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Nachdem Jun Wu sein wahres Gesicht gezeigt und die himmlische Hauptstadt als Geisel genommen hat, herrscht heller Aufruhr. Doch dankt eines cleveren Tricks gelingt es Hua Cheng, sich in den Himmel zu schleichen, um Xie Lian zu Hilfe zu eilen. Eine Schlacht der Riesen entbrennt, als der dreimal aufgestiegene Kriegsgott und der mächtigste aller Geisterkönige gemeinsam dem Himmelskaiser im Kampf gegenübertreten … Der Abschlussband der beliebten Reihe!
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Seitenzahl: 638
Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhalt
Kapitel 114: Ein Geschenk zur rechten Zeit beendet den Stillstand
Kapitel 115: Der Weg darf nicht abweichen, aber die Befehle bleiben gleich
Kapitel 116: Nicht leicht anzuziehen, noch schwerer auszuziehen
Kapitel 117: Jahrhunderte tief die Fluten, Jahrtausende heiß die Glut
Kapitel 118: Der weiße Herrscher schmiedet heimliche Todespläne
Kapitel 119: Ein Treffen mit dem Geistkönig, versteckt im Palast des Kronprinzen
Kapitel 120: Von Silberschmetterlingen umfangen, von Segenslaternen beschützt
Kapitel 121: Im Kampf gegen die feurige Dämonenstadt stehen Himmel und Erde kopf
Kapitel 122: Mit den lodernden Flammen der Hölle steigen Geister und Götter in die Hauptstadt hinab
Kapitel 123: Ein ungewohntes Ergebnis und Sorge darüber, was die Eins bedeutet
Kapitel 124: Hunderte Meter hohe Klippen, Tausende Güsse flammenden Regens
Kapitel 125: Auf der Brücke in den Himmel erinnern sich drei Dummköpfe an alte Zeiten
Kapitel 126: Ein erbitterter Kampf gegen den Weißen ohne Gesicht
Kapitel 127: Die weiße Rüstung zerbricht und seltsame Magie sprengt die Fluchfesseln
Kapitel 128: Ein Lächeln, während das rote Gewand verblasst
Kapitel 129: Auf dem Gipfel des Taicang legt sich der Staub
Kapitel 130: Der Edle sehnt sich nach der Blume, ich sehne mich nach dem Edlen
Kapitel 131: Der Segen des Himmelsbeamten eröffnet alle Wege
Bericht über kuriose Volksbräuche
Extras
Extra 1: Das Laternenrätsel in der Nacht des Laternenfestes
Extra 2: Des Kronprinzen fantastische Reise ohne Gedächtnis
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Extra 3: Eine Gutenachtgeschichte für den Geisterkönig
Extra 4: Oje! Die Höhle der zehntausend Gottheiten
Extra 5: Der Geisterkönig hat Geburtstag
Glossar
Kapitel 114: Ein Geschenk zur rechten Zeit beendet den Stillstand
Da plötzlich traf Xie Lian die Erkenntnis. Er legte Yu Yin hin und stand auf. »Die Fluchfessel … Er hat die Fluchfessel mitgenommen.«
Hätte sie keine Bedeutung, hätte »Jun Wu« sich ganz bestimmt nicht die Mühe gemacht, die geschwollene, prall mit Blut gefüllte Fluchfessel mitzunehmen. Vielleicht hatte das Ding Yin Yu nicht nur das Blut ausgesaugt – sondern auch seine Seele gefangen genommen.
Als Xie Lian das bewusst wurde, ließ er den verwundeten Quan Yizhen zurück und hastete eilig in den hinteren Teil des Qiying-Palasts. Aber »Jun Wu« war nicht mehr da. Xie Lian wandte sich um und stürmte nach draußen.
Die Hauptstraße der himmlischen Hauptstadt lag einsam und verlassen da. Niemand war zu sehen außer den ausdruckslosen Wachen, die die sonst so lebhaften Paläste der Götter bewachten. Keiner von ihnen interessierte sich für Xie Lian und auch er würdigte sie keines Blickes, während er direkt auf den Shenwu-Palast zulief.
Wie Xie Lian vermutet hatte, war »Jun Wu« hierher zurückgekehrt. Er saß auf seinem Thron und betrachtete Yin Yus Fluchfessel.
Als Xie Lian in den Saal platzte, hörte er ein sonderbares knurrendes Geräusch. Er sah nach oben und erblickte den Fötusgeist, der sich mit allen vieren an der Decke festkrallte. Er kroch hin und her und wirkte dabei wie ein kaltblütiges Tier. Er bot einen verstörenden Anblick.
Selbst dieses niederträchtige Wesen konnte nun in den Shenwu-Palast gelangen. Was würden wohl die Himmelsbeamten, die seit Jahrhunderten vergeblich darum kämpften, hier Zutritt zu erhalten, denken, wenn sie das sehen würden?
Xie Lian lief zielstrebig auf den Thron zu.
»Was willst du?«, fragte »Jun Wu«.
Ohne ein Wort der Erklärung griff Xie Lian nach der Fluchfessel, doch »Jun Wu« ließ ihn selbstverständlich nicht gewähren.
Nachdem Xie Lian es mehrmals vergeblich versucht hatte, rief er zornig aus: »Was für eine Verwendung hast du dafür? Yin Yu stellte keine Bedrohung dar. Er war vollkommen unbedeutend. Warum hast du das alles zu ihm gesagt? Und ist es nicht zwecklos, dieses Ding zu behalten?«
»Wer sagt, dass es zwecklos ist? Es hat dich aufgebracht – beweist das allein nicht schon, dass es sehr nützlich sein kann?«
Wie ein Erwachsener, der eine Schale mit Obst so auf den Tisch gestellt hatte, dass ein Kind sie nicht erreichen konnte, lächelte er belustigt, während er dabei zusah, wie das Kind sich auf die Zehenspitzen stellte und immer wieder versuchte, an die Früchte zu gelangen. Dabei erfreute er sich an dem Zorn, der wachsenden Verzweiflung und dem lauten Heulen des Kindes.
Xie Lian wurde schier verrückt vor Wut. »Bist du wahnsinnig?«
»Xianle, dein Ton ist wirklich respektlos«, tadelte »Jun Wu«.
Xie Lian konnte es nicht mehr aushalten und fluchte lauthals: »Ich geb dir gleich deinen verdammten Respekt …«
Er begann zu schimpfen. Jeder Fluch, den er je ausgesprochen hatte, hätte gegen den Mann gerichtet sein sollen, der jetzt vor ihm saß. Doch seine wüste Schimpftirade fand ein jähes Ende, als sich seine Kehle zuschnürte und er keine Luft mehr bekam.
Xie Lian wurde schwarz vor Augen. Er griff sich mit beiden Händen an den Hals, seine Beine gaben nach und er sank vornüber, sodass er vor »Jun Wu« auf dem Boden kniete.
Dieser blieb ruhig sitzen und tätschelte mit ruhigem Ausdruck den Fötusgeist. Er ließ seine Finger durch dessen spärliches Haar gleiten und streichelte seinen glatten, runden Kopf. Der Fötusgeist schien diese Zuwendung zu genießen. Er gab eigenartige Laute von sich, während dunkle Energie aus seinen Handflächen quoll.
»Jun Wu« betrachtete Xie Lians fassungsloses Gesicht und lauschte seinem heftigen Husten. »Xianle, ich rate dir dringend, dich so zu benehmen wie zuvor. Etwas gehorsamer und mit mehr Respekt. Nur so kannst du meinem Zorn entgehen. Vergiss nicht, dass auch du eine Fluchfessel trägst, nein, tatsächlich trägst du ja sogar zwei.«
Xie Lian brachte vor Husten kaum ein Wort heraus. »Du …!« Er sprang auf und funkelte »Jun Wu« aus rot geränderten Augen an.
»Was ist mit mir? Bin ich verachtenswert?«, hakte »Jun Wu« nach. »Xianle, vergiss nicht, dass du selbst darum gebeten hast.«
Das war doch ein schlechter Scherz. Wie hätte er damals wissen sollen, was für ein Objekt der Niedertracht sie in Wirklichkeit waren?
Eines fragte er sich nun: Hatte der Staatspräzeptor, als er ihm in der Hauptstadt begegnet war und sich auf ihn gestürzt hatte, ihn womöglich gar nicht hatte angreifen, sondern von der Fluchfessel befreien wollen?
Erst nach einer ganzen Weile lockerte sich die Fluchfessel um seinen Hals endlich und er konnte wieder atmen. Er schnappte nach Luft und griff unwillkürlich an seinen Hals. Doch da spürten seine Finger plötzlich etwas ganz anderes.
Es war eine sehr dünne silberne Kette. Sein Körper hatte das ursprünglich eiskalte Metall längst angewärmt, schließlich trug er die Kette nun schon seit langer Zeit. An dem Silberkettchen hing ein kristallklarer Ring.
Xie Lians Schultern versteiften sich augenblicklich und er hielt den Ring fest umklammert. Aus irgendeinem Grund schlug sein Herz immer schneller und schneller, als habe er gerade ein unerhörtes Geheimnis erfahren.
Hinter sich hörte er »Jun Wu« sprechen. »Ich bin es. Was gibt es?«
Was? Was hatte das zu bedeuten? Xie Lian steckte die Silberkette rasch wieder unter sein Gewand und wandte sich mit gerunzelter Stirn um, nur um festzustellen, dass »Jun Wus« Worte nicht an ihn gerichtet waren.
