Hegemonie oder Untergang - Rainer Mausfeld - E-Book

Hegemonie oder Untergang E-Book

Rainer Mausfeld

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Beschreibung

Der Westen verdankt seine hegemoniale Position in der Welt der Überlegenheit seiner militärischen und ökonomischen Gewalt. Rainer Mausfeld beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit gegenwärtigen Kriegen und Konflikten und belegt anhand von Studien aus der vergleichenden Ökonomie, dass die privilegierte Lebensform des Westens wesentlich auf der Ausbeutung schwächerer Länder beruht. Die schwere Krise des Westens lässt deutlich werden, dass die vom Westen geschaffenen ideologischen Scheinwelten mit den auf eine Multipolarität gerichteten geopolitischen Realitäten nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Statt auf diplomatischen Wegen einen Interessenausgleich zwischen Staaten zu suchen, reagiert der Westen auf diese Herausforderung mit einer Steigerung seiner Bereitschaft zu organisierter Gewalt. Aus Angst um einen Machtverlust wechseln seine politischen Eliten in den Endspielmodus blinder Zerstörungsbereitschaft. Sie riskieren lieber eine nukleare Katastrophe, als dass sie eine Begrenzung ihres hegemonialen Anspruchs hinnehmen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ebook Edition

Inhalt

Titelbild

Erschütterungen

Kontinuitäten: Der »Westen« und seine Welt

Der Zerfall der »New World Order«

Donald Trump als Symptom der Krise des Westens

Die Lebensform des Westens ist parasitär und beruht auf der Ausbeutung ökonomisch schwächerer Staaten: einige elementare Fakten

Die gegenwärtige Krise des Westens

Die Krise des Westens und der Kampf um das öffentliche Bewusstsein

Ideologische Macht als Bewusstseinskontrolle

Auf der Klaviatur des Geistes spielen: Wörter als Manipulationsinstrumente

Die gezielte Schaffung gesellschaftlicher Pseudorealitäten

Die systematische Störung der gesellschaftlichen Realitätswahrnehmung durch Erzeugen eines affektiven und gedanklichen Nebels der Verwirrung

Massenmedien als Instrumente zur Formung des öffentlichen Bewusstseins

Der Westen und seine Feinde. Bausteine westlicher Ideologie zur Verdeckung organisierter Gewalt

»Zivilisation« und »zivilisatorische Mission«

Aufbau geeigneter Feindbilder und systematisches Erzeugen von Hass

Kontinuierliches ideologie- und machtkonformes Umschreiben der Geschichte

Zivilisationsbrüche und Völkermord

Der Westen im Endspielmodus

Der Krieg des Westens gegen Russland

Der Krieg des Westens gegen den Iran

Hat das emanzipatorische Projekt einer Zivilisierung von Gewalt heute noch eine Chance?

Die gegenwärtige Organisation von Machtverhältnissen stellt für emanzipatorische Bemühungen extrem ungünstige Bedingungen dar

Macht im Kapitalismus

Die herrschenden materiellen und ideologischen Bedingungen prägen die gesamte psychische Struktur der Machtunterworfenen

Ressourcen emanzipatorischen Handelns, die kaum zerstörbar sind

Anhang

Literaturverzeichnis

Namensverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Navigationspunkte

Titelbild

Inhaltsverzeichnis

Rainer Mausfeld

Hegemonie oder Untergang

Die letzte Krise des Westens?

»Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand.«

Harold Pinter1

Für G, immer

Erschütterungen

Längst schon hat es begonnen. Und vorbei wird es noch lange nicht sein. Krisen und Kriege scheinen immer dichter auf­ein­ander zu folgen. Eine Zeit besonderer Krisenhaftigkeit des politischen Ordnungsgefüges scheint angebrochen zu sein. Sie findet im kollektiven Bewusstsein ihren Widerhall in Gefühlen einer Bedrohung der eigenen gesellschaftlichen Lebenssituation und in einer Unsicherheit über die Zukunft unserer Gesellschaft. Gefühle einer verlorenen Solidarität und Gefühle der politischen Ohnmacht verdunkeln in den letzten Jahren zunehmend die Grundstimmung in den Gesellschaften des Westens.

