Heavenbreaker - Sara Wolf - E-Book

Heavenbreaker E-Book

Sara Wolf

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Beschreibung

Die junge Synali ist die uneheliche Tochter von Baron Hauteclare, einem der mächtigsten Fürsten ihrer Raumstation. Um seinen Fehltritt geheim zu halten, setzt der Baron Auftragskiller auf sie und ihre Mutter an. Doch Synali kann entkommen – und hat fortan nur noch ein Ziel: Rache um jeden Preis. Der geheimnisvolle Adelige Darvik bietet ihr einen Deal an, den sie nicht ablehnen kann: Wenn Synali am tödlichsten Wettkampf der Station teilnimmt und gewinnt, wird Darvik ihr helfen, die Mörder ihrer Mutter zu töten. Synali ist fest entschlossen, nichts zwischen sich und ihre Rache kommen zu lassen – nicht einmal den gut aussehenden Rax, ihren gefährlichsten Gegner …

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Blut ist alles, was in der Welt der jungen Synali von Hauteclare zählt. Ihr Zuhause, eine Raumstation, die die letzten Überlebenden der Erde beherbergt, wird von mächtigen Adelshäusern regiert. Die Turniere, die die Adeligen auf ihren Streitrössern, gewaltigen Robotern, einst im Krieg gegen Aliens entwickelt, austragen, sind die einzige Ablenkung für das hungernde Volk.

Synali ist die uneheliche Tochter eines Herzogs - und sie hat gerade ihren Vater getötet. Sieben Personen haben ihm dabei geholfen, ihre Mutter ermorden zu lassen. Synali entkam den Attentätern, und seitdem hat sie nur ein Ziel: Rache. Da macht ihr ein ausgestoßener Prinz ein Angebot, das sie nicht ablehnen kann: Wenn sie mit seinem uralten Streitross Heavenbreaker den Supernova Cup gewinnt, sorgt er dafür, dass die sieben Schuldigen umgebracht werden. Synali willigt ein – und sieht sich schon bald in der Arena ihrer Cousine Mirelle gegenüber, die alles daransetzt, Synali aufzuhalten. Und dann ist da noch der so unverschämte wie gut aussehende Rax, der einfach nicht aufhört, mit ihr zu flirten.

Blut ist alles, was zählt – und Synali will sichergehen, dass das ihrer Feinde in Strömen fließt. Selbst wenn es sie ihr Herz kostet …

Die Autorin

Sara Wolf lebt in Portland, Oregon, und verbringt jede wache Minute mit Schreiben, Lesen und Backen (wobei Letzteres ganz vielleicht schon mal für einen kleinen Küchenbrand gesorgt haben könnte). In ihrer Freizeit schneidet sie am liebsten ihren Katzen Grimassen. Mit ihrem Roman Heavenbreaker eroberte sie die New-York-Times-Bestellerliste im Sturm.

SARA WOLF

HEAVENBREAKER

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Maike Hallmann

Wilhelm Heyne Verlag München

Die Originalausgabe HEAVENBREAKER erschien erstmals 2024 bei Red Tower Books

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Sara Wolf

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Jara Dressler

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München nach einer Vorlage von Elizabeth Turner Stokes unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock (aksol, Warm_Tail, OnlyFlags)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33089-7V003

www.heyne.de

Für Ruth. Ich bin diejenige, die zurückblieb und dich vermisst.

Heavenbreaker ist eine rasante Science-Fiction-Fantasy-Geschichte und spielt in einer brutalen, wettkampforientierten Welt, in der Menschen in Mechsuits gegeneinander kämpfen. Dieses Buch konfrontiert seine Leser*innen mit Themen wie Trauer, Gewalt, Mord, Suizidgedanken und Suizid, Folter, Krankenhausaufenthalten, Drogenmissbrauch, Vergiftung, Verlust der persönlichen Autonomie, Darstellungen religiöser Traumata, Klassendenken, Sexarbeit und Ertrinken. Auch häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch werden erwähnt, wenngleich nicht explizit beschrieben.

Wenn du oder jemand, den du kennst, Suizidgedanken hast/hat: Du bist damit nicht allein, es gibt Hilfe. Bitte wende dich an www.telefonseelsorge.de oder www.sorgen-tagebuch.de/soforthilfe/notfalltelefone und hilf dabei, ein Leben zu retten.

ERSTER TEIL

DAS KANINCHEN

0. Ignesco

ignescō ~ere, intr.

anfangen zu brennen; Feuer fangen

Im gleichen Jahr werden auf ein und derselben Raumstation, die im Orbit des grünen Gasriesen Esther kreist, drei Kinder fünf Jahre alt.

Eins dieser Kinder ist ein schwarzhaariges Mädchen, das barfuß an einem Stahlrohr vorbeihüpft, aus dem Schwefeldämpfe dringen. Am Stacheldraht über ihr hängen verwitterte Kreuze, und von oben blinzeln beschädigte Holobildschirme mit Kaffee- und Luftreinigerwerbung auf sie herunter, scheinen ihr zuzuzwinkern wie wohlmeinende Eltern. In einer Hand hält sie einen Korb mit Leckereien, die sie für ihre Mutter erbeutet hat – angebranntes Brot und Teile von Früchten, die niemand will. Sie hat ihren Vater nie kennengelernt, aber sie träumt von ihm.

Eines der Kinder ist ein Junge, platinblond und viel kleiner als seine Altersgenossen. Sein Mantel ist mit Silberfäden bestickt, seine glänzenden Schuhe neu, das Gesicht jedoch ist mit Blut und Exkrementen verschmiert. Sein eigenes Blut und seine eigenen Ausscheidungen, die bereits seit Tagen auf der Haut trocknen. Er weint untröstlich, während seine Mutter ihn am Ellbogen durch die Marmorhallen ihres Hauses zerrt und ins Cockpit eines roten Metallungetüms stößt. Die Luke des Cockpits gleitet hinter ihm zu, und er hämmert mit den Fäusten dagegen und fleht sie an, ihn wieder hinauszulassen. Er träumt von Freiheit, aber er hat sie nie gekannt.

Das letzte Kind ist ein Mädchen mit Augen, so tiefblau wie ein schattiger See. Sie kuschelt sich unter eine weiße Daunendecke und quietscht vor Freude, als ihr Vater den Kopf zur Tür hereinsteckt. Im Schein einer Holokerze liest er ihr die Geschichte der Ritterkriege auf der alten Erde vor – vierhundert Jahre sind seither vergangen, fünf Milliarden Tote sind seitdem deswegen zu beklagen –, und vor dem Fenster des Mädchens gibt es nur schwarze Leere und silberne Sterne und einen großen grünen Planeten, über den langsam ein weißer Siliziumdioxidsturm hinwegwirbelt. Sie träumt von großer Ehre, und sie wird sie erringen.

Aber dann wird sie alles verlieren.

Fünfzehn Jahre später

1. Acies

aciēs ~ēī, f.

eine scharfe Kanteeine Kampflinie

Als ich meinen Vater zum ersten Mal traf, redeten wir über Rosen, darüber, wie sich Regen wohl anfühlt, und über den Fliederduft, den meine Mutter verströmte, wenn sie mein Haar bürstete. Oh, und der Dolch im Rücken meines Vaters – darüber haben wir auch gesprochen.

Aber nur kurz.

Jetzt ist er tot. Und ich werde es wahrscheinlich auch bald sein.

Ich atme tief durch und drehe seinen vergoldeten Wasserhahn auf. Unter dem sanften Strahl schrubbe ich meine Hände sauber und sehe zu, wie sein Blut in den Abfluss strudelt. Stück für Stück kratze ich ihn unter meinen Nägeln heraus.

Das Licht im Bad neben seinem Büro ist warm und gleichmäßig, ganz anders als die flackernden Leuchtstoffröhren in meiner Wohnung im unteren Bezirk. In ihrem hellen Licht sehe ich die aufgeplatzten Nähte des geflickten Kittels, den ich unter dem Hausmeistermantel trage. Sehe all die alten Risse, die meine Mutter geflickt hat, mit Plastikfasern als Faden.

Erschaudernd schrecke ich vor dem Gesicht zurück, das mir aus dem Spiegel heraus entgegenblickt. Es sieht aus wie das Gesicht von Vater. Das gleiche schwarze Haar, wenngleich seins bereits zum Teil ergraut war. Die gleichen schrägen Wangenknochen.

Und wir haben beide die gleichen schmalen blauen Augen, die aussehen, als wären wir innerlich bereits tot.

Nein. Nicht haben. Hatten.

Es klopft an der Bürotür, und ich schrecke auf. Dann ruft eine seidenweiche Stimme: »Herzog Hauteclare?«

Vaters Diener. Mir bleibt beinahe das Herz stehen.

Meine Eingeweide krampfen sich zusammen, mein Atem wird flach. Ist es so weit?

Werde ich jetzt sterben? Kommt er gleich herein, sieht das Blut auf dem Teppich und zieht seine Partikelpistole? Wird er die Wachen rufen, und sie werfen mich durch die Luftschleuse in den Weltraum, in dem bereits die Leiche meines Vaters schwebt? Werde ich so sterben? Oder muss ich erst in einer Zelle darauf warten, ihre sogenannte Gerechtigkeit zu erfahren – einen qualvollen Tod in einem Plasmaschlot?

Ich, Synali Emilia Woster, habe meinen Vater getötet, Herzog am prachtvollen Hof des Nova-Königs Ressinimus dem Dritten. Nach monatelanger Planung, monatelangem Warten und Beobachten habe ich es endlich vollbracht. Jetzt muss mir nur noch die Flucht zurück in die Gassen des unteren Bezirks gelingen.