Er hielt zwei ausgestreckte Finger an seine Schläfe. Diese Haltung – er redete mit jemand anders. Zwar konnte kein anderer Himmelsbeamter in der Hauptstadt den Kommunikationskanal benutzen, aber für ihn selbst galt diese Einschränkung nicht.
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Es ist nichts. Seit dem Vorfall mit dem falschen Erdmeister haben wir noch viele weitere Spione enttarnt, die er in die himmlische Hauptstadt eingeschmuggelt hatte. Angesichts der aktuellen Vorfälle können wir es uns nicht erlauben, aus Unachtsamkeit Fehler zu machen. Alle Himmelsbeamten werden genauestens untersucht. Die ganze himmlische Hauptstadt ist abgeriegelt und die Kommunikationswege sind blockiert. Deshalb konntet Ihr auch mit niemandem Kontakt aufnehmen.«
Xie Lian atmete schwer, dann hielt er die Luft an. Es klang so, als wüsste »Jun Wus« Gesprächspartner noch nichts von der Lage in der himmlischen Hauptstadt. »Jun Wu« log und tat so, als sei alles in bester Ordnung. Und der Vorwand, den er nannte, war absolut glaubwürdig. Die Entdeckung, dass das Schwarze Wasser sich als Erdmeister ausgegeben hatte, hatte schwere Folgen gehabt, die den ganzen Himmel in ein heilloses Durcheinander gestürzt hatten. Nun erst einmal gründlich aufzuräumen, ergab Sinn, und zu diesem Zweck die himmlische Hauptstadt abzuriegeln, war eine vernünftige Maßnahme.
Xie Lian mochte noch so schreien und rufen, die Person am anderen Ende würde ihn nicht hören können, also beschloss er, abzuwarten und zuzusehen.
Nach einer Weile veränderte sich »Jun Wus« Miene plötzlich kaum merklich. »Ach? Ihr möchtet in die himmlische Hauptstadt kommen? Aber selbstverständlich«, sagte er freundlich. »Es ist ja auch eine wirklich wichtige Angelegenheit. Ihr seid höchst willkommen, wenn Ihr bereit seid, etwas zur Klärung der Verhältnisse beizutragen.«
Die andere Person wollte in die himmlische Hauptstadt kommen? Es wäre hilfreicher gewesen, wenn sie ihre Hilfe Stunden zuvor angeboten hätte, als alle dringend Unterstützung gebraucht hätten. Aber so? Die himmlische Hauptstadt war bereits gefallen und zu einem Dämonennest geworden. Jetzt herzukommen, war, wie in einen brennenden Abgrund zu springen.
Nach ein paar weiteren belanglosen Sätzen beendete »Jun Wu« das Gespräch.
Xie Lian fragte ihn sofort: »Wer wird kommen?«
Der Fötusgeist wusste, dass er kein Geschöpf des Lichts war, und verkroch sich, um sich in den Schatten zu verstecken.
»Jun Wu« tat nichts, er lächelte nur. »Nicht so ungeduldig. Du wirst es schon noch sehen.«
Das hatte Xie Lian nicht erwartet. »Ich werde es sehen?«, stutzte er ungläubig.
»Hast du demjenigen nicht gerade gesagt, dass die himmlische Hauptstadt abgeriegelt sei und alle Himmelsbeamten untersucht würden?«
»Natürlich«, antwortete »Jun Wu«. »Aber ich sollte eine zuverlässige linke und rechte Hand haben.«
Lingwen war offiziell noch auf der Flucht, also konnte sie nicht öffentlich an »Jun Wus« Seite stehen. So fiel diese Aufgabe Xie Lian zu.
»Jun Wu« musterte ihn einen Augenblick nachdenklich. Sein Tonfall wurde sanft. »Xianle, sei artig und spiel mit. Komm nicht auf dumme Gedanken. Ich kenne dich zu gut. Ich weiß genau, was du denkst.«
Xie Lian schwieg.
Gedankenverloren spielte »Jun Wu« an der blutgefüllten Fluchfessel herum. »Du hast es selbst gesagt – Yin Yu war völlig unbedeutend. Tatsächlich sind alle Himmelsbeamten, so großartig sie auch sein mögen, unbedeutend für mich. Du verstehst sicher, was passieren wird, wenn du versuchst, etwas zu enthüllen. Vergiss nicht, du darfst nichts verraten. Mach dich zurecht, unser Gast wird gleich hier sein.«
Xie Lian sagte kein Wort. Er stand auf, klopfte sich den Staub von den Kleidern und ordnete sein Haar. Dann trat er an »Jun Wus« Seite, wie er es immer getan hatte.
»Gut so«, sagte dieser zufrieden.
»Jun Wus« Drohungen waren äußerst wirkungsvoll. Und doch hatte Xie Lian etwas bemerkt: Er wollte nicht, dass, wer immer gleich eintreffen würde, erfuhr, dass die Hauptstadt gefallen war. Das machte Xie Lian noch neugieriger darauf, wer es wohl sein mochte.
Nach einer Stunde tauchten mehrere Personen vor dem Shenwu-Palast auf. Eine davon war eine Kultiviererin in einem grünen Gewand, die einen stämmigen Ochsen ritt. An ihrer Hüfte trug sie ein Schwert. Sie näherte sich in Begleitung mehrerer Bauern.
Die Regenmeisterin war gekommen.
Xie Lian war überrascht. So wie »Jun Wu« sich verhielt, seit seine wahre Identität ans Licht gekommen war, war anzunehmen, dass er jeden töten würde, der sich ihm in den Weg stellte. Er hätte jeden, der sich der Hauptstadt näherte, gefangen nehmen können. Warum hatte er vor der Regenmeisterin solche Ehrfurcht?
Auf diese Frage würde er vorerst keine Antwort erhalten.
Die Regenmeisterin neigte ihren Kopf, als sie den Palast betrat. »Eure Majestät. Hoheit. Wie geht es Euch?«
Xie Lian tat so, als sei alles in bester Ordnung, und erwiderte den Gruß: »Regenmeisterin.«
Er wirkte gefasst und höflich, innerlich jedoch rasten seine Gedanken. Wie konnte er der Regenmeisterin die wahre Lage in der himmlischen Hauptstadt klarmachen?
»Ihr wart lange nicht am himmlischen Hof, Regenmeisterin«, sagte »Jun Wu«.
»Die himmlische Hauptstadt ist rigoros abgeriegelt«, bemerkte die Regenmeisterin. Sie klang verwundert.
»Wenn man bedenkt, welche Folgen der Vorfall mit dem Schwarzen Wasser hatte, ist das notwendig. Mehr als fünfzig falsche Himmelsbeamte wurden bereits vom Mittleren Hof entfernt. Es wäre höchst besorgniserregend, wenn noch weitere am Oberen Hof enttarnt würden.«
»Ich verstehe«, sagte die Regenmeisterin.
Eine Zeit lang plauderten die drei über Belanglosigkeiten. Dabei fiel Xie Lian auf, dass »Jun Wu« nicht den geringsten Hinweis preisgab, ob er log oder die Wahrheit sagte, stets bewahrte er seine Gelassenheit. Es war wirklich bewundernswert. Xie Lian wollte die Regenmeisterin warnen, aber er befürchtete, dass »Jun Wu« es bemerken und den anderen Himmelsbeamten etwas antun könnte. Außerdem scheute er davor zurück, die ahnungslose Regenmeisterin in die Sache hineinzuziehen. Er musste einsehen, dass ihm die Hände gebunden waren.
Der Regenmeisterin schien nichts Ungewöhnliches aufzufallen. Sie erkundigte sich, ob es irgendwelche Angelegenheiten gebe, bei denen sie helfen könne.
»Zurzeit nicht«, antwortete »Jun Wu«. »Aber ich bin sicher, dass wir Eure Hilfe benötigen können, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind.«
»Dann werde ich solange in der himmlischen Hauptstadt bleiben und darauf warten, dass Ihr mich braucht«, erklärte die Regenmeisterin.
»Jun Wu« behielt sein Lächeln bei. Xie Lian konnte nicht erahnen, was er dachte, und er gab nichts preis, nicht einmal jetzt. »Das ist eine gute Idee. Ihr wart lange fort, also ist dies eine gute Gelegenheit, Euch wieder neu einzuleben. Die Regenmeisterresidenz steht schon seit längerer Zeit leer.«
Die Regenmeisterin nickte und wandte sich langsam zum Gehen. Xie Lian wusste, dass sie von dem Moment an, da sie den Palast verließ, überwacht werden würde. Der Gedanke machte ihn nervös.
Da drehte sich die Regenmeisterin plötzlich wieder um. »Eure Hoheit.«
Xie Lians Herz machte einen Satz. »Habt Ihr noch einen Ratschlag?«
Hatte sie doch bemerkt, dass etwas nicht stimmte?
»Nein, nein«, sagte sie. »Ich war schon viele Jahre lang nicht mehr in der Hauptstadt, deswegen habe ich einige Geschenke mitgebracht. Ich möchte Euch etwas geben. Würdet Ihr es annehmen?«
Damit hatte Xie Lian nicht gerechnet. Er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Was? Oh … danke schön.«
»Jun Wu« nahm selbstverständlich niemals Geschenke an, doch er ließ die Begleiter der Regenmeisterin lächelnd eintreten. »Xianle, die Regenmeisterin möchte Euch etwas schenken. Werdet Ihr es annehmen?«
Er sagte es, als wolle er einem Kind Manieren beibringen. Ein Gast war gekommen und hatte dem Kind ein Geschenk mitgebracht, die Eltern forderten das Kind auf, das Geschenk anzunehmen und sich zu bedanken. Xie Lian blieb keine andere Wahl, als mitzuspielen.
