Heartless, Band 1: Der Kuss der Diebin - Sara Wolf - E-Book
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Heartless, Band 1: Der Kuss der Diebin E-Book

Sara Wolf

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Beschreibung

Sie muss das Herz des Prinzen stehlen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Zera ist mutig, stark und schön – und eine Gefangene, denn ihr Herz ist in der Gewalt einer Hexe. Will Zera ihre Freiheit zurück, muss sie einen Auftrag ausführen: das Herz des Kronprinzen Lucien stehlen. Um an ihn heranzukommen, nimmt Zera an der Brautwahl im Königspalast teil. Der unverschämte wie attraktive Prinz ist gegen seinen Willen fasziniert von Zera, und schon bald muss sie sich fragen, ob ihre Gefühle für Lucien wirklich nur gespielt sind – oder ob sie dabei ist, sich zu verlieben. Gefährlich, knisternd, herzzerreißend. Die HEARTLESS-Trilogie: Heartless, Band 1: Der Kuss der Diebin Heartless, Band 2: Das Herz der Verräterin Heartless, Band 3: Die Seele der Magie ***Leseprobe*** Wieder blicke ich Prinz Lucien ins Gesicht. Er betrachtet mich, als hätte er noch nie zuvor einen Menschen gesehen. Ich sollte wegschauen und mich schüchtern geben, aber ich tue das Gegenteil: Ich lasse meine Augen die Worte sagen, die mein Mund nicht aussprechen darf. "Ich bin keine Blume, die du nach Lust und Laune pflücken kannst, wütender Wolf – ich bin deine Jägerin und habe den Bogen bereits gespannt. Ich bin eine Herzlose, eine der Kreaturen, vor denen dein Volk in panischer Angst geflohen ist." Ich leiste mir den Anflug eines Lächelns." Und wenn du schlau wärst, würdest du auch fliehen."

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2019Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH© 2019 Ravensburger BuchverlagCopyright © 2017 by Sara WolfDie leicht veränderte Originalausgabe erschien unter dem Titel »Bring me their hearts«.This translation is published by arrangement with Entangled Publishing, LLC, through RightsMix LLC. All rights reserved.Übersetzung: Simone WiemkenLektorat: Gabriele DietzUmschlaggestaltung: Carolin Liepins, MünchenVerwendete Fotos von © Irina Bg/Shutterstock, © Galina F/Shutterstock, © Honshovskyi Vadym/Shutterstock, © Gavran 333/Shutterstock, © evgeny freeone/Shutterstock, © Mikado 767/Shutterstock, © Evgeniia Litovchenko/ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH, Postfach 1860, D-88188 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47935-1www.ravensburger.de

Für alle, die ihr Herz verloren haben und für etwas brennen

1

Der hungrige Wolf und die schwarze Rose

König Sref von Cavanos mustert mich mit den kalten Augen eines Raben, der über einem Kadaver kreist – geduldig und bereit, mich zu verschlingen, sobald ich mir eine Blöße gebe.

Normal, denke ich. Vollkommen normal. Schlag verführerisch die Wimpern auf. Lache, als hättest du nichts im Kopf. Bei den Zähnen des Alten Gottes, was zum Teufel tun normale Mädchen?

Die beiden neben mir wissen es bestimmt. Wir sind zu dritt, drei Mädchen in zuckergussrosa Kleidern, die vor König Srefs Thron knien. Wir tragen Schleier, die das Gesicht verbergen. Ich würde die beiden anderen ja fragen, aber wir werden von allen hochnäsigen Edelleuten im Raum angestarrt. Zumindest gilt das für die beiden. Ich amüsiere mich insgeheim darüber, wie geziert sie ihren wohlfrisierten Kopf neigen und die Lippen zum Schmollmündchen verziehen. Sieh hübscher aus als das Mädchen neben dir, ist der Name des Spiels, das ihre Mütter ihnen vom Tag ihrer Geburt an beigebracht haben.

Meine Mutter hat mir beigebracht, wie man stirbt, und sonst nichts.

»Ihr seid alle drei so reizend wie Rosenknospen«, sagt der König schließlich. Er hat ein vom Alter verwittertes Gesicht, aber das steht ihm. Die Falten um seine stahlgrauen Augen verleihen ihm eine gewisse Würde. Dass sein Lächeln die Augen nicht erreicht, verrät mir, dass es nicht echt ist. Er ist alt, er ist mächtig und er ist gelangweilt – die gefährlichste Mischung, die ich mir vorstellen kann.

»Danke, Euer Majestät«, sagen die beiden Mädchen gleichzeitig, und ich mache es ihnen hastig nach. Da ich nicht weiß, wie sie heißen, habe ich ihnen die Namen Charm und Grace gegeben. Sie wagen es nicht, den Blick vom Marmorboden zu heben, aber ich schaue mich unauffällig um und kann mich nicht sattsehen an den üppigen Seidenroben der Edelleute und den goldenen Schlangen, die in die prunkvollen Steinsäulen eingemeißelt sind. Wenn man drei Jahre im Wald festgehalten wird und einer Hexe dient, kann man es kaum erwarten, irgendwas zu betrachten, das kein Baum ist. Oder ein Haufen Hirschkot.

Ich wage nicht, den Kopf zu heben, um nicht aufzufallen, aber ich schaue zumindest so weit hoch, dass ich die Füße von Königin Kolissa und ihrem Sohn sehen kann. Kronprinz Lucien d’Malvane, Erzherzog von Tollmount-Kilstead, Der im Feuer Geborene, der Schwarze Adler – er hat ein Dutzend Namen, einer dämlicher als der andere. Wenn es etwas gibt, das ich an meinem ersten Tag am Königshof gelernt habe, dann das: Je mehr Namen jemand hat, desto weniger tut er tatsächlich.

Bis jetzt habe ich von ihm nicht mehr gesehen als seine Stiefelspitzen, und doch weiß ich schon jetzt, dass er nutzlos ist.

Und wenn es nach mir geht, wird er auch bald herzlos sein.

»Ich heiße Euch als neue Mitglieder unseres Hofstaats willkommen«, sagt König Sref mit volltönender Stimme, allerdings nur, weil es sich so gehört, und nicht, weil wir ihm irgendetwas bedeuten würden.

»Vielen Dank, Euer Majestät«, sagen Charm und Grace, und ich wiederhole es. Allmählich bekomme ich die Sache hier in den Griff – man muss sich einfach nur dauernd bedanken und hübsch aussehen. Sich in den Palast einzuschleichen, ist vielleicht doch leichter, als ich dachte. Nach dem König spricht Königin Kolissa mit zuckersüß gehauchter Stimme.

»Ich hoffe, Ihr macht Euren Familien Ehre und folgt den Idealen unserer großen Nation«, sagt sie.

»Vielen Dank, Euer Majestät.«

Ich höre, wie die Königin etwas murmelt. Eine tiefe Stimme antwortet ihr und sofort wird sie etwas lauter. Sie spricht aber immer noch so leise, dass nur wir drei, die vor dem Thron knien, es hören.

»Bitte sag etwas, Lucien.«

»Das ist doch sinnlos, Mutter, und ich ziehe es vor, sinnlose Dinge zu vermeiden.«

»Lucien …«

»Ihr wisst, ich hasse diese altmodische Zeremonie. Seht sie Euch doch an – sie sind nur hier, weil ihre Familien es von ihnen erwarten. Kein Mädchen mit etwas Selbstachtung würde freiwillig an diesem peinlichen Auftritt teilnehmen.« Die Stimme des Prinzen klingt hasserfüllt und ist nicht mit den betont gefühllosen Äußerungen seines Vaters oder den klebrig süßen Worten seiner Mutter zu vergleichen. Ich verziehe unwillkürlich das Gesicht. Anders als bei den beherrschten Edelleuten brodeln seine Emotionen dicht unter der Oberfläche. Er hat noch nicht gelernt, sie zu verbergen.

»So ist die Tradition«, beharrt die Königin auf ihrem Standpunkt. »Also sag etwas zu ihnen, wie es sich gehört.«

Stuhlbeine scharren über den Marmor. »Erhebt Euch!«, befiehlt der Prinz.

Sofort raffen die Mädchen ihre Röcke und erheben sich elegant wie Schwäne. Ich mache es ihnen nach und muss mir einen Fluch verkneifen, weil mich meine reich verzierten Schuhe beinahe zu Fall gebracht hätten. Notiz an mein altes Ich: Vier Tage Training reichen definitiv nicht aus, um zu lernen, wie man auf diesen mit Schleifchen versehenen Fußangeln läuft. Es ist mir ein Rätsel, wie Charm und Grace das so mühelos beherrschen, doch dass sie knallrot geworden sind, kann ich nur zu gut nachempfinden.

Ich schaue zum Prinzen auf, der jetzt vor seinem Thron steht und auf uns herabsieht. Obwohl er höher steht als ich, erkenne ich, dass er groß ist – groß wie ein Krieger. Unter seiner silbernen Weste ist er schlank und das Samtcape fällt über breite Schultern. Ein Jahr? Nein, er ist vermutlich mindestens zwei Jahre älter als mein sechzehnjähriger, niemals alternder Teenagerkörper; das erkenne ich an seinen Muskelpaketen. Jetzt ist auch klar, wieso man ihn Schwarzer Adler nennt: Seine Haare sind schwärzer als das Gefieder eines Raben, vorn sind sie zerzaust, hinten zu einem langen Zopf geflochten. Er sieht aus, wie sein Vater vermutlich in jungen Jahren ausgesehen hat. Seine stolze Habichtnase und die hohen Wangenknochen lassen ihn beinahe arrogant wirken. Auch die Hautfarbe ist die seines Vaters, sonnengebleichte Eiche, aber die Augen hat er von seiner Mutter – sie sind nicht nur schwarz, sie blicken auch finster. Er strahlt so viel Stolz und Düsternis aus, dass ich ihn von ganzem Herzen hasse. Ich hasse es, dass jemand, der so viel Macht und Reichtum erben wird, auch noch so verdammt gut aussieht. Ich will, dass er einen Buckel hat und überall Warzen. Ich will, dass er ein schwächliches Kinn und Triefaugen hat. Aber die Welt ist wie üblich nicht fair. Das habe ich schon an dem Tag begriffen, an dem meine Eltern getötet wurden.