Gegenwärtige Krisen und Kriege scheinen in einem engen inneren Zusammenhang zu stehen.1 Dies wird zunehmend deutlicher. Und das macht sie umso bedrohlicher. Die Determinanten geopolitischer Konflikte und deren historische Kontinuitäten und Kausalitäten sind intuitiv nur schwer erfassbar. Nur durch mühevolle kollektive Analysen können sie besser verstanden werden. Hingegen sind die gesellschaftlichen Krisen, da sie sich oft unmittelbar auf unseren gegenwärtigen Lebensalltag auswirken, leichter zu bemerken und in einigen Grundzügen intuitiv zu verstehen. Ein tieferes Verständnis ihrer Ursachen kann indes ebenfalls nur auf der Grundlage kollektiver Anstrengungen erreicht werden. Stets geht es dabei um den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt zwischen Mächtigen und Machtunterworfenen und zwischen Besitzenden und Besitzlosen, der sich nur durch robuste gesellschaftliche Schutzinstrumente einhegen lässt. Es geht also um Demokratie und um den heute systematisch betriebenen Abbau mühsam gewonnener demokratischer Errungenschaften. Und es geht, im öffentlichen Bewusstsein noch wenig präsent, um den planmäßig und beharrlich vorangetriebenen Übergang zu neuartigen Formen totalitärer Herrschaft.2

Es wäre jedoch nicht sinnvoll, die gegenwärtige gesellschaftliche Krise eine Krise der Demokratie zu nennen. Jedenfalls nicht im ursprünglichen Sinne der egalitären Leitidee von Demokratie als individueller und somit auch gesellschaftlicher Selbstbestimmung. Für die Organisationsform des Staates beinhaltet diese zivilisatorische Leitidee eine radikale Vergesellschaftung von Herrschaft durch eine strikte vertikale Gewaltenteilung und eine Unterwerfung aller Staatsapparate unter die gesetzgebende Souveränität der gesellschaftlichen Basis. Da es Demokratie in diesem einzigen Sinn, der diese Bezeichnung verdient, in unserer Epoche nicht gibt, wäre die Behauptung ihrer Krise unsinnig. Die gegenwärtige schwere Krise des Westens kann also, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, keine Krise der Demokratie sein. Es gibt indessen gute Gründe anzunehmen, dass es sich um eine Krise handelt, deren Wurzeln gerade in der jahrhundertelangen Verhinderung von Demokratie zu finden sind. Mehr noch: Diese Krise und ihre lange Vorgeschichte lassen deutlicher erkennen, dass das westliche Denken auf einem Fundament von Ressentiments errichtet ist, das sich grundsätzlich nicht mit der Leitidee einer egalitären Demokratie vereinbaren lässt. Der Westen scheint seinem Wesen nach demokratieunfähig zu sein.

Eine solche Diagnose scheint oberflächlich betrachtet im Widerspruch damit zu stehen, dass heute ›Demokratie‹ weithin als einzig legitime Herrschaftsform gilt. Dieser Widerspruch löst sich jedoch sofort auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Begriff ›Demokratie‹ eine Bedeutungsverschiebung erfahren hat, die ihn geradezu in das Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung verkehrt hat. Der Siegeszug der ›Demokratie‹ im Westen wurde, wie historische Studien im Detail nachweisen, überhaupt erst dadurch möglich, dass die »Väter der amerikanischen Verfassung« das Wort »Demokratie« seiner ursprünglichen Bedeutung beraubten und unter der neuen Bezeichnung »repräsentative Demokratie« ausdrücklich eine Form der Elitenherrschaft einführten.3 Dieser planmäßige Wortbetrug erwies sich als so erfolgreich, dass er heute kaum noch als Wortbetrug erkennbar ist. Vielmehr ist die Demokratiesimulation im »demokratischen Theaterstaat«4 so perfektioniert worden, dass sie dem überwiegenden Teil der Bevölkerung geradezu als Realität von Demokratie erscheint. In der Gegenwart verzichtet nun der Westen immer offener auf eine demokratische Maske zugunsten autoritärer Herrschaftsformen. Diese Dynamiken scheinen ihre Ursachen in einer tiefen inneren Krise des Westens zu haben, manche sprechen gar von seinem drohenden Niedergang.5