Einer der Bauern trat zu ihm und überreichte ihm mit beiden Händen ein fest verschnürtes Paket. Xie Lian dankte ihm und nahm das Paket geistesabwesend an, doch plötzlich veränderte sich seine Miene, als er etwas bemerkte.
Er stand mit dem Rücken zu »Jun Wu«, sein Gesicht war also nicht zu sehen. Dennoch fragte »Jun Wu«: »Was ist es für ein Geschenk?«
Als die Regenmeisterin sah, dass Xie Lian das Geschenk entgegengenommen hatte, sagte sie: »Nichts Wertvolles. Nur einige Spezialitäten von unseren Feldern. Wenn es weiter nichts zu besprechen gibt, werde ich nun gehen.«
»Bitte«, sagte »Jun Wu«.
Die Regenmeisterin zog den schwarzen Ochsen am Zügel und ging mit ihren Begleitern in Richtung ihrer Residenz, die sie seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt hatte. Xie Lian hielt das Paket fest an seine Brust gedrückt und wollte ebenfalls gehen, da hielt »Jun Wu« ihn auf: »Halt.«
Xie Lian blieb wie angewurzelt stehen.
»Komm zurück«, befahl »Jun Wu«.
Xie Lian trat in den Saal zurück und blickte »Jun Wu« an. Dieser stieg von seinem Thron herunter und nahm Xie Lian das Paket aus den Händen. »Nun darfst du gehen.«
Misstrauisch, wie nicht anders zu erwarten, hatte er das Geschenk der Regenmeisterin konfisziert.
Xie Lian sah ihn an, dann wandte er sich wortlos um und ging zum Xianle-Palast.
Dort lief er rastlos im Palastsaal auf und ab. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, da hörte er plötzlich eine helle, klare Stimme. »Hoheit?«
Xie Lian fuhr herum. Ein junger Mann, der zerschlissene Kleider und ein Kopftuch trug, hatte es irgendwie geschafft, unbemerkt auf die Fensterbank zu klettern. Dort saß er nun und grinste ihn schelmisch an.
Xie Lian war außer sich vor Freude. Er stürmte zwei Schritte auf ihn zu, bevor ihm bewusst wurde, dass der junge Mann ihn soeben mit »Hoheit« angesprochen hatte. Augenblicklich blieb er stehen. Etwas unsicher fragte er: »Bist du … San Lang?«
Der junge Mann lachte verschmitzt und sprang von der Fensterbank, dabei riss er sich das Tuch herunter. Als sein schwarzes Haar offen herunterfiel, band er es sich rasch hoch, wodurch ein hübsches, blasses Gesicht zum Vorschein kam – ein vollkommen anderes als noch vor wenigen Augenblicken. Es war ein Gesicht, das Xie Lian sehr gut kannte.
Hua Cheng drehte das Tuch in den Fingern und seufzte. »Großer Bruder, mein liebster großer Bruder. Dich zu treffen, ist dieses Mal so schwierig, wie in den Himmel aufzusteigen.«
Als Xie Lian das Geschenk im Shenwu-Palast entgegengenommen hatte, hatte er bereits etwas Ungewöhnliches bemerkt. Doch nicht das Geschenk an sich hatte seine Aufmerksamkeit erregt, sondern der Überbringer.
Als Xie Lian das Paket entgegengenommen hatte, hatte er seine Hand ergriffen und fest gedrückt. Es war eine anzügliche Geste gewesen – einer Frau gegenüber wäre es ein eindeutiger Annäherungsversuch gewesen. Xie Lian hatte nur geblinzelt, sein Gesicht war ausdruckslos geblieben und er hatte die Person ungerührt angesehen.
Es war ein hochgewachsener junger Mann. Obwohl er die Kleidung eines Bauern trug – geflickte, abgetragene Kleidung und ein Tuch um den Kopf –, waren seine Züge fein und hübsch, und seine Augen hatten gestrahlt, jedoch nur, als sich ihre Blicke begegnet waren. Als Xie Lian noch einmal geblinzelt hatte, hatte der Mann seine schüchterne, zurückhaltende Haltung wieder angenommen und war mit gesenktem Kopf zurückgetreten.
Wenn Hua Cheng ihn im Xianle-Palast aufsuchte, musste er jegliche Überwachung in der Gegend außer Kraft gesetzt haben. Sobald Xie Lian ihn erblickte, wusste er, dass auf ihn Verlass war. Es gab nichts, worüber er sich Sorgen machen musste.
Bevor Hua Cheng auf ihn zukommen konnte, hatte er sich schon auf ihn gestürzt. Er flog ihm in die Arme, aber Hua Cheng wich keinen Schritt zurück, er wankte nicht einmal. Er legte nur seine Hände um Xie Lians Rücken und lachte leise, ohne ein Wort zu sagen.
Xie Lian war überglücklich, aber dann fiel ihm plötzlich etwas ein. »Warte, San Lang«, sagte er eilig. »Der Himmelska… ›Jun Wu‹ ist äußerst misstrauisch. Du solltest die Formation in der Hauptstadt bewachen. Ganz sicher hat er Leute dort unten, die alles für ihn beobachten. Wird er nicht bemerken, dass du so plötzlich von dort verschwunden bist? Und kann der Windmeister die Formation ganz allein beaufsichtigen?«
»Entspann dich, großer Bruder«, antwortete Hua Cheng. »Ich habe mich um alles gekümmert. Ich werde nicht auffliegen.«
Xie Lian nahm an, dass er »Jun Wus« Spione ausgeschaltet oder einen Schatten zurückgelassen haben musste, und beharrte nicht weiter darauf, zu erfahren, wie genau er sich »um alles gekümmert« hatte.
»Es sieht ganz so aus, als hättest du mich vermisst«, bemerkte Hua Cheng gelassen.
Xie Lian musste an all den Quatsch denken, den sie im Kommunikationskanal zueinander gesagt hatten, während »Jun Wu« zugehört hatte. Dann wurde ihm bewusst, wie fest er sich an Hua Cheng klammerte. Er lockerte seinen Griff augenblicklich und richtete sich auf, bevor er in besonnenem Tonfall sagte: »Mhm … mhm, ja. Du sagtest, wir bräuchten jemandes Hilfe. Dieser Jemand war also die Regenmeisterin.«
Hua Cheng lächelte ihn vergnügt an. »Genau. Die Regenmeisterin hat jahrelang in der unteren Sphäre gelebt und wurde zufällig durch die Öffnung des Tonglu-Gebirges auf den Plan gerufen. Es ergibt also Sinn, dass sie in den Himmel zurückkehren wollen würde, um nach dem Rechten zu sehen. Hätte ›Jun Wu‹ ihr ohne triftigen Grund den Zutritt verwehrt, wäre es ihr seltsam vorgekommen, also musste er sie einlassen. Großer Bruder, sei unbesorgt. Alles ist gut, du darfst dich an mir festhalten. Es macht mir nichts aus.«
Xie Lian räusperte sich leise. »Nein … danke, schon in Ordnung. Aber wieso kann er der Regenmeisterin nichts anhaben?«
»Du weißt das vielleicht nicht … Die Regenmeisterin herrscht über die Landwirtschaft. Dieser Posten mag auf den ersten Blick öde und wenig beeindruckend erscheinen, deshalb interessiert sich kaum jemand dafür. Doch in Wirklichkeit ist es eine einzigartige Stellung. Zurzeit ist Yushi Huang die einzige Himmelsbeamte, die über die Landwirtschaft herrscht.«
Xie Lian dachte einen Moment darüber nach und setzte diese Informationen zu einem Bild zusammen.
»Nichts ist den Menschen wichtiger als Essen«, fuhr Hua Cheng fort. »Würde die Regenmeisterin getötet und kein passender Nachfolger für sie gefunden, würde die Landwirtschaft nicht mehr funktionieren und die Welt würde in Chaos versinken. Und wenn die Menschen nicht genug zu essen haben, hören sie auf, zu beten und zu opfern. Zuerst würde sich ihr Zorn gegen die Regenmeisterin richten, doch schon bald würden sie auch mit dem großen Gott, der über ihr steht, unzufrieden sein – ›Jun Wu‹ könnte sich also leicht ins eigene Fleisch schneiden, wenn er nicht aufpasst. Es könnte die Art Aufruhr entstehen, die Götter zu Fall bringen kann.«
Das bedeutete, es würde Aufstände geben, seine Tempel würden entweiht und seine Götterstatuen umgeworfen, so wie es das Volk von Xianle einst getan hatte.
»Außerdem baut die Regenmeisterin keine Tempel oder Schreine, hat seit Jahren nicht in der himmlischen Hauptstadt gelebt und strebt keine Beförderung an«, fuhr Hua Cheng fort. »Also gibt es nichts, womit er ihr drohen oder sie locken könnte. Es wäre auch nicht so einfach, einen triftigen Grund zu finden, um sie zu verbannen – er hat gegen sie nichts in der Hand. Solange die Regenmeisterin sich um die Landwirtschaft kümmert, bleibt seine Stellung gefestigt, also wird er das Trugbild so lange wie möglich aufrechterhalten. Er wird sie vorerst täuschen und dann später, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, entscheiden, was er tun wird.«
»Ich verstehe … dem Himmel sei Dank«, sagte Xie Lian erleichtert. »Das hätte beinahe in einer Katastrophe geendet. Die Regenmeisterin ist in der Zeit der größten Not zu unserer Hilfe gekommen. Hoffentlich ist sie eine Meisterin in der Kunst der Verstellung. Ach, und übrigens, wir müssen unbedingt den Staatspräzeptor finden. Ich habe viele Fragen, die niemand außer ihm beantworten kann.«
Mit diesen Worten beendeten sie ihr Gespräch und eilten aus dem Xianle-Palast.