Der Tag, an dem aus mir ein Monster wurde.

Die Mädchen neben mir fangen beinahe an zu sabbern. Ich bemühe mich nach Kräften, gelangweilt zu wirken. Auf dem Weg hierher habe ich viel besser aussehende Jungen gesehen.

Nun gut – es war nur einer. Er hat einem der Maler im Künstlerviertel Modell gestanden, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, denn die nächsten Bemerkungen, die uns Prinz Lucien voller Verachtung an den Kopf wirft, lassen mich vergessen, dass ich ihn eigentlich ganz ansehnlich finde.

»Eine Lady ist nicht nur Dekoration«, sagt er und seine Stimme grollt wie Donner. »Sie ist die Mutter unserer Zukunft, die Lehrerin unserer Nachkommen. Eine Lady muss ein Gehirn zwischen den Ohren haben, wie wir alle. Was nützt Schönheit ohne Geist? Sie ist nicht mehr als eine Vase mit Blumen, die verwelken und dann weggeworfen werden.«

Ich weiß aus Büchern, geschrieben von den klügsten Wissenschaftlern, dass die Erde rund ist, sich um die Sonne dreht und dass sich an den kältesten Orten im Osten und Westen magnetische Pole befinden, aber ich kann unmöglich glauben, dass es wirklich jemanden gibt, der so eingebildet ist.

Die Edelleute fangen an zu tuscheln, verstummen aber sofort, als König Sref die Hand hebt. »Dies sind die Frühlingsbräute, mein Prinz«, verkündet der König geduldig. »Sie sind von edlem Geblüt. Sie haben ernsthaft studiert und gelernt, um hier sein zu dürfen. Sie haben mehr Respekt verdient, als du ihnen zollst.«

Da bekommt jemand einen Rüffel, denke ich belustigt.

Prinz Lucien sieht den König finster an.

»Natürlich, Euer Majestät.« Es ist nicht zu überhören, wie sehr er es hasst, seinen Vater »Euer Majestät« zu nennen. Du solltest froh sein, Prinz, denke ich, dass du in dieser grausamen Welt einen Vater hast.

»Aber«, der Prinz wendet sich an die Edelmänner des Hofstaats, »nur zu oft erwarten wir bei einer vornehmen Abstammung automatisch Vernunft und ein gutes Urteilsvermögen.«

Sein Blick wandert durch den Saal, doch diesmal geben die Edelleute keinen Mucks von sich. Das Scharren ihrer Füße und das verlegene Räuspern sind laut und unangenehm. Ich bin noch nicht lange hier, aber ich begreife, was los ist. Ich habe ein solches Verhalten bei den jungen Wölfen im Wald gesehen. Der Prinz fordert die Edelleute heraus, und wenn ich mir die weißen Fingerknöchel des Königs und das entsetzte Gesicht der Königin ansehe, vermute ich, dass es ein gefährliches Spiel ist, das er da spielt.

»Lasst uns die Frühlingsbräute willkommen heißen, wie es die Könige zu Zeiten des Alten Gottes getan haben.« Der Prinz streckt beide Hände aus. »Mit einer Frage, die ihren Charakter auf die Probe stellt.«

Die Edelleute fangen sofort an zu tuscheln. Die silbernen Halbkreise mit den drei Speichen, die an jedem Gebäude der Stadt hängen, zeigen deutlich: Hier in Vetris herrscht der Neue Gott, Kavar. Vor dreißig Jahren wurde für Kavar der Sonnenlose Krieg geführt und die Anhänger des Alten Gottes wurden getötet oder aus Vetris verjagt. Seine Statuen wurden niedergerissen und seine Tempel zerstört. Einer Tradition des Alten Gottes zu folgen, ist ein Todesurteil. Der König weiß das und kommt seinem Sohn schnell zu Hilfe.

»Die Könige des Alten Gottes waren fehlgeleitet, aber sie haben die Fundamente errichtet, die unser Land erblühen ließen. Straßen, Mauern, Dämme, das alles verdanken wir den alten Königen. Ihre Existenz zu verleugnen, wäre ein Verbrechen gegen unsere Geschichte, gegen die Wahrheit. Lasst uns noch eine letzte alte Tradition wahren und uns dann bereitwillig von diesen veralteten Formalitäten verabschieden.«

Noch mal gut gegangen. Man muss kein Edelmann sein, um das zu begreifen. Prinz Lucien scheint es nicht zu passen, wie sein Vater den Hofstaat beschwichtigt, aber er verbirgt seinen Missmut und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf uns.

»Beantwortet meine Frage, so gut Ihr könnt, sobald Ihr Euren Schleier hebt. Welchen Wert hat der König?«

Einen Moment lang herrscht Stille. Ich kann förmlich hören, wie die Zahnrädchen in den Köpfen der Mädchen rattern. Die Edelleute murmeln, lachen und kichern und werfen uns erwartungsvolle Blicke zu. Der Wert des Königs ist unermesslich. Etwas anderes zu sagen, wäre Wahnsinn. Verachtung und Schadenfreude sind im Saal spürbar. Meine Haut fängt an zu kribbeln.

Schließlich hebt Charm ihren Schleier und räuspert sich.

»Der Wert des Königs ist … eine Million – nein! Eine Milliarde Goldmünzen. Nein – sieben Milliarden!« Das Gelächter der Edelleute wird lauter. Charm läuft knallrot an. »Verzeiht, Euer Majestät. Mein Vater hat mich nie Zahlen gelehrt. Nur Handarbeiten und solche Dinge.«

König Sref lächelt freundlich. »Das ist schon in Ordnung. Das war eine sehr gute Antwort.«

Der Prinz sagt nichts. Er wirkt nicht beeindruckt und zeigt auf Grace. Sie knickst und hebt ihren Schleier.

»Der Wert des Königs kann nicht gemessen werden«, antwortet sie laut und klar. »Er ist so hoch wie der höchste Gipfel des Tollmount-Kilstead-Gebirges, so weit wie der Endlose Sumpf im Süden. Höher als die tiefsten Tiefen des Ozeans.«

Diesmal lachen die Edelleute nicht. Jemand fängt an zu klatschen und gedämpfter Applaus breitet sich aus.

»Eine wohlüberlegte Antwort«, lobt der König. Das Mädchen macht ein zufriedenes Gesicht, knickst noch einmal und wirft Prinz Lucien einen hoffnungsvollen Blick zu. Seine mürrische Miene verfinstert sich noch mehr.

»Ihr da, die Tölpelhafte.« Der Prinz zeigt auf mich. »Was sagt Ihr?«

Die Beleidigung ärgert mich, aber nur einen kurzen Moment. Natürlich wirke ich ungeschickt, verglichen mit ihm. Das würde jeder. Ich wette, der Einzige, den er richtig toll findet, ist der Spiegel in seinem Zimmer.

Ich halte seinem Blick stand, obwohl er sich wie Sonnenbrand in meine Haut frisst. Es ist deutlich zu spüren, wie sehr er mich, die Mädchen neben mir und alle Edelleute im Saal verabscheut. Er erwartet nichts von mir, von niemandem, das sehe ich an der abschätzigen Art, wie sich seine Augen verengen, kurz bevor ich etwas sage.

Er erwartet nichts Neues. Er wird sich wundern.

Ich hebe langsam meinen Schleier und verkünde: »Der König ist genau eine Kartoffel wert.«

Im Saal herrscht Stille. Dann schnappen die Edelleute schockiert nach Luft und fangen an zu murmeln. Die Celeon-Wachen greifen ihre Hellebarden fester, verengen ihre Katzenaugen zu Schlitzen und ihre Schwänze peitschen hin und her. Jeder von ihnen könnte mich so leicht in Stücke reißen wie ein Blatt Papier, aber das würde mich nicht töten. Es würde nur dazu führen, dass der gesamte Hofstaat in mir eine Herzlose erkennt – die Dienerin einer Hexe –, und das wäre eindeutig schlimmer, als wenn meine Eingeweide auf dem Marmorboden verteilt würden. Hexen beten den Alten Gott an und haben im Sonnenlosen Krieg gegen die Menschen gekämpft. Wir sind der Feind.

Ich bin der Feind in der Maske eines vornehmen Mädchens, das gerade in der verrückten Hoffnung, die Aufmerksamkeit des Prinzen zu erregen, den König beleidigt hat.

Die Königin presst sich ihr Taschentuch an die Brust und ist offensichtlich empört. Der König hebt eine Braue. Der Prinz allerdings fängt an zu lächeln. Es ist ein strahlendes Lächeln. Es breitet sich so langsam auf seinem Gesicht aus, dass ich kaum sehen kann, wie es entsteht, doch schließlich grinst er übers ganze Gesicht. Er sieht wirklich gut aus, denke ich, zumindest solange er sich nicht wie ein hasserfüllter Haufen Hundesch…

Er verkneift sich das Grinsen und räuspert sich.