Doch der Diener klingt ganz arglos. »Euer Streitross wartet in Hangar sechs, Euer Gnaden. Der Zwanzig-Minuten-Countdown hat soeben begonnen, also schickt bitte unverzüglich Eure Reiterin los.«

Dann erklingen Schritte draußen in der Marmorhalle. Er geht. Ein kleines Wunder ist geschehen – und doch verspüre ich ein panisches Kribbeln im Bauch. Er ist nicht der Einzige dort draußen, da sind noch die Wachen, die Kameras … Meinen Weg in den Turniersaal hinein habe ich minutiös geplant, aber es ging mir stets nur um die Rache, und an meine Flucht habe ich kaum einen Gedanken verschwendet.

Erst jetzt wird mir mit eiskalter Endgültigkeit bewusst: Es gibt keinen Weg mehr hinaus.

Ich betrachte den glatten weißen Reithelm auf dem Marmortresen. Auf dem Visier prangt ein geflügelter goldener Löwe. Der fliegende Löwe ist das Emblem des Adelshauses Hauteclare – meines Hauses, auch wenn ich bis vor sechs Monaten noch nichts von dieser Zugehörigkeit wusste.

Mein Vater Herzog Hauteclare herrschte als Despot, so wie die Oberhäupter sämtlicher Adelshäuser – heimliche Untergrundgeschäfte, Drogen, Waffenhandel. Ich habe von klein auf miterlebt, wie die Adelshäuser den unteren Bezirk plündern und zerstören. Erst habe ich es nur aus der Ferne mitangesehen und dann auf einmal sehr unmittelbar am eigenen Leib erlebt, als der ehrenwerte Herzog einen Attentäter schickte, um meine Mutter und mich zu ermorden.

Ich habe überlebt. Sie nicht.

Mein Blick fällt auf die Blutflecke auf dem Büroteppich, zähflüssig und dunkel.

Rote Fußspuren, rote Schleifspuren. Mit bebenden Schultern wende ich mich ab. Der leere Weltraum vor dem Fenster erscheint mir mit einem Mal noch dunkler. Unsere Station ist eine von sieben, die während der Ritterkriege erbaut worden waren – eine riesige Arche, die aufgenommen hat, was von der Menschheit noch übrig war, nachdem der Feind die Erde mit seinem Laserfeuer verwüstet hat. Am Ende haben die Ritter gewonnen, aber bei seinem letzten Angriff schleuderte der Feind jene sieben Stationen mithilfe einer geheimnisvollen Macht quer durchs Universum – und jetzt sind wir allein hier draußen, umkreisen den grünen Gasriesen Esther und versuchen verzweifelt, ihn zu terraformen und Kontakt mit den anderen Stationen aufzunehmen.

Ich starre Esther an, bis meine Augen tränen. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Seit dem Tod meiner Mutter war mein Leben klar strukturiert: essen, schlafen, planen – diese Schritte habe ich ein ums andere Mal befolgt, bis zum Schluss. Ich berühre mein rechtes Handgelenk, und unter meiner Haut erblüht das rechteckige Implantat und projiziert ein perfektes schwebendes Hologramm aus blauem Licht in die Luft. Eine Minute der Schwäche werde ich mir erlauben, beschließe ich, mehr nicht. Ich tippe auf den Timer und stelle ihn auf sechzig Sekunden.

Das Kreuz meiner Mutter hängt an einer Kette um meinen Hals, und ich schließe die Hand so fest um den Anhänger, dass er sich schmerzhaft in meine Haut bohrt.

»Es ist in Ordnung, zu weinen, mein Herz.«

Die Tränen spülen das Blut meines Vaters weg, das auf mein Gesicht gespritzt ist. Sein Blut war es letztlich, das alles zerstört hat.

Er hat sie getötet, und er hat versucht, mich zu töten. Mein Vater, meine Familie, der Mann, den ich nie kennengelernt habe; der Mann, von dem ich als Kind geträumt habe, der starke und gute Mann, als den meine Mutter ihn immer dargestellt hat … Warum?

Doch ich weiß, warum. Ich habe sechs Monate lang meinen Körper und meine Seele geopfert, um diesem Warum auf den Grund zu gehen.

Unterdrückte Schluchzer zerreißen meine Brust. Heruntergewürgter Schmerz, Wut, Verzweiflung, alles steigt wieder in mir auf wie eine entsetzliche Flutwelle, während die blauen Ziffern in der Luft erbarmungslos herunterzählen: Fünf. Vier. Drei. Zwei.

Eins.

Meine Tränen versiegen. Es ist noch nicht vorbei. Ich habe meinen Vater getötet, aber noch ist er nicht wirklich tot. Ich habe seinen Körper vernichtet, aber nicht seine Welt. Meine Welt war meine Mutter – seine Welt war sein Ansehen, sein Name, seine Macht und sein Stolz. Um der Macht willen hat er sie getötet. Für sein Haus. Und solange das Haus Hauteclare besteht, lebt er weiter.

Ich kann ein Adelshaus nicht auflösen; das kann niemand außer dem König höchstpersönlich. Aber ich kann es entehren.

Es gibt kein Entrinnen für mich. Aber ich kann zumindest nach meinen eigenen Bedingungen sterben.

Fernes, dumpfes Gebrüll dringt durch die Bürowände: die Zuschauer draußen in der Arena. Sie warten auf das größte aller Spektakel – ein Kampfturnier. Nur reinblütige Adlige dürfen bei solchen Turnieren antreten, aber das ist mir vollkommen gleichgültig. Ich bin die Schande, über die man am Hof des Nova-Königs tuschelt, halb von meines Vaters adligem und halb von meiner Mutter bürgerlichem Blut – ein Bastard.

Und wenn ich schon der Grund dafür bin, dass meine Mutter sterben musste, dann will ich dafür sorgen, dass Haus Hauteclare das gleiche Schicksal erfährt.

Ich bin noch nie geritten. Die Streitrösser – die riesigen Mechsuits, die der Adel auf Turnieren reitet – sind nicht für das gemeine Volk bestimmt; diese Tötungsmaschinen sind einst gebaut worden, damit die Ritter darauf in den Krieg ziehen konnten.

Adlige müssen von Kindesbeinen an trainieren, ein solches Streitross zu reiten, sonst finden sie darin den Tod.

Ich verspüre einen Stich von Angst und würge ihn hinunter. Wie die meisten im unteren Bezirk habe ich meine halbe Kindheit damit verbracht, mir auf dem Visor die Turniere anzusehen. Ich kenne nur diese Aufnahmen. Es dürfen ausschließlich Adlige reiten, Bastarde nicht. Es wäre eine unverzeihliche Schande für jedes Haus, einen Bastard wie mich in einem Turnier antreten zu lassen.

Der Reiteranzug im Schrank meines Vaters schimmert weiß und golden. Er ritt einst selbst für das Haus Hauteclare, bevor das Alter ihn einholte, und die Ironie ist an mich nicht verschwendet: Es ist ausgerechnet sein eigener Anzug, der mir ermöglicht, sein Haus ein für alle Mal zu entehren.

Ich werde nicht in aller Stille sterben. Mein Tod wird ein loderndes Fegefeuer der Rache sein.

Das massive Gewand besteht aus einem lacklederähnlichen Material und ist viel zu groß für mich, aber als ich es mir über den Kopf ziehe und auf die goldenen Handgelenksmanschetten drücke, passt es sich mit einem langen Zischen an meinen Körper an, schmiegt sich eng an meine halbverhungerte Gestalt.

Ich setze mir den pompösen Helm auf und betrachte mich im Spiegel. Das undurchsichtige Visier verschlingt das Mädchen, das ich war, und macht mich zu dem, was ich sein muss.

Ich verberge das Blut an den Händen unserer Familie auf dieselbe Weise, wie Vater es getan hat – ich kaschiere es mit Weiß und Gold, bis nichts mehr davon zu sehen ist.

2. Aureus

aureus ~a ~um, a.

mit Gold überzogen, vergoldet

Ich beschleunige meine Schritte, als ich den Turniersaal Richtung Hangar sechs durchquere. Ich muss mich beeilen – ich habe wertvolle Minuten damit verloren, Vaters Leiche durch die Luftschleuse zu schieben.

Der Gang wölbt sich hoch über mir wie eine Höhle aus kaltem Marmor und Stahl. Die Station ist groß genug, um drei Ebenen zu beherbergen – den unteren Bezirk, den mittleren Bezirk und den Adelsbezirk –, aber am allermeisten Raum nimmt, mit Ausnahme des Königspalasts, der Turniersaal ein. Reiten ist die einzige Sportart, die die Anerkennung sowohl des Königs als auch der Kirche genießt, und so ist der Turniersaal das reinste Unterhaltungsmekka. Und einer der wenigen Orte, an denen auch das gemeine Volk willkommen ist … wenngleich auch nur, um seine Credits auszugeben und die Tribünen zu füllen.

Ich werde noch schneller und biege nach links zum Hangar sechs ab, folge den orangefarbenen Lichtern. Die Lampen haben die Form von Engeln. Was für ein behagliches Leben müssen die Adligen führen, wenn sie Zeit dafür haben, so schöne Lampen zu machen? Sie haben reichlich zu essen und genug Medizin selbst gegen den kleinsten Schnupfen, während wir anderen immer wieder von Ausbrüchen der roten Pocken heimgesucht werden. Auch meine Wangen sind von Pockennarben gezeichnet – es ist schon lange her, und ich habe damals nur knapp überlebt. Das Gesicht meines Vaters hingegen war verstörend glatt. Adlige müssen nicht ums Überleben kämpfen. Sie entscheiden, wer überlebt.