Sobald Xie Lian über die Schwelle trat, wurde er vom Anblick mehrerer Wachen überrascht, die am Eingang standen. Er bereitete sich innerlich schon darauf vor, sie mit Ruoye bewusstlos zu schlagen, doch dann bemerkte er, dass sie stocksteif wie Holzpuppen dastanden – unbeweglich und mit erstarrter Miene. Hua Cheng hatte sie versteinert.
Unterwegs verwandelte sich das schimmernde Licht auf Hua Chengs Armschienen in silberne Schmetterlinge, die allmählich durchsichtig wurden und sich überall um sie herum versteckten. Hunderte, Tausende von Schmetterlingen verteilten sich in der ganzen himmlischen Hauptstadt. Es gelang den beiden, allen Patrouillen auszuweichen, sich immer rechtzeitig wegzuducken oder zu verstecken und erst wieder hervorzukommen, wenn die Luft rein war.
In einer kleinen Gasse, in die sie ausweichen mussten, stand Hua Cheng neben Xie Lian und beide beobachteten, wie die Wachleute vorbeimarschierten. »Nach diesem Abschnitt gehen wir oben weiter.«
Xie Lian nickte und sprang hinter Hua Cheng auf ein Dach. Hintereinander liefen sie über die Dächer, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.
Einen Moment später blieb Xie Lian auf der Ecke eines Daches plötzlich wie angewurzelt stehen. Angespannt blickte er Hua Cheng an.
Dieser bemerkte es und blieb ebenfalls stehen. »Was ist denn? Ist dir etwas aufgefallen?«
Xie Lian zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. Gedankenverloren sagte er: »Nein, es ist nur … es fühlt sich an, als hätte ich genau das schon einmal erlebt …«
Bevor er den Satz beenden konnte, schlang Hua Cheng die Arme um seine Taille. Im nächsten Augenblick »fielen« die beiden von dem Dach.
Die Welt kippte um sie herum. Xie Lians Bambushut glitt von seinem Rücken und er bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er zu Boden fiel. Hua Cheng hielt ihn fest umarmt, sie hingen nun kopfüber vom First des Palastdaches herab. Über ihnen kroch mit einem scharrenden Geräusch etwas hastig vorüber.
Xie Lian kannte das Geräusch inzwischen nur allzu gut: Es war der Fötusgeist, der auf dem Dach herumkroch. Was er wohl tat, vielleicht war er auf Erkundungstour?
Da hörten sie plötzlich von der Straße her eine Stimme: »Cuocuo, Cuocuo?«
Jian Lan.
Oh nein!, stöhnte Xie Lian innerlich auf. Der Fötusgeist befand sich genau über ihnen. Wenn Jian Lan näher kam, würde sie sie unterhalb das Daches entdecken. Xie Lian konnte sich nicht sicher sein, wie Jian Lan reagieren würde. Würde sie aus Dankbarkeit dafür, dass Hua Cheng ihr Leben gerettet hatte, schweigen oder würde sie den Feind alarmieren?
Ihr leichten, zögerlichen Schritte kamen näher und näher, bis sie direkt hinter der nächsten Ecke waren. Glücklicherweise sprang der Fötusgeist in diesem Moment von der anderen Seite des Daches.
Die beiden kletterten hastig wieder aufs Dach. Xie Lian atmete erleichtert auf.
Als Jian Lan um die Ecke spähte und sah, dass ihr Sohn vom Dach gekommen war, atmete sie ebenfalls erleichtert auf und trat zu ihm. »Cuocuo! Hör auf, überall herumzukriechen. Dieser Ort ist fremd und Furcht einflößend. Wenn du wegläufst und verschwindest, weiß ich nicht mal, wo ich nach dir suchen soll … Warum bist du hierhergekommen?«
Ihr Blick fiel auf die Palastinschrift und sie wich einige Schritte zurück. Als Xie Lian ihre Reaktion bemerkte, schloss er daraus, dass der goldene Palast unter ihren Füßen der Nanyang-Palast sein musste. Das bedeutete, dass Feng Xin dort in diesem Moment eingesperrt war.
Jian Lans Gesichtsmuskeln zuckten – sie wusste es wohl ebenfalls. Sie sah hinunter und schimpfte mit dem Fötusgeist: »Wieso bist du hierhergekommen?«
Er hielt etwas Weißes, Rundes in den Händen. Mit einem leisen Knurpsen nagte er daran.
»Was ist das?«, rief Jian Lan. »Was isst du da? Spuck es aus!«
Bei genauerem Hinsehen entdeckte Xie Lian, dass es ein gigantischer weißer Rettich war, und er wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Jian Lan musste ihre Aufforderung nicht wiederholen, denn offensichtlich mochte der Fötusgeist den Geschmack nicht. Er spuckte alles wieder aus, dann begann er zu kreischen, als bekäme er einen Wutanfall.
Jian Lan eilte zu ihm, nahm ihn in die Arme und säuselte: »Ist ja gut, ist ja gut. Guter Junge. Wenn es dir nicht schmeckt, dann iss es eben nicht. Nur Arme und Idioten mögen diese Dinger, wir essen so was nicht.«
Niemand außer einer leiblichen Mutter brächte es über sich, eine so scheußlich entstellte Kreatur im Arm zu wiegen und sie so sanft zu trösten. Der Fötusgeist schmiegte seinen Körper behaglich in ihren Arm und gab wohlige Geräusche von sich.
Beim Anblick dieser Szene empfand Xie Lian unvermittelt Mitleid. Gleichzeitig war er völlig verblüfft. »Wie kommt denn ein so riesiger Rettich in die himmlische Hauptstadt?«
Hua Cheng zog die Augenbrauen zusammen. »Großer Bruder, hast du das schon vergessen? Das ist eines der Geschenke, die die Regenmeisterin dir gebracht hat.«
Das also war das Geschenk der Regenmeisterin. Xie Lian versuchte, sich »Jun Wus« Gesicht vorzustellen, als dieser die hölzerne Kiste geöffnet und festgestellt hatte, dass sie einen gigantischen weißen Rettich enthielt. Aber es gelang ihm nicht – es überschritt seine Vorstellungskraft. Nachdem »Jun Wu« die Geschenke untersucht und erkannt hatte, dass es nichts Verdächtiges war, musste er den Rettich fortgeworfen haben, um den Fötusgeist damit zu füttern wie einen Hund.
Zunächst hatte der Fötusgeist den Rettich ausgespuckt und angewidert weggetreten. Doch nachdem er Jian Lans Worte gehört hatte, schien er nachgedacht zu haben. Plötzlich sprang er aus ihrer Umarmung. Er kroch darauf zu, nahm den Rettich in den Mund und stürmte damit in den Palast. Wenn Xie Lian nicht zu genau hinsah, hätte er ihn tatsächlich für einen haarlosen weißen Hund halten können.
»Geh nicht dort hinein«, rief Jian Lan ihm nach. »Das ist …«
Die Soldaten, die den Palast von Nanyang bewachten, zuckten nicht einmal mit der Wimper, geschweige denn, dass sie etwas unternommen hätten, um ihn aufzuhalten. Wahrscheinlich hatte man ihnen gesagt, der Fötusgeist sei »Jun Wus« Haustier oder sein Jagdhund. Jian Lan blieb keine andere Wahl, als ihm zu folgen.
Der Fötusgeist schien eine abgrundtiefe Abneigung gegen Feng Xin zu hegen und Xie Lian machte sich Sorgen, dass er ihm etwas antun könnte. Er wandte sich um. »San Lang?«
Ein durchsichtiger Schmetterling saß auf Hua Chengs Fingerspitze. »Ein Schmetterling hat sich bereits an sie geheftet.«
Xie Lian nickte und die beiden sahen mit an, was sich im Nanyang-Palast abspielte. Jian Lan schlich tief gebückt im Palast umher, als wollte sie um keinen Preis entdeckt werden. Zögerlich flüsterte sie: »Cuocuo …«
Doch es war unmöglich, nicht entdeckt zu werden. Der Fötusgeist sprang in den Palastsaal, wo er einen Mann in tiefer Meditation vorfand.
Als der Mann die Augen aufschlug, traf sein Blick den Jian Lans und beide erstarrten.
Nachdem der erste Schreck vorüber war, rief Feng Xin erfreut: »Jian Lan!« Er stand auf. »Warum bist du gekommen? Geht es dir gut? Du kommst gerade rechtzeitig. Du musst mir helfen …«
Da begann der Fötusgeist zu heulen. Er sprang zwischen die beiden, dann spuckte er den riesigen weißen Rettich auf den Boden und trat ihn voller Wucht von sich. Der angebissene Rettich traf Feng Xin mit einem dumpfen Schlag mitten ins Gesicht.
Der Fötusgeist blickte drein, als sei er stolz auf seine Tat, er plapperte laut vor sich hin und gluckste gehässig. Er sah aus, als würde er erwarten, dass seine Mutter ihn lobte.
Feng Xin wurde durch den Angriff beinahe bewusstlos geschlagen. Er wischte sich das Blut ab, das aus seiner Nase lief, und rief voller Zorn: »Was soll das? Benimm dich gefälligst!«
Er war erbittert, aber der Fötusgeist war noch erbitterter, er schrie ihn an und züngelte dabei.
