre Stimmen übertragen. Der Schmetterling erreichte sein Ziel in rasender Geschwindigkeit – das kämpfende Paar stieß lediglich drei Schreie aus, schon war er angekommen. Bevor Xie Lian jedoch auch nur versuchen konnte, durch ihn zu sprechen, sah er, wie Hua Chengs Miene sich verfinsterte. Er sah ihm sofort an, dass etwas nicht stimmte. »Was ist?«
Das Lächeln war von Hua Cheng Lippen verschwunden und einem Ausdruck gewichen, der so eisig war wie der Berg, auf dem sie standen.
»San Lang, was ist los?«, drängte Xie Lian.
Hua Chengs Lippen zuckten, aber er brachte kein Wort heraus. Plötzlich spürte Xie Lian, wie ihn eine namenlose Panik überkam. Er fuhr herum, wandte seinen Blick in Richtung des Berggipfels und riss die Augen auf.
Eine riesige Schneemasse hatte sich in Bewegung gesetzt und rutschte talwärts.
Selbst die beiden Kämpfer bemerkten, dass eine lautlose Gefahr sich anbahnte. Sie blickten nach oben und begriffen, was geschehen würde.
Die Schneemasse erstreckte sich über ein großes Gebiet, wohl an die tausend Meilen breit. Die riesenhafte Schneelawine schob sich donnernd und grollend den Berg hinab und auf sie zu.
Sie hatten eine Lawine ausgelöst.
Xie Lian packte Hua Chengs Hand, drehte sich um und rannte los. Doch kaum war er ein paar Schritte gelaufen, erinnerte er sich, dass die anderen beiden sich noch näher an der Lawine befanden. Er blieb abrupt stehen und blickte zurück.
Wie erwartet hatten beide die Flucht ergriffen. Fu Yao kam nicht weit, bevor er in ein Loch trat und zur Hälfte darin versank, sodass er bis zur Brust im Schnee steckte. Nan Feng, der schneller gerannt war, zögerte und blickte zurück, als überlege er, ihn zu retten. Doch die Schneelawine kam immer näher.
Kurz bevor der Schnee sie unter sich begraben konnte, entfesselte Xie Lian Ruoye. Das weiße Seidenband dehnte sich aus, umfing Fu Yao und Nan Feng und zog sie in die Höhe.
»Großer Bruder, kümmere dich nicht um sie«, mahnte Hua Cheng.
Xie Lian hielt Ruoye fest in der Hand und zog die beiden mit sich, während er abwärts floh. »Ich kann nicht. Wenn sie Pech haben, werden sie für hundert Jahre hier begraben.«
»Zu spät«, sagte Hua Cheng düster.
»Was?«
Er sah nach oben, als gerade der drohende Schatten über sie hereinbrach.
Nan Feng und Fu Yao zu retten hatte ihn verlangsamt. Die vereiste Schneemasse glitt unaufhaltsam auf sie zu und riss Xie Lian mit sich. Er und Hua Cheng wurden dabei voneinander getrennt. Die Wucht der Schneemassen drängte von allen Seiten auf ihn ein und obwohl er versuchte, ihr standzuhalten, war sie einfach zu gewaltig. Immer wieder wurde er von den Schneemassen verschluckt und sie raubte ihm den Atem, wenn sein Kopf im Schnee versank.
Schließlich ging ihm die Kraft aus. Ein letztes Mal rief er »San Lang!«, bevor die Schneemassen ihn endgültig unter sich begruben.
Wie viel Zeit wohl vergangen sein mochte, bis der Berg endlich wieder zur Ruhe gekommen war?
Eine Weile war alles still. Dann bewegte sich ein Schneehaufen irgendwo in der schneebedeckten Landschaft und erbebte einige Male, bevor eine Hand aus ihm hervorbrach.
Sie tastete ziellos umher, dann folgte ein Arm. Eine Schulter kam zum Vorschein und schließlich ein Kopf. Schneeklumpen klebten der Gestalt im Gesicht und sobald sie frei war, holte sie tief Luft und begann, unkontrolliert zu husten. Kurz darauf kroch unter großer Anstrengung ein Mann aus dem Schneehaufen. Er schüttelte den Kopf und setze sich in den Schnee.
Es war Xie Lian.
Sich aus den schweren Schneeschichten herauszugraben war vergleichbar mit seiner vorherigen Erfahrung, sich aus einem Grab zu befreien. Xie Lians Gesicht und Hände waren rot und gefühllos von der Kälte, doch er rieb sich nur einige Male übers Gesicht und hauchte warme Atemluft auf seine starren Hände. Dann blickte er sich verloren um.
Von leuchtendem Rot war in der weiten weißen Landschaft keine Spur zu erkennen.
Und Xie Lian konnte nicht einmal nach ihm rufen – alles wäre vorbei, sollte er eine weitere Schneelawine auslösen. Ihm blieb nichts übrig, als aufzustehen und ziellos und einsam durch diese Welt aus Schnee zu wandern.
Während er lief, rief er leise: »San Lang? San Lang? Nan Feng? Fu Yao?«
Es war zu seltsam. Obwohl er auf demselben Bergpfad stand, den sie zuvor bestiegen hatten, fühlte sich die Luft viel eisiger an als in Hua Chengs Gegenwart. Verwundert stellte Xie Lian fest, dass Ruoye aus seiner Hand verschwunden war. Das hätte nicht passieren sollen – selbst wenn er es losgelassen hatte, hätte es sich normalerweise um seinen Körper gewickelt. Was war passiert?
Er wusste, dass etwas nicht stimmte, konnte allerdings nicht greifen, was es war, und so setzte er verwirrt seinen Weg fort.
Plötzlich konnte Xie Lian jemanden in der Schneelandschaft auf ihn zukommen sehen. Sein weißer Umhang und sein schwarzes Haar wehten im Wind und er hielt den Kopf gesenkt, während er sich langsam näherte.
Xie Lian war hocherfreut, jemandem zu begegnen, und eilte auf ihn zu. »Mein Freund! Ihr …«
Doch da hob der andere den Kopf. Er trug eine leuchtend weiße Maske, die eine Hälfte des Gesichts lächelte, die andere weinte.
Xie Lian schrie bei dem Anblick so laut auf, als sei er bei lebendigem Leibe aufgespießt worden.
Er riss die Augen auf, als sein eigener gellender Schrei an seine Ohren drang, und richtete sich kerzengerade auf. Eine Weile rang er nach Atem, während er langsam begriff, dass er nicht auf einem schneebedeckten Berg stand – sondern an einem dunklen Ort lag.
Es war ein Traum gewesen.
Kein Wunder, dass sich alles so seltsam angefühlt hatte. Xie Lian atmete tief aus und spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn, tastete seine Umgebung ab und stellte fest, dass er auf einem flachen Felsen lag, der mit einer Strohmatte bedeckt war. Fangxin hing an seiner Hüfte und Ruoye trug er um sein Handgelenk. Xie Lian sammelte sich und setzte sich auf, dann entzündete er ein Licht in seiner Handfläche, um sich umzusehen. »San Lang? Bist du da?«, rief er.
Kaum dass das Licht den Raum erhellte, bemerkte Xie Lian, dass jemand schweigend und reglos direkt neben ihm in der Dunkelheit stand.
Er bekam einen mächtigen Schreck und der Schweiß brach ihm aus, seine Hand zuckte unwillkürlich zu Fangxins Griff. Das war doch unmöglich, wie konnte er nicht bemerkt haben, dass so dicht neben ihm jemand stand?
Doch als er genau hinsah, beruhigte er sich wieder. Es war kein lebendiger Mensch, sondern eine Steinstatue – eine richtige, von Menschenhand geschaffene Skulptur, nicht eines der Opfer des Vulkanausbruchs.