Ein Herzog hat die höchste Position innerhalb eines Hauses inne. Ihm untersteht eine Handvoll Lords, und diesen Lords wiederum unterstehen zahlreiche Barone, die dafür sorgen, dass das gemeine Volk arm bleibt, der Gnade der Aristokraten ausgeliefert. Sie entscheiden, wer lebt, wer Proteinrationen bekommt und wer stirbt.

Aber jetzt entscheide ich, wann und wo ich sterbe.

Und es wird in einem Streitross sein.

Ich blicke hinauf. Die prächtigen Banner der Adelshäuser säumen den Turniersaal; am auffälligsten ist der purpurgoldene Drache des Königshauses – des Hauses Ressinimus. Fans dürfen sich eigentlich nicht in der Nähe der Hallen aufhalten, aber ein kleines Grüppchen hat sich trotzdem hineingeschlichen und wartet mit Gewächshausblumen und Autogrammbüchern in den Händen darauf, dass ihre Lieblingsreiter vorbeikommen. Die Bücher sind aus echtem, kostbarem Papier – tja, hier ist echter, sehr viel weniger kostbarer Fanatismus am Werk.

»Wer ist das?«, flüstert ein Mädchen und starrt mich an.

»Die Reiterin des Hauses Hauteclare«, behauptet der Mann neben ihr. »Das einzige Haus, dessen Reiter ein so strahlendes Weiß trägt, ist Hauteclare.«

»Aber … sie ist ein Mädchen. Ich dachte, Herzog Hauteclare persönlich reitet das Streitross?«

Der Mann schüttelt den Kopf. »Jetzt reitet Lady Mirelle Ashadi-Hauteclare für ihn. Der Herzog hat sich vor drei Jahren zurückgezogen. Wegen seiner Kopfverletzung beim letzten Supernova-Pokal …«

Ich blende sie einfach aus, so beiläufig, als würde ich die Lautstärke meines Visors runterregeln. Dieser Lady Mirelle habe ich über den Visor am Handgelenk meines sterbenden Vaters mitgeteilt, dass sich das Turnier um dreißig Minuten verzögert. Sie ist das geringste meiner Probleme.

Dem Reiten – diesem Beruf, der allein dem Adel vorbehalten ist – ist eine ganze Akademie gewidmet. Die Streitrösser sind hochkomplexe Maschinen, und jede falsche Bewegung kann das Ende bedeuten. So aufmerksam ich die Turniere auch stets verfolgt habe, heute werde ich sicherlich eine Menge Fehler machen, und einer dieser Fehler wird tödlich für mich sein.

Dennoch wird niemand ahnen, dass ich ein Bastard bin … bis sie das Cockpit des Streitrosses aufbrechen und meiner Leiche den Helm abnehmen. Dann werden sie die Pockennarben auf meinen Wangen sehen und wissen, dass ich eine Bürgerliche bin, die nicht über die Credits verfügt, diese Schönheitsmakel zu beseitigen, und der DNA-Test wird noch Schlimmeres beweisen: dass ich ein Bastard des Hauses Hauteclare bin. Und dann wird Hauteclare das erste und einzige Haus der Geschichte sein, das die geheiligte Welt des Reitens besudelt hat.

Ich erschauere. Mein Tod wird erheblich schmerzhafter sein als das Verbrennen im Plasmaschlot. Aber er wird sie mehr schmerzen als mich.

Ein großer Reiter mit breiten Schultern kommt auf mich zu. Sein Gewand ist so leuchtend karmesinrot, dass es in den Augen weh tut. Blut in Vaters Teppich, die blutige Kehle meiner Mutter. Ein braunes Emblem in Form eines Falken schmückt seinen reich verzierten Helm, aber ich weiß nicht, zu welchem Haus es gehört – es gibt einundfünfzig Häuser am Hof des Königs, und nur Adlige machen sich die Mühe, sich die Wappen all dieser royalen Arschlöcher einzuprägen.

Ich hebe das Kinn. Früher einmal hätte mich die schiere Größe dieses Reiters womöglich eingeschüchtert, ebenso die Weise, wie sein enganliegender karmesinroter Anzug all die hart erarbeiteten Muskeln seines beeindruckenden Körpers betont. Vielleicht hätte ich auch Unbehagen empfunden, weil er so mühelos über den Marmorboden dahingleitet wie flüssiges Feuer. Etwas so Großes sollte sich nicht so anmutig bewegen. Aber jetzt empfinde ich nichts mehr außer dem Sog des bevorstehenden Endes, das mich so unaufhaltsam anzieht wie ein Schwerkraftgenerator.

Im Vorbeigehen rempelt der rote Reiter mich mit der Schulter an. Absichtlich. Ich taumle, aber er klappt nicht mal das Visier hoch, um sich zu entschuldigen. Stattdessen dröhnt eine tiefe Stimme aus den Helmlautsprechern.

»Hast du getrunken, Mirelle? Interessante Art, die Saison zu beginnen. Soll ich dir eine Flasche schönen altirdischen Whiskey schicken lassen? Stoßen wir doch später miteinander an, wenn ich dich in der ersten Runde besiegt habe.«

Ich schweige. Er umkreist mich wie ein hungriger Hund.

»Du kommst mir dünner vor. Hast du etwa nicht brav dein Gemüse aufgegessen?«

Wenn ich antworte, wird mich meine Stimme verraten, aber wenn ich gar nicht reagiere, erregt das ebenfalls Verdacht. Der rote Reiter greift nach mir, und unwillkürlich wehre ich ihn ab. Unsere Handflächen prallen aufeinander, und mir schießt Adrenalin ins Blut. Er neigt den behelmten Kopf, und das Falken-Siegel scheint mich misstrauisch zu beäugen.

»Heute sind wir aber ganz schön kratzbürstig, was? Uns bleiben noch fünfzehn Minuten bis zum Start. Sollen wir sie nutzen und schnell noch mal duschen gehen, nur du und ich?«

Er versucht, seine Finger mit meinen zu verschränken. Aber auch wenn er größer und stärker ist als ich – in der Zeit, als ich im Bordell nach Informationen über meinen Vater suchte, habe ich die Kunst der Armhebel zu meistern gelernt.

Mit einem Ruck verdrehe ich ihm den Ellbogen und höre sein schmerzerfülltes Aufstöhnen, als ich ihn in derselben Bewegung zu Boden schleudere. Im nächsten Moment liegt er unter mir, und ich blicke schweratmend auf sein seelenloses schwarzes Visier hinunter, in dem sich mein gold-weißer Helm spiegelt.

Die Bewegung seiner breiten Brust ist der einzige Hinweis darauf, dass der rote Reiter ein Mensch ist. Im Vergleich zu seinen Handgelenken sind meine eigenen lächerlich dünn, nichts als Haut und Knochen. Er ist so absurd massiv, dass es ein Kinderspiel für ihn sein müsste, meinen Griff zu sprengen, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund bleibt er unter mir liegen. Einen Atemzug lang. Drei.

Mir ist, als würde die Hitze seines Oberkörpers die Innenseiten meiner Oberschenkel verbrennen. Und dann spüre ich Hitze in meinem Rücken … seine Finger. Er versucht, mich zu überlisten. Ich packe zu und verdrehe seinen Arm. Presse ihn neben seinem Kopf auf den Boden. Plötzlich sind sich unsere Helme viel zu nahe, schwarzes Visier dicht vor schwarzem Visier. Meine Brust zieht sich zusammen, als würde sich ein viel zu enges Band darum spannen.

Er gibt zuerst auf. Hebt sein Visier an, und hinter dem schwarzen, harten Glanz kommen braune Augen zum Vorschein. Sie haben die satte Farbe von Rotholz, wie der Anhänger meiner Mutter, warm und kastanienbraun, und sind umkränzt von dichten Wimpern.

»Wenn du das hier wolltest«, er lacht leise, »hättest du doch nur fragen müssen.« Er ist durch und durch ein typischer Adliger – vergnügungssüchtig, arrogant, ignorant. Sein enges Gewand hilft nicht gerade dabei, sein Entzücken zu verbergen, aber immerhin lenkt ihn eben dieses so sehr ab, dass er nicht merkt, dass gerade eine Hochstaplerin auf ihm sitzt.

Hinter dem Visier verziehe ich angewidert das Gesicht. Das erste Mal, dass ich einem anderen Menschen irgendeine Art von Mimik entgegenbringe seit … seit Wochen? Monaten?

Fans umringen uns in einem dichten Pulk, sie zeichnen alles auf; an Dutzenden Handgelenken blitzt es blau auf.

»Eine körperliche Auseinandersetzung zwischen Reitern vor einem Spiel gilt als Foul«, ruft jemand.

»Sollen wir einen Kampfrichter rufen?«, fragt ein anderer.

Kampfrichter. Es fühlt sich fast nicht wie ein Wort an, eher wie ein plötzlicher Stich, der mir durchs Gehirn fährt, eine Warnung – die Autorität ist das Einzige, was dich jetzt noch aufhalten kann.

Hastig stehe ich auf und weiche von ihm zurück.