Feng Xin machte einen schnellen Schritt vorwärts, um ihn zu ergreifen, aber der Versuch endete damit, dass der Fötusgeist sich in seinem Arm festbiss. Sosehr er auch mit dem Arm wedelte, er konnte ihn nicht abschütteln. Diese Familienszene war schrecklich und albern zugleich. Feng Xin geriet immer mehr in Rage, als er trotz aller Bemühungen den Fötusgeist nicht loswurde.
»Verdammt noch mal! Verdammt noch mal! Willst du Schläge? Was zur Hölle soll das?«
Jian Lan nahm sich ein Herz und rief: »Halt! Wer gibt dir das Recht, ihn anzuschreien oder zu schlagen?«
Überrascht über diese Ansage ließ Feng Xins Wut nach. »Er … er … Hat er den Feind als seinen Vater anerkannt? Warum ist er auf ›Jun Wus‹ Seite? Wie konnte es so weit kommen?«
Jian Lan schnalzte mit der Zunge. »Das fragst du noch? Hast du dir das nicht selbst zuzuschreiben? ›Einen Sohn zu ernähren, aber nicht zu unterrichten, das ist der Fehler des Vaters.‹ ** Wenn du deine Pflichten als Vater nicht vernachlässigt hättest, wäre dein Sohn dann jemals seiner Mutter aus dem Leib gerissen und zu so etwas gemacht worden? ›Was zur Hölle?‹, fragst du noch? Das ist die Hölle, die du erschaffen hast!«
Mit jedem ihrer Sätze war Feng Xin einen Schritt zurückgewichen und sprach nun deutlich leiser. »Aber … aber ich wusste doch nichts davon. Damals hast du mir gesagt, ich solle verschwinden …«
»Ha!«, rief Jian Lan aus. »Ich habe dich davongejagt, um dir zu helfen! Jeden Tag bist du mit dieser Unglücksmiene an mein Bett getreten – denkst du, ich hätte nicht gewusst, was in dir vorging? Du musstest deinem Kronprinzen dienen und gleichzeitig genug Geld auftreiben, um mich freizukaufen, du warst angeschlagen, müde und gereizt. Nur weil du es nicht übers Herz gebracht hast, mich zu verlassen, habe ich mich entschieden, dich davonzujagen.«
»Ich war tatsächlich vollkommen erschöpft«, räumte Feng Xin ein. »Aber ich war niemals deinetwegen gereizt. Ich wollte dir helfen.«
Jian Lan stieß ihm den Finger an die Brust. »Ich bitte dich! Du wolltest mir helfen? Du wusstest doch tief in deinem Inneren ganz genau, dass du dir das niemals hättest leisten können! Du musstest jede Münze zweimal umdrehen. Jeden Tag warst du als Straßenkünstler unterwegs und musstest dann auch noch dem Kronprinzen und dem alten König dienen – sei doch froh, dass ich mich nicht an dich gehängt und dir noch mehr aufgebürdet habe. Dass du jemals meine Freiheit hättest erkaufen können, war doch nichts als ein Traum!«
»So hast du anfangs nicht geredet. Wir haben es uns doch versprochen. Ich stehe immer zu meinem Wort …«
Jian Lan unterbrach ihn. »Versprechen und Schwüre gibt es viele. Aber denk doch mal einen Moment nach. Was hast du mir in Wirklichkeit gegeben? Sag schon? Außer diesem goldenen Gürtel und … Oh, warte, es war nur der goldene Gürtel, und du hast mich auch noch wieder und wieder ermahnt, ihn nicht zu verkaufen!«
Während ihr Finger auf ihn einstach, war Feng Xin immer weiter zurückgewichen, seine Miene war versteinert und voller Scham.
Je mehr Jian Lan redete, desto aufgebrachter wurde sie. »Oder meinst du etwa diesen gottverdammten Schutzzauber? Ich muss von Sinnen gewesen sein, zu glauben, dass dieser dämliche Zauber irgendwen beschützen könnte! Glück gab es kaum, aber eins ist sicher, Pech gab es in Hülle und Fülle. Du hattest immer weniger Geld und deine Verzweiflung ist immer schlimmer geworden. Was blieb mir anderes übrig, als dich gehen zu lassen? Hätte ich zusehen sollen, wie du dich zu Tode schindest? Hätte ich dich quälen sollen, bis du mich sattgehabt hättest, mich beschimpft und gehasst hättest und mich nie mehr hättest wiedersehen wollen?«
Nicht nur Feng Xin, auch Xie Lian wusste nicht mehr, was er dazu noch sagen sollte, während er von oberhalb des Palasts dem Gespräch zuhörte.
So war das also gewesen.
Xie Lian fielen Dinge von damals wieder ein: wie Feng Xin frühmorgens aufgebrochen und erst spät in der Nacht zurückgekehrt war, seine Erschöpfung, seine seltsamen, plötzlichen Stimmungsschwankungen. Und der eigenartige Versuch, Geld von ihm zu leihen. Für all das hatte er nun eine Erklärung.
Feng Xin war Xie Lians Diener und sein guter Freund, aber nicht sein Sklave. Er hätte seine eigene Familie gründen, sein eigenes Zuhause haben können – und er hatte sogar den Menschen gefunden, mit dem er das tun wollte, aber all das war während der härtesten Phase von Xie Lians erster Verbannung geschehen. Damals hatte Xie Lian selbst ums Überleben gekämpft, wie hätten ihm die kleinen Hinweise auffallen können? Er hatte gelitten und Feng Xin ebenfalls. Allen war es schlecht ergangen. So hatte es nicht weitergehen können – wahrscheinlich hatte Jian Lan das erkannt.
Und selbst in dieser harten Zeit hatte Feng Xin alles getan, um Xie Lian zu unterstützen. Er hatte Jian Lan sogar die Schutzzauber gegeben, die niemand mehr haben wollte, und ihr gesagt, sie würden Glück bringen – deshalb hatte sie einen davon zwischen die Kleidung gelegt, die ihr ungeborenes Kind einmal tragen sollte.
Natürlich war der Schutzzauber letzten Endes wirkungslos gewesen und hatte kein Glück gebracht.
Jian Lan sah aus, als hätte sie Dinge gesagt, über die sie lieber geschwiegen hätte. Rasch hob sie den Fötusgeist vom Boden auf und wandte sich zum Gehen.
»Jian Lan!«, rief Feng Xin. Er wirkte vollkommen verloren und zwirbelte hilflos sein Haar zwischen den Fingern. »Komm … komm zurück. Ich bin noch immer …« Er seufzte. »Ich lie… Ich … ich möchte für euch beide da sein. Ich sollte für euch da sein. Es ist meine Pflicht. Ich habe es versprochen.«
Jian Lan drehte sich zu ihm um und starrte ihn einen Augenblick lang ungläubig an. Sie nahm den Fötusgeist noch fester in die Arme und schnaubte abweisend. »Das ist nicht nötig. Ich weiß, dass du deinen Sohn verachtest. In deinen Augen ist er nichts als eine Ausgeburt der Hölle. Ist schon gut. Es macht mir nichts aus.«
»Ich verachte ihn nicht«, entgegnete Feng Xin.
»Warum bist du dann immer so gemein zu ihm? Kannst du ihn wirklich als Sohn anerkennen?«
»Wie könnte ich das nicht? Solange er auf den rechtmäßigen Weg zurückkehrt.«
Jian Lan verzog das Gesicht. »Dann lass mich die Frage wiederholen. Du bist ein Himmelsbeamter. Wagst du es, ihn als deinen Sohn anzuerkennen?«
Feng Xin sah sie verdutzt an.
Das war nicht weiter verwunderlich. Der Fötusgeist klammerte sich an die Arme seiner Mutter und fletschte die Zähne. Er sah aus wie eine hässliche, giftige Insektenlarve oder ein entstelltes böses Tier – alles, nur kein menschliches Geschöpf.
Welcher Himmelsbeamte würde sich zu einer solchen Affäre bekennen oder eine solche Höllenkreatur als seinen Sohn anerkennen? Es wäre ein gewaltiger Makel, und seine Anhänger und Tugendpunkte würde enorm zurückgehen.
* Zitat aus dem Drei-Zeichen-Klassiker – einem Lehrgedicht aus dem 13. Jahrhundert, mit dem Kindern die konfuzianische Lehre beigebracht wurde.
Kapitel 115: Der Weg darf nicht abweichen, aber die Befehle bleiben gleich
Feng Xin war zunächst sprachlos vor Schreck. Als er etwas erwidern wollte, fuhr Jian Lan ihm über den Mund: »Lass es sein. Du musst nichts dazu sagen. Du bist nun ein Gefangener. Selbst wenn du ihn als Sohn annehmen wolltest, würde ich darin nichts sehen als ein leeres Versprechen. Ich glaube dir ohnehin kein Wort, also sag besser gar nichts. Auch wenn du ihn als Sohn anerkennen wolltest, ist noch lange nicht gesagt, dass ich dich als seinen Vater akzeptieren könnte.«
Der Fötusgeist lag zusammengerollt in ihren Armen, streckte Feng Xin die Zunge heraus und lachte mit einer Stimme, die klang wie die eines erwachsenen Mannes. Jian Lan schlug ihm mit der flachen Hand aufs Hinterteil und schimpfte: »Nun hör doch auf, Grimassen zu schneiden. Ich hatte dir doch verboten wegzulaufen. Du treibst mich noch in den Wahnsinn!«
Der Fötusgeist verzerrte sein hässliches Gesicht und benahm sich endlich. Die Mutter eilte mit dem Sohn aus dem Palast von Nanyang.
»Jian Lan! Jian Lan!«, rief Feng Xin ihr hinterher.