Mit dem Ausdruck »Niedergang« eines Imperiums kann allerdings, wie die Geschichte aufzeigt, sehr Unterschiedliches gemeint sein.6 In jedem Fall wird man die gegenwärtigen innen- und geopolitischen Dynamiken als eine schwere Krise des Westens ansehen müssen, deren weitreichende Folgen bislang nicht abzuschätzen sind. Ihre tieferen Wurzeln hat diese Krise in grundlegenden inneren Widersprüchen des Westens. Aktuell wurden sie besonders sichtbar in dem US-Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine,7 in dem Krieg gegen den Iran sowie in den erbitterten Machtkämpfen in den USA zwischen unterschiedlichen Machtgruppierungen, aus denen in der Präsidentenwahl 2024 die von Donald Trump repräsentierten Machtgruppierungen als vorläufige Sieger hervorgingen.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, betonte 2025 die Dramatik der Situation, mit der die gesamte westliche Zivilisation konfrontiert sei und erklärte, dass »der Westen, wie wir ihn kannten, nicht mehr existiert«8. Wie man diese Behauptung versteht, wird selbstverständlich davon abhängen, wer mit diesem »wir« gemeint ist und auf welcher Seite des Gewehrlaufes man steht.9 Angesichts der Tatsache, dass die EU bereits zu einer Art zivilem Arm der NATO umgestaltet wurde10 und dass von der Leyen einen »Plan zur Wiederaufrüstung Europas« vorgelegt hat, der ­800 ­Milliarden Euro für eine Militarisierung der EU mobilisieren soll,11 wird man die Behauptung eines Verschwindens des Westens, wie »wir« ihn kennen, weniger als Beschreibung der geopolitischen Realitäten denn als dringenden Aufruf zu den Waffen und damit zu einer Steigerung der Bereitschaft zu organisierter Gewalt verstehen müssen.

»Der Westen eroberte die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder seiner Religion, sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt. Oftmals vergessen Westler diese Tatsache; Nichtwestler vergessen sie niemals.«

Samuel Huntington1

Kontinuitäten: Der »Westen« und seine Welt

Was überhaupt ist dieser »Westen«? Auf den ersten Blick mag dieser Begriff danach klingen, als würde er natürliche Gegebenheiten beschreiben.2 In seiner heutigen Bedeutung als eines Kulturraumes, der in besonderer Weise auf Vernunft, Wissenschaft und Freiheit basiere und dadurch einen gleichsam linearen gesellschaftlichen Fortschritt von »primitiven« zu »höheren« Gesellschaftszuständen ermögliche, ist er jedoch vergleichsweise jungen Ursprungs.

Vielleicht ist es am Rande von Interesse, dass in der griechischen Antike und anderen frühen Hochkulturen zyklische, statische oder auch degenerative Vorstellungen des gesellschaftlichen Wandels vorherrschten. So findet sich bei Hesiod (um 700 vor unserer Zeitrechnung) die Vorstellung einer Abfolge von Zeitaltern, die einem moralischen und kulturellen Verfall entsprechen.3 Für Empedokles (495–435 v.u.Z.) war die Weltgeschichte durch einen ewigen Wechsel zwischen den Kräften der Liebe und des Streits geprägt, was zu periodischen Zyklen von Harmonie und Konflikt führte. Nach Polybios (200–120 v.u.Z.) wechseln sich Staatsformen wie Tyrannei, Oligarchie oder Demokratie in einem fortlaufenden natürlichen Prozess des Verfalls und der Erneuerung ab. Auch in Mesopotamien, Ägypten, Indien und China dominierten mit unterschiedlichen kulturellen, ökologischen und religiösen Hintergründen zyklische Vorstellungen über die inneren vorwärtstreibenden Kräfte der gesellschaftlichen und kosmischen Ordnung.