»Nein«, platzt der rote Reiter heraus und richtet sich ebenfalls auf. »Wir brauchen keinen Kampfrichter – es ist meine Schuld. Ich habe praktisch um eine Tracht Prügel gebeten.«

»Aber sie hat Euch den Arm verd…«

»Ihr habt es doch alle gesehen«, unterbricht er den empörten Fan und sieht mich unverwandt an. Taxiert mich. Fährt fort, ohne den Blick abzuwenden: »Ich habe versucht, die Dame anzufassen, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. Ich würde mal sagen, ihre Reaktion ist vollkommen gerechtfertigt.«

Er drückt den Knopf an der Seite seines Visiers, und die Dunkelheit verschluckt seine Augen erneut. Aber wie jeder Adlige, der König Ressinimus die Treue schwört, trägt er ein Schwarzlicht-Halo auf der Stirn, und in dem schwachen blauen Schein erkenne ich vage die Umrisse seiner Lippen, die sich zu einem fast zärtlichen Lächeln verziehen – eine Zärtlichkeit, die in Wirklichkeit Hauteclares Reiterin Mirelle gilt.

Ich setze mich wieder in Bewegung und lasse den roten Reiter in der Bewunderung seiner Fans baden. Sein tiefes Lachen hallt mir unangenehm in den Ohren nach.

Endlich kommt Hangar sechs in Sicht, darüber weht weiß und golden das Banner mit dem geflügelten Löwen. Eine Reihe Hauteclare-Mitarbeiter in strahlend weißen Uniformen verbeugt sich vor mir, sobald ich mich nähere. Der Leiter der Crew nimmt die Schutzbrille ab. Sein Gesicht, das durch die ständige Nähe zu den Lasern stark vernarbt sein müsste, ist verblüffend glatt. Offenbar legen die Adligen Wert darauf, dass sogar ihre Boxencrews schön sind.

»Gerade noch rechtzeitig.« Er grinst. »Ghostwinder ist heute in Bestform, Mylady. Die Dekontaminierungskammer ist bereit und wartet nur noch auf Euch.«

Ich nicke und spüre meine Hände zittern, als ich an ihm vorbeischreite. Ich muss so schnell wie möglich in dieses Ghostwinder-Streitross steigen – die Nachricht, die ich über den Visor meines Vaters gesendet habe, wird Mirelle sicher nicht mehr lange aufhalten. Zum Glück scheint sie mir von der Statur her recht ähnlich zu sein, sonst wäre ich längst entdeckt worden.

Mein Blick fällt auf die weiße Tür zum Hangar des Streitrosses. Darin ist etwas eingemeißelt, ein kunstfertiges, feines Relief – es erzählt eine Geschichte, aber nicht die übliche Kirchengeschichte über Engel und Dämonen. Ich sehe einen Mann auf einem Pferd, der seinen Projektionsspeer auf etwas richtet, das aussieht wie ein Knäuel aus tausend sich windenden Schlangen. Ich blinzle – nein, das sind keine Schlangen, sondern Ranken. Sie laufen zu einem labyrinthischen Zentrum zusammen, und auf ihrer Unterseite befinden sich lange Reihen von Reißzähnen.

Der Feind.

Es gibt keine echten Bilder des Feindes mehr – die königlichen Minister behaupten, im Krieg seien sämtliche Datenbanken zerstört worden, und die Priester sagen dazu nur, das Werk des Bösen sei oft schwer zu erkennen. Dieser sich windende Feind auf der Hangartür, gegen den der heilige Jorj in den Kampf zieht, hat keine echte Gestalt, ist eher eine typische übertriebene Kirchenmetapher als eine richtige Abbildung. Ich bezweifle schon lange, dass dies die wahre Gestalt des Feindes ist. Geschichte wird allein von den Siegern geschrieben, und das selten mit großer Genauigkeit.

»Der heilige Jorj sieht heute sehr gut aus, nicht wahr, Mylady?«, fragt der Crewleiter. Als ich schweige, fährt er fort: »Ich empfinde seinen Anblick immer als so tröstlich. Es erinnert mich an den Krieg – an all diese Streitrösser und tapferen Ritter, die im Kampf gegen den Feind gefallen sind. Er erinnert mich daran, dass das Reiten einst ein großes Opfer bedeutet hat, und … nun ja. Ich fühle mich einfach geehrt, ein Teil von alldem sein zu dürfen, Mylady.«

Natürlich fühlst du dich geehrt. Die Adligen werfen uns gern ihre Essensreste vor die Füße und sichern sich damit unsere Dankbarkeit.

Ich nicke ihm zu, und er drückt einen Knopf an der Wand aus Synth-Marmor. Langsam gleiten die Hangartüren auf, und ich trete allein ins helle Licht. Dann schließen sich die in die Türen eingravierten Ranken wieder hinter mir.

Es gibt keinen Krieg mehr. Der Feind ist verschwunden. Wir haben gesiegt. Jetzt kämpfen wir nur noch gegen uns selbst.

Ich bin kein Ritter.

Aber heute werde ich wie einer sterben.

3. Bellicus

bellicus ~a ~um, a.

zum Krieg gehörigkriegerisch, kampflustig

In Hangar sechs ist es sehr kalt.

Die ganze Station geizt nie mit Kälte. Immerhin ist überall um uns nur der leere Raum – an Kälte mangelt es also nicht. Es ist die Wärme, auf die es ankommt. Wärme bedeutet Überleben.

Einmal im Jahr stellen die Adligen die Heizung im unteren Bezirk ab, angeblich, um Stationsenergie zu sparen. Sie besitzen sogar die außerordentliche Frechheit, diesen Tag als Feiertag zu bezeichnen – das Winterfest. In den Straßen bildet sich Nebel, und die aus den Schloten austretende Schwefelsäure kristallisiert zu Neonspeeren. Menschen erfrieren in ihren Betten, aber die Adligen bestehen darauf, dass wir diesen Tag feiern.

Der aufgestaute Hass in meinem Herzen hat sich zu einer Klinge verdichtet, die mich beständig sticht und vorantreibt.

In Hangar sechs herrscht noch dichterer Nebel als beim Winterfest in den Straßen. Ich kann kaum etwas sehen. Wie soll ich denn so das Streitross finden?

»Dekontamination beginnt in fünf, vier, drei, zwei …«, ertönt eine ruhige mechanische Stimme, und ich zucke zurück, als plötzlich ein blauer Laser auf mich zuschießt. Er hüllt mich ein wie ein Spinnennetz aus Lichtstrahlen, das mich aus jedem Winkel analysiert – offenbar eine Art Identifikationssystem. Ich scheine die Prüfung zu bestehen, denn gleich darauf schließen sich der geflügelte Helm und der weiße Anzug abrupt unter meinem Kinn. Ein unangenehmes Zischen ertönt, meine Ohren knacken, als sie sich an den veränderten Druck anpassen. Und dann, mit einem Rauschen, das nur gedämpft durch den Helm dringt, wird der dichte Nebel aus dem Hangar gesaugt. Zurück bleiben nur nackte, weiß-goldene Marmorwände.

»Dekontamination abgeschlossen. Bitte begebt Euch in den Sattel.«

Die Stimme klingt so kühl, wie die Angst in mir heiß lodert. Der Weltraum verzeiht keinen Fehler, auch nicht dem, der im Innern eines Streitrosses sitzt. Es kommt durchaus vor, dass Reiter sterben – allerdings nur selten, das letzte Mal ist schon lange her. Während der Turniersaison hört man eher Meldungen über gebrochene Gliedmaßen oder geschädigte Gehirne. Aber ich muss in diesem Streitross sterben. Eine Verletzung reicht nicht – ich muss sterben, richtig und endgültig. Es gibt keine andere Möglichkeit; denn nur im Tod kann ich dem Haus Hauteclare so vernichtend schaden, wie ich es im Leben nicht vollbringen kann.

Aus dem Augenwinkel sehe ich durchs Visier eine geschmeidige Bewegung – eine Tür öffnet sich in der Marmorwand. Der einzige Ausgang.

Ich habe gelernt: Wenn die Angst einem in den Hintern beißt, muss man zurückbeißen. Sonst frisst sie einen mit Haut und Haar.

Ich gehe weiter und achte nicht darauf, wie heftig mein Herz klopft.

Der nächste Raum ist fast mit dem ersten identisch; der einzige Unterschied ist der Kreis auf dem Boden, groß genug, dass drei Menschen bequem darin stehen könnten. Er besteht ganz aus schwarzem Glas, begrenzt von einem leuchtenden, smaragdgrünen Ring. Jedes Streitross hat einen Sattel – den Sitz, von dem aus der Reiter es steuern kann. Das hier muss dieser Sattel sein.

Ich trete in die Mitte und warte zitternd ab, was passiert. Nach einer Weile steigt der grün leuchtende Ring mit einem Rumpeln in die Höhe, dünn und durchscheinend, und schließt sich rings um mich zu einem Lichtschlauch, durch den die Welt smaragdgrün leuchtet.

Plötzlich spritzt neben meinem Fuß etwas auf das schwarze Glas – ein blasser, lavendelblauer Klumpen. Dann folgt noch einer und noch einer. Ich fange einen davon auf; er fühlt sich ähnlich an wie das billige Med-Gel, das man in jedem Erste-Hilfe-Kasten findet.

Die Klumpen haben einen regenbogenartigen Schimmer, und im ersten Moment denke ich, es handle sich um irgendeine Substanz auf Ölbasis, aber dann sehe ich: Der Glanz stammt von Tausenden seltsamer, silbrig schimmernder Lichter, die langsam im Innern der Klumpen umherwirbeln. Ich schnuppere daran. Es riecht bitter, mit einer leichten Zitrusnote. Was zum Teufel …

Ein Klicken über meinem Kopf.