Sie gab keine Antwort. Schließlich war er wieder allein in seinem Palast. Er sank zu Boden. Den Kopf auf eine Hand gestützt, starrte er einen Moment den weißen Rettich mit den schiefen Bisspuren an. Dann legte er sich flach auf den Boden. Selbst zum Fluchen fehlte ihm die Kraft.
Auf dem Dach des Palasts seufzte Xie Lian schwer.
»Großer Bruder, erinnerst du dich an die Nacht am Berg Yujun?«, fragte Hua Cheng. »Dort ist der Fötusgeist auch aufgetaucht.«
Xie Lian wusste, dass er absichtlich das Thema wechselte. Aber tatsächlich war es höchst verdächtig, dass der Fötusgeist damals am Berg Yujun gewesen war, und er zwang sich, darüber nachzudenken.
»Ich erinnere mich. Als ich in der Hochzeitssänfte saß, hat er einen Kinderreim benutzt, um mir Hinweise zu geben, wie ich die Geisterbraut Xuan Ji finden kann. Es war ein Lied nur für mich, niemand sonst konnte es hören. Ich frage mich, weshalb.«
»Wahrscheinlich hat er auf ›Jun Wus‹ Befehl hin gehandelt«, vermutete Hua Cheng.
»Dann verrät uns die Antwort auf dieses Rätsel womöglich ›Jun Wus‹ Absichten. Und warum ist er überhaupt zu einem Handlanger ›Jun Wus‹ geworden? Ich fürchte, das sind alles Fragen, die wir dem Staatspräzeptor stellen müssen.«
»Dann lass uns zu ihm gehen. Ich habe eine gute Nachricht: Die Schmetterlinge konnten inzwischen herausfinden, wo der Staatspräzeptor gefangen gehalten wird.«
»Wo?«, fragte Xie Lian erfreut.
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Der Lingwen-Palast war nicht mehr der lebhafte Ort, an dem unzählige Zivilbeamte mit Bergen von Schriftrollen unter dem Arm hin und her hetzten. Stattdessen standen hier nun die strengen, ausdruckslosen Shenwu-Soldaten auf ihrem Wachposten.
Xie Lian und Hua Cheng kamen geräuschlos auf der Ecke eines der Dächer zum Stehen.
»Hier ist der Staatspräzeptor eingesperrt? Wird er von Lingwen bewacht?«, stutzte Xie Lian.
»Genau. Bekleidet mit dem Brokatheiligen, ist Lingwen derzeit gleichzeitig eine Zivilbeamtin und ein Kriegsgott.«
Xie Lian sah sich angestrengt um. Dann bemerkte er: »Das wird kein leichtes Unterfangen.«
Obwohl der Brokatheilige ihnen nicht gewachsen war, besaß er doch schärfere Sinne und einen höheren Grad an Kultivierung als die Wachleute, die die Shenwu-Allee patrouillierten. Wenn Xie Lian und Hua Cheng unvorsichtig wären und der Brokatheilige sie beim Eindringen in den Palast bemerkte, würde es keine Rolle spielen, dass er sie nicht besiegen konnte – Lingwen wüsste augenblicklich Bescheid.
»Lingwen und ›Jun Wu‹ stehen in spirituellem Kontakt. Wenn sie uns entdeckt, weiß er es auch«, sagte Xie Lian. »Ohne den Brokatheiligen wäre sie eine Zivilgöttin und kaum in der Lage, uns aufzuspüren. Und der Brokatheilige ist nichts als ein Gewand, wenn er nicht getragen wird, allein kann er keinen Kontakt zu ›Jun Wu‹ aufnehmen. Wir müssen einen Weg finden, die beiden zu trennen.«
»Wir müssen keinen ausgefeilten Plan schmieden. Früher oder später wird sie ihn ohnehin ablegen«, erwiderte Hua Cheng.
Keine weiteren Erklärungen waren notwendig. Xie Lian hatte ihn verstanden.
Der Brokatheilige war durch und durch böse. Sein düsteres Qi war undurchdringlich und lastete schwer. Lingwen war nicht offiziell verbannt worden, sie war noch immer eine Himmelsbeamtin. Ihn ununterbrochen zu tragen, würde ihr Schaden zufügen. Außerdem musste sie, um ihn zu tragen, in ihrer männlichen Form auftreten, was ihre spirituellen Kräfte aufzehrte. Ein solches Maß an Erschöpfung konnte niemand dauerhaft ertragen, sie musste ihn jeden Tag eine gewisse Zeit geben ablegen, um sich auszuruhen.
Während die beiden noch miteinander flüsterten, spazierte ein schwarz gekleideter Mann aus dem Lingwen-Palast. Eine Hand hielt er hinter dem Rücken. Nachdem er den Palastwachen kurz Anweisungen erteilt hatte, betrat er eine Seitenkammer, kam einige Momente später wieder heraus und kehrte in den Hauptsaal zurück.
Der Mann war Lingwen. Sie war in ihrer männlichen Gestalt in die Seitenkammer getreten und in ihrer wahren wieder herausgekommen. Das schwarze Außengewand war verschwunden und ihre Schritte waren weniger leicht und energetisch als noch Augenblicke zuvor. Das war ein Hinweis darauf, dass sie in ihrer männlichen Gestalt ein geübter Kämpfer war.
Sie hatte den Brokatheiligen tatsächlich abgelegt – er befand sich in jener Seitenkammer. Die beiden tauschten einen Blick aus.
»Nun haben sie sich getrennt. Großer Bruder, was hast du für ein Glück«, sagte Hua Cheng.
Xie Lian atmete auf und sah ihn an. »San Lang, du bist es, der Glück hat.«
Hua Cheng grinste. »Der Hauptsaal oder die Seitenkammer?«
Xie Lian überlegte kurz. »Lass uns die Seitenkammer nehmen. Wer weiß, was uns im Hauptsaal des Lingwen-Palasts erwarten würde? Wenn der Staatspräzeptor in Lingwens direkter Nähe festgehalten wird, kommen wir nicht an ihr vorbei. Doch wenn wir den Brokatheiligen in die Hände bekommen, können wir sie vielleicht zum Verhandeln zwingen.«
Sie warteten eine Weile, und während der Wachwechsel für Ablenkung sorgte, sprangen sie vom Dach und schlüpften in die Seitlenkammer.
Drinnen wischte sich Xie Lian den kalten Schweiß ab. Sich in die Privatgemächer einer Frau zu schleichen, war nichts, worauf man stolz sein konnte – ganz gleich wie die äußeren Umstände waren. Als er jedoch sah, in welchem Zustand der Raum war, war er gleich weniger nervös. Xie Lians ehemaliges Gemach war prächtiger gewesen als dieses, Feng Xins unordentlicher und Mu Qings geschmackvoller eingerichtet. Dieser Raum hier wirkte überhaupt nicht wie ein Frauengemach.
Das Zimmer war nur spärlich möbliert, sodass er wenig Möglichkeiten bot, etwas zu verstecken. Es dauerte nicht lange und Xie Lian fand eine Truhe – doch seine Miene verdüsterte sich, sobald er sie öffnete. Nicht nur weil ihm heftiges böses Qi entgegenschlug, sondern auch weil die Truhe mit identischen schwarzen Gewändern voll war.
Nicht schon wieder!
Es war genau wie damals, als sie versucht hatten, den echten Brokatheiligen unter Hunderten verschiedenen Kleidungsstücken zu finden. Es war ein Albtraum gewesen. Dieses Mal waren es nicht so viele, vielleicht ein Dutzend, aber die Gewänder waren alle schwarz und unterschieden sich auch sonst in nichts. Schwer zu sagen, welche Situation die schwierigere war. War der Brokatheilige überhaupt hier?
Xie Lian spürte, wie sein Schädel zu pochen anfing. »San Lang … was macht ›Jun Wu‹ gerade? Haben wir überhaupt genug Zeit?«, fragte er niedergeschlagen.
Hua Cheng verfolgte die Bewegung aller in der himmlischen Hauptstadt aufs Genaueste. »Entspann dich, großer Bruder. Wir haben massig Zeit. ›Jun Wu‹ hat noch nicht bemerkt, dass du fort bist. Er ist im Shenwu-Palast und hat Mu Qing zur Befragung zu sich bringen lassen. Es sieht aus, als würde das länger dauern.«
Xie Lian sah ihn verblüfft an. »Mu Qing? Er befragt Mu Qing? Wieso?«
»Die Schmetterlinge können nicht ins Innere des Shenwu-Palasts gelangen, deswegen kann ich sie nicht deutlich hören. Aber du weißt«, er sah Xie Lian unverwandt in die Augen, »es kann nichts Gutes sein.«
Xie Lian erinnerte sich daran, wie »Jun Wu« mit Yin Yu umgegangen war, und die kalte Angst packte ihn. Sich Sorgen zu machen, brachte sie jedoch nicht weiter. »Beeilen wir uns«, sagte er entschlossen. »Ich probiere die Gewänder nacheinander an. San Lang, du gibst mir Befehle.«
Wenn der Brokatheilige nicht entdeckt werden wollte, oder er demjenigen, der ihn trug, nicht nach dem Leben trachtete, konnte er wie ein normales Kleidungsstück getragen werden. Doch wenn man ihn einem anderen gab und ihm dann Befehle erteilte, war derjenige gezwungen zu gehorchen. Auf diese Art würden sie den wahren Brokatheiligen finden können, aber es bestand auch eine gewisse Gefahr.
»Lass mich«, sagte Hua Cheng.