Mit dem Licht in seiner Hand untersuchte Xie Lian den Raum und war sich schnell sicher, zu wissen, wo er sich befand.
Es war eine Kultivierungshöhle. Er hatte sich schon einmal zum Meditieren an einen solchen Ort zurückgezogen, daher wusste er, wie diese Kammern aussahen. Das bedeutete, dass die Figur neben ihm keine gewöhnliche Skulptur war, sondern eine Götterstatue.
Sie war in einer Kammer mit einer gewölbten Decke errichtet worden. Ihre Gestalt war groß und schlank, ihre Haltung entspannt und anmutig. Die rechte Hand ruhte auf dem Griff eines Schwertes, das die Statue an der Hüfte trug. Sie war mit großer Kunstfertigkeit gearbeitet, sogar die fließenden Linien und Falten des Gewandes waren sorgsam herausgearbeitet.
Doch etwas an ihr war eigenartig – das Gesicht der Statue wurde von einem Schleier verhüllt. Der Stoff war so leicht und zart wie wehender Rauch. Und obwohl es eigenartig war, ein Götterabbild mit verhülltem Gesicht zu sehen, war es doch kein hässlicher Anblick. Im Gegenteil, es wirkte auf geheimnisvolle Weise schön. Xie Lian hatte noch nie eine solche Statue gesehen. Unwillkürlich wollte er die Hand ausstrecken und den Schleier herunterziehen, da unterbrach ihn eine Stimme von hinten. »Großer Bruder.«
Xie Lian fuhr herum. Ohne dass er es bemerkt hatte, war eine rot gekleidete Gestalt im Eingang der Höhle erschienen. Es war Hua Cheng. Das geheimnisvolle Gesicht hinter dem Schleier war vergessen, als er auf ihn zustürmte. »San Lang! Was für ein Glück, ich habe mich schon gefragt, wo du bist. Geht es dir gut? Bist du verletzt? Die Lawine kam so plötzlich.«
Hua Cheng betrat den Raum. »Es geht mir gut. Und dir?«
»Mir ist nichts passiert. Wo sind wir hier?«, fragte Xie Lian.
Als er die Kammer verließ, wurde ihm klar, dass der Ort viel weitläufiger war, als er angenommen hatte. Der Gang, in dem er sich fand, schien sehr lang zu sein. Wohin er wohl führte?
Xie Lian hatte sich längst daran gewöhnt, dass Hua Cheng stets die Antworten auf seine Fragen wusste. Doch dieses Mal antwortete er: »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich im Inneren des Berges.«
Xie Lian sah ihn verwundert an. »Und ich dachte, du hättest einen Unterschlupf gefunden. Ich kann nicht glauben, dass nicht einmal du weißt, wo wir sind.«
Hua Cheng hatte sich genau daran erinnert, wo sich die Löcher auf dem Bergpfad befunden hatten, aber diesen Ort hier kannte er nicht – das war unerwartet. Das Höhlennetzwerk schien recht weitläufig zu sein. Hatte er es wirklich noch nie betreten?
Xie Lian wunderte sich darüber, beharrte jedoch nicht auf einer Antwort. Stattdessen hob er das Licht an. »Wie sind wir hier hineingelangt?«
Hua Cheng beschwor einige Schmetterlinge und ließ sie umherfliegen, sodass sie mit ihrem schwachen Licht die Umgebung erhellten. »Vielleicht sind wir in ein Loch gefallen«, antwortete er mit einem Schulterzucken.
Das war die einzige plausible Erklärung – andernfalls müsste sie jemand gezielt an diesen Ort gebracht haben. Xie Lian erinnerte sich an seinen Traum und ein kalter Schauer überkam ihn.
Ihm fiel noch etwas anderes ein. »Wir sind hier, aber wo sind Nan Feng und Fu Yao?«
Als er diese Namen hörte, huschte ein feindseliger Ausdruck über Hua Chengs Gesicht. »Wahrscheinlich begraben unter dem Schnee. Wen kümmert das? Sie sind Himmelsbeamte, das wird sie nicht umbringen«, antwortete er eisig.
Xie Lian wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Auch wenn sie nicht sterben können – Jahrzehntelang unter dem Schnee begraben zu warten, bis jemand kommt und einen ausgräbt, ist bestimmt kein schönes Gefühl. Vielleicht sind sie auch hier gelandet. Lass uns nach ihnen suchen. Übrigens, San Lang, hast du gehört, was sie gesagt haben, als dein Schmetterling zu ihnen geflogen ist?«
Hua Cheng schnaubte verächtlich. »Nur ein bedeutungsloser Streit. Es wird wohl kaum etwas Erfreuliches gewesen sein.«
Xie Lian bezweifelte, dass es so einfach war. Wie sonst sollte er sich erklären, dass Hua Chengs Miene sich so drastisch verändert hatte, als der Schmetterling den Streit mitgehört hatte. Auch nun lag ein deutlich abweisender Ausdruck auf seinem Gesicht. Aber wenn er es nicht erzählen wollte, würde Xie Lian ihn nicht bedrängen.
Sie gingen weiter den langen Korridor entlang. Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, stellten sie fest, dass dieses Höhlensystem komplexer war, als sie zunächst vermutet hatten. Es gab nicht nur diesen einen geraden Weg, sondern zahlreiche Abzweigungen, die zu weiteren kleineren und größeren Kammern führten.
Und in jeder dieser Kammern befand sich eine Götterstatue. Einige der Steinfiguren stellten Jugendliche dar, andere junge Männer. Jede hatte eine andere Körperhaltung. Einige standen da, als seien sie gelangweilt, andere lehnten an der Wand, als seien sie betrunken, weitere waren sitzend oder im Schwertkampf dargestellt. Auch die Kleidung war bei jeder Figur anders: Sie trugen prächtige Zeremoniengewänder, normale Alltagskleidung, Lumpen und einige waren gar halb nackt. Auch die Ausführung war nicht einheitlich. Während manche grob und ungestalt gearbeitet waren, beeindruckten andere durch ein hohes Maß an Können und Kunstfertigkeit. Ganz offensichtlich waren nicht alle von derselben Person gefertigt worden. Dennoch boten sie durch ihre schiere Menge und die vielen Variationen einen beeindruckenden Anblick.
Xie Lian bewunderte sie, während sie an ihnen vorbeiliefen. Ehrfürchtig stellte er fest: »Das ist eine Höhle der zehntausend Gottheiten. Ich frage mich, wer beschlossen hat, sie hier zu errichten. Es müssen sehr gläubige Anhänger gewesen sein.«
Doch all diesen Statuen war eine Besonderheit gemein: Bei allen war das Gesicht durch einen leichten Schleier bedeckt. Bei einigen verhüllte er gar den ganzen Körper, sodass nur die Zehen herausragten. Xie Lian war neugierig und hätte zu gern einer Statue den Schleier abgenommen, um ihr Gesicht zu sehen.
Da sagte Hua Cheng hinter ihm: »Großer Bruder, lass das besser sein.«
Xie Lian wandte sich um. »Wieso? Findest du diese Statuen nicht seltsam?«
Hua Cheng folgte ihm, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Gerade weil sie seltsam sind, ist es besser, sie nicht zu enthüllen«, erklärte er. »Sicherlich gab es einen guten Grund, warum jemand ihre Gesichter verhüllt hat. Spirituelle Energie sammelt sich im Kopf, wir können nicht vorhersehen, was mit dieser Energie passiert, wenn der Schleier entfernt wird.« Er unterbrach sich. »Großer Bruder, suchst du nicht nach deinen Untergebenen? Wir haben sie noch nicht gefunden, also rühr diese Statuen am besten nicht an. Wir sollten unerwartete Schwierigkeiten tunlichst vermeiden.«
Obwohl seine Erklärung weit hergeholt klang, entbehrte sie nicht einer gewissen Logik. Es könnte übel enden, wenn das Entfernen des Schleiers etwas in den Statuen zum Leben erwecken sollte. Xie Lian war nicht darauf aus, etwas zu tun, das Unheil über sie bringen könnte. Er dachte darüber nach und ließ schließlich die Hände sinken. »Ich war nur neugierig, welche Gottheit diese Statuen darstellen, das ist alles.«
Noch etwas war merkwürdig – Hua Cheng war eigentlich nicht der Typ, der unerwarteten Schwierigkeiten aus dem Weg ging. Wenn sie sehen könnten, was die Schleier verhüllten, würden sie mit den Folgen schon fertigwerden. Xie Lian hätte von ihm nicht erwartet, dass er das als Grund dafür anführen würde, sie nicht anzurühren.