Ich sehe gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie sich die Decke öffnet und eine Welle von Gel auf mich herunterplatscht. Ich presse mich gegen die harte, helle Wand, aber ich kann nirgendwo hin – das Gel strömt einfach weiter in die Röhre und füllt sie. Reicht bis zu meiner Taille, dann steigt es bis auf Schulterhöhe. Wenn es die Lüftungsschlitze meines Helms erreicht, werde ich ersticken.

Aber nein – wenn die Reiter im Sattel ersticken würden, gäbe es keine Turniere mehr.

Die silbern schimmernden Wirbel winden sich überall im Gel. Sie sehen aus wie Würmer oder winzige Kaulquappen, die ums Überleben kämpfen. Sind es vielleicht Nanomaschinen? Das könnte durchaus sein. Der Adel behält sich die beste Technologie für die eigenen Reihen vor, und Streitrösser sind nur für Adlige bestimmt.

Selbst als das seltsame Gel den Schlauch bis zu meinem Hals füllt, verspüre ich keinen Druck; ich fühle mich sogar leichter, als würde es meinen Körper stützen, statt mich zu zerquetschen. Das Gel erreicht mein Visier, und im nächsten Moment tauche ich völlig darin unter. Tapferkeit besteht nicht immer darin, dass man etwas tut, sondern manchmal auch darin, dass man etwas erträgt, also ertrage ich es, selbst als das Gel in die Lüftungsschlitze meines Helms sickert. Es ist kühl auf meiner Nase und meinen Augen und fühlt sich samtweich an. Ich halte den Atem an, aber dann geht mir der Sauerstoff aus, und ich atme keuchend ein. Das Gel dringt tief in meine Lunge, und ich schlage um mich, spüre, wie meine Arme die Wände der Röhre treffen. Ein bitterer Zitrusgeschmack dringt mir in den Mund und löst sich sofort auf meiner Zunge auf, und dann merke ich, dass ich dieses Zeug atmen kann. Meine Panik ebbt ab, und ich halte still. Ich lebe noch.

Das heißt, ich werde doch noch meine Rache bekommen.

Ein dumpfer Ruck geht durch den Boden. Das silbrige Gel dämpft jede Erschütterung ab, aber das sachte Vibrieren in meinen Knochen verrät mir, dass der Boden tiefer hinabsinkt, bis er schließlich mit einem lauten Klicken einrastet.

Und dann zuckt ein Blitz auf mich hernieder.

Elektrizität schießt durch meinen Körper, und meine gerade erst gefundene Ruhe verbrennt im schieren Schmerz – ich kann mich nicht rühren, meine Lippen ziehen sich von den Zähnen zurück, meine Augenlider sind wie eingefroren. Mit krampfhaft zuckenden Augen sehe ich, wie die silbernen Wirbel im Gel heller aufleuchten, sie bewegen sich immer schneller. Windräder, Strudel. Und dann hört der Schmerz plötzlich auf, und an seine Stelle tritt ein eigenartiges Wissen: Ich weiß, dass ich nicht allein bin.

Etwas ist hier, direkt bei mir, es schwebt überall ringsum. Es ist wie die traumartige Gewissheit, dass jemand hinter einem steht. Das heiße Kribbeln im Hinterkopf, wenn man spürt, dass man beobachtet wird. Die unsichtbare Gegenwart von jemandem, der sich dir nähert. Jemand Großes, größer noch als der rote Reiter. Jemand, der nicht ich ist.

Und dann bewegt er sich.

Bevor mich der Schrecken überwältigen kann, greift er sanft nach mir; eine federleichte, vorsichtige Berührung. Ich spüre es deutlich in meinem Kopf, ohne dass ich etwas sehe – wie umgekehrte Kopfschmerzen, ein Finger, der von innen gegen meinen Schädel drückt. Es fühlt sich an wie Neugierde, aber nicht meine eigene; wie das fragende Kopfneigen eines Hundes. Es ist eine Einladung, als würde jemand mir eine unsichtbare Hand hinstrecken.

Das hier ist die Grenze. Die haarnadelfeine Wendung des Schicksals, von der ich nicht weiß, was danach kommen wird. Das ist der Tod.

»Du musst warten, bis Gott sie bestraft, Synali.«

Nein, Mutter. Das werde ich nicht.

Ich ergreife die unsichtbare Hand.

Und sofort wird mir am ganzen Körper fiebrig heiß und eiskalt zugleich, schwitzend und klamm, und ich wachse. Fühle mich auf einmal viel größer, gedehnt, als hätten sich meine Gliedmaßen viel länger gestreckt. Meine Brust, in der mein dumpfer Herzschlag donnert, ist das Einzige, was sich noch normal anfühlt. Ich weiß nicht, was zum Teufel hier los ist; ich weiß nur: Dies hier muss der Sattel sein. Und ich weiß: Dieses Etwas, das hier bei mir ist – es ist riesig, und ich bin winzig. Wir sind vollkommen unterschiedlich, aber dieses stützende Gel und die Elektrizität haben uns irgendwie … verbunden. Unsere Gedanken miteinander vereint.

»Handschlag abgeschlossen«, hallt eine kühle mechanische Stimme in meinem Helm wider. »Bereitmachen zum Einsatz in sieben, sechs, fünf, vier, drei …«

Ist dieses Gefühl … das Streitross? Es fühlt sich an wie ein Mensch. Sofort kommt mir echte KI in den Sinn … die vor hundert Jahren verboten wurde, nachdem sie rebelliert hat. Falsche KI hingegen kommt überall auf der Station zum Einsatz, von Reinigungssubroutinen bis hin zu chirurgischen Maschinen. Aber echte KI ist illegal. Nicht mal Adlige sind so verrückt, echte KI in ihre Streitrösser einzubauen – sie wollen alles kontrollieren, aber die echte KI, die unsere Vorfahren geschaffen haben, kann nicht kontrolliert werden. Deshalb hat der Vorgängerkönig Ressinimus ihre vollständige Zerstörung angeordnet.

»Was immer du bist«, murmle ich, »ich bitte dich nur darum, mich zu töten.«

»… zwei, eins.«

Der Boden unter unseren Füßen reißt auf, und wir fallen.

Mir ist, als würden mir sämtliche Organe in die Kehle hochrutschen und sich dort zusammenballen, und eine Faust schlägt von innen auf mich ein, aber dann setzt auch schon die Schwerelosigkeit ein, und wir schweben. Entweder haben die Schwerkraftgeneratoren der gesamten Station versagt, oder wir sind im …

Die silbernen Wirbel im Gel lösen sich von meinem Visier und geben mir den Blick frei: den Blick auf gestochen klare Dunkelheit, übersät mit unzähligen kalten, scharfen Sternen, wie Nadelstiche im Nichts.

… Weltraum.

Lautlos, luftlos, leblos – der Raum scheint sich vor mir zu entfalten wie die Blütenblätter einer schrecklichen schwarzen Blume, im Zentrum die ferne, grellweiße Sonne. Die Bilder schrecklicher Unfälle blitzen vor meinem geistigen Auge auf – Risse im Rumpf des unteren Bezirks, die Leichen von in den Weltraum gesaugten Menschen, die zurückgeholt werden – wie gefrierverbrannt, mumifiziert, sämtliche inneren Hohlräume implodiert. Vaters tote, aber noch warme Haut, die augenblicklich angefangen hat, sich zu schälen, sobald ich ihn durch den Entlüftungsschacht gejagt habe.

Kein Frost auf meiner Haut. Ich atme noch. Ich muss im Inneren von Vaters Streitross sein.

Das Gefühl plötzlicher Größe, die verlängerten Gliedmaßen, im Zentrum mein Brustkorb, der sich normal anfühlt, wenn auch sehr heiß … auf einmal ergibt alles Sinn, jedenfalls auf eine verdrehte, schwer fassbare Weise. Ich habe es über den Visor gesehen – Adlige, die auf gewaltigen Streitrössern, groß wie ganze Gebäude, zu ihren selbstherrlichen Turnieren ins All aufgebrochen sind. Und auch die Geschichten sind stimmig: Vor vierhundert Jahren zogen die Ritter auf ihren gigantischen Streitrössern ins All, um die Erde gegen den Feind zu verteidigen. Aber sehen und lesen ist nicht dasselbe, wie etwas wirklich zu tun. Etwas wirklich zu tun, lässt einem die Lunge bersten. Es wirklich zu tun, ist unendlich furchterregend.

Ich reite.

Nun ja, zumindest schwebe ich. Ich blicke nach unten und sehe glatte, strahlend weiße Metallglieder unter mir – Beine und Hände mit goldenen Spitzen.

Es ist, als würde ich meinen eigenen Körper betrachten, nur dass er riesengroß ist und viel zu sehr glänzt.

Es heißt, Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen. Tja, der Mensch hat die Streitrösser nach seinem Ebenbild geschaffen.

Ein Streitross ist im Grunde ein gigantischer, gepanzerter künstlicher Mensch. Es steht aufrecht auf massiven Beinen und Füßen, und die Wespentaille verbreitert sich zu einem kräftigen Brustkorb mit langen Armen. Der behelmte Kopf hat keine sichtbaren Augen-, Ohren- oder Mundlöcher – Löcher sind hier draußen im Raum strukturelle Schwachstellen. An Füßen, Knöcheln, Rumpf und Rücken befinden sich Plasmaschlitze. Sämtliche metallenen Kanten eines Streitrosses sind glattgeschliffen, was stilvoll ist und vollkommen nutzlos, denn Aerodynamik ist im Vakuum verschwendet. Aber wenn Adlige etwas Schönes wollen, dann machen sie es schön, um jeden Preis.