Xie Lian schüttelte den Kopf. »San Lang, du hast den Brokatheiligen doch schon getragen, bei dir funktioniert er nicht. Vielleicht hat er keinen Effekt auf Geisterkönige. Ich muss es tun.«
Er zog sein weißes Obergewand aus und ließ es zu Boden fallen.
Hua Cheng zog eine Augenbraue hoch und reichte ihm eines der schwarzen Gewänder. »Gut, dann machen wir es so.«
Xie Lian schlüpfte rasch hinein. Dem Himmel sei Dank waren Lingwens Gewänder nicht sinnlich oder freizügig im Brustbereich, sondern alle konservativ hochgeschlossen, sodass Xie Lian sich nicht schämen musste, das Kleidungsstück anzuziehen. Er blickte auf. »Gut, jetzt gib mir einen Befehl.«
Hua Cheng stützte den linken Ellbogen in die rechte Hand und mit der linken sein Kinn. Er sah Xie Lian an, als dächte er ernsthaft darüber nach. »Gut. Großer Bruder, mein Befehl lautet …« Er lächelte glücklich. Dann sprach er seinen Befehl aus: »Leih dir spirituelle Energie von mir.«
Natürlich begriff Xie Lian, was mit »spirituelle Energie ausleihen« gemeint war, und beinahe begann sein Kopf zu rauchen. Rasch zog er das Gewand aus. »Dieses hier … ist es nicht.«
»Ach, wie schade«, klagte Hua Cheng.
Xie Lian sah ihn ernst an. »San Lang, du … Das geht so nicht. Bitte nimm die Sache ernst. Gib nicht so einen Befehl.«
»Bin ich nicht ernst genug? Welche Art Befehl meinst du denn?«, fragte Hua Cheng unterwürfig. »Kannst du mir das etwas genauer erklären?«
Xie Lian hüstelte zweimal leise. »Auf jeden Fall kannst du mir nicht befehlen, spirituelle Energie von dir zu leihen«, sagte er streng. »Alles andere ist in Ordnung. So etwas wie ›Dreh dich im Kreis‹, ›Spring zweimal in die Luft‹. Was immer du möchtest.«
»Alles andere ist also in Ordnung? Gut, ich verstehe«, erwiderte Hua Cheng mit hochgezogener Augenbraue. Er reichte Xie Lian ein anderes Gewand.
Xie Lian zog es an und blickte zu Hua Cheng.
Dieser beobachtete ihn einen Moment lang. »Großer Bruder …« Er strahlte er übers ganze Gesicht. Dann sprach er seinen Befehl aus: »Leih dir keine spirituelle Energie von mir aus.«
Xie Lian war unvorsichtig gewesen. Wie konnte Hua Cheng das tun? Hastig zog er das Gewand aus. »Gut! Dieses hier ist es auch nicht …«
Hua Cheng hielt ihn auf. »Warte, großer Bruder, wer sagt, dass es nicht dieses ist? Du hast es noch nicht bewiesen.«
»Leih dir keine spirituelle Energie von mir aus«, das war Hua Chengs Befehl gewesen. Um zu beweisen, dass der Umhang, den er gerade trug, nicht der Brokatheilige war, durfte Xie Lian diesen Befehl nicht befolgen. Er musste das Gegenteil tun: spirituelle Energie von Hua Cheng ausleihen. Sie hatten sich im Kreis gedreht und waren wieder am Ausgangspunkt angelangt. Xie Lian starrte Hua Cheng entgeistert an. »Das ist … hinterlistig. Das kannst du nicht machen.«
Hua Cheng verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso nicht? Du hast es doch selbst gesagt: ›Alles andere ist in Ordnung, befiehl mir nur nicht, spirituelle Energie von dir zu leihen.‹ Da dir dieser Befehl nicht gefallen hat, habe ich ihn ins Gegenteil umgekehrt. Wie kannst du da sagen, ich sei hinterlistig? Ich habe genau das getan, was du verlangt hast.«
Xie Lian fehlten die Worte, um dieser Logik zu widersprechen. Er hob einen Finger und zeigte auf Hua Cheng. »Du … du … Ah, gegen dich kann ich nicht gewinnen. Hör auf damit!«
Ohne weiter zu zögern, ging er zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss. Xie Lian wusste, dass sie allein waren, dennoch sah er sich danach verschämt nach allen Seiten um, als könnte jemand sie heimlich beobachtet haben.
Hua Chengs Miene blieb vollkommen unbewegt. »Sehr gut. Dieses ist es also auch nicht. Das wissen wir jetzt.«
Xie Lian legte das zweite schwarze Gewand beiseite. »Gib mir nicht noch einmal diesen Befehl!«
Hua Cheng reichte ihm das dritte. »In Ordnung. Wie du willst.«
Xie Lian nahm das Gewand entgegen. Dabei dachte er: Es wird immer schwieriger, mit Hua Cheng umzugehen … oder bilde ich mir das nur ein?
Xie Lian befürchtete noch immer, Hua Cheng könne ihm ähnliche Befehle geben wie zuvor, aber Hua Cheng hörte nach diesen beiden Malen auf, ihn zu necken. Sein plötzlicher Ernst wirkte befremdlich und eigenartig.
Xie Lian probierte alle Gewänder aus der Truhe an, aber er befolgte keinen von Hua Chengs Befehlen. War der echte Brokatheilige nicht hier? Das war unmöglich. Lingwen musste ihn abgelegt haben und außerdem war die Truhe voll von bösem Qi. Er musste hier sein.
Hua Cheng lehnte sich an den Türrahmen. »Großer Bruder, offenbar hat der Brokatheilige nicht nur auf mich keine Wirkung. Bei dir funktioniert er auch nicht.«
Woran mochte das liegen?
Kapitel 116: Nicht leicht anzuziehen, noch schwerer auszuziehen
Xie Lian nahm alle schwarzen Gewänder hervor und versuchte, den echten Brokatheiligen unter ihnen zu erkennen, jedoch ohne Erfolg. Also zog er sein weißes Kultivierungsgewand wieder an und wandte sich an Hua Cheng: »Das funktioniert so nicht. Wie es aussieht, müssen wir die ganze Truhe mitnehmen.«
Hua Cheng schmunzelte. Xie Lian fühlte sich etwas hilflos. Was für eine lächerliche Vorstellung, Dutzende Gewänder mit sich herumzutragen, um jemanden damit zu erpressen. Aber ihm fiel auch nichts Besseres ein.
Gerade als er dabei war, die achtlos weggeworfenen schwarzen Gewänder aufzusammeln und in die Truhe zu stopfen, damit sie sie mitnehmen konnten, öffnete sich plötzlich die Tür der Seitenkammer. Lingwen trat mit hinter dem Rücken verschränkten Händen ein. Sie sah völlig erschöpft aus.
Vermutlich war ihre Ruhezeit beendet und sie war gekommen, um den Brokatheiligen wieder anzuziehen. Aber sie war zwei ungeladenen Gästen in die Arme gelaufen, die in ihre Gemächer eingebrochen waren – der eine wirkte vollkommen unschuldig, der andere blickte lässig und unbekümmert drein.
Wortlos hielt sie sich augenblicklich zwei Finger an die Schläfe. Sie wollte »Jun Wu« informieren.
Doch Hua Cheng war schneller. Ein rascher Blick genügte und die beiden Türen der Seitenkammer schlugen zu. Lingwen ließ die Hand sinken und ihre Miene veränderte sich. »Beeindruckend, Hua Chengzhu*.« **
»San Lang, du hast eine Barriere beschworen?«, staunte Xie Lian.
»Eine kleine«, bestätigte Hua Cheng. »Nur hier in diesem Raum.«
»Jun Wu« konnte eine Barriere aufbauen, die die ganze himmlische Hauptstadt umfasste, und so alle von der Außenwelt abschneiden. Und Hua Cheng konnte innerhalb dieser Barriere eine weitere, kleinere beschwören – einen Bannzauber, der die spirituellen Kräfte derer, die sich in ihr befanden, versiegelte und verhinderte, dass sie auf den Kommunikationskanal zugreifen konnten. Die Seitenkammer war zu einem Bannkreis innerhalb eines Bannkreises geworden. Er musste jedoch klein bleiben, sonst würde »Jun Wu« ihn bemerken, immerhin befanden sie sich in seinem Reich.
Xie Lian nickte. »Lingwen, Ihr könnt sehen, dass der Brokatheilige sich in unseren Händen befindet. Wenn Ihr nicht wollt, dass er von Geisterfeuer zu Asche verbrannt wird, tut bitte nichts Unüberlegtes.«
Doch wider Erwarten lachte Lingwen nur. »Aber Eure Hoheit, der Brokatheilige befindet sich nicht in Euren Händen.«
Tatsächlich hatte Xie Lian damit schon gerechnet. Trotzdem sprach er die naheliegendste Vermutung aus: »Lingwen, Ihr habt ihn getragen, als Ihr diesen Raum betreten habt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Brokatheilige sich an einem anderen Ort befindet als hier.«
»Eure Hoheit, habt Ihr mich vielleicht missverstanden? Ich habe nur gesagt, dass er sich nicht in der Truhe in Euren Händen befindet. Ich habe nie behauptet, er sei nicht in dieser Kammer.«
Ihre Worte brachten Xie Lian dazu, über andere Möglichkeiten nachzudenken, und er legte den Kopf schief. Hua Cheng hatte denselben Gedanken: Beide blickten das weiße Gewand an, das Xie Lian am Körper trug.