Ein Selbstverständnis des »Westens« als eines gleichsam linearen gesellschaftlichen Fortschritts von »primitiven« zu »höheren« Gesellschaftszuständen entwickelte sich erst zusammen mit der westlichen Konstruktion seines Gegenpols, des »Ostens«4 und des »Orients«, zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert. Bereits der historische Ursprung des »Westens« zeigt, dass er seine Identität seit jeher aus seiner Konstruktion der »Anderen« bezog, nämlich derjenigen, die er als seine ›Feinde‹ betrachtete. Im Mittelalter und in der Zeit des Kolonialismus waren dies die »Unzivilisierten«, die »Barbaren«, die es zu zivilisieren, also zu »verwestlichen« galt. Wer jeweils als »unzivilisiert« zu betrachten sei, änderte sich je nach materiellen Interessen und Machtbedürfnissen des Westens. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges musste die Bestimmung der als ›Feinde‹ betrachteten Anderen den neuen Hegemoniebedürfnissen des Westens angepasst werden, der sich nun, moralistisch aufgeladen, als US-geleitete »transatlantische Wertegemeinschaft« verstand. Das Pentagon hatte die Planungen dazu bereits mit dem Ende des Kalten Kriegs begonnen und konstruierte nun, wie die New York Times 1992 berichtete, systematisch neue Feindbilder, um seine militärische Macht auch nach Ende des Kalten Kriegs erhalten und vergrößern zu können.5

Vor mehr als dreieinhalb Jahrzehnten rief nach der Auflösung der Sowjetunion der einflussreiche US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte aus.6 Das Modell »kapitalistischer Demokratien« westlicher Prägung habe sich endgültig als »die beste aller politischen Welten« erwiesen und werde sich nun unangefochten global durchsetzen und verwirklichen lassen.

Nur am Rande sei bemerkt, dass der Ausdruck »die beste aller möglichen Welten«, den Fukuyama selbst nicht verwendet, auf das religions­philosophische »Theodizee-Problem« zurück. Im Zentrum dieses Problems steht die Frage, wie das Böse in die Welt gekommen ist und warum guten Menschen Böses widerfahren kann, wo doch der Schöpfer dieser Welt mit vollkommener Macht, Weisheit und Güte ausgestattet sei und die von ihm geschaffene Welt für wohlgeordnet befunden habe. Der Philosoph und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) suchte nachzuweisen, dass unter allen logisch möglichen Welten diese Welt vollkommen ist, weil sie die beste aller möglichen Welten sei, und dass jede Form des Übels letztlich notwendig, unvermeidbar und auch erklärbar sei. Alles Böse und Üble sei letztlich eine das Gute bewirkende Erscheinung. Voltaire hat 1759 diese Form des Optimismus, der auch heute noch in unterschiedlichem Gewande als Rechtfertigungsideologie bei den jeweils Herrschenden sehr beliebt ist, mit beißendem Spott zum Gegenstand seiner Novelle Candide oder der Optimismus gemacht.

Fukuyama zufolge habe der Kapitalismus mit seinem »Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung und wirtschaftlichen Verkehr auf der Grundlage von Privateigentum und Märkten«7 Konzepte von ›Freiheit‹ und ›Demokratie‹ hervorgebracht, mit denen der Kampf der Menschen und Völker gegeneinander wie auch der Kampf des Menschen gegen die Natur zu einem friedlichen Ende gelangen könnten. Die verbleibende Aufgabe bestehe lediglich darin, nicht-westliche Kulturen in die westliche Kultur zu integrieren und zu assimilieren, indem man sie zugunsten einer Übernahme westlicher Vorstellungen von »Freiheit« und »Menschenrechten« zu einer Abkehr von ihren tradierten politischen Werten und Grundsätzen ›bewege‹.