»Das ist das Königreich Wuyong, wahrscheinlich stellen sie den Kronprinzen dar«, sagte er schulterzuckend. »Nichts Besonderes.«
»Ich fürchte nicht«, entgegnete Xie Lian.
»Was denkst du?«
Xie Lian sah ihn an. »Den Wandgemälden nach zu urteilen, trugen der Kronprinz von Wuyong und sein Volk farbenfrohe Kleider. Da sie vor zweitausend Jahren lebten, war ihr Kleidungsstil altmodisch, primitiv und extravagant. Die Kleider dieser Götterstatuen sind anders. Ich glaube nicht, dass sie etwas mit dem Kronprinzen von Wuyong zu tun haben. Vermutlich stammte der Bildhauer nicht einmal aus Wuyong.«
Hua Cheng schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Ach ja? Großer Bruder, du hast wirklich ein Auge fürs Detail.«
Xie Lian lächelte zurück. »Ach, nein, es ist nur – die Ausarbeitung, der Kleidungsstil, wie der Faltenwurf dargestellt ist – all das sieht aus, als entstamme es einer späteren Epoche. Und zwar einer, die mir sehr vertraut ist … Es ist der Stil von Xianle.«
Hua Cheng runzelte die Stirn. »Du kennst dich auf diesem Gebiet wirklich gut aus.«
»Ach, nicht wirklich. Es ist doch normal, dass man etwas Wissen ansammelt, wenn man etwas sehr oft sieht. Und dazu gehören auch Götterstatuen«, winkte Xie Lian ab.
Er konnte es nicht genau benennen, aber irgendetwas an Hua Cheng störte ihn. Er verhielt sich seltsam, seit er aufgewacht war. Erst allmählich wurde ihm das bewusst. Es war, als versuche er, eine unterschwellige Nervosität zu verbergen. Doch Xie Lian hakte nicht nach. »San Lang, du sagst, es ist besser, sie nicht genauer zu untersuchen. Lass uns also wachsam bleiben«, erwiderte er stattdessen.
Hua Cheng nickte und die beiden setzten ihren Weg fort. Bald gelangten sie an eine Weggabelung und Hua Cheng schlug, ohne zu zögern, den linken Weg ein. Xie Lian hielt kurz inne, dann ging er ihm nach.
Hua Cheng wandte sich um. »Was ist denn?«
»Du warst noch nie zuvor in dieser Höhle, richtig?«
»Natürlich nicht.«
»Wie kannst du dann so sicher sein, dass der linke Weg der richtige ist?«
»Ich bin nicht sicher. Ich habe einfach auf gut Glück entschieden«, entgegnete Hua Cheng.
»Du warst noch nie hier, wie kannst du einfach blind einen Weg auswählen? Sollten wir uns nicht genau überlegen, welchen wir nehmen wollen?«
Hua Cheng lächelte. »Gerade weil ich noch nie zuvor hier war, sollten wir auf gut Glück entscheiden. Ganz gleich wie vorsichtig wir auch sind, wir wissen nichts über dieses Höhlensystem, also können wir uns auch auf unser Glück verlassen. Und davon habe ich reichlich.«
Obwohl das Sinn ergab, hatte Hua Cheng zuvor doch immer Xie Lian die Entscheidung überlassen, welchen Weg sie einschlugen. Es kam selten vor, dass er die Führung übernahm. Xie Lian nickte. Gerade wollten sie den linken Gang betreten, da sagte Xie Lian hastig: »Warte! San Lang, hast du das gehört?«
»Was?«
»Dort, auf der rechten Seite. Da sind Stimmen.«
Hua Chengs Miene veränderte sich. Einen Augenblick lauschte er angestrengt, dann sagte er: »Großer Bruder, ich glaube, du irrst dich. Es ist nichts zu hören.«
»Doch. Hör genau hin. Es ist eine Männerstimme.«
Hua Cheng lauschte erneut und runzelte die Stirn. »Ich kann wirklich nichts hören.«
Xie Lian sah ihn verblüfft an. Bilde ich mir das etwa ein?, fragte er sich.
»Hoheit, irgendetwas stimmt hier nicht. Vielleicht ist es ein Trick. Lass uns darüber reden, wenn wir draußen sind«, schlug Hua Cheng vor.
Xie Lian zögerte, doch dann sagte er entschlossen: »Nein. Es könnten Nan Feng und Fu Yao sein. Ich muss nachsehen.«
Eilig ging er los. »Großer Bruder! Lauf nicht einfach weg«, rief Hua Cheng ihm nach.
Doch wer auch immer da gerufen hatte, mochte in großer Gefahr schweben, jedes Zögern könnte die Lage noch schlimmer machen, und Xie Lian würde sich keine Achtlosigkeit erlauben. Er rannte den rechten Gang entlang. Je weiter er vorankam, desto deutlicher hörte er das wütende Schreien eines Mannes.
Es sind tatsächlich Nan Feng und Fu Yao!, dachte er erfreut.
Er wusste nicht, wie lange er schon durch den Gang geeilt war, als er in einer großen Höhle auf die Quelle der Schreie stieß. Dort befanden sich keine Götterstatuen, dafür ein tiefes Loch – und aus diesem hörte er die Stimmen von Nan Feng und Fu Yao. Es sah aus, als seien beide in diesem Loch gefangen und kämen nicht mehr heraus. Doch sie schrien einander leidenschaftlich an, also schienen sie nicht in Gefahr zu schweben.
Es war zu dunkel, um tief in dem Loch etwas erkennen zu können. Xie Lian legte die Hände an den Mund und rief von oben: »He! Was ist mit Euch passiert?«
Als die beiden seine Stimme hörten, unterbrachen sie ihren Streit. Fu Yao antwortete als Erster: »Eure Hoheit? Seid Ihr das? Schnell, zieht uns hinauf!«
Nan Feng schwieg. Xie Lian wunderte sich. »Könnt Ihr nicht selbst herausklettern? So tief ist das Loch doch nicht. Was ist da unten los?«
Vielleicht lag es daran, dass sie die ganze Zeit gestritten hatten, dass Fu Yao erbost klang. »Wenn wir hinaufklettern könnten, hätten wir es doch wohl schon getan. Das müsst Ihr doch selbst erkennen, Hoheit.«
Xie Lian kniff die Augen zusammen. »Ich kann nichts sehen. Habt Ihr noch spirituelle Kraft? Könnt Ihr ein Licht entzünden, sodass ich den Boden des Lochs ausmachen kann? Wenn nicht, werde ich eine Lichtkugel hinunterwerfen.«
Doch er hatte den Satz kaum beendet, da riefen beide gleichzeitig: »Nein! Bloß nicht!« In ihren Stimmen schwangen Angst und Panik mit.
»Zündet kein Feuer an!«, brüllte Fu Yao.
Wenn er kein Feuer anzünden konnte, musste er sich etwas anderes einfallen lassen, um Licht zu machen. Xie Lians erste Idee war, sich umzuwenden. »San Lang …«
Doch da war niemand – Hua Cheng war ihm nicht gefolgt. Das überraschte Xie Lian. Zunächst fühlte er sich unbehaglich, dann verwirrt. Es konnte doch nicht sein, dass Hua Cheng ihn verloren hatte, oder doch?