Langsam taste ich mich weiter in den Raum vor, da erwacht vor mir ein holografischer Bildschirm zum Leben, schwebt in hoher Auflösung einfach zwischen den Sternen. Zwei Männer sind darauf zu sehen, in dekadenten Mänteln und mit Kopfhörern. Sie sitzen vor bis zum Bersten gefüllten Tribünen. Ich erkenne die beiden; es sind die vom Hof bestellten Turnierkommentatoren.

»Herzlich willkommen zum Halbfinale des hundertachtundvierzigsten jährlichen Cassiopeia Cup!«

Das donnernde Gebrüll der Menge verschluckt ihre Stimmen, aber der Lärm wird dumpf, tritt völlig in den Hintergrund, als ich die Station erblicke. Es ist das erste Mal, dass ich mein Zuhause von außen sehe. Seine Form ist mir vertraut – ein Metallring, geschützt von zahllosen wabenförmigen Projektionsschilden, die wie Ölflecken schimmern. In seiner Mitte ragt ein Turm auf, wie eine Speerspitze, die ein Halo durchbohrt hat, und beides ist verbunden mit zahllosen hell leuchtenden Partikel-Highways, wie leuchtend orangefarbene Speichen in einem Rad. Auf den Unterseiten dieser Speichen flitzen Trams hin und her.

Hinter der Station hängt geschwollen und grün der Gasriese, den die Station umkreist – Esther. Dieser Gasriese wird von Dutzenden Substationen umkreist – einige schweben frei, andere befinden sich auf den zahlreichen Monden. Sie alle sind kleiner als die Station und unablässig damit beschäftigt, die Oberfläche von Esther zu terraformen. Das tun sie bereits seit vierhundert Jahren – seit dem Ende des Kriegs, als der letzte Angriff des Feindes alle sieben Stationen aus der Erdumlaufbahn und in ferne Sonnensysteme davongeschleudert hat.

Er ist irgendwo da draußen. Mein Vater.

Mein Blick schweift über die Station. Über die Spindel, in deren Zentrum die Adligen leben, über Tausende von Sonnenkollektoren, die sowohl auf Esther – terrenial – als auch in Richtung der Sterne – siderisch – ausgerichtet sind. Keine Spur von seinem Leichnam. Kein ergrautes Haar, keine rüschenbesetzten Manschetten, kein weißer Umhang. Ich kann Vaters Leiche nirgends entdecken. Aber ich habe eigenhändig den Schleusenknopf gedrückt und zugesehen, wie der Beweis für den von mir begangenen Mord ins Nichts davongeschwebt ist … wo ist er also? Esthers Schwerkraft würde ihn sicherlich nicht so schnell nach unten ziehen.

Ein weiterer Holobildschirm gleißt auf und verdeckt mir die Sicht – das Gesicht des Kommentators ist unerfreulich fröhlich.

»Wir haben heute ein fantastisches Duell für euch, liebe Leute! Das geschichtsträchtige Haus Hauteclare tritt endlich gegen das unbezwingbare Haus Velrayd an – zwei Familien, berühmt für ihren Stolz und ihre Kampfkunst! Wer wird siegen? Wer wird fallen? Das weiß nur der Himmel!«

Ich versuche, den Holo-Bildschirm wegzuwinken, aber dies hier ist nicht mein Visor, und er verschwindet nicht. Im nächsten Moment ertönt eine weitere Stimme in meinem Helm, ein raues, tiefes Grollen – der rote Reiter.

»Verzeih meine Ausdrucksweise, aber was zum Teufel treibst du da? Mirelle? Wir sind hier nicht beim Anfängertraining – beweg deinen Hintern.«

Ein karmesinroter Punkt durchschneidet den Raum und kommt geradewegs auf mich zu. Ich habe Streitrösser über den Visor gesehen, auf Postern und als Spielfiguren in den Händen von Kindern, aber das hier ist etwas völlig anderes. Er ist so riesig vor den eiskalten Weiten des Weltraums und dem grünen Glühen Esthers. Viel zu groß, viel zu real, und er kommt viel zu schnell näher. Etwas so Großes sollte sich nicht so anmutig bewegen.

Das Streitross des roten Reiters ist karmesinrot bemalt, durchsetzt mit tiefem Braun – die Farbe erinnert an getrocknetes Blut –, und es ist so hoch, wie eine Tram lang ist. Am Helm befindet sich ein schnabelartiger Vorsprung, der sich über Stirn und Schädel zieht wie der Kamm eines Vogels, und die Fersen sehen aus wie gefiedert. Kurz frage ich mich, wo sein Sattel sein mag: in der Brust oder im Kopf? Wo befinden wir uns als Reiter in diesen gigantischen Marionetten? Ich blicke auf die titanenhafte weiße Brust meines Streitrosses hinunter. Mein eigener Körper muss sich irgendwo im Torso befinden – zumindest fühlt es sich an, als wäre hier das Zentrum.

Der rote Reiter kommt zu mir gesaust, und ich beobachte gebannt, wie zwei karmesinrote heiße Zwillingsstreifen aus Plasma seinen Weg markieren, bis die Kälte des Weltraums sie auslöscht. Sie verzehrt. Hitze ist Überleben, das wusste ich immer, aber erst jetzt erkenne ich auch ihre Schönheit.

Zu spät.

Ich höre seine eindringliche, heisere Stimme über Funk: »Hast du etwa den ersten Schub vermasselt? Komm, ich helfe dir.«

Ich brauche deine verdammte Hilfe nicht, Adliger.

Nirgends Knöpfe im Sattel, keine Hebel zum Ziehen – nur mein eigener Körper, der in glasklarem Gel schwimmt. Welche Schalter der rote Reiter auch immer benutzt, um sein Streitross zu steuern, ich kann sie hier bei mir nicht entdecken. Mein Streitross reagiert nicht – ich kann nicht mal ausweichen, als er mit dem Metallarm nach dem meines Streitrosses greift.

Doch dann berührt er meinen Ellbogen, und ich zucke unwillkürlich zusammen. Es fühlt sich an wie Haut auf Haut, und genau wie bei einer echten Berührung denke ich instinktiv: Verdammt, fass mich nicht an! Am liebsten hätte ich ihm den Mittelfinger gezeigt … und sehe überrascht, wie die goldenen Finger der freien Hand meines Streitrosses diesen Gedanken präzise in die Tat umsetzen: Es hebt den Mittelfinger, und das Handgelenk ist in exakt demselben Grad angewinkelt, wie mein eigenes es wäre.

Der rote Reiter lacht leise. »Du willst mich also unbedingt mit Schweigen strafen? Nur zu, aber das wird mich sicherlich nicht davon abhalten, einer Reiterkollegin zu helfen. Du weißt schon, Ritterlichkeit? Diese Eigenschaft, die du so sehr liebst?«

Ich höre ihn wie aus weiter Ferne – weil ich vollkommen darauf konzentriert bin, versuchsweise meine Faust zu schließen. Zu meiner Verblüffung schließt sich tatsächlich auch die Faust des weiß-goldenen Streitrosses. Es gibt nicht die leiseste Verzögerung – es ist, als würde ich mein Spiegelbild betrachten. Ich bin nicht nur im Innern des Streitrosses – ich bin das Streitross.

Langsam zieht mich der rote Reiter zur Kampfbahn – zwei sechseckigen Platten, die mitten im leeren Raum schweben. Ich kann den Abstand dazwischen nur schätzen – fünfzig Pars vielleicht oder auch etwas mehr. Direkt in der Mitte der Rampe sehe ich das unverkennbare blaue Glühen eines Gravitationsgenerators. Er hängt wie ein azurblauer Stern mitten in der Schwärze, viel heller als die Generatoren in den Stationswänden. Es muss sich um einen Kurzstrecken-Grav-Gen handeln, wie man sie im Krieg verwendet hat, um Schlachtschiffe und Streitrösser zu starten.

Wir erreichen die näher gelegene Platte, und der rote Reiter drückt meinen schwebenden Körper dagegen – als ich seine Fingerspitzen auf der Brust spüre, denke ich unwillkürlich giftig: Versuch bloß nicht, mich zu kontrollieren, du adliges Stück Scheiße. Mit einem unangenehmen Ruck setzt der Magnetismus ein und nietet meine Wirbelsäule fest an die Platte. Ich starre geradeaus und weigere mich, den roten Reiter anzusehen.

»Tja«, sagt er jovial, »ich bin dann mal weg. Viel Glück, mach dem König Ehre und so weiter.« Sein Streitross vollführt einen kleinen Gruß – rote Finger tippen an die rote Stirn –, und dann schwenkt er um. Die Düsen an Rücken und Füßen leuchten karmesinrot auf, und er steuert über den Mittelpunkt hinweg, markiert durch den Grav-Gen, und schwebt direkt auf die andere sechseckige Platte zu. Er bewegt sich mit spielerischer Leichtigkeit – seine Ausbildung auf der Akademie ist unverkennbar. Mit Sicherheit hat er sich selbst für die Akademie entschieden, denn adlige Kinder wie er können in aller Ruhe und Bequemlichkeit über ihr eigenes Schicksal entscheiden, während Pöbel wie ich sich sein Leben lang abrackert. Unsere Arbeit ist schweißtreibend und gefährlich; wir sind Diener, Schweißer, wir schuften auf den Substationen … und viele von uns werden bei dieser Arbeit zermalmt, getötet oder verstümmelt. Bürgerliche sind schließlich entbehrlich – das hat mich das Bordell gelehrt. Das hat mich mein Vater gelehrt, der meine Mutter wie einen Gegenstand behandelte, den man nach der Benutzung einfach entsorgt.