»Möchtet Ihr das erläutern oder soll ich Euch gleich wegen Majestätsbeleidigung in den Kerker werfen lassen?«

Die Celeon-Wachen rücken vor und mein Unherz fängt an zu zittern. Für meinen Geschmack findet der Prinz ein wenig zu viel Gefallen an der Idee, mich in den Kerker zu sperren. Ich hebe den Kopf, achte darauf, meine Schultern nicht nach vorn sinken zu lassen, und verziehe keine Miene. Ich bin stark. Ich werde hier einen Eindruck hinterlassen oder mein loses Mundwerk bringt mich um. So einfach ist das.

Nur dass es nicht so einfach ist.

Weil ich nicht sterben kann.

Weil ich nicht wie die beiden Mädchen neben mir hergekommen bin, um den König zu beeindrucken und einen Edelmann zu heiraten oder meinem Vater einen Platz am Hof zu sichern.

Ich bin hier wegen Prinz Luciens Herz.

Im wahrsten Sinne des Wortes, nicht im übertragenen Sinn. Wobei Letzteres einfacher wäre, oder? Es ist ein Kinderspiel, Jungs dazu zu bringen, sich zu verlieben, zumindest glaube ich mich daran zu erinnern, dass es so war, als ich noch ein menschliches Leben hatte. Dazu braucht es nur Komplimente, ein paar verführerische Augenaufschläge, ein tief ausgeschnittenes Kleid, und schon sind sie Wachs in deinen Händen. Aber ich bin hier, um mir das Organ zu holen, das in seiner Brust schlägt, entweder mit einem Trick oder mit Gewalt. Doch um nah genug an ihn heranzukommen, muss ich sein Vertrauen gewinnen. Der Prinz erwartet Idioten und Schleimer. Ich muss ihm beweisen, dass ich weder das eine noch das andere bin. Ich muss brillant sein, ein diamantenbesetzter Dolch im Rücken seines gelangweilten Lebens.

»Für die gewöhnlichen Leute in diesem Land«, beginne ich zu erklären, »kann eine Kartoffel darüber entscheiden, ob sie im Winter verhungern oder bis zum Frühling überleben. Eine einzige Kartoffel bedeutet Leben. Eine Kartoffel ist ein Segen. Für die Untertanen des Königs, die in den Dörfern seines Reichs leben, gibt es nichts Wertvolleres als eine Kartoffel.«

Das Gemurmel im Saal ist deutlich gedämpft und die Edelleute machen verwirrte Gesichter. Ich wette, sie haben keine Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, Hunger zu leiden. Aber ich kenne es nicht anders.

Wieder sehe ich dem Prinzen ins Gesicht. Auch er wirkt verblüfft, aber auf eine andere Art. Er betrachtet mich, als hätte er noch nie zuvor einen Menschen gesehen, als wäre ich irgendein seltenes Exemplar, das man im kühlen Keller aufbewahrt, bis es später von Wissenschaftlern untersucht werden kann. Alle Langeweile ist aus seinem Blick verschwunden und einem merkwürdigen steifen Schockzustand gewichen. Ich sollte schüchtern wegschauen, aber ich tue das Gegenteil: Ich lasse meine Augen die finsteren Worte sagen, die mein Mund nicht aussprechen darf.

Ich bin keine Blume, die du nach Lust und Laune pflücken kannst, wütender Wolf – ich bin deine Jägerin und habe den Bogen bereits gespannt. Ich bin eine Herzlose, eine der Kreaturen, vor denen dein Volk vor dreißig Jahren in panischer Angst geflohen ist.

Ich leiste mir den Anflug eines Lächelns.

Und wenn du schlau wärst, würdest du auch fliehen.

Die Königin lächelt, drückt den Arm des Königs und der König lacht. Diesmal ist es nicht vorgetäuscht, sondern klingt wie ein echtes Lachen. Während er zu mir herablächelt, wirkt er einen kurzen Augenblick lang zehn Jahre jünger.

»Wie ist Euer Name, kluge kleine Braut?«

Ich sollte antworten: Zera, kein Nachname, Tochter eines Händlerpaars, deren Gesichter ich fast vergessen habe. Ich bin eine Waise, eine Diebin, liebe schlechte Romane und guten Kuchen und bin Dienerin der Hexe Nightsinger, die mich hergeschickt hat, damit ich Eurem Sohn das Herz aus der Brust reiße.

Stattdessen mache ich einen wackligen Knicks und präsentiere mit einem Lächeln meine Lüge: »Zera Y’shennria, Euer Majestät, Nichte von Quin Y’shennria, Herrin des Hauses von Y’shennria und Ravenshaunt. Ich danke Euch, dass ich heute hier sein darf.«

Vielen Dank und es tut mir leid.

So leid es einem Monster eben tun kann.

Zwei Wochen vorher

Ich wurde niedergestochen.

Das ist nichts Neues für mich.

»Bei Kavars Zähnen.« Ich fluche im Namen des Neuen Gottes und verrenke mir fast den Arm, um an den Dolch in meinem Rücken zu kommen. »Das war mein Lieblingskleid.«

Da wandert man arglos auf dem Waldweg nach Hause und im nächsten Augenblick wird man abgestochen wie ein Dorfschwein. Ich nehme mir vor, diesen Tag in meinem nicht vorhandenen Tagebuch als den besten aller Zeiten zu vermerken.

Die schlanke Figur, die mir den Dolch in den Rücken gestoßen hat, steht jetzt vor mir. Ein dunkler Umhang mit Kapuze verhüllt sein Gesicht und seinen Körper. Ich habe keine Ahnung, wer er ist, aber er war zu schnell, um ein Mensch zu sein, und er ist zu groß für einen dieser bleichen Beneather, die unter der Erde leben. Der schlagende blaue Schwanz mit der Fellspitze verrät den Angreifer – es ist ein Celeon-Attentäter, ein Angehöriger dieser katzenhaften Rasse, die schnell denken und noch schneller zuschlagen kann.

»Willst du einfach nur da rumstehen?«, keuche ich, und meine Finger ertasten das Blut, das über den Spitzenbesatz meines Kleids rinnt. »Wenn du mich schon umbringen willst, würde ich es begrüßen, wenn du es etwas zügiger machen könntest.«

»Du bist nicht tot«, knurrt der Celeon. Ihre Stimmen klingen immer sanft und rau zugleich, als würde man ein Seidenbanner über Kies zerren. Unter seiner dunklen Kapuze funkeln goldene Augen.

»Ein Meister der Beobachtung und ein Meister des Dolchangriffs auf junge Mädchen, die nichts ahnend auf dem Heimweg sind!« Ich zwinge mich trotz der Schmerzen zu einem Lächeln. »Welch eine Ehre. Ich würde mich ja verneigen, aber das Messer, das du mir in deiner Freundlichkeit geschenkt hast, macht das schwierig.«

»Ich habe dein Herz getroffen«, beharrt er. »Du müsstest tot sein.«

»Ich würde gern behaupten, dass du der erste Mann bist, der etwas so Romantisches zu mir sagt.« Ich strecke den Arm so weit nach hinten, dass ich den Griff des Dolchs erwische, und reiße ihn mit einem Ruck heraus. Der glühende Schmerz wird zu einem dumpfen Pochen. »Aber Pech gehabt, ich bin Diebin von Beruf, keine Lügnerin.« Ich zeige mit dem blutigen Dolch auf ihn. »Du hast zehn Sekunden, mir zu sagen, wer dich geschickt hat. Celeon-Attentäter sind nicht billig, also muss es ein Edelmann gewesen sein. Wen habe ich diesmal verärgert?«

Sein Schwanz zuckt – ein eindeutiges Zeichen, dass er überlegt, wie er den Abstand zwischen uns überwinden und die Sache beenden kann.

»Neun«, beginne ich zu zählen.

Es ist Vollmond und die Drillingsmonde stehen über uns am Himmel, die beiden Roten Zwillinge sind durch einen Hauch Sternenstaub miteinander verbunden und der Blaue Riese ist aufgebläht wie der Bauch eines Glühwürmchens. Sie werfen ihr helles Licht auf den Wald und den Knochenpfad, der sich durch ihn windet. Mir bleibt alle Zeit der Welt, meine Umgebung zu betrachten, denn der Celeon zieht es vor, zu schweigen.

»Acht.« Der Countdown läuft. »War es die Dame mit dem Greifenbanner und der edlen Kutsche, die hier vorbeikam? Sie sollte mir danken, dass ich sie von ihrer Smaragdtiara befreit habe. Die passte so gar nicht zu ihrem Teint.«

Er schweigt immer noch. Ein Schwarm weißer Krähen fliegt über uns hinweg und landet in den Bäumen, um sich das Spektakel mit ihren unbarmherzigen roten Augen anzusehen. Nur mit Mühe unterdrücke ich einen Wutanfall. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist eine Horde Hexen, die zusehen. Ich hasse es, beobachtet zu werden, wenn ich arbeite.

»Hör mal zu, mein lieber Celeon.« Ich werfe mir den Dolch von einer Hand in die andere und betrachte die scharfe Spitze. »Du hast mir in den Rücken gestochen. Aber das kann ich verzeihen. Das tun eine Menge Leute und die Hälfte von ihnen sind jetzt meine besten Freunde. Ich gehe sogar zu ihren Beerdigungen. Ich bin sogar diejenige, die sie beerdigt. Allein. Im Wald. Nur ich, ihre Leiche und eine Schaufel. Aber das sind unbedeutende Details. Wir sind jetzt übrigens bei fünf angekommen. Der Countdown läuft natürlich trotz meines geschliffenen Vortrags.«

Der Celeon streift die Kapuze ab, runzelt die Stirn und zieht seine blauen Augenbrauen zusammen. Seine Ohren sind lang und schmal, sehr gerade und ohne sichtbare Öffnungen. Celeons sehen aus wie große Katzen, jedenfalls wenn Katzen Echsen wären, deren Oberkörper lang gezogen wurde und die auf vogelartigen Beinen laufen.