Hua Cheng hatte sich seltsam verhalten, seit sie in die Höhle der tausend Gottheiten geraten waren, aber Xie Lian konnte nicht benennen, warum. Er blickte sich nach links und rechts um und bemerkte einen kleinen silbernen Schmetterling, der auf seiner Schulter saß. Er berührte ihn sanft. »Hallo …?«
Der Schmetterling flatterte mit den Flügeln, blieb aber auf seiner Schulter sitzen. Scheinbar wollte er ihm nur seine Flügel zeigen. Im Verlauf ihrer Reise hatte Hua Cheng ihm erklärt, dass es verschiedene Kategorien von Schmetterlingen gab. Xie Lian wusste nicht, zu welcher dieser zählte oder was seine Aufgabe war, aber wenigstens verströmte er etwas Licht.
»Kannst du hinunterfliegen und dich dort für mich umsehen?«, bat er.
Der Schmetterling breitete die Flügel aus und flog in das Loch. Xie Lian rief ihm seinen Dank hinterher und wartete geduldig, bis er den Grund erreichte. Als das matte silberne Licht die Lage offenbarte, weiteten sich Xie Lians Augen.
Der Boden des dunklen Lochs war mit einer eigenartigen weißen Schicht, einem Geflecht aus Seide, bedeckt.
Nan Feng und Fu Yao hatten sich so in den Seidenfäden verfangen, dass sie aussahen, als wären sie in Kokons eingewickelt, wie zwei Fliegen, die in ein Spinnennetz geraten waren. Ihre Gesichter waren von schwarzen und blauen Blutergüssen übersät – diese hatten sie sich wahrscheinlich während ihres Kampfes gegenseitig zugefügt. Xie Lian klopfte sich in Gedanken selbst auf die Schulter und lobte sich für seine Vorsicht. Hätte er einen Feuerball hinuntergeworfen, wäre das ganze Loch in Flammen aufgegangen.
»Was ist das?«, rief er nach unten. »Ein Spinnennetz? Ist das die Höhle eines Spinnendämons?«
»Wir wissen es nicht«, rief Fu Yao verzweifelt. »So oder so, wir kommen nicht heraus!«
Nan Fengs Miene hingegen war ausdruckslos. Zunächst hatte es den Anschein erweckt, als wolle auch er um Hilfe rufen, aber er hatte sich die Worte verkniffen, als er bemerkt hatte, dass es Xie Lian war, der gekommen war.
»Kommt nicht hinunter – die Spinnenseide ist zäh und klebrig«, mahnte Nan Feng. »Wenn sie Euch erwischt, könnt Ihr nur schwer entkommen.«
»Ich werde nicht hinuntersteigen«, versicherte Xie Lian.
Er dachte kurz nach, dann band er das eine Ende Ruoyes an Fangxins Griff. Er wollte probieren, das Schwert hinunterzulassen. Doch als Ruoye ungefähr auf halber Höhe war, hatte das Netz es bereits entdeckt. Seidenfäden schossen von unten auf den Eindringling zu. Ruoye rollte sich schnell ein, aber es war zu spät. Die Fäden hatten es längst erreicht, umwickelt und zerrten es nun nach unten. Dadurch wurde auch Xie Lian in das Loch gerissen.
Er hätte nicht gedacht, dass das Netz so stark und so hinterhältig wäre.
Sobald Xie Lian in das Loch fiel, schnellten ihm sofort Seidenfäden entgegen, um ihn einzufangen. Weitere Fäden wanden sich um die beiden Kokons mit Nan Feng und Fu Yao, um sie zu sichern.
Fu Yao war außer sich. »Wie kann es sein, dass Ihr auch hineingefallen seid? Seht uns an – drei dumme Narren! Nun sterben wir hier alle zusammen!«
»Was beschwerst du dich denn? Das ist nur passiert, weil er versucht hat, uns zu retten!«, fuhr Nan Feng ihn an.
Xie Lian wand sich und konnte nicht aufhören zu lachen.
Nan Feng und Fu Yao sahen ihn entgeistert an.
»Habt Ihr euch auf dem Weg nach unten den Kopf angeschlagen? Seid Ihr von Sinnen?«, fragte Fu Yao entsetzt.
Xie Lian liefen die Tränen über die Wangen, nur mit Mühe konnte er antworten: »N… Nein. Ha ha ha … Was ist das für ein Netz? Es … es kitzelt so! Ich kann nicht mehr … Ha ha ha ha …«
Das Seidengeflecht hatte seinen Sturz abgefangen und die Fäden wickelten ihn vorsichtig und beinahe liebevoll ein. Sie strichen sanft über Xie Lians Körper und kitzelten ihn dabei.
Xie Lian krümmte sich und versuchte, dagegen anzukämpfen. »Nein, nicht, warte! Halt, halt! Ich ergebe mich! Nicht!«
Da erst banden die weißen Fäden ihm die Hände hinter dem Rücken zusammen und hörten auf, ihn durchzukitzeln. Nan Feng und Fu Yao starrten ihn weiterhin fassungslos an.
»Wie kann das sein? Als es uns gefesselt hat, war das Netz so grob. Warum ist es so nachgiebig mit ihm? Es wickelt sich nicht einmal um sein Gesicht.«
Xie Lian kam endlich wieder zu Atem. »Sind … Eure Gesichter nicht auch frei?«
Fu Yao verdrehte die Augen. »Inzwischen ja. Sie waren eingewickelt. Wir haben mit unseren Zähnen die Fäden durchgebissen, als wir zu uns kamen. Sonst hätten wir doch nicht rufen können.«
Xie Lian versuchte halbherzig, sich zu befreien, aber das seidene Netz war stark und unnachgiebig, außerdem tat ihm von seinem Lachanfall noch das Zwerchfell weh. Vorerst konnte er nichts tun, also legte er sich hin und entspannte sich. »Wie seid Ihr beiden hier hineingeraten?«
»Wir wissen es nicht«, antwortete Fu Yao. »Als die Lawine kam, wurden wir von den Schneemassen mitgerissen. Als wir später wieder zu uns kamen, waren wir hier.«
»Nein, nein«, sagte Xie Lian. »Ich meinte, warum seid ihr zum Tonglu gekommen?«
Fu Yao brauste auf, kaum dass das Thema aufkam. »Ich habe diese Geisterfrau Lan Chang und den Fötusgeist verfolgt. Wüsste zu gern, warum er hier ist.«
»Ich? Ich bin ebenfalls auf der Jagd nach der Mutter und dem Kind …«, entgegnete Nan Feng.
»Warum bist du ihnen dann nicht auf den Fersen geblieben? Warum hast du stattdessen mich angegriffen? Ich … Mein General hat doch schon gesagt, dass er nichts mit dem Fötusgeist zu tun hat. Er hat keinen der beiden getötet. Seine guten Absichten wurden vollkommen falsch ausgelegt – es ist eben zwecklos, sich zu bemühen, ein guter Mensch zu sein.«
Aus alter Gewohnheit begann Xie Lian zu vermitteln. »Ist ja gut, ist ja gut, hört auf damit. Ich habe verstanden. Mit Eurem Geschrei habt Ihr die Lawine verursacht, nun lasst es doch gut sein. Lasst uns lieber überlegen, wie wir hier herauskommen.«
Doch Nan Feng war angestachelt. »Bemerkt dein General wirklich nicht, wie seltsam er sich verhält? Er hat kein Recht, sich zu beschweren, wenn jemand ihn verdächtigt!«
Fu Yao funkelte ihn böse an. »Was behauptest du da? Wag es ja nicht, das noch einmal zu sagen!«
Nan Feng starrte zurück. »Ich wage es und ich werde es immer wieder sagen. Du hast noch nie gute Absichten für irgendwen gehegt. Vor Leuten, die du nicht leiden kannst, tust du gutmütig, nur um dir hinterher zufrieden ins Fäustchen zu lachen. Du willst dich nur großtun und zusehen, wie andere sich abmühen. Komm mir ja nicht damit, dass irgendwelche Absichten falsch ausgelegt wurden, und glaub ja nicht, dass du ein guter Mensch bist! Gute Menschen sind nicht wie du – aber das kannst du ja nicht wissen.«
Die Adern auf Fu Yaos Stirn traten hervor und seine Lippen zuckten. »Das hast du dir alles ausgedacht, das ist nichts als blanker Unsinn!«
»Du musst ja wissen, ob es Unsinn ist. Als ob ich dich nicht kennen würde!«, rief Nan Feng.