Wut kocht in mir hoch. Ein Feuer, das nicht gelöscht werden kann, ein Feuer, das ich nicht löschen werde. Es lodert lichterloh auf, und eigenartigerweise spüre ich, wie das Etwas, das hier drinnen bei mir ist, ebenfalls aufflammt, bis das Innere des Streitrosses ganz von unserer gemeinsamen Wut erfüllt ist.

Meine Mutter ist tot, und ich habe meinen Vater umgebracht. Ich bin ganz allein in diesem Leben. Das weiß ich.

Aber zum ersten Mal seit sechs Monaten verspüre ich eine gewisse Erleichterung, weil noch etwas anderes in diesem Universum – irgendetwas – ebenso hell und heiß brennt wie ich.

In diesem Feuer werde ich untergehen, und die Flammen werden jeden Hauteclare auf dieser gottverlassenen Station für immer zeichnen.

4. Caecus

caecus ~a ~um, a.

(wörtlich und im übertragenen Sinne) blindohne Licht

Nach einem Kampf im Weltraum verbeugt sich ein Reiter nicht, um seinen Respekt zu zeigen. Er nimmt seinen Helm ab.

Falls ich also diesen Kampf gegen den roten Reiter irgendwie überleben sollte, werde ich, noch im Sattel sitzend, meinen Helm abnehmen. Man wird mich verhaften und verhören und anschließend hinrichten. Man wird Herzog Hauteclares Leiche finden, die irgendwo in der Umlaufbahn der Station treibt. Das Haus Hauteclare wird mit Sicherheit versuchen, es zu leugnen, aber die Ergebnisse des DNA-Tests meiner Leiche werden die Wahrheit ans Licht bringen – Herzog Farris von Hauteclare hat eine uneheliche Bastardtochter gezeugt, die ihn getötet hat und dann auf seinem Streitross in einem Turnier angetreten ist. Kein Trainingskampf, kein kleines Qualifikationsspiel, sondern ein richtiges Turnier – die heilige Bewährungsprobe, bei der die Adligen der gesamten Station zu demonstrieren pflegen, dass sie in Sachen Ehre, Stärke und Moral über jeden Zweifel erhaben sind. Dass sie aus gutem Grund diejenigen sind, die regieren.

Diese Turniere sind den Adligen das Allerheiligste … gleich nach ihren Schlafzimmern, in denen sie ihren reinblütigen Nachwuchs zeugen.

Denn das Einzige, was Adlige noch höher schätzen als ihre Turniere, ist ihre Blutlinie.

Deshalb hat Vater einen Attentäter angeheuert, um meine Mutter und mich zu töten. Es hat Monate gedauert, bis ich die Wahrheit herausgefunden habe, aber schließlich kam sie doch ans Licht, so wie alles irgendwann ans Licht kommt. Der Herzog von Hauteclare wollte uns töten, weil er für den freien Sitz im Beraterstab des Königs kandidieren wollte. Doch ein Bastard ist die wohl größte denkbare Schande – hätten seine Rivalen von meiner Existenz erfahren, so hätten sie das ganz sicher benutzt, um seine politische Karriere zu zerstören.

Meine Mutter und ich waren für ihn nichts weiter als Opferlämmer auf dem Altar seines Machthungers.

Und jetzt, als ich mit dem Rücken an der sechseckigen Platte hafte, fühle ich mich wieder wie ein Opferlamm. Die Platte ist der sechseckige Altar, der mich festhält, ehe das letzte Gefecht beginnt. Er dreht sich langsam im Raum, und ich mich mit ihm, die Sterne ziehen an mir vorbei. Von der zweiten Platte aus winkt mir der rote Reiter zu – mit etwas Glück wird auch er am Ende dafür bestraft, dass er mit einem dreckigen Bastard wie mir die Lanzen gekreuzt hat. Aber in diesem Moment kann ich nichts weiter tun, als zu warten. Der Weltraum ist wirklich unendlich, leer und dunkel, aber ich lasse es nicht zu, dass mich die Angst vor der schieren Weite überwältigt.

Der Geruch des silbrig glänzenden Gels des Sattels erinnert mich vage an die Tage, an denen meine Mutter gebacken hat – künstliches Zitronenaroma und Synth-Vanille. Wir konnten sie uns nur einmal im Jahr leisten, zu meinem Geburtstag. Meine Mutter hat das Backen geliebt, ganz gleich, wie schlecht es ihr ging. Wann immer ich aus den Plündergruben ein Päckchen mit bröckligem Mehl mit nach Hause brachte, fand sie die Kraft, aufzustehen und etwas zu backen. Dann summte und bebte unser Ofen, und der Duft frischen Backwerks erfüllte unsere kleine Wohnung, verdrängte für einen Moment die Schwefeldämpfe und das Kreischen der Tram.

Ich würge einen dicken Kloß hinunter. Ich hatte es völlig vergessen. All das Blut und der Tod und die ganzen Verschwörungen … darüber habe ich komplett vergessen, dass ich heute Geburtstag habe.

Die Stimme eines Kommentators unterbricht meine Gedanken.

»In der roten Ecke: Das ruhmreiche Haus Hauteclare und sein prächtiges Streitross Ghostwinder! Ich bitte um einen herzlichen Applaus für Ghostwinders fantastisch kühne und mühelos anmutige Reiterin: Mirelle Ashadi-Hauteclare!«

Unter dem Beifall der Menge erbebt mein Helm.

»Lady Mirelle hat längst zu viele Siege errungen, um sie noch zu zählen, Gress«, stellt der zweite Kommentator fest.

»In der Tat, Bero«, stimmt ihm der erste zu. »Mal sehen, ob sie heute einen weiteren Sieg erringen kann. Wenn ich dann jetzt um Aufmerksamkeit für die blaue Ecke bitten dürfte: Hier haben wir das erbarmungslose Haus Velrayd und sein Streitross Sunscreamer! Sunscreamers Reiter ist kein anderer als der Eine und Einzige, das einstige Wunderkind mit den besten Noten in der gesamten Geschichte der Akademie – Rax Istra-Velrayd!«

Der Beifall für den roten Reiter ist zehnmal so laut.

Rax. Ein schrecklicher Name – er schmeckt wie ein trockener Proteinriegel auf der Zunge.

»Rax ist auf präzises Timing spezialisiert«, sinniert der zweite Moderator. »Aber Mirelle ist bekannt für ihre kraftvollen Sturmangriffe. Das könnte hässlich werden, Gress.«

»Absolut, Bero. Aber in der Welt des Turniersports ist hässlich nur ein anderes Wort für aufregend. Reiter, bereitmachen für den Abschuss!«

Urplötzlich dreht sich die Platte senkrecht und rastet ein. Mir ist schwindlig, und ich blinzle – ich habe freie Sicht auf den Grav-Gen und auf Rax auf der gegenüberliegenden Seite; auch seine Platte ist eingerastet. Etwas Hartes materialisiert sich in meiner Hand, schiebt sich Stück für Stück aus der metallenen Handfläche des Streitrosses, weiß und lang; es endet in einer nadelscharfen goldenen Spitze. Ich weiß, was es ist, noch ehe es ganz Gestalt angenommen hat: eine Lanze. Die gewaltige Waffe, die sich im Innern jedes Streitrosses verbirgt. Vor so langer Zeit wurden diese Waffen geschaffen, um den Feind zu töten, aber jetzt dienen sie nur noch der Unterhaltung.

»Der Countdown für die erste Runde beginnt – im Namen Gottes, des Königs und der Station«, ruft einer der Kommentatoren.

»Im Namen Gottes, des Königs und der Station«, schallt es donnernd aus dem Publikum zurück, und beim Klang dieser Stimmen wird mir auf einmal bewusst, was gleich passiert.

Ich weiß, dass die beiden Streitrösser vom Grav-Gen zueinander gezogen werden, in einer schnurgeraden Linie, die uns mit einer ungeheuren Geschwindigkeit ganz knapp parallel aneinander vorbeiführt. Und in dem kurzen Moment des Vorbeiziehens werden wir versuchen, uns gegenseitig mit unseren Lanzen zu treffen: Helm, Brustpanzer, Schulterpanzer, Stulpen, Beinschienen, Tassetten … sechs Stellen, die als Treffer gelten, aber sie bringen jeweils nur einen Punkt. Nur wenn man den Helm trifft, wird es automatisch als Sieg gewertet.

Woher weiß ich das alles? Eigentlich weiß ich es überhaupt nicht. Ich habe mich nie für die Wertungen interessiert. Aber auf einmal ist dieses Wissen einfach in meinem Kopf. Wie …?

Das Wesen, das hier drinnen bei mir ist, weiß es. Und es erzählt mir alles eifrig, in wortlosen Strömen von Gewissheit, die mich mit Informationen fluten. Es weiß, dass die beiden gigantischen humanoiden Streitrösser gleich ins All geschossen werden. Es weiß, dass der Grav-Gen uns nach dem Zusammentreffen noch zweimal erneut zueinanderziehen wird, in einer Schleife, wie ein Unendlichkeitssymbol. Wer am Ende der dritten Runde die meisten Punkte hat, gewinnt. Wird ein Reiter aus dem Sattel geschleudert, hat er verloren. Wer den Helm des Gegners trifft, gewinnt sofort. Und das Einzige, was den Gegner berühren darf, ist die Lanze – alles andere wird als Foul gewertet.

Es weiß das alles, weil es seit Ewigkeiten hier drinnen gefangen ist.

Gefangen?