»Ich verrate meine Auftraggeber nicht«, knurrt er.

»Falsche Antwort!«, verkünde ich, werfe den Dolch zwischen seinen Beinen hindurch und nagle damit seinen Schwanz am Boden fest. Er heult auf und fällt in den Dreck, denn die Schmerzen in seinem empfindlichsten Körperteil reichen beinahe aus, um ihn zu lähmen. Celeons sind zwar fünfmal schneller und stärker als jeder Mensch, aber auch sie haben ihre Schwachstellen. Während er jetzt versucht, sich zu befreien, trete ich vorsichtig zwischen seine gespreizten Beine und gehe in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. Ich kann mein Spiegelbild in seinen goldenen Augen sehen, die er vor Angst so weit aufgerissen hat, dass sie aussehen wie Münzen. Ich schnippe ihm mit den Fingern gegen die pelzige Stirn und sofort weiten sich seine schlitzförmigen Pupillen.

»Und deshalb solltest du einen Schwanzpanzer tragen wie jeder andere, du Dummchen.«

»Wie?« Er keucht es nur, das Maul so weit geöffnet, dass ich einen Blick auf seine fiesen Reißzähne werfen kann. »Ein solcher Wurf – wer bist du?«

»Das hat dir dein Auftraggeber nicht gesagt? Das klingt fast so, als wollte er deinen Tod. Und ich würde seine Erwartungen nur ungern erfüllen.«

Ich bücke mich und reiße den Dolch heraus. Wieder befreit, kriecht der Celeon hastig von mir weg und hält seinen purpurn blutenden Schwanz fest umklammert.

»Ich bin Zera!«, verkünde ich. »Zweite Herzlose der Hexe Nightsinger. Und noch ein guter Rat: Lass dich nie wieder auf dem Knochenpfad blicken.« Ich verstumme kurz. »Und wenn du doch wiederkommst, bring mir ein neues Kleid mit! Das schuldest du mir!«

Die weißen Krähen in den Bäumen fangen an zu krächzen, es ist ein Höllenlärm. Der Celeon schaut von ihnen zu mir, das spitze Gesicht zu einem Fauchen verzogen. Er weiß, was diese Krähen sind, und hasst sie, wie es alle Celeons tun. Nachdem er sich verzogen hat, wische ich das rote und das purpurne Blut vom Dolch. Die Schmerzen in meinem Rücken sind kaum noch auszuhalten.

»Kavardammt, das tut weh!« Jetzt, wo das Adrenalin verflogen ist, ist jede Bewegung eine Qual.

»Was sagte ich darüber, was ich davon halte, den Namen des Neuen Gottes in meiner Gegenwart zu erwähnen?« Eine der Krähen ist vor meinen Füßen gelandet und spricht jetzt mit der Stimme einer Frau zu mir.

»Bitte heil mich«, keuche ich. »Keine Vorträge. Bitte.«

»Tu es mir zuliebe«, sagt die Krähe.

»Tue ich das nicht immer? Deswegen bewahrst du doch mein Herz in diesem grässlichen Glas auf – damit ich grundsätzlich das tue, was du sagst.«

Die Krähe ist geduldig. Wie gewöhnlich. Schließlich atme ich aus.

»Meinetwegen. Kavar ist ein Arsch. Amen.«

»Zera!«

»Ich schreibe dir eine zehnseitige Abhandlung, wie viel bedeutender der Alte Gott ist, sobald du mich geheilt hast. Bitte. Ich sterbe.«

»Zum dritten Mal in dieser Woche«, bemerkt die Krähe trocken.

»Und zum siebenundvierzigsten Mal insgesamt! Wusstest du, dass die Menschen überzeugt sind, dass diese Zahl Unglück bringt? Sie soll ihr Getreide verseuchen, hab ich gehört.«

»Hast du schon wieder im Menschendorf herumgeschnüffelt? Ich habe dir gesagt, dass du dich von ihnen fernhalten …«

»Nun mach schon!«, falle ich ihr ins Wort. »Bevor ich anfange zu schimmeln.«

Mit einem Vogelseufzer hüpft sie um mich herum. Wenn ich so dusslig bin, auf einen zu hohen Baum zu klettern und mir die Beine zu brechen oder wenn ich zwischen eine Wolfsmutter und ihre Jungen gerate und in Fetzen gerissen werde, heile ich mich selbst. Mein Herz, das in einem Glas auf dem Kaminsims meiner Hexe steht, durchdrungen von ihrer Magie, sorgt dafür. Aber heute Abend ist meine Hexe hier. Ich spüre den Stich einer Federspitze in meiner frischen Wunde und muss mir einen weiteren Fluch verkneifen. Die Krähe spricht, aber ich kann die Worte nicht verstehen. Das kann keiner außer ihr selbst und dem Alten Gott, der darauf reagiert, indem er ihr Magie schenkt. Oder so ähnlich. Ich habe keine Ahnung, wie Hexenmagie funktioniert, aber ich weiß, dass sie es tut. Die Schmerzen verschwinden sofort, gefolgt von dem merkwürdigen Gefühl, als würde sich meine Haut schließen wie die Naht einer Bluse in der Hand einer Schneiderin. Ich taste mit den Fingern danach und fühle nur glatte Haut und zerfetzten Stoff.

»Würde es dich umbringen, wenn du den Alten Gott bittest, auch mein Kleid zu flicken?« Ich stehe vom Boden auf.

Die Krähe sträubt ihre Brustfedern. »Gut möglich.«

»Dann frag ihn sofort.« Die Krähe sitzt nur da und blinzelt mich an. Ich klatsche in die Hände. »Nun mach schon!«

»Mein Tod wäre auch dein Tod. Du bist als meine Herzlose mit mir verbunden«, sagt sie. »Das weißt du.«

Ich stöhne und lasse mich neben dem schlammigen Weg ins Gras fallen. »Das Leben ist nicht lebenswert, wenn ich keine feinen Kleider aus Samt und Seide habe, um darin herumzustolzieren.«

»Es war doch nicht mal dein Kleid. Du hast es gestohlen«, bemerkt die Krähe.

»Was glaubst du, wieso ich es so gern mag?«

Wieder stößt die Krähe einen Seufzer aus. Ihre Gefährten hocken noch in den Bäumen und ich winke ihnen zu.

»Es ist mir eine Ehre, meine Damen und Herren! Ich hoffe, Eure Hexenkünste gelingen heute Abend ganz hervorragend!«

Die Krähe auf dem Boden hüpft auf meine Schulter und ihre Krallen bohren sich in meine Haut. »Hast du herausgefunden, wer diesen Waveborn geschickt hat, um dich zu töten?«

Waveborn – so nennen Hexen die Celeons. Vor sehr langer Zeit ging ein Hexenzauber schief und traf einen kleinen Kontinent im Norden wie eine mächtige Welle. Sie verwandelte die Celeons von wilden Tieren in fühlende Wesen. Die meisten Celeons betrachten dieses Empfindungsvermögen als Fluch, als Abweichung von ihrer eigentlichen Natur, und hassen die Hexen deswegen aus tiefster Seele.

»Hier in der dritten Ära nennen wir sie Celeons, Nightsinger. Das beleidigt sie nicht ganz so sehr«, bemerke ich. »Und nein. Er hat kein Wort gesagt.«

»Firewalker«, Nightsinger deutet mit einem Flügel auf eine andere Krähe, »berichtet, dass seine Herzlosen auf genau dieselbe Weise angegriffen wurden. Anonyme Attentäter, die ausgesandt werden, ohne dass man ihnen sagt, wer das Ziel ist.«

»Was das Ziel ist«, verbessere ich sie.

»Korrekt.«

»Dann sind sie nicht hinter den Hexen her?«

»Ausnahmsweise nicht.«

Ich stütze mein Kinn in die Hand. »Also bezahlt jemand Attentäter, um Herzlose zu töten. Ohne ihnen zu sagen, dass ihre Opfer Herzlose sind.«

»Stimmt.«

»Wieso? Und wer kann es sich in diesen schlechten Zeiten leisten, so viel Geld zu verschwenden?«

Nightsinger richtet eins ihrer roten Augen auf mich. Ich kenne diesen Blick. Es ist dieser Lass-uns-möglichst-lange-um-wichtige-Dinge-herumreden-Blick. Hexen lieben diesen Blick. Ich liebe diesen Blick – liebe es, ihn zu hassen. Natürlich nur insgeheim, denn welche magische Sklavin, die noch bei Verstand ist, würde so etwas laut vor der Hexe aussprechen, in deren Hand ihr Schicksal liegt?

»Ich sollte zur Sitzung zurückkehren«, sagt sie schließlich. »Und du gehst nach Hause. Hast du die Kräuter für das Abendessen?«

Ich deute auf den Korb, den ich fallen gelassen habe und der voller Schneeglöckchen und Nelkenbasilie ist.