Auch an Fu Yaos Hals waren die Adern nun sichtbar. »Was nimmst du dir eigentlich heraus, mich belehren zu wollen? So herablassend wie du bist, solltest du besser aufpassen. Von so hoch oben kann man tief fallen und sich ein Bein brechen!«
»Ich bin nicht herablassend, ich bin nur in allem besser als du. Glaubst du, niemand erinnert sich an deine krumme Nummer damals?«
Allein die Andeutung brachte Fu Yao noch mehr auf, die Scham befeuerte seinen Groll. »Ja, ich gebe es zu! Aber wie bitte bist du besser als ich? Sind dir deine Frau und dein Sohn nicht plötzlich wichtiger geworden? Jeder tut Dinge für sich selbst, jeder ist sich selbst der Nächste. Schämst du dich nicht, mir immer und immer wieder diese eine uralte Sache vorzuhalten?«
Als er die Worte »Frau« und »Sohn« hörte, explodierte Nan Feng vor Wut. »Du verdammter … Du! Ich …? Du?«
Obwohl keiner der beiden sich rühren konnte, hatten sie sich so in Rage geredet, dass sie nicht bemerkt hatten, dass sie in ihren Anreden durcheinandergeraten waren. Sie hatten »dein General« und »mein General« durch »du« und »ich« ersetzt und in ihrer Wut hatten sie gar nicht erkannt, was sie damit alles offenbart hatten. Nun jedoch dämmerte ihnen ihr Fehler.
Xie Lian hatte es längst aufgegeben, etwas dazu zu sagen. Nan Feng und Fu Yao wandten sich ihm zu und sahen, dass er sich in dem seidenen Bett schweigend weggedreht hatte.
»Ähm … Ich habe nichts gesehen. Moment, ich meine, ich habe nichts gehört.«
Schweigend starrten sie ihn an.
Mit dem Gesicht zur Wand fragte Xie Lian ruhig: »Wie lange wollt ihr noch so weitermachen? Ich habe nicht vor, mich in irgendeiner Form dazu zu äußern, nur so viel sei gesagt: Ich denke doch, dass die Frau und der Sohn für jeden das Wichtigste sein sollten. Darin kann ich nichts Falsches sehen, das ist doch vollkommen normal. Aber diese alten Geschichten … lasst uns nicht darauf herumreiten. Lasst uns lieber überlegen, wie wir fliehen können …«
»Ihr wusstet es?«, unterbrach ihn Fu Yao.
Da er sich nun nicht mehr herausreden konnte, sagte Xie Lian: »Ja …«
»Wann habt Ihr es herausgefunden? Und wie?«, fragte Fu Yao ungläubig.
Xie Lian brachte es nicht über sich, ihm die Wahrheit zu sagen. »Ich fürchte, das habe ich vergessen.«
Die Wahrheit war, dass er schon lange Bescheid wusste. Bereits am Berg Yujun hatte er es vermutet und als sie den Banyue-Pass betreten hatten, hatte sich sein Verdacht bestätigt.
Diese »jungen Beamten des Mittleren Hofes« existierten nicht. »Nan Feng« und »Fu Yao« waren in Wirklichkeit Schatten von Feng Xin und Mu Qing.
Fu Yao konnte nicht fassen, dass er so leicht durchschaut worden war, und löcherte Xie Lian mit Fragen: »Wann? Wie? Irgendetwas muss Euch doch einen Hinweis gegeben haben? Wo war die Schwachstelle?«
Xie Lian brachte es wirklich nicht über sich. Es hatte keine besonderen Hinweise gegeben, weil es zu viele Schwachstellen gegeben hatte. Immerhin waren die drei zusammen aufgewachsen – Xie Lian kannte die Art, wie sie sich verhielten und sprachen, in- und auswendig. Die falschen Namen waren ungeschickt gewählt und sie hatten sich keine Mühe geben, ihre Persönlichkeiten zu verstellen, es war zu einfach gewesen. Hätte er nach all den Jahren nicht erkannt, wer dahintersteckte, hätte er sich in Grund und Boden geschämt.
Es gab immer Dinge, die man sagen konnte – und solche, über die man besser schwieg. Über ihr Verhalten als Himmelsbeamte die Augen zu rollen und den Kopf zu schütteln war das eine. Aber mit der falschen Identität konnten sie freier und entspannter sein, daher hatte Xie Lian es nie für nötig befunden, sie zu enttarnen.
Fu Yao – nein, er sollte von nun an Mu Qing genannt werden – biss die Zähne zusammen und sagte eisig: »Das heißt … Ihr habt schon lange gewusst, wer wir sind, aber nie ein Wort darüber verloren. Ihr habt schweigend zugesehen, wie wir uns abmühen. Richtig?«
Kapitel 92: In der Höhle der zehntausend Gottheiten werden die wahren Gesichter enthüllt
1
Als Xie Lian bemerkte, wie ernst Mu Qing die Angelegenheit nahm, gab er sich Mühe, die Wogen zu glätten. »Das ist doch wirklich keine so große Sache …«
Mu Qing schnaubte. »Ich wusste, dass ich recht habe. Hat es Spaß gemacht? War es eine Freude, mir beim Theaterspielen zuzusehen? Hm?«
Ihre Tarnung war gefallen, also konnte er es sich leisten, geradeheraus zu sprechen.
Nan Feng – nein, Feng Xin – blickte beklommen drein, aber er wollte Mu Qings Worte auch nicht unkommentiert stehen lassen. »Was soll dieser Ton?«
Mu Qing war blass und dünnhäutig, er errötete sofort, wenn ihm das Blut zu Kopf stieg. So sah man ihm immer gleich an, wenn er sich aufregte. Er drehte sich ruckartig zu Feng Xin um. »Welcher Ton? Vergiss nicht, dass du dich ebenso zum Narren gemacht hast! Ich bin nicht so großzügig wie du, dass ich es einfach hinnehmen könnte, jemandem so lange Zeit zur Belustigung gedient zu haben!«
»Es war nicht meine Absicht, euch als Narren hinzustellen«, beteuerte Xie Lian.
»Glaub nicht, dass jeder so engstirnig denkt wie du! Selbst als dein dummes Verhalten dich ins himmlische Gefängnis gebracht hat, hat Seine Hoheit noch versucht, dir zu helfen …«
»Ha, wie gütig, tausend Dank. Aber im Gefängnis bin ich wegen deines Sohnes gelandet. Was ist, willst du jetzt wirklich streiten? Du hast genug Schneid, einen Sohn zu zeugen, aber wagst es nicht, jemanden sprechen zu lassen?«
Für die Erwähnung seines Sohnes hätte Feng Xin ihn am liebsten totgeschlagen. Bedauerlicherweise waren sie jedoch noch immer alle drei fest in die Spinnenfäden eingewickelt und keiner konnte auch nur den kleinen Finger rühren. Feng Xin und Mu Qing konnten nichts tun, als rückhaltlos aufeinander zu schimpfen.