Es ist doch eine Maschine, denke ich … aber ich habe keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn in diesem Moment schalten sich die Magneten der Platte aus, und ich werde in den offenen Raum gestoßen, in Richtung des Grav-Gens, dessen Kern immer schneller rotiert. Das blaue Glühen wird heller – nicht so hell, dass es meine Sicht behindern würde, aber es reicht, um mir den Weg zu weisen. Ich sollte wohl Angst haben, aber das Ende ist jetzt so nah, meine Mutter ist so nah … Es ist schon sechs Monate her, dass ich sie gesehen habe.

Jetzt dauert es nicht mehr lange.

Ich weiß nicht, wie man ein Streitross reitet. Ich weiß nicht, wie man ein Turnier gewinnt.

Aber ich weiß, wie ich die Waffe halten muss.

Die Lanze ist kein Dolch – sie ist größer. Schwerer. Ich halte sie so ruhig wie möglich, und mein Arm spannt sich unter ihrem Gewicht an, obwohl meine menschliche Hand im Sattel sich nur um Leere schließt. Trotzdem fühle ich es, so wie in dem Moment, als Rax meinen Ellbogen berührt hat. Der Griff der Lanze liegt real und fest in meiner Handfläche, auch wenn er sich in Wirklichkeit gar nicht darin befindet.

Ich schlucke. Verdränge die Angst. Schneller, denke ich. Ich will ihn schneller fertigmachen.

Ich will schneller bei ihr sein.

Plötzlich schießt heißes goldenes Plasma aus den Rücken- und Beindüsen und lässt mich weiter von der Platte wegrasen, während mich der Generator vorwärtsreißt. Die Geschwindigkeit treibt mir fast die Eingeweide aus dem Leib und das Herz in die Kehle; die Sterne verschwimmen zu fernen Bändern, die Station zu einem verwischten grau-regenbogenfarbenen Streifen. Esthers sturmzerrissene grüne Oberfläche schmilzt zu einem einzigen Farbton, und dann nehme ich nichts mehr wahr bis auf das rote Streitross, das sich erschreckend schnell nähert, und meine weiß-goldene Lanze, die sich wie ein vergoldeter Reißzahn in die Dunkelheit bohrt. Ich sehe Rax’ rote Lanze nur noch als auf mich zurasenden Punkt, schon viel zu nah, sein Streitross bewegt sich, schwankt leicht, als würde er es irgendwie fertigbringen, sich gegen die massiven G-Kräfte zu stemmen, die das Leben aus mir herausquetschen …

Wir prallen aufeinander.

Zu schnell, um zu atmen. Zu schnell, um sich zu bewegen. Eine Millisekunde lang schießt mir alles auf einmal durch den Kopf: Metall, Licht, Feuer, Schmerz.

Und dann Schwärze.

Das Nächste, was ich wahrnehme, ist Dunkelheit. Vielleicht ist das der Tod.

Das Ende umfängt mich weich und ist von rhythmischem Piepen erfüllt. Ich kann mich nicht bewegen. Mein Körper – falls ich noch einen habe – ist bleischwer, mein Kopf noch schwerer. Schwache Stimmen hallen in meinen Ohren wider.

»… Erholungszeit?«

»… Monate, höchstens. Die Behandlung mit den Nanomaschinen war sehr …«

»Was ist mit den DNA-Ergebnissen für die …«

»Wie Ihr gewünscht habt, Sir.«

Etwas Weiches legt sich auf meine Stirn, und dann höre ich eine der Stimmen dicht an meinem Ohr, so ruhig wie eine still daliegende Wasseroberfläche.

»Wir sehen uns auf der anderen Seite, tapferes Mädchen.«

Ich bin nicht tapfer. Ich bin nur gut im Ertragen.

Mein Mund bewegt sich nicht, in meiner Kehle rasselt kein einziges Wort – ich bin eine Gefangene in meinem eigenen Körper. Dann höre ich Schritte, etwas schließt sich klickend, und dann verschluckt mich erneut die Dunkelheit.

– 10. Aranea

arānea ~ae, f.

eine Spinne

Vor vierzehn Jahren wurde auf derselben Raumstation ein viertes Kind fünf Jahre alt. Ein Junge.

Er ist ein vergessenes Kind, wurde bereits in seinen allerersten Stunden auf einer Türschwelle ausgesetzt. Sein Haar ist wie aus gesponnenem Gold. Die Augen haben die Farbe von Eis, ihr Blick richtet sich hoch konzentriert auf eine große Jutepuppe, und in seiner kleinen Faust glüht heiß ein Projektionsdolch. Der Griff sprudelt und sprüht orangefarbenes Licht. Sein Ausbilder – die einzige Familie, die der Junge je gekannt hat – deutet mit dem Kinn auf die Puppe.

»Töten.«

Und er tötet die Puppe. Immer und immer wieder. Jedes Mal erhält er ein »gut gemacht«. Und ein Lächeln.

Der Junge träumt von einer Familie, und obwohl er eine hat, wird er in vierzehn Jahren eine Frau mit schwarzem Haar und freundlichen Augen töten, vor den Augen ihrer Tochter. Und da wird dieser Traum enden.

Und ein neuer Traum wird beginnen.

5. Abyssus

abyssus ~ī, f.

(veralt.) der Abgrund

Meine Haut erwacht noch vor mir – ich spüre weiche Decken, aufgeschüttete Kissen, die sanft zirkulierende Luft im Zimmer. Ich kann fühlen. Ich kann denken. Ich höre ein gleichmäßiges Piepen.

Ich bin am Leben.

Ich schrecke so schnell auf, dass die Infusionskanüle aus meinem Handgelenk herausreißt, und starre mit leerem Blick das über meine Haut rinnende Blut an. Meine Hand schließt sich um das Rotholz-Kreuz meiner Mutter, das ich um den Hals trage – im ersten Moment verspüre ich Erleichterung, dann Entsetzen.

»Nein«, flüstere ich. »Nein, nein, nein.«

Alles ist falsch. Warum bin ich nicht tot? Ich bin auf einem Streitross geritten, dann der Zusammenprall und …

Wie wild reiße ich die Laken von meinem Körper, und das Piepen wird schriller. Alles ist weiß und riecht steril. Ein Krankenhaus. Aber nicht irgendeins, sondern eine der Kliniken oben in der Turmspitze, die dem Adel vorbehalten sind. Sie haben mir einen weißen Kittel übergezogen und mich in dieses kokonartige Zimmer gesteckt, um … ja, um was eigentlich zu tun? Um mich zu erholen? Es gibt nichts mehr, wovon ich mich erholen könnte. Habe ich das Haus Hauteclare ruiniert? Haben sie meine DNA getestet? Ich erinnere mich an rein gar nichts, und das ist noch schlimmer als die Tatsache, dass ich noch am Leben bin.

Ich schwinge die Beine über die Bettkante, aber sie knicken unter meinem Gewicht fast weg – weit laufen kann ich jedenfalls nicht.

Ganz sicher wird diese Tür bewacht, aber ich kann nicht zulassen, dass diese Leute über mein Leben bestimmen. Ich muss sterben.

Ich sehe mich um. Nirgends scharfe Gegenstände, nicht mal ein Spiegel, den ich zerschlagen könnte.

Und dann sehe ich das Fenster.

Ich taumle dorthin, aber als ich es öffnen will, erstarre ich vor Verblüffung, meine Finger schweben reglos über der Fensterbank – ich wusste nicht, dass Sonnenlicht so warm sein kann. Draußen im Weltraum versengt es einen, und in den unteren Bezirk dringt es gar nicht erst vor, nicht durch den dichten Smog und die gewaltigen Schatten der miteinander konkurrierenden Kirchen und niemals ruhenden Holo-Bildschirme. Aber hier ist es sanft, wie eine Umarmung – wie die Umarmung meiner Mutter.

»Oh, mein Herz. Ich hoffe, eines Tages wirst du einmal die Sonne aufgehen sehen.«

Dann erklingen außerhalb des Zimmers echte Stimmen. »Sie ist aufgewacht!«

Ich hieve mich auf die Fensterbank, und dann liegt die ungerechte Schönheit des Adelsturms vor mir, und der Anblick trifft mich mit voller Wucht. Saubere Gehwege, grüne Büsche, Blüten in allen denkbaren Farben, sorgsam eingefangenes und umgelenktes Sonnenlicht, planvoll erbaute Gebäude anstelle dicht zusammengedrängter Verschläge. So sollten Menschen leben … so hätten meine Mutter und ich leben sollen.

Hinter mir ertönen Rufe.

»Haltet sie auf!«

»Holt das Beruhigungsmittel – schnell!«

Hände reißen mich vom Fenster zurück. Ich schlage um mich, kralle mich irgendwo fest und reiße an allem, was ich in die Finger bekomme: saubere Haut, saubere Kleidung, lasst mich gehen, lasst mich den Sonnenaufgang sehen, ihr werdet nicht über mich bestimmen, ich lasse mich nicht von euch wie ein Haustier halten …

»Jetzt!«

Ein Stich in meinen Oberschenkel, und dann strömt etwas durch meine Adern wie heißer Honig. Mein Körper wird unendlich schwer, und sie legen mich zurück ins Bett und gehen. Ich versuche die Faust zu ballen, aber nichts passiert – nur blinzeln geht, und atmen. Sie haben meinen Körper betäubt, aber nicht meinen Geist. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist das rote Streitross, das auf mich zurast. Bin ich ohnmächtig geworden? Wenn ich das Bewusstsein verloren und meinen Helm aufbehalten habe, wenn die Kameras mein Gesicht nie erfasst haben …