Diese zivilisatorische Verpflichtung des Westens, seinen ›Werten‹ – womit er freilich seine handfesten materiellen Interessen meint – global Geltung zu verschaffen, drückte einige Jahre später ein gleichermaßen einflussreicher US-amerikanischer Philosoph ganz unumwunden so aus: »Ich glaube nicht, dass der Westen von anderen Kulturen etwas zu lernen hat. Unser Ziel sollte es vielmehr sein, den Planeten zu verwestlichen.«8 Das heißt nichts anderes, als dass alle anderen Kulturen ihre eigenen Vorstellungen von der Gestaltung einer gerechten und guten Gesellschaft und somit von dem, was sie unter ›Freiheit‹ verstehen, aufgeben sollten, um ihr Denken und Handeln an den vom Westen zur ›Werte‹-Vermarktung hervorgebrachten Handelsmarken von ›Freiheit™‹ und ›Demokratie™‹ auszurichten.9

Für diese Aufgabe, »den Planeten zu verwestlichen«, ist der Westen in besonderer Weise historisch gerüstet. Denn er verfügt über viele Jahrhunderte an Erfahrung, andere Völker und Kulturen von der Überlegenheit seiner Werte und Lebensformen zu ›überzeugen‹.

Für diese Methoden des Westens gibt es aus der Zeit des frühen Kolonialismus einen ausführlichen Augenzeugenbericht des spanischen Dominikaners und Historikers Bartolomé de las Casas (1484–1566), der zwischen 1492 und 1536 die kolonialen spanischen Eroberungen begleitet hatte. Sein Bericht Brevisima relación de la destrucción de las Indias erschien, mit Kupferstichen von Theodor de Bry versehen, im Jahr 1552. Eine deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder bereits 1599.10Mit diesen Maßnahmen, das Licht der Zivilisation in die Welt zu tragen, hat der Westen schon im Prozess seiner Entstehung seine Standards für den Umgang mit dem »Anderen« und für die Formung der europäischen Identität gesetzt: »Ohne ins Detail zu gehen und nur um eine globale Vorstellung zu vermitteln, kann man festhalten, dass sich die Erdbevölkerung im Jahre 1500 auf etwa 400 Millionen beläuft, wovon 80 Millionen in Amerika leben. Mitte des 16. Jahrhunderts verbleiben von diesen 80 Millionen noch zehn. […] Wenn das Wort Völkermord jemals wirklich zutreffend verwandt worden ist, dann zweifellos in diesem Fall. […] Keines der großen Massaker des 20. Jahrhunderts kann mit diesem Blutbad verglichen werden.«11

Illustrationen aus Bartolome de Las Casas, Brevisima relación de la destrucción de las Indias

Die beiden folgenden Bilder zeigen die Methoden dieser ›Überzeugungsarbeit‹, die in ihrer Beschaffenheit von Hiro­shima über Korea, Vietnam, Irak, Libyen, Gaza bis heute in ihrem Kern gleichgeblieben sind, nämlich der Anwendung brutalster Gewalt gegen die Zivilbevölkerungen von Ländern, die der Westen als Feinde ansieht. Genau dies, brutalste Gewalt gegen die Zivilbevölkerung der Länder, die der Westen als seine Feinde betrachtet, ist geradezu ein Kennzeichen der Raubzüge des Westens, mit denen er den Planeten zu »verwestlichen« sucht.12 Die Kolonialgeschichte liefert dafür Beispiele im Überfluss. Auch die alliierten Bombardierungen deutscher Städte (durch die je nach Quelle zwischen 350.000 und 500.000 Zivilisten umgebracht wurden), die verheerenden Brandbombenangriffe auf japanische Großstädte zwischen 1942 und 1945,13 die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. August und 9. August 1945, die Operation Phoenix, bei der in Vietnam zwischen 1965 und 1972 nach offiziellen Schätzungen mehr als 40.000 Zivilisten – überwiegend Frauen und Kinder – ermordet wurden,14 die US-Bombardierung der sudanesischen asch-Schifa-Arzneimittelfabrik im Jahr 1998, die zu zehntausenden Toten in der sudanesischen Zivilbevölkerung geführt hat,15 sowie Israels militärische Dahiya-Doktrin,16 die die Kriegsstrategie einer großflächigen Totalzerstörung ziviler Infrastruktur formuliert und im Libanon im Jahr 2006, in Gaza und im Iran angewandt wurde, bezeugen die einzigartige Bereitschaft des Westens zu brutalster Gewalt gegen die Zivilbevölkerung.