Feng Xins Gesicht rötete sich vor Zorn immer mehr und Xie Lian befürchtete schon, dass ihm eine Sicherung durchbrennen und er sich in Rage fluchen könnte. Er versuchte, sich zu rühren, wand sich vor und zurück und kam schließlich neben Mu Qing zu liegen. »Mu Qing, Mu Qing? Kannst du versuchen, dich umzudrehen?«
Mu Qing hörte auf zu fluchen und atmete durch. »Was habt Ihr vor?«
»Feng Xin ist zu weit weg, ich kann ihn nicht erreichen. Aber da wir wissen, dass es möglich ist, diese Fäden mit den Zähnen durchzubeißen, möchte ich versuchen, deine Hände zu befreien«, erklärte Xie Lian.
Mu Qing starrte ihn einen Moment lang an, dann erstarrte seine Miene und seine Augen verdrehten sich nach oben wie bei einem toten Fisch. »Nein, danke.«
»Ich möchte dir doch helfen«, sagte Xie Lian hilflos.
»Wie könnte ich dem erhabenen Körper Eurer Hoheit, der mit tausend Goldstücken nicht aufgewogen werden kann, das zumuten?«, entgegnete Mu Qing eisig.
»Was soll das denn jetzt?«, schimpfte Feng Xin. »Kannst du dir in deiner Lage etwa Sarkasmus leisten? Er versucht, dir zu helfen, dich zu retten, und du tust so, als sei er dir etwas schuldig!«
Mu Qing riss den Kopf hoch. »Wer hat ihn denn um Hilfe gebeten? Xie Lian! Warum müsst Ihr immer in Momenten wie diesem auftauchen?«
Xie Lian sah ihn etwas irritiert an. Dann erinnerte er sich daran, dass Mu Qing ihm vor langer Zeit schon einmal dieselbe Frage gestellt hatte. Wie hatte er sie damals beantwortet? Er konnte sich nicht erinnern.
»Ist es denn ein Problem, in einem Moment wie diesem aufzutauchen?«
Mu Qing legte sich wieder hin. »Das spielt keine Rolle. Ich brauche Eure Hilfe nicht.«
»Wieso?«, hakte Xie Lian nach. »Jeder braucht manchmal die Hilfe anderer.«
»Kümmert Euch nicht weiter um ihn«, sagte Feng Xin. »Er ist nichts als ein Angeber. Er denkt, er verliert sein Gesicht, wenn er Eure Hilfe annimmt.«
Mu Qing und Feng Xin beschimpften einander weiterhin in einem fort, während der silberne Schmetterling um Xie Lian herumflatterte – er vollführte einen gemächlichen und ruhigen Tanz und verströmte dabei seinen mattsilbernen Schein.
Das brachte Xie Lian auf einen Gedanken und er unterbrach die Diskussion der beiden. »Hört auf zu streiten. Wenn jemand euch so sieht, macht ihr euch nur lächerlich. Und bald wird jemand kommen, um uns zu helfen.«
»Weder im Himmel noch auf der Erde kann jemand einen Hilferuf aus dieser Hölle hören, wer soll also kommen und uns retten?«, konterte Mu Qing abschätzig. »Es sei denn …« Eine bestimmte Person kam ihm in den Sinn, bevor er seinen Satz beenden konnte, und er unterbrach sich abrupt.
»Der Blumensuchende Blutregen ist mit Euch gekommen?«, fragte Feng Xin direkt.
»Vertraut Ihr ihm so sehr?«, hakte Mu Qing zweifelnd nach. »Glaubt Ihr wirklich, dass er kommen wird?«
Xie Lian war voller Zuversicht. »Er wird kommen.«
Hua Cheng hatte sich zuletzt seltsam verhalten. Xie Lian hatte sogar ein paarmal gedacht, dass der Hua Cheng an seiner Seite nicht der echte war. Doch sein Bauchgefühl sagte ihm, dass das nicht sein konnte.
»Selbst wenn er wollte, wie sollte er diese Höhle jemals finden?«, fuhr Mu Qing fort.
»Wir können ja rufen. Je mehr Leute, desto lauter der Lärm«, schlug Feng Xin vor.
»Das ist nicht nötig«, sagte Xie Lian. »Wir müssen nur dasitzen, nein, daliegen und abwarten. Hua Cheng und ich sind durch ein rotes Band verbunden …« Bevor er seinen Satz beenden konnte, bemerkte er, wie Feng Xin und Mu Qing die Gesichter verzogen, als wären ihnen Würmer in die Ohren gekrochen.
»Warum sehr ihr mich so an?«, fragte er. »Versteht das nicht falsch. Ich rede nicht über irgendein kitschiges ›Band des Schicksals‹. Es ist nur ein magisches Werkzeug, nichts weiter.«
Ihre Mienen entspannten sich wieder.
»Ach so, ich verstehe«, sagte Feng Xin.
»Was ist das für ein magisches Werkzeug, was bewirkt es?«, erkundigte sich Mu Qing voller Zweifel.
»Es ist sehr nützlich«, antwortete Xie Lian. »Es ist ein rotes Band, das an unseren Händen festgebunden ist. Es ist unsichtbar und verbindet uns miteinander, sodass jeder den anderen finden kann. Solange wir atmen, löst sich die Verbindung nicht …«
Die anderen konnten es nicht mehr mit anhören und unterbrachen ihn. »Wo ist da der Unterschied zu einem Schicksalsband? Das ist doch genau dasselbe.«
Xie Lian sah sie verblüfft an. »Das finde ich nicht. Es ist etwas anderes.«
»Und was ist daran anders? Es ist genau dasselbe«, beharrte Mu Qing.
Xie Lian überlegte kurz, nur um festzustellen, dass es stimmte. Je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass der Zweck und die Funktion des magischen Werkzeugs genau denen eines »roten Schicksalsbandes« entsprachen.
Gerade als er den Gedanken beiseiteschieben wollte, drang eine Stimme von oben an sein Ohr. »Großer Bruder? Bist du da unten?«
Sobald er diese Stimme hörte, entspannte er sich. Er blickte nach oben. »San Lang. Ich bin hier unten.« Dann sagte er an die anderen gewandt: »Seht ihr? Ich habe es doch gesagt, er wird kommen.«
Feng Xin und Mu Qing sahen einander verstört an, als sie bemerkten, wie glücklich er wirkte. Hua Cheng streckte den Kopf nicht über den Rand des Lochs, aber alle konnten hören, wie er in hilflosem Tonfall klagte: »Großer Bruder, ich habe doch gesagt, du sollst nicht weglaufen. Was sollen wir jetzt tun?«
Der Tonfall verwirrte Xie Lian und seine Entspannung verflüchtigte sich. »Was? Ist es so schwer, mit diesen Spinnweben fertigzuwerden? Kann Eming sie nicht durchschneiden?«
»Die Seidenfäden sind nicht das Problem …«, hörte er ihn murmeln. Doch die Worte waren so leise, dass er nicht sicher war, ob Hua Cheng sie wirklich gesprochen hatte.
Einen Moment später sagte dieser leise: »Eming ist in keiner guten Verfassung.«
Das wunderte Xie Lian. Noch vor Kurzem war Eming doch vollkommen in Ordnung gewesen. Was sollte jetzt nicht mit ihm stimmen?
Mu Qing neben ihm schnaubte. »Fragt nicht weiter. Der Krummsäbel Eming ist ganz sicher nicht in schlechter Verfassung. Er sucht nur eine Ausrede, um uns nicht helfen zu müssen.«
»Sag das nicht«, entgegnete Xie Lian. Er vermutete vielmehr, dass Hua Cheng Eming eine Lektion erteilen wollte und ihn deshalb nicht herausließ.
Plötzlich fegte ein schwarzer Schatten über sie hinweg und eine rot gekleidete Gestalt landete lautlos neben Xie Lian. Hua Cheng beugte sich über ihn und ergriff seine Hand.