»Gut.« Nightsinger fliegt auf und schlägt kräftig mit den Flügeln. »Ich habe dir Essen hingestellt. Versuch, nicht wieder alles einzusauen.«

»Kann ich nicht versprechen«, sage ich und sehe zu, wie sie sich wieder zum Schwarm gesellt. Die Krähen fliegen davon und es hat etwas Unheimliches, wie genau jeder Schwung und jeder Flügelschlag aufeinander abgestimmt sind. Nightsinger hat einmal versucht, mir diese Hexenversammlungen zu erklären, und es ist meiner überragenden Intelligenz zu verdanken, dass ich kein Wort davon verstanden habe. Offenbar ist es für den Hexenzirkel nur sicher, sich zu treffen, wenn die drei Monde voll sind. Sie tauschen Informationen und Magie aus, und da Hexen abgeschieden und im Verborgenen leben, treffen sie sich als Krähen, denn so können sie lange Strecken fliegen und sind auch ohne Worte miteinander verbunden. Ein kleiner Vorteil ist, dass die Tiere, in die sich die Hexen verwandeln, immer unnatürlich weiß sind. Andernfalls wüssten wir nie, wann eine in der Nähe ist.

Nachdem der Schwarm verschwunden ist, atme ich erleichtert auf. Auch wenn ich schon eine ganze Weile damit lebe, ist mir Magie immer noch zuwider. Schließlich hat sie mich an dieses Leben als Herzlose gekettet.

Ich lege die Hand auf mein Unherz und lausche der Stille in meiner Brust. Nach drei Jahren weiß ich kaum noch, wie es sich angefühlt hat, ein Herz zu haben. Ich erinnere mich an Wärme und ein ziehendes Gefühl, und wenn ich tief genug in meinen Erinnerungen grabe, ist da auch Schmerz. Schmerz wie ein Blitz, plötzlich, stechend und grauenvoll. Schmerz, so unerbittlich wie das Ende von allem. Wenn ich darüber nachdenke, wird der Schmerz nur schlimmer. Also lasse ich es. Ich streife durch den Wald. Und wenn das nicht mehr hilft, werfe ich meinen Umhang über, setze eine Maske auf und bestehle die Edelleute, die auf dem Knochenpfad unterwegs sind – ich raube Juwelen, Kleider, alles Mögliche. Alles, was hübsch ist. Alles, was mir wieder das Gefühl gibt, ein Mensch zu sein, sobald ich es trage.

Ich hole den Korb mit den Kräutern und gehe weiter durch den Wald, tauche in die Schatten der Bäume ein. Sie duften nach Nadelholz und auf gewisse Weise sind sie eigentlich schön, aber dennoch die Gitterstäbe meines Gefängnisses. Das ist einer der Nachteile, eine Herzlose zu sein – ich kann mich nicht weit von der Stelle entfernen, an der die Hexe mein Herz aufbewahrt: höchstens zwei Kilometer. Wenn ich weiter weggehe, zerreißt mich der Schmerz und verwandelt mich in ein kraftloses, schreiendes Etwas.

Auf einer kleinen Anhöhe steht ein feuerroter Fuchs, der mich neugierig betrachtet. Ich winke ihm zu. Er rührt sich nicht und starrt mich weiter an. Ein aufmerksamer Zuhörer! Die sind in letzter Zeit wirklich selten. Ich räuspere mich.

»Du willst bestimmt wissen, ob ich Nightsinger hasse, oder? Jeder, der noch halbwegs bei Verstand ist, würde die Person hassen, die sein Leben in der Hand hält. Das ist doch nur logisch und nicht anders zu erwarten!«

Der Fuchs blinzelt mich ausdruckslos an.

»Die Antwort«, ich hebe einen Finger, als wäre ich die Lehrerin und der Fuchs mein Schüler, »ist Ja. Und Nein. Weil nichts im Leben einfach ist. Es ist ein verrücktes Chaos widersprüchlicher Gefühle.«

Der Fuchs blinzelt wieder. Ich hebe beide Hände.

»Hör auf, mich anzustarren! Beschwer dich bei den Göttern, wenn ich dir auf die Nerven gehe!«

Der Fuchs ist verständlicherweise nicht so gereizt, wie ich es bin. Ohne ein Wort des Dankes für meine weisen Worte verschwindet er von der Anhöhe.

Ich rücke den Korb höher auf meine Hüfte und seufze. »Mit Tieren zu reden, als wären es Menschen, die dich verstehen können, ist so was von daneben, Zera. Wieso versuchst du nicht, etwas Neues und Sinnvolles zu finden, mit dem du den Rest der Zeit deiner Unsterblichkeit verbringen kannst? Vielleicht etwas, das nicht den Eindruck erweckt, als wärst du verrückt geworden.«

Ich gehe weiter. Die Antwort auf die Frage des Fuchses – meine Frage – ist diese: Ich hasse Nightsinger nicht dafür, dass sie mein Herz genommen hat, trotz allem, was das für meinen Körper und meine Seele bedeutet. Wie könnte ich? Sie hat mich vor den Banditen gerettet, die meine Familie ermordet haben, vor der Dunkelheit des Todes, und seitdem diene ich ihr. Ich bin ein Monster, aber nicht blöd. Ich weiß, dass man sich für eine gute Tat revanchieren muss. Es ist allerdings eine sehr, sehr lange Revanche. Das Leben hier in diesem undurchdringlichen Wald, meine leere Brust, die Erinnerung an das, was ich getan habe – das alles erdulde ich nun schon seit drei Jahren. Ich erinnere mich kaum noch an das Leben vor meinem Tod – das kann kein Herzloser. Diese Erinnerungen verblassen, sobald uns das Herz aus der Brust gerissen wird. Aber ich kann mich an jede Sekunde meines Todes erinnern. Und an alles, was danach kam.

Ich warte. Und wie ein treuer, böser Hund meldet sich wie immer die dunkle Stimme in meinem Kopf, als wollte sie mit mir spielen.

Fünf, zischt sie mir zu wie eine Schlange, die sich durchs Mitternachtsgras windet. Du hast fünf von ihnen getötet. Einen Alten, einen Jungen, einen, dem das linke Auge fehlte, einen, der nie geschrien hat (kein einziges Mal), und einen mit einem schiefen Lächeln, das ihm schnell vergangen ist. Du wünschst dir, dass er länger geblieben wäre. Du wünschst dir, dass Nightsinger ihn ebenfalls in einen Herzlosen verwandelt hätte, unsterblich wie du, zu ewigem Leid verdammt wie du …

Ich habe zwar kein Herz mehr, aber ich habe immer noch einen Magen, und der dreht sich jetzt um. Ich gehe schneller, als könnte ich vor dem, was ich getan habe, davonlaufen. Die Bäume neigen sich von mir weg und formen einen Pfad, den niemand anders sehen kann. Äste beben, Wurzeln spannen sich und die Rinde ächzt vor Anstrengung. Sie schützen Nightsinger freiwillig – im Gegensatz zu mir hatten sie die Wahl.

Während ich noch in Selbstmitleid gefangen bin, taucht zwischen den schwankenden Bäumen ein gut aussehender Junge in einer orangefarbenen Tunika auf. »Du hast den Celeon nicht umgebracht, Zera«, wirft er mir vor.

Der Anblick des Jungen reicht aus, um die schreckliche Stimme verstummen zu lassen. Endlich kann ich mich auf etwas anderes konzentrieren als auf die Vergangenheit. Hochmütig werfe ich mein Haar zurück.

»Ich tue vieles nicht. Zum Beispiel trage ich kein Braun oder interessiere mich nur für Schwerter. Und ich töte auch keine vollkommen unschuldigen Attentäter.«

Der Junge schnaubt unbeeindruckt. Er ist jünger als ich, und das wird man ihm immer ansehen, bis Nightsinger ihm sein Herz zurückgibt und er wieder anfängt zu wachsen. Seine schwarzen Locken hängen ihm in die braunen Augen, er hat dunkle Haut und immer noch etwas Babyspeck auf den Hüften. Sein voller Name lautet Crav il’Terin Maldhinna, Sohn von Mald, der Eisenfaust. Er ist ein Kriegerprinz aus dem Endlosen Sumpf und der dritte und letzte Herzlose der Hexe Nightsinger, aber ich habe meinen eigenen Spitznamen für ihn, der ihm sogar gefällt.

»Schau mal, Crabby.« Ich stelle mich neben ihn und halte die Hand über seinen Kopf, der mir bis an die Schulter reicht. »Du bist bis in alle Ewigkeit nur fast so groß wie ich.«

»Fall tot um«, kontert er.

»Gern.« Ich tätschle seinen Arm. »Aber erst, nachdem ich etwas gegessen habe. Nightsinger sagt, sie hat uns was hingestellt. Hast du schon gegessen?«

Er fährt sich mit dem Arm über den Mund und auf dem Ärmel bleibt ein roter Fleck zurück. »Ein bisschen. Ich habe keinen Hunger.«

»Blödsinn. Wir haben immer Hunger.«

»Ich nicht.« Er reckt trotzig und stolz sein Kinn. Er wurde erst vor einem Jahr zum Herzlosen und wehrt sich dagegen immer noch auf alle möglichen kindischen Arten, genau wie ich es früher getan habe. »Aber jetzt sag schon. Wieso hast du diesen Celeon nicht getötet? Er hat dich angegriffen.«

Wir gehen gemeinsam weiter und die Bäume weichen uns aus. In einem leuchtend purpurroten Dickicht aus Fingerhut und Nachtschatten steht ein rundes Steinhaus, nicht größer als die Katen im Dorf und auch kein bisschen prunkvoller. Das Dach besteht aus Segeltuch und ein Zauber verhindert, dass Regen oder Schnee eindringen. Aus einem Blechschornstein steigt Rauch auf. Aus den wenigen Fenstern dringt warmes Kerzenlicht. Ich weiß nicht, was es mit diesem Fleckchen Erde auf sich hat, aber die Glühwürmchen scheinen es anziehender zu finden als jeden anderen Teil des Waldes, denn hier schweben ganze Schwärme herum und verbreiten ihr türkisfarbenes Flackerlicht.