Illustrationen aus Bartolome de Las Casas, Brevisima relación de la destrucción de las Indias

Bereits der Völkermord und Vernichtungskrieg der europäischen Siedler gegen die Ureinwohner Amerikas ist in historischer Detailliertheit dokumentiert.17 Auch der zwischen 1982 und 1983 mit Billigung und Unterstützung der USA in Guatemala an den Maya der Ethnie Ixil durchgeführte Völker­mord ist gut dokumentiert.18 Alle dokumentierten Fakten der historischen Kontinuität von Besitzgier, roher Gewaltbereitschaft, Rassismus und Heuchelei haben jedoch die idealisierende Selbstwahrnehmung der nationalen Identität der USA nicht nennenswert korrigieren können. Diese Kontinuitäten durchziehen die Außenpolitik der USA und der europäischen Kolonialmächte von den Anfängen bis in die Gegenwart. Je nach Interessenlage wechselten lediglich die Menschengruppen, die als »Untermenschen« angesehen wurden. Die »Rothäute« verschwanden als Gegenstand rassistischen Diskurses. An ihre Stelle traten jeweils die Bevölkerungen anderer Länder, die es zu unterwerfen und deren Ressourcen es auszubeuten galt. Im 20. Jahrhundert waren dies in Asien die »Schlitzaugen«, die es aus dem US-Weg zu räumen galt und die für den Fortschritt der Zivilisation wie »Kakerlaken« oder »Termiten« massenhaft zu vernichten seien. Vietnam wurde während des Vietnamkriegs von US-Soldaten und hochrangigen US-Militärs als »Indianerland« bezeichnet. Die Vietnamesen mögen zwar Menschen gewesen sein, aber ihr Verstand entspreche, wie ein Mitglied der US-Botschaft in Saigon 1962 die verbreiteten Vorstellungen von asiatischen »Untermenschen« offen zum Ausdruck brachte, »dem verschrumpelten Bein eines Polio-Opfers«, ihre Verstandeskraft liege »nur wenig über dem Niveau eines amerikanischen Sechsjährigen«.19 Mit den Flächenbombardements mit Benzingeleebomben (»Napalm«), die ohne Warnung auf ganze Dörfer abgeworfen wurden, und mit dem hochgiftigen Entlaubungsmittel »Agent Orange« sollten die »Termiten« zu Asche pulverisiert und ihnen die Lebensgrundlage entzogen werden. Diese Mittel zur Vernichtung der Zivilbevölkerung wurden u. a. als »Termitenvertilger« bezeichnet.20 »Wir werden«, so 1966 der Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Vietnamkrieg, General William Westmoreland, »dem Feind die Bevölkerung entziehen.«21 Dazu diente auch, großräumig chemische Kampfmittel zu versprühen, um Ernten und Viehbestände zu vernichten und Gewässer zu verseuchen und auf diese Weise die Bevölkerung dem Hungertod preiszugeben. Zudem wurden nach dem Motto »Kill anything that moves«22 riesige Gebiete zu »free fire zones«23 erklärt, in denen jeder Mensch – ob Kinder, Frauen oder Alte – Freiwild war. Gräueltaten des US-Militärs an der Zivilbevölkerung blieben fast durchgängig ungesühnt. Man berief sich, mal stillschweigend, mal ausdrücklich, auf das, was von Militärs als »mere gook rule«24 (»nur ein Schlitzauge«) bezeichnet wurde. Vietnamesen galten als wenig mehr als Tiere, die nach Belieben gefoltert, getötet oder missbraucht werden konnten.

Bei einem der von den USA in Vietnam begangenen Kriegsverbrechen, dem Massaker von Mỹ Lai, bei dem am 16. März 1968 504 Zivilisten in einem militärischen Blutrausch ermordet wurden, trug einer der Massenmörder, Lieutenant William Calley, zu seiner Entlastung vor Gericht vor: »Niemand hat uns je gesagt, dass sie Menschen sind.« (»Nobody ever told us they were human.«)25 Calley wurde wegen 22-fachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, verbrachte nur drei Tage im Gefängnis und wurde bald begnadigt.

Auch im US-Folterlager Guantánamo wurden die muslimischen Gefangenen, wie den Verhörprotokollen aus dem Jahr 2002 zu entnehmen ist, daran »erinnert«, dass sie »Untermenschen« (»less than human«) seien.26