»San Lang«, rief Xie Lian erschrocken aus, »warum bist du auch in das Loch gekommen? Nimm dich vor den Spinnenfäden in Acht!«
Schon schossen die weißen Seidenfäden angriffslustig auf ihn zu, aber Hua Cheng würdigte sie nicht einmal eines Blickes. Auf eine beiläufige Geste hin schirmten ihn Hunderte von Schmetterlingen mit ihren Flügeln ab und wehrten die Angriffe der Seidenfäden ab.
Hua Cheng riss die Spinnweben auseinander, die Xie Lian gefesselt hielten, dann fasste er ihn um die Taille und zog mit seiner freien Hand einen roten Regenschirm hervor. »Gehen wir.«
Die anderen beiden waren wie vor den Kopf gestoßen, als sie bemerkten, dass er keine Anstalten machte, sie zu retten. »Hast du vielleicht etwas vergessen?«
Xie Lian wollte schon antworten, da drehte Hua Cheng sich zu ihnen um. »Oh, ja.«
Fangxin, das noch immer von den Spinnenfäden fest umwickelt war, flog in Hua Chengs Hand und er reichte es Xie Lian. »Dein Schwert, großer Bruder.«
Das war es also, was er vergessen hatte?
»He!«, protestierten Feng Xin und Mu Qing.
Hua Cheng umfasste Xie Lian fester und streckte seinen anderen Arm aus, um den roten Regenschirm aufzuspannen. »Halt dich nur gut an mir fest, großer Bruder.«
Mit diesen Worten flog der rote Schirm aufwärts und nahm die beiden mit sich. Xie Lian hielt sich an Hua Cheng fest und als sie ungefähr sechs Meter aufgestiegen waren, begannen die anderen zwei erneut zu rufen. Xie Lian wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Ich habe euch nicht vergessen.«
Er schickte Ruoye los, das von seinem Handgelenk schnellte, sich einige Male um die beiden großen Kokons wickelte und sie dann mit sich nach oben zog.
Als sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten, rief Feng Xin: »Wartet! Wartet! Ich habe etwas unten liegen lassen.«
»Was denn?«, fragte Xie Lian von oben.
»Ein Schwert. Es ist in eine Ecke gefallen.«
Xie Lian blickte nach unten und tatsächlich konnte er zwischen dem seidigen Geflecht einen Schwertgriff herausragen sehen. Er befahl Ruoye, sich noch weiter auszustrecken und das Schwert zu packen, und zog dann alle nach oben. Endlich hatten alle vier wieder festen Boden unter den Füßen.
Ruoye ließ die beiden dicken Kokons los und wickelte sich hastig um Xie Lians Handgelenk. Es zitterte leicht und erweckte beinahe den Anschein, als fürchte es sich vor den weißen Seidenfäden, die ihm einerseits ähnelten, andererseits jedoch so aggressiv und boshaft waren. Xie Lian beruhigte es, während er mit Fangxin die Kokons aufschnitt. Kaum konnten Feng Xin und Mu Qing sich bewegen, sprangen beide auf und rissen sich das restliche Gespinst vom Körper. Xie Lian hielt Feng Xin das Schwert hin, das Ruoye heraufgeholt hatte. Nun, da er es in den Händen hielt, blickte er es staunend an. »Ist das … Hongjing? Nan Feng, hat dein General das Schwert repariert?«
Es war nur ein beiläufiger Kommentar, aber kaum hatte er ihn ausgesprochen, bemerkte er, wie schlimm er sich anhörte. Feng Xin und Mu Qing waren noch in den Gestalten von »Nan Feng« und »Fu Yao« und Xie Lian hatte vorübergehend vergessen, dass sie enttarnt waren, und unbewusst die Scharade fortgeführt. Er hatte aufmerksam sein wollen, aber es hatte nur zu Peinlichkeit geführt. Beide verfielen in ein beklommenes Schweigen.
Feng Xin konnte nicht verbergen, wie unangenehm ihm die Situation war. Er verwandelte sich in seine wahre Gestalt zurück und nahm das Schwert. »Ja, es wurde repariert. Schließlich wimmelt es am Tonglu von Geistern. Das Schwert macht einiges leichter.«
Xie Lian warf dem Übeltäter einen Blick zu, der Hongjing zerschlagen hatte und nun direkt neben ihm stand. Er räusperte sich leise. »Nimm es ihm nicht übel.« Es war nicht leicht, ein Schwert zu reparieren, das in Stücke zerschmettert worden war.
Mu Qing nahm ebenfalls seine wahre Gestalt an. Er strich sich die restlichen Seidenfäden von den Ärmeln. »Es ist gut, dass es repariert wurde. Viele der Geister und Dämonen sind Meister der Täuschung. Wenn jemand sein Gehirn nicht benutzen kann, hat er dank Hongjing doch die Möglichkeit, ihre Illusionszauber zu durchschauen.«
»Wen nennst du hier hirnlos?«, brauste Feng Xin auf. »Denkst du, ich bemerke deine unterschwellige Aggression nicht?«
Und schon ging es wieder los. Xie Lian wandte sich kopfschüttelnd Hua Cheng zu. »San Lang, ich bin vorhin überstürzt losgelaufen. Entschuldige bitte, dass ich dich zurückgelassen habe.«
Hua Cheng steckte den Regenschirm ein. »Schon gut. Solange du nicht wieder davonläufst.«
Xie Lian grinste. Gerade als er etwas entgegnen wollte, bemerkte er, dass der Blick, den Mu Qing Hua Cheng zuwarf, sich in ein seltsames Starren verwandelt hatte.
»Mu Qing? Was ist denn?«, fragte er.
Dieser riss sich zusammen und wandte sich Xie Lian zu. »Nichts. Ich habe nur den Blumensuchenden Blutregen noch nie so gesehen und war neugierig, das ist alles.«
Xie Lian konnte ihm seine Erklärung nicht wirklich glauben. Zwar war dies wahrscheinlich das erste Mal, dass Mu Qing Hua Cheng in seiner wahren Gestalt sah, aber er hatte ihn in seinem jugendlichen Körper gesehen und so unähnlich sahen diese beiden Erscheinungsformen einander nicht. Warum also dieser Blick?
Die vier verließen die Höhle und schon nach wenigen Schritten fragte Feng Xin erstaunt: »Was ist das für ein Ort?«
Mu Qing wunderte sich ebenfalls. »Was ist hier geschehen?«
Das Seidennetz hatte sie am Boden des Lochs festgehalten, daher hatten sie keine Ahnung, wo sie sich befanden. Sie staunten über die unzähligen Götterstatuen, von denen jede einzigartig war und in einer eigenen Höhle stand, und waren verblüfft über diesen mysteriösen Ort, der tief unter dem schneebedeckten Berg solche Kunstschätze beherbergte.
»Das ist eine Höhle der zehntausend Gottheiten«, erklärte Xie Lian.
Mu Qing blickte sich um und murmelte: »Wer weiß, wie viele Jahre es gedauert und wie viel Blut und Schweiß es gekostet hat, das alles zu erschaffen. Das ist wirklich … wirklich …«
Ihm fehlten die Worte, um seine Gedanken auszusprechen. Xie Lian konnte ihn verstehen. Eine Höhle wie diese war zur Kultivierung und Götteranbetung geschaffen. Seine Eltern hatten einst Höhlen wie diese für ihn erbauen lassen. Welcher Himmelsbeamte wäre nicht beeindruckt von einem so gigantischen Höhlensystem? Wenn eine ihrer eigenen Statuen in diesen Höhlen angebetet würde, würde es ihre göttliche Macht deutlich steigern.