»Nicht alles, was mich angreift, muss sterben, Crav«, erkläre ich geduldig. Ich rechne aber nicht damit, dass er es versteht – die Leute vom Endlosen Sumpf folgen ihren eigenen Regeln.

»Die Zahl meiner Wunden ist die Zahl meiner toten Feinde.« Das ist sein liebster Kriegerspruch. Ich lache und raffe meinen blutbefleckten Rock, um die paar Stufen zur Tür hinaufzugehen.

»Er war nicht mein Feind.«

»Er hat versucht, dich umzubringen!«, widerspricht Crav.

»Aber nur, weil er nicht wusste, was ich bin. Ahnungslos zu sein ist kein Verbrechen, Crabby, es ist ein heilbarer Zustand.«

Ich schlage den Türvorhang zurück. Drinnen riecht es wie üblich streng nach Kräutern und Gewürzen und an einer Wand brennt ein Kaminfeuer. In der Mitte des Raums befindet sich eine Grube, ausgelegt mit Steinen aus dem Fluss, und auf den Steinen liegt ein toter Hirsch, dessen Augen ins Leere starren. Als ich das erste Mal das Häuschen betrat und einen ähnlichen Hirsch sah, dachte ich noch, dass Nightsinger einen ziemlich schlechten Geschmack hätte, was die Einrichtung ihrer Hütte betrifft. Aber ich lernte schnell, dass diese vermeintliche Dekoration einen Zweck erfüllt – Herzlose müssen rohes Fleisch essen, um am Leben zu bleiben. Mit Leben meine ich: weiterhin als fühlendes Wesen zu funktionieren, das Kontrolle über sein Handeln hat. Wir sind Monster, keine Frage. Aber solange wir rohes Fleisch essen, können wir … weniger monsterhaft sein. Wir spüren einen Drang zu töten, zu zerstören, eine Leere in unserer ausgehöhlten Brust, und in dieser Leere nistet eine brennende Glut. Diese Glut erlischt nie. Aber solange wir regelmäßig rohes Fleisch essen, kann sie nicht wachsen, kann sie ihre Düsternis nicht durch unsere Adern strömen lassen, unsere Gedanken nicht völlig beherrschen und uns in etwas noch viel Schlimmeres verwandeln.

Bestien. Hungrige Monster. Was man in Büchern über uns lesen kann, macht mir Angst. Obwohl ich Spaß daran habe, gegen jede Tradition zu rebellieren, esse ich doch wie eine gute Herzlose jeden Tag zur selben Zeit widerliches rohes Hirschfleisch. Weil ich nicht den Verstand verlieren will.

Weil ich die Bestie in mir schon einmal gesehen habe. Und mir an diesem Tag geschworen habe, sie nie wieder freizulassen.

Fünf Männer sind deinetwegen gestorben, du verabscheuungswürdiges Wesen …

Ich verdränge die düsteren Gedanken, indem ich ein Stück Fleisch aus dem Hirsch herausreiße und ein paar Kräuter aus meinem Korb darüberstreue. Ich schlucke das Ganze, ohne zu kauen, und versuche, meinen Ekel als Begeisterung zu tarnen. Die Glut in mir kann mit Essen zwar nicht vollständig gelöscht werden, aber zumindest fühle ich mich jetzt ein wenig besser.

Ich wasche mir in dem Steinbecken in der Ecke die Hände und setze mich zu Crav auf ein Kissen.

»Und wie war dein Tag?«

Er verzieht das Gesicht. »Du hättest den Celeon wenigstens für den Rest seines Lebens verkrüppeln können.«

»Mein Tag war super, danke der Nachfrage«, stichle ich weiter und stehe auf. »Wo ist Peligli?«

»Schläft? Ich bin doch nicht ihr Babysitter.«

»Peligli!«, brülle ich die Treppe hoch. »Essen ist fertig!«

Erst rascheln Decken, dann tappen winzige Füße über den Holzboden und schließlich höre ich ein hohes Stimmchen, das »Zera, Zera, Zera, Zera«ruft. Ein rothaariger Wirbelwind springt die Treppe herunter und direkt auf mich zu. Peligli – die erste Herzlose von Nightsinger – schaut zu mir auf, das runde vierjährige Gesicht blass, aber mit roten Wangen, und ihre mitternachtschwarzen Augen funkeln.

»Zera! Du bist wieder da! Hast du heute irgendwelchen Glitzerkram geklaut?«, fragt sie.

»Keinen Glitzerkram. Aber ich habe ein paar gemeine Dinge getan, also war der Tag nicht ganz vergeudet.« Ich lächle und wische ihr mit dem Daumen den Schlaf aus den Augen. Peligli hebt die Hände auf eine Art, die »Ich will auf den Arm« bedeutet, und so setze ich sie auf meine Hüfte und trage sie zum Hirsch.

»Ich mag gemeine Dinge«, verkündet sie.

»Nein, magst du nicht.«

»Mag ich doch«, beteuert sie und strampelt mit den Füßen, weil sie sofort runterwill. Ich gehorche und sehe zu, wie sie auf ihr Abendessen zustürmt. »Gemeine Dinge sind indersans.«

»Interessant«, verbessert Crav sie lustlos.

Sie lächelt ihn an. »Ja!«

Peliglis voller Name ist Peligli, nicht mehr und nicht weniger. Mich und Crav hat Nightsinger in Herzlose verwandelt, weil wir an der Schwelle des Todes standen, aber Peligli ist aus freiem Willen zu ihr gekommen. Sie hat vor dem Sonnenlosen Krieg als Waisenkind in den Straßen von Vetris gelebt, und als sie Nightsinger sah, ist sie ihr gefolgt und nicht mehr von der Seite gewichen. Auch wenn sie aussieht wie die Jüngste von uns, ist sie schon seit fast vierzig Jahren herzlos. Sie behauptet, dass Nightsinger sie nicht in den Krieg ziehen ließ, und das war ein Segen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Krieg gut für ein kleines Kind ist, vor allem wenn es auch noch kämpfen muss.

Genau das haben Herzlose im Sonnenlosen Krieg getan – getötet. Das ist es, was wir tun. Dafür existieren wir. Eine Hexe ist einfach nur eine Person mit magischen Fähigkeiten. Und auch wenn es erstaunlich ist, riesige Feuerbälle aus der Luft herbeizaubern oder sich in jedes nur denkbare Tier verwandeln zu können, macht einem das Feinde. Zumindest bringt es die Menschen dazu, sich vor dir zu fürchten. Weil Menschen sich vor allem fürchten, vor allem vor riesigen Feuerbällen. Echte Jammerlappen.

Mein Blick wandert über die Reihen zerlesener Bücher in Nightsingers Regalen. Es sind Bücher über Hexen und ihre Geschichte. Ich habe jedes einzelne schon tausend Mal gelesen, denn im Wald zuzusehen, wie Schlamm auf Baumwurzeln trocknet, ist schon nach einem Monat einfach nur langweilig. Aus den Büchern weiß ich, dass Herzlose die Soldaten der Hexen sind. Leibwächter. Kanonenfutter, wenn man es freundlich ausdrücken will. Aber Kanonen gibt es nur in Pendron und sie gehen ständig nach hinten los und … Also sind wir im Grunde nur Marionetten aus Fleisch und Blut. Das Polster zwischen einer Hexe und ihren Feinden. Wieso soll man seine Feinde selbst töten, wenn diese Aufgabe auch ein unsterblicher magischer Sklave übernehmen kann?

Crav und Peligli zusammen zu sehen, lässt mich daran denken, dass auch sie jederzeit zu Mördern werden können. Sie lieben Nightsinger mehr als ich, denn sie sind noch zu jung, um zu begreifen, dass ein freundlicher Gefängniswärter immer noch ein Gefängniswärter ist. Sie würden alles für sie tun, aber ich will nicht, dass sie so werden wie ich. Ich will nicht, dass Blut von diesen kleinen Händen tropft. Bisher habe ich jeden Söldner auf der Jagd nach Kopfgeld für Hexen vertrieben. Jeden neugierigen Jäger verscheucht, der zu tief in den Wald vorgedrungen ist, und das alles, damit Crav und Peligli es nicht tun müssen. Das ist meine Aufgabe, bis Nightsinger stirbt und uns alle mitnimmt. Oder bis sie mir mein Herz zurückgibt.

Denn das kann sie. Eine Hexe kann ihrem Herzlosen sein Herz wiedergeben, und dann kehrt er in seinen alternden menschlichen Körper und sein altes Leben zurück. Auch die Erinnerungen an das Leben vor der Herzlosigkeit tauchen dann wieder auf. Aber Nightsinger hat mir gesagt, dass sie uns (mich) hier braucht, um sie vor den Menschen zu beschützen, die hinter ihr her sind. Das hindert mich jedoch nicht daran, sie anzuflehen, uns gehen zu lassen. Ich habe auf Knien gebettelt, habe Teile meiner Seele geopfert, um ihr jeden Wunsch zu erfüllen, immer wieder gefragt, ob ich etwas tun kann, um ihre Entscheidung zu ändern, aber sie hat stets nur freundlich abgelehnt.

Ich finde mich vorläufig damit ab. Auch wenn ich den Wald nicht verlassen kann, höre ich doch die Händler und die Adligen von niederem Rang in ihren Kutschen reden, bevor ich sie ausraube. Ich weiß, dass alle Welt die Hexen hasst, dass fast alle von ihnen im Sonnenlosen Krieg getötet wurden und dass die Überlebenden in Wäldern und Höhlen hausen, an düsteren Orten, wo sie vor den Blicken der menschlichen Jäger geschützt sind.