»Ganz recht«, sagte Lingwen. »Ihr tragt ihn in diesem Moment an Eurem Körper.«
Als Xie Lian zuvor die schwarzen Gewänder anprobiert hatte, hatte er sein eigenes weißes achtlos fallen lassen. Alle Kleidungsstücke waren durcheinandergeraten, als er sie hinterher untersucht hatte. Irgendwie hatte der Brokatheilige das Aussehen seiner weißen Mönchsrobe angenommen – und Xie Lian hatte ihn aufgehoben und angezogen.
Xie Lian sah an sich hinunter und fragte sich: Wo ist dann mein eigentliches Gewand?
Mit einer beiläufigen Geste brachte Hua Cheng die Truhe zum Umfallen. Ihr Inhalt ergoss sich auf den Boden. Ganz unten zwischen den schwarzen Kleidungsstücken befand sich das weiße Gewand, das Xie Lian zuvor getragen hatte.
Das musste das Werk eines heimtückischen Zaubers sein, den der Brokatheilige gewirkt hatte. Während Xie Lian die Kleider anprobiert hatte, hatte er die Gelegenheit genutzt, sein eigenes Gewand in die Truhe zu zerren und sich zu verwandeln, um es zu ersetzen. Dann hatte er sich vom Boden aufsammeln und anziehen lassen.
Xie Lian war darüber nicht besonders überrascht, sondern eher bestürzt. »Ist das nicht etwas zu berechnend?«
Es war immerhin nur ein Kleidungsstück. Und hatten sie nicht angenommen, der Brokatheilige selbst sei nicht besonders klug? Wahrscheinlich hatte Lingwen ihm diesen Trick beigebracht.
Tatsächlich sagte sie: »Ich habe ihn auf die Idee gebracht. Aber ich hatte nicht erwartet, dass er sie in die Tat umsetzt. Das bedeutet, streng genommen war ich es, die Euch dazu gebracht hat, den Brokatheiligen anzuziehen.«
Hätte Hua Cheng Xie Lian das Gewand gegeben, wäre er es gewesen, der die Kontrolle gehabt hätte. Doch der Brokatheilige selbst hatte Lingwens Trick angewandt, um ihn dazu zu bringen, ihn anzuziehen – und so hatte nun Lingwen die Befehlsgewalt. Das bedeutete, dass Xie Lian jede ihrer Anweisungen befolgen musste.
»Lingwen«, fragte er, »ist Euch jemals der Gedanke gekommen, dass der Brokatheilige bei mir nicht funktionieren könnte?«
»Das werde ich wissen, wenn ich es ausprobiert habe«, entgegnete Lingwen lächelnd. »Eure Hoheit, von nun an könnt Ihr mich nicht mehr angreifen. Wenn Ihr mich hört, dann nickt mit dem Kopf.«
Unfreiwillig nickte Xie Lian, kaum dass Lingwen ausgesprochen hatte und bevor er wusste, wie ihm geschah.
Warum funktionierte es nun plötzlich? Ganz eindeutig hatte es zuvor, als Hua Cheng ihm Befehle gegeben hatte, nicht funktioniert. Hatte es an Hua Cheng gelegen?
Wenn dem so war, hatte sich das Blatt gewendet. Xie Lian stand reglos da, Hua Cheng ebenfalls. Sie wechselten einen Blick, blieben dabei aber vollkommen ruhig.
Lingwen war ebenfalls ruhig. »Nun gut. Hua Chengzhu, wärt Ihr so freundlich, den Bannzauber von diesem Raum zu nehmen?«
»Tu es nicht, San Lang«, sagte Xie Lian sofort.
»Seid Ihr da sicher, Eure Hoheit?«, mahnte Lingwen. »Ich kann Euch alles befehlen, was ich will.«
Hua Cheng blieb ungerührt stehen. Es spielt keine Rolle, wenn ich sie nicht anrühren kann, dachte sich Xie Lian. Diese Einschränkung gilt schließlich für niemanden sonst. Wenn es Hua Cheng nur gelingt, sie zu überwältigen und daran zu hindern, weitere Befehle zu erteilen, sind wir auf der sicheren Seite.
Doch Lingwen war klug genug, ihren Plan zu durchschauen. »Hua Chengzhu, ich schlage vor, Ihr verschwendet nicht weiter Eure Zeit damit, Euch zu überlegen, wie Ihr mich überrumpeln und überwältigen könnt. Eure Hoheit, hört mir gut zu: Wenn Hua Chengzhu mir auch nur ein Haar zu krümmen versucht, werdet Ihr ihn angreifen.«
Damit hatte sie all ihre Ideen im Keim erstickt, noch bevor sie auch nur versuchen konnten, sie in die Tat umzusetzen.
»Nun, Hua Chengzhu – Zeit, den Bannzauber aufzuheben. Ich habe noch viel zu tun. Der Lingwen-Palast ist mit den Berichten im Rückstand, ich muss sie noch durchsehen. Können wir dieses kleine Problem also bitte schnell beheben?«
Hua Cheng grinste nur.
Im nächsten Moment riss Lingwen die Augen auf. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus.
Hätte jemand hinter ihr gestanden, hätte er einen kleinen Schmetterling gesehen, der sich auf ihrem Nacken niedergelassen hatte und dort mit seinen silbernen Flügeln schlug. Das kleine Geschöpf hatte sie gelähmt und zum Verstummen gebracht.
Hua Cheng verschränkte die Arme und ein unglaublich falsches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Dachtest du allen Ernstes, ich müsste dich überrumpeln, um dich zu überwältigen?«
Lingwen konnte nicht sprechen, aber die Worte, die sie sagen wollte, standen ihr klar und deutlich ins Gesicht geschrieben: »Hua Chengzhu, habt Ihr vergessen, welchen Befehl ich Seiner Hoheit erteilt habe?«
Im nächsten Moment trat der Brokatheilige in Aktion. Xie Lian fuhr herum und stürzte sich auf Hua Cheng, die Hände hielt er hoch erhoben und bereit zuzuschlagen.
Kurz darauf konnte Xie Lian wieder klar sehen und kam mit einem Schreck zu sich. »San Lang …!«
Hua Cheng stand vor ihm. Eine Hand hielt sein rotes Gewand an der Brust fest gepackt – es war Xie Lians eigene Hand.
Hua Cheng hatte nicht versucht, dem Schlag auszuweichen. Er war stehen geblieben und hatte zugelassen, dass Xie Lian ihm mit voller Kraft gegen die Brust geschlagen hatte.
Xie Lian hatte noch nicht recht begriffen, was passiert war, und bevor er reagieren konnte, ergriff Hua Cheng ihn am Handgelenk. »So«, sagte er leise. »Der Angriff ist ausgeführt und der Befehl damit beendet.«
Tatsächlich spürte Xie Lian, wie sein Körper sich entspannte und er seine Freiheit wiedererlangte.
Um Xie Lian von Lingwens Befehl zu erlösen, hatte Hua Cheng einfach dagestanden und den Schlag ohne jegliche Gegenwehr eingesteckt. Nun, da er wieder frei war, zog Xie Lian seine Hand schnell zurück und sah Hua Cheng entsetzt an. »San Lang … bist du verletzt?«, fragte er einen Augenblick später. Eindringlich musterte er Hua Chengs Gesicht. Er konnte keine Veränderung erkennen, aber Hua Cheng war kein Mensch und seine Haut war ohnehin von blassem Schneeweiß, als hätte er jahrelang keine Sonne gesehen. Doch seinem Ton nach zu urteilen, war er unversehrt.
»Großer Bruder, du bist unglaublich. Was für ein schöner Schlag«, kommentierte er lächelnd.
Xie Lian behielt seinen besorgten Ausdruck bei, als hätte Hua Cheng ihm Angst gemacht. »Das ist kein Scherz. Ich habe siebzig Prozent meiner Kraft in diesen Angriff gelegt. Bist du wirklich in Ordnung?«
Als Lingwen den Befehl ausgesprochen hatte, hatte sie das Wort »angreifen« verwendet. Jemanden »anzugreifen«, war so gut wie nie die Absicht, wenn Xie Lian gegen jemanden die Fäuste erhob. Es war meist reine Gegenwehr oder er tat es, um jemanden aufzuhalten. Ihm war nicht klar gewesen, was passieren würde, wenn er mit der Absicht, jemanden anzugreifen, zuschlug.
»Ich habe auch nicht gescherzt. Du bist wirklich beeindruckend«, sagte Hua Cheng langsam. »Wenn du dieses Ding trägst, könntest du vielleicht sogar ›Jun Wu‹ besiegen.«
Gedankenverloren berührte Xie Lian seinen Hals, ließ seine Hand jedoch sofort sinken, als er die Fluchfessel spürte.
»Großer Bruder, ich möchte dich etwas fragen.«
»Was denn?«
»Du hattest die Gelegenheit, die Fluchfesseln abzulegen. Warum hast du sie behalten?«
Mit dieser Frage hatte Xie Lian nicht gerechnet. »Vielleicht … damit ich mich an etwas erinnere.« Schnell fügte er hinzu: »San Lang … lenk nicht vom Thema ab. Was sind das für schlechte Angewohnheiten, die du da entwickelt hast? Gerade eben hättest du mich ebenso gut festhalten können. Warum hast du den Schlag einfach eingesteckt?«
»Du weißt also, dass das eine schlechte Angewohnheit ist?«, antwortete Hua Cheng. »Du hast kein Recht, mich zu belehren, wenn es darum geht, Schläge einzustecken.«
»Ach wirklich?«, sagte Xie Lian. Doch kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, fühlte er sich schuldig. Immerhin hatte er damals, als er im Wasser den Fötusgeist bekämpft hatte, beinahe ein Schwert verschluckt, und Hua Cheng hatte ihn dabei erwischt.