»Welche Gottheit wird hier verehrt?«, fragte Feng Xin verwirrt. »Warum sind die Gesichter der Statuen verdeckt?«
»Um Vorbeigehende daran zu hindern, die Gesichter zu sehen, das ist doch offensichtlich«, antwortete Xie Lian.
»Das ist doch seltsam«, kommentierte Mu Qing. »Sie hätten die Köpfe der Statuen zerschlagen können. Wozu haben sie sich solche Mühe gemacht? Dünne Schleier wie diese halten niemanden auf, der die Gesichter sehen will.«
Während er sprach, trat er auf die nächstbeste Steinfigur zu, um ihr den Schleier abzunehmen. Xie Lian schaffte es nicht, ihn rechtzeitig aufzuhalten, da blitzte es plötzlich hell auf. Die Spitze einer silbernen Klinge stand nur wenige Zentimeter von Mu Qings Händen entfernt in der Luft. Mit einem Mal lag eine eisige Atmosphäre in der Luft.
»Was machst du da?«, rief Feng Xin aus.
Selbst angesichts der bedrohlichen Klinge wirkte Mu Qing nicht ängstlich. »Dein Krummsäbel sieht doch gut aus. Warum hast du behauptet, er sei in keinem guten Zustand?«
Hua Cheng stand direkt hinter ihm. Gelangweilt fragte er: »Hat man dir nicht beigebracht, die Finger von Dingen zu lassen, die sich im Territorium anderer befinden?«
»Dies ist nicht dein Gebiet, was befugt dich dazu, es zu verteidigen?«, entgegnete Mu Qing.
»Ich möchte nur keinen unnötigen Ärger«, sagte Hua Cheng nüchtern. »Das hier ist der Berg Tonglu. Wer weiß, was passiert, wenn man diese Schleier lüftet.«
»Ich kann nicht fassen, dass jemand wie der berüchtigte Blumensuchende Blutregen vor Ärger zurückscheut«, höhnte Mu Qing.
Er berührte die Schwünge des steinernen Umhangs. Der Krummsäbel Eming folgte der Hand und richtete abermals seine Spitze auf sie.
»Ich will doch nur den Stein berühren und nicht den Schleier abnehmen. Warum hältst du mich schon wieder auf?«
Hua Cheng schenkte ihm ein falsches Lächeln. »Ich halte dich nur davon ab, Probleme zu verursachen.«
Xie Lian stellte sich zwischen die beiden. »Hört auf. Wir müssen schließlich nicht unbedingt wissen, welche Gottheit hier verehrt wird. Wir sollten uns nicht zu lange aufhalten. Lasst uns gehen. Wir haben schließlich einen Auftrag zu erfüllen.«
Hua Cheng behielt Mu Qings Hand im Blick. »Wenn du das willst, soll er seine Hand wegnehmen und wir können gehen.«
»Komm schon, Mu Qing, lass die Statue in Ruhe«, sagte Xie Lian.
Mu Qing funkelte ihn an. »Ist das Euer Ernst? Sollte er nicht zuerst seine Waffe wegnehmen? Was, wenn ich mich zurückziehe und er nicht?«
Bei einem Streit zwischen einem Himmelsbeamten und einem Geist ergriff Feng Xin selbstverständlich die Partei des Himmelsbeamten. »Wir fänden es akzeptabel, wenn beide sich gleichzeitig zurückziehen.«
Hua Cheng machte keine Anstalten dazu. »Das hättet ihr wohl gern.«
Xie Lian sah ein, dass keiner der beiden nachgeben würde. Er legte eine Hand auf Mu Qings Arm. »Mu Qing, lass es gut sein«, drängte er in sanftem Ton. »Du hast damit angefangen, also solltest du nachgeben. In Ordnung? Tu es, um mein Gesicht zu wahren. Ich schwöre dir, wenn du die Hand wegnimmst, wird San Lang sein Versprechen halten.«
Mu Qing hielt zunächst noch dagegen, dann zog er langsam und widerwillig die Hand zurück. Alle machten sich wieder auf den Weg. Die Atmosphäre entspannte sich und Xie Lian seufzte erleichtert.
Sie erreichten eine weitere Weggabelung und Xie Lian wandte sich an Hua Cheng: »Was denkst du, welchen Weg sollen wir nehmen?«
Hua Cheng wählte anscheinend zufällig einen Weg aus. »Hier entlang.«
Feng Xin und Mu Qing gingen hinter ihnen her und waren schon wieder aneinandergeraten. Mu Qing unterbrach ihr Streitgespräch und fragte: »Wie hast du das entschieden? Warum nehmen wir diese Abzweigung?«
Die beiden wandten sich zu ihm um. »Reiner Zufall.«
Feng Xin runzelte die Stirn. »Wie kann man eine solche Entscheidung dem Zufall überlassen? Lasst uns nicht blindlings herumlaufen, wir könnten wieder in ein Loch fallen.«
Hua Cheng lächelte. »Selbst wenn das passiert, habe ich meine Methoden, um Seine Hoheit herauszuziehen. Ihr könnt mit uns gehen, wenn ihr wollt, oder ihr könnt eure eigenen Entscheidungen treffen, wenn euch das lieber ist. Um ehrlich zu sein, würde ich euch lieber nicht noch einmal retten müssen.«
»Du …!«
Das war nun einmal Hua Chengs Art. Selbst wenn er ein Lächeln im Gesicht trug und sich höflich und gewählt ausdrückte, gab er einem das Gefühl, dass seine Worte falsch waren. Je aufgesetzter sein Lächeln wirkte, desto mehr brachte diese Art sein Gegenüber auf – in diesem Fall geriet Feng Xin so in Rage, dass er sich einen Pfeil nahm und seinen Bogen spannte.
Xie Lian wusste, dass er nicht wirklich schießen würde. »Entschuldige, Feng Xin. Aber in unserer Situation spielt es keine Rolle, welchen Weg wir einschlagen.«
Hua Cheng lachte auf. »Oh, ich habe ja solche Angst. Es ist wohl besser, ich halte mich von dir fern.«
Er zwinkerte Xie Lian zu und trat einige Schritte von den anderen zurück. Xie Lian wusste, dass er versuchte, sie zurückzulassen, und schüttelte lächelnd den Kopf. Er wollte Hua Cheng gerade nachgehen, da packte ihn Mu Qing völlig unerwartet und hielt ihn auf. Xie Lian sah ihn verdutzt an. »Mu Qing? Was ist denn?«
Dieser gab keine Antwort. Stattdessen rief er nur »Jetzt!« und rannte mit Xie Lian im Schlepptau den anderen Weg entlang.
Hua Cheng bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, und wandte sich zu ihnen um. Doch da hatte Feng Xin der Wand bereits einen Schlag versetzt, sodass Steine und Felsbrocken heruntergestürzt waren und den Weg blockiert hatten. In Sekundenschnelle hatten Mu Qing und Feng Xin an die fünfzig Talismane auf die Felsen geklebt, sodass Hua Cheng von den anderen drei durch die Felsen abgeschnitten war.
Es stellte sich heraus, dass Feng Xin und Mu Qing gar nicht gestritten hatten, als sie zuvor hinter ihnen hergelaufen waren – sie hatten den Plan für diesen Überraschungsangriff geschmiedet.
Xie Lian war völlig überrumpelt. »Was macht ihr denn?«
Er wand sich aus Mu Qings Griff und wollte nach Hua Cheng sehen, aber Feng Xin stellte ihm ein Bein. Er und Mu Qing packten jeweils einen seiner Arme und zerrten ihn in raschem Lauf mit sich.
»Lass uns verschwinden, schnell! Die Talismane werden nicht lange standhalten!«, rief Feng Xin.
»Ihr fragt noch, was wir machen? Habt Ihr nicht bemerkt, dass irgendetwas an ihm seltsam ist?«, fragte Mu Qing.
»Was an ihm ist seltsam?«, wollte Xie Lian wissen.