Aber auch wenn es unmöglich ist, wenn es sich anfühlt, als würde es niemals geschehen, klammere ich mich doch an den kleinen Hoffnungsschimmer, dass ich eines Tages mein Leben zurückbekomme und damit machen kann, was immer ich will. Ich beneide den Celeon-Attentäter, ich platze fast vor Eifersucht auf jeden Menschen, der mir auf dem Knochenpfad begegnet. Natürlich haben auch die Menschen Probleme, aber sie können tun, was sie wollen, und gehen, wohin es ihnen passt. Die Welt gehört ihnen, sie müssten nur innehalten und es begreifen. Sie halten das größte Geschenk von allen in ihren Händen – ihr eigenes Schicksal.

Meins wurde mir am Tag meines Todes entrissen und seitdem jage ich ihm hinterher. Das ist schon irgendwie tragisch.

Ich strecke mir selbst die Zunge heraus, denn der Geschmack meiner Gedanken ist bitter und ich komme mir ein bisschen lächerlich vor. Tragisch? Ich? Tadellos gekleidet und absolut geistreich trifft viel besser auf mich zu. Und es klingt deutlich weniger nach Selbstmitleid.

Crav weiß immer, was ich denke. Er hat eine fast unheimliche Begabung, in Gesichtern zu lesen. Vielleicht liegt das an seiner Kriegerabstammung, weil er sich ständig mit seinen Geschwistern messen musste. Er setzt sich neben mich und wir starren den Hirschkadaver an.

»Nightsinger wird ihn mit Magie entsorgen«, sagt er.

»Dem Alten Gott sei Dank.« Ich seufze. »Kannst du dir vorstellen, was das sonst für eine Schweinerei wäre?«

Einen Moment lang herrscht Schweigen zwischen uns. Draußen zirpen die Grillen.

»Hast du sie schon gefragt?«, erkundigt sich Crav leise. »Wegen unseren Herzen?«

Ich werfe ihm einen scharfen Blick zu. »Woher weißt du das? Hast du uns belauscht?«

»Sie lässt immer die Tür offen«, verteidigt er sich. »Und du fragst immer um diese Zeit. Ich bleibe dann auf und höre zu.«

»Das darfst du nicht«, sage ich streng. »Von heute an ist damit Schluss.«

»Es geht auch um mein Herz!«, protestiert er. »Ich will wissen, wann ich es zurückkriege.«

Ich dachte immer, ich wäre die Einzige, deren Hoffnungen wieder und wieder zunichte gemacht werden. Ich habe Nightsinger extra dann gefragt, wenn wir allein waren, damit nicht auch Crav und Peligli am Boden zerstört wären. Aber das hätte ich mir sparen können. Er hat uns die ganze Zeit belauscht.

»Du solltest sie noch einmal fragen«, verlangt Crav. »Ich glaube, diesmal könnte es wirklich klappen und sie gibt sie uns zurück …«

»Das wird sie nicht tun!«, fahre ich ihn an. »Wir kriegen sie niemals zurück, kapiert? Nicht jetzt und auch später nicht.« Mein Ton erschreckt Peligli. Auch Crav zuckt zusammen, seine Augen füllen sich mit Tränen und ich bedaure sofort, was ich gesagt habe. »Crav – oh nein. Es tut mir leid, ich …«

Er springt auf und rennt zur Tür hinaus. Ich laufe ein paar Schritte hinter ihm her, aber Crav ist der Schnellste von uns. Wenn er nicht eingeholt werden will, dann kriege ich ihn nicht. Außerdem fehlt mir im Moment die Ausdauer, ihm durch den Wald nachzujagen, denn diese Messerwunde heute hat mich mehr Kraft gekostet als gewöhnlich.

Peligli zupft an meiner Hand, auch ihre Augen sind voller Tränen. »Das … das ist doch gelogen, oder? Wir kriegen sie wieder … irgendwann?«

Sie hat sich freiwillig verwandeln lassen, aber selbst ihre junge Seele leidet unter den Jahrzehnten der Herzlosigkeit. Es spielt keine Rolle, wie jung und willig man ist, jeder Herzlose wird irgendwann müde. Irgendwann haben wir es satt, rohes Fleisch zu essen. Immer wieder und wieder die wenigen selben Orte zu sehen. Zuhören zu müssen, wenn sich die grässliche rote Glut mit ihren giftigen Worten ins Gehirn frisst. Wir haben es satt, uns leer, nicht vollkommen und unvollständig zu fühlen. Aufzuwachen in dem Wissen, dass uns nur ein paar versäumte Mahlzeiten davon trennen, Monster zu werden. Und wir haben es satt, uns nicht mehr daran erinnern zu können, wie wir gelebt und wen wir geliebt haben.

Ich gehe mit Peligli durch den Garten, wiege sie in den Armen und die Glühwürmchenschwärme beleuchten ihr verweintes Gesicht. Sie weint, bis nur noch Schluchzer kommen, bis ihr kleiner Körper so erschöpft ist, dass sie in das blasse Abbild von Schlaf fällt, der alles ist, was uns Herzlosen bleibt. Wir brauchen keinen Schlaf, denn wir haben die Magie, die uns täglich regeneriert, aber manchmal vergessen unsere menschlichen Gehirne diese Tatsache und fallen zurück in alte Angewohnheiten. Ich gehe wieder ins Haus und lege Peligli sanft auf das mit Flachs ausgepolsterte Schaffell, das sie ihr Bett nennt.

»Tut mir leid«, flüstere ich und decke sie zu. »Tut mir leid, dass ich so gemein war.«

Gemein trifft es kein bisschen, höhnt die rote Glut. Sieh sie dir doch an, du hast ihr das Herz gebrochen. Mensch oder Herzlose, das spielt keine Rolle, denn du bist einfach eine widerwärtige …

»Das Feuer brennt heute richtig gut, stimmt’s?«, murmle ich, um die Stimme zu übertönen. »Sehr … heiß. Voller … Flammen.« Ich verstumme und sage dann zu niemand Besonderem: »Erinnert mich daran, bloß nie Dichterin zu werden.«

Ich trete an den Kamin und wärme mir die Hände. Es ist ein ungewöhnliches Feuer mit blauschwarzen Flammen von der Farbe schlimmer Prellungen, aber Nightsinger hat nie erklärt, woran das liegt. Ehrlich gesagt, habe ich auch nie gefragt, weil ihre Erklärungen ohnehin meistens keinen Sinn ergeben. Meine Finger wandern zu dem Eisenkäfig über dem Feuer. Er ist sehr stabil und die Gitterstäbe sind dick, allerdings nicht so dick, dass man die drei Gläser darin nicht sehen könnte und die drei Herzen, die in ihnen schlagen. Ich habe Nightsinger einmal gefragt, wieso sie sie über dem Feuer aufbewahrt. Sie hat gelächelt und gesagt, dass sie warm gehalten werden müssten, entweder durch einen Zauber oder durch Feuer. Der Käfig ist ein wenig verbeult. Als ich noch nicht lange hier war, hat mich die Wut gepackt und ich habe mit dem Schwert meines Vaters darauf eingeschlagen, bis meine Hände bluteten und meine Beine unter mir nachgaben. Ich hatte versucht, mein Herz zu zerstören und alles zu beenden. Später habe ich gelernt, dass die Bücher es »Zerspringen« nennen und dass es die einzige Methode ist, uns zu töten. Unsere Hexe umzubringen funktioniert natürlich auch.

Obwohl der Käfig ganz gewöhnlich aussieht, ist er magisch. Es ist nicht mal möglich, etwas durch die Gitterstäbe zu schieben, denn es gibt dort eine unsichtbare Sperre. Damit verhindert Nightsinger, dass wir uns selbst umbringen.

Wie ich bereits zu dem Fuchs sagte: Es ist kompliziert.

Peliglis Herz ist das kleinste. Ihr Glas ist alt, verkratzt und im Laufe der Zeit ganz matt geworden. Cravs ist aus Seeglas und es sind Efeuranken eingraviert. Sein Herz ist etwas größer als Peliglis und im Moment schlägt es schnell, als wäre es angestrengt. Wahrscheinlich rennt er immer noch durch den Wald. Ich werde mich morgen früh mit einem ausgiebigen Kampftraining bei ihm entschuldigen. Das wird ihm gefallen.

Mein Herz steht zwischen den beiden anderen. Elizera – oder kurz Zera –, kein Familienname, an den ich mich erinnern könnte, zweite Herzlose der Hexe Nightsinger. Zum Zeitpunkt ihres Todes sechzehn Jahre alt. Mein Herz ist das größte und es liegt am Boden eines geschwungenen roten Glases. In den Büchern steht, dass die Hexen die Gläser selbst anfertigen, allerdings bevorzugen einige Beutel oder Kästchen. Diese Magie üben sie schon in jungen Jahren und werden mit zunehmendem Alter immer besser darin. Das gilt auch für Nightsinger, denn wenn man Peliglis schlichtes Glas mit dem von Crav vergleicht, ist deutlich zu erkennen, dass sie Fortschritte gemacht hat. Wie viele Gläser werden in zehn oder zwanzig Jahren neben unseren stehen? Ich bete zu jedem Gott, der zuhört, dass mein Herz dann nicht mehr dort ist. Ich will nicht erleben, dass irgendwann ein Glas auftaucht, das noch schöner ist als das von Crav.

Die Tür am oberen Ende der klapprigen Treppe öffnet sich mit einem Quietschen und ein Lichtschein fällt auf mein Gesicht.

