Hybris und Nemesis - Rainer Mausfeld - E-Book

Hybris und Nemesis E-Book

Rainer Mausfeld

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Beschreibung

Macht drängt nach mehr Macht und Reichtum nach mehr Reichtum, eine Dynamik, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährdet und sie zu zerstören droht: Dies ist eine der frühesten Einsichten der Zivilisationsgeschichte. Macht bedarf daher stets einer robusten Einhegung. Das bedeutendste Schutzinstrument für eine Zivilisierung von Macht stellt die egalitäre Leitidee der Demokratie dar. Rainer Mausfeld zeigt entlang historischer Linien auf, dass der Begriff der Demokratie seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt worden ist und heute als Demokratierhetorik für Herrschaftszwecke missbraucht wird. Dadurch ist es in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Entzivilisierung von Macht gekommen, deren psychische, gesellschaftliche und ökologische Auswirkungen die menschliche Zivilisation insgesamt bedrohen.

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RAINER MAUSFELD

Hybris und Nemesis

Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren

WESTEND

Prolog

Einführung und Überblick

I Mensch und Macht

1 Macht und die Beschaffenheit des Menschen

1.1 Zur Funktionslogik der Macht

1.2 Die Grundausstattung des menschlichen Geistes für den Umgang mit Macht

II Der lange Weg zur zivilisatorischen Leitidee der Demokratie

2 Organisationsformen der Macht und gesellschaftliche Instrumente zur Einhegung parasitärer Eliten in frühesten Gesellschaften und Zivilisationen

2.1 Instrumente zur Verhinderung einer Elitenbildung in frühesten Jäger- und Sammlergesellschaften

2.2 Elitenbildung und Elitenkontrolle in frühesten Zivilisationen

2.3 Früheste Megasiedlungen: Cucuteni-Tripolje-Kultur, Çatalhöyük und Indus-Kultur

2.4 Elitenbildung und Elitenkontrolle in Städten und Stadtstaaten in Mesopotamien und die soziale Norm »misarum«

2.5 Elitenbildung und Elitenkontrolle im Alten Ägypten und die soziale Norm »Ma’at«

2.6 Elitenbildung und Elitenkontrolle im alten China – Das »Mandat des Himmels«

2.7 Resümee und Ausblick

3 Die Erfindung der Demokratie im Athen der Antike

3.1 Herrschaftsformen und gesellschaftliche Situation in der Zeit vor Solons Reformen

3.2 Das Fundament der Demokratie: Die Reformen von Solon und Kleisthenes

3.3 Die Athenische Demokratie

3.4 Warum entstand die zivilisatorische Leitidee der Demokratie gerade in Griechenland?

3.5 Resümee und Ausblick – mit einer Kurzdarstellung der Demokratiekonzeption der Aufklärung

4 »Machiavellische Demokratie«: Elitenherrschaft in Verbindung mit robusten radikaldemokratischen Kontrollinstrumenten

4.1 Machiavelli über den unüberbrückbaren Gegensatz von Volk und Eliten in seinen Discorsi

4.2 Machiavelli über gesellschaftliche Zerstörungskräfte

4.3 Institutionelle und außerinstitutionelle Instrumente der Elitenkontrolle

4.4 Resümee und Ausblick

III Die Entgrenzung und Entzivilisierung von Macht in kapitalistischen Demokratien

5 »Demokratie« – Der wohl größte Wortbetrug der Geschichte. Über die Zerstörung einer zivilisatorischen Leitidee

5.1 Wortbetrug I: Die Erfindung der »repräsentativen Demokratie« – Wie sich mit dem Wort »Demokratie« eine Demokratie verhindern lässt

5.2 Die Erzeugung einer Illusion von Demokratie als kostengünstigste Revolutionsprophylaxe im Kapitalismus

5.3 Wortbetrug II: Die Erfindung der »Elitendemokratie« – Wie sich die herrschende Minderheit zu »Eliten« veredelt und den Rest zur »Masse« gemacht hat

5.4 Wortbetrug III: Die Erfindung der »Output-orientierten Demokratie« – Wie Macht als Rationalität verkleidet und damit unsichtbar und unentrinnbar gemacht wurde

5.5 Warum eine kapitalistische Demokratie auf eine Bewusstseinskontrolle angewiesen ist

5.6 Die Entgrenzung und Entzivilisierung von Staats- und Kapitalmacht mit dem Instrument des Rechts

5.7 Resümee und Ausblick

6 Über den Wortbetrug der »liberalen Mitte« und über den Neoliberalismus als Extremform einer antidemokratischen Entzivilisierung von Macht

6.1 Freiheit im Liberalismus: Schutz des Privateigentums und Sicherheit im privaten Genuss

6.2 Demokratie im Liberalismus: Elitenkonkurrenz, Verachtung des Volkes und Zuschauerdemokratie

6.3 Die politische Mitte: Vom Liberalismus zum Zentrum der Gegenaufklärung

6.4 Die neoliberale Mitte als Extremform antidemokratischer Positionen

6.5 Resümee und Ausblick

7 Die Transformation kapitalistischer Demokratien zu Formen autoritärer und totalitärer Herrschaft. Sheldon Wolin über »gelenkte Demokratie« und eine neuartige Form des Totalitarismus

7.1 Ausgangspunkt: Demokratie – Rhetorik und Realität

7.2 »Abstrakte totalisierende Macht«

7.3 »Flüchtige Demokratie« – Wolins Vorstellungen von einer egalitären aktiv-partizipatorischen Demokratie

7.4 Die Zerstörung des Politischen

7.5 Wolins Konzept des »umgekehrten Totalitarismus«

7.6 Resümee und Ausblick

EpilogDemokratie oder zivilisatorischer Abgrund

Literatur

Prolog

»Denn dies eben heißt Verkommenheit:nicht mehr fühlen,wie tief man gesunken ist.«

Kurt Tucholsky

Vor unendlich langer Zeit, in längst vergangenen Zeiten, die später als goldene empfunden wurden, lebten die Menschen in Eintracht und Zufriedenheit. Zwietracht, Vereinzelung oder gar ein Mehrhabenwollen auf Kosten anderer waren ihnen fremd. Als jedoch einige wenige anfingen, sich Vorteile auf Kosten der Gemeinschaft zu verschaffen, nahm die Geschichte ihren Lauf. Eine Zivilisationsgeschichte begann, die durchzogen ist von Bürgerkrieg und Krieg. Aidõs und Nemesis, die in der griechischen Mythologie die Göttinnen der Scham und des gerechten Zornes über moralische Verfehlungen verkörperten, waren die letzten der Gottheiten, die bei dem verderbten Menschengeschlecht geblieben waren. Wenn auch sie die Menschen verlassen, bleibt nur noch das Recht des Stärkeren, und menschliche Begierden nach Macht und Reichtum werden endgültig die menschliche Gesellschaft zerstören. Nichts wird bleiben außer Zwist und Leid. Denn das Verlangen nach Macht und Reichtum übt unter allen Begierden des Menschen eine besonders zerstörerische Wirkung auf das gesellschaftliche Zusammenleben aus: Macht und Reichtum teilen die eigentümliche Besonderheit, dass sie im Menschen ein unersättliches Mehrhabenwollen auszulösen scheinen. Macht drängt nach mehr Macht, Reichtum nach mehr Reichtum. Zu den durch die Jahrhunderte und Jahrtausende immer wiederkehrenden gesellschaftlichen Erfahrungen gehört es, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet ist, wenn es einer kleinen Gruppe von Menschen gelingt, großen Reichtum auf Kosten der Gemeinschaft anzuhäufen und auf diese Weise Macht über den Rest der Gemeinschaft auszuüben. Zwangsläufige Folgen einer gesellschaftlichen Entgrenzung von Macht sind der Zerfall des sozialen Zusammenhalts und schließlich der Verfall einer Gesellschaft. So alt wie die Geschichte der menschlichen Zivilisation ist