»Zera?«, ruft Nightsinger. »Kannst du bitte einen Moment nach oben kommen?«

»Das könnte ich«, erwidere ich. »Ich kann aber auch hier unten bleiben und mir keine lästige Pflicht aufbürden lassen.«

Sie lacht. »Söldner zu verjagen ist doch keine lästige Pflicht für dich.«

»Das stimmt. So was mache ich mit links. Aber es nervt trotzdem.«

»Keine Söldner, versprochen.«

»Dann ist es ein Jäger?« Ich stöhne. »Die sind viel schwerer zu vertreiben. Und dann jammern sie dauernd über die hungernden Kinder, die sie füttern müssen. Erinnerst du dich an den, dem du das Wildschwein geben wolltest und der dir beinahe einen Pfeil in den Kopf geschossen hat, weil du eine ›Ungläubige‹ bist?«

»Es geht nicht um Jäger«, unterbricht sie mich. »Nur eine kleine Unterhaltung zwischen uns beiden.«

Ich seufze und trotte die Stufen hoch. Mein Magen rumort. Es macht mich immer nervös, wenn sie mich in ihr Zimmer ruft. Das liegt daran, dass es dort so intensiv nach Lilien und Sandelholz riecht. Oder vielleicht auch an der Magie, die so schwer in der Luft hängt, dass ich das Gefühl habe, dicken Nebel einzuatmen.

Ich stoße die Tür auf und meine Augen müssen sich erst an die vielen tausend Glasblumen gewöhnen, die den Raum erhellen. Das ist Nightsingers Lieblingsbeschäftigung – sie formt Pflanzen aus Glas. Sie stehen zu Dutzenden in Vasen, liegen in Körben und manche schweben einfach in der Luft. Hauchzarte, unglaublich detaillierte Blütenblätter von Orchideen und Rosen fangen das Kerzenlicht ein und verwandeln es in tausendfaches Funkeln. Da sind Blüten, die ich nicht kenne; es gibt solche, die von innen leuchten oder sich langsam um sich selbst drehen. Einige atmen ein und aus, als wären sie lebendig, und ihr Kristallpollen fällt auf den Holzboden wie Schnee. Ich habe schon erlebt, wie sie die Pflanzen benutzt, um zu »sehen« – die Blumen zeigen ihr bestimmte Bereiche des Waldes. Wie das funktioniert? Ich vermute, dass sie mit den Bäumen verbunden sind, die uns verbergen, aber ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung von diesem ganzen magischen Zeug.

Nightsinger sitzt inmitten ihrer Blumen auf einem schlichten Holzstuhl. Abgesehen von ihren Kristallen ist der Raum vollkommen leer. Es gibt hier kein Bett, keinen Ankleidetisch, nicht einmal einen Schreibtisch.

Wenn sie nicht als Krähe unterwegs ist, macht Nightsinger wirklich Eindruck. Ihr üppiger Busen sprengt fast ihr weißes Kleid und ihre Taille und ihre Arme sind breit und kräftig. Sie ist so groß, dass sie sich ducken muss, wenn sie durch die Haustür geht, und obwohl sie deren Höhe mit einem Zauber verändern könnte, tut sie es nicht. Eine dunkelblonde Mähne fällt ihr über den Rücken, immer glänzend und nur an den Enden leicht gelockt. Sie hat sinnliche Lippen, ein rundes Gesicht und haselnussbraune Augen, die so scharf blicken wie die eines Fuchses und genauso viele wilde Geheimnisse bergen.

Sie erhebt sich von ihrem Stuhl und kommt auf mich zu. Es sind ihre Bewegungen, die mich am meisten faszinieren. Sie schreitet so fließend, als würden ihre Füße den Boden nicht berühren. Eine Herzlose kann für einen Menschen gehalten werden, aber jeder, der auch nur einen Blick auf Nightsinger wirft, erkennt sofort, dass an ihr nichts Menschliches ist. Sie ist eine geborene Hexe und hat schon von Kindesbeinen an gelernt, dass es vollkommen normal ist, Herzlose zu besitzen, genauso normal wie atmen. Und sie ist bei Weitem nicht die Schlimmste von ihnen. Ich habe genug gelesen, um zu wissen, dass Nightsinger sich nur Kinder nimmt, die zu früh sterben mussten, Kinder, die eine zweite Chance verdienen. Es gibt – oder gab in der Vergangenheit – auch ganz reizende Hexen, die Menschen das Herz raubten, nur um sie leiden zu sehen. Für manche war das einfach ein Statussymbol, denn nur besonders starke Hexen konnten mehrere Herzlose auf einmal am Leben halten. Je mehr sie hatten, desto machtvoller wirkten sie. Die meisten von ihnen starben im Sonnenlosen Krieg. Die wenigen Überlebenden neigen dazu, ihre Herzlosen sorgfältig auszusuchen. Und weniger oft.

»Es gibt Neuigkeiten, Zera, die wir dir mitteilen wollen«, beginnt Nightsinger. Erst jetzt bemerke ich die beiden weißen Krähen, die in einer Ecke auf der Fensterbank hocken. »Wenn ihr so gut wärt, meine Freunde.«

Die Krähen fliegen auf den Boden und eine Aura aus magischem Licht umgibt sie. Dann flackert dieses Licht, verwandelt sich in zwei Personen, und das magische Leuchten erlischt. Vor uns stehen jetzt zwei Hexen – ein Mann mit Glatze, der einen tadellos gebügelten Anzug aus golddurchwirktem Stoff trägt, und eine Frau mit kurzen, unfassbar blauen Haaren und einem weiten Kleid, das so dünn ist, dass es kaum etwas von ihrer tiefschwarzen Haut verdeckt. Beide sind sehr groß – aber nicht so groß wie Nightsinger – und sie haben dieselbe unheimliche Ausstrahlung, von der ich eine Gänsehaut bekomme.

»Zera, das sind Firewalker«, Nightsinger zeigt auf den Mann, der mir steif zunickt, »und Seawhisper. Sie sind deinetwegen gekommen.«

»Meinetwegen?«, frage ich nervös. »Und ich habe nicht mal eine Tasse Tee anzubieten.«

»Schweig.« Firewalker tritt vor und mustert mich mit seinem scharfen Blick. »Du wirst nur zuhören und nicht sprechen.«

Oh, super. Einer von diesen Männern. Seawhisper weist ihn zurecht.

»Komm schon, ein bisschen Geduld kannst du wohl aufbringen, oder?« Sie sieht mich an. »Ich muss mich für ihn entschuldigen. Er ist ein wenig … altmodisch, was den Umgang mit Herzlosen betrifft.«

»Wir können keine Zeit damit verschwenden, unsere Untergebenen zu verhätscheln«, faucht er sie an. »Wir brauchen sie jetzt in Vetris. Der Frühlingsempfang …«

»… ist in vier Tagen«, unterbricht ihn Nightsinger geduldig. »Wir haben genügend Zeit, um wenigstens zu erklären, was los ist. Eine verwirrte Herzlose nützt niemandem.«

Firewalker will ihr widersprechen, entscheidet sich dann aber doch dagegen. »Meinetwegen. Erklär es ihr. Aber tu es jetzt. Ihre Kutsche wartet und Menschen sind bekannt für ihre Ungeduld.«

»Vetris? Kutsche? Frühlingsempfang?«, wiederhole ich. »Redet der immer so viel Schwachsinn oder gibt es heute einen besonderen Anlass?«

Firewalker funkelt mich auf eine Weise an, die er vermutlich für extrem bedrohlich hält, aber ich finde, dass er einfach nur aussieht, als würde er unter Verstopfung leiden. Seawhisper kniet sich vor mir auf den Boden, um auf Augenhöhe mit mir zu sprechen. Ihr Blick ist freundlich, aber ihre nächsten Worte sind ernst.

»Wir glauben, dass die Menschen im Begriff sind, einen neuen Krieg zu beginnen, Zera«, sagt sie. Ich schaue zu Nightsinger hinüber, aber sie verzieht keine Miene. »Der Attentäter, der dich heute angegriffen hat – hast du sein Messer noch?«

Ich suche in den Taschen meines blutbefleckten Kleids danach und reiche es ihr. Mit geschickten Fingern öffnet sie eine kleine Klappe am Griff und ich kann sehen, dass er innen hohl ist und dass sich dort ein Röhrchen mit einer weißen Flüssigkeit befindet. Sie riecht beißend und bitter.

»Liegt es an diesem Zeug, dass die Stichwunde schmerzhafter ist als sonst?«, frage ich. Seawhisper nickt.

»Weißes Quecksilber. Das ist eine Chemikalie, die die Menschen während des Sonnenlosen Krieges entdeckt haben.«

»Sie haben sie entwickelt, um uns damit zu töten«, widerspricht Firewalker eisig. »Das ist der einzige Grund, warum wir in der letzten Schlacht am Moonlight Keep so geschwächt waren. Wenn wir auch nur eine winzige Menge davon abbekommen, ist unsere Magie für Stunden gelähmt, was uns zu leichten Zielen macht.«

Seawhisper nickt. »Ein Mensch – wir wissen nicht, wer es ist – hat Attentäter mit diesen Waffen ausgerüstet und an Orte geschickt, an denen Hexen vermutet werden. Wir glauben, dass es zunächst darum geht, zu testen, welche Wirkung das weiße Quecksilber auf Herzlose hat, damit sich die Menschen besser auf den Krieg vorbereiten können.«

Ich runzle die Stirn. »Aber das Zeug hat mich nicht umgebracht und auch kein bisschen handlungsunfähig gemacht.«

»Es soll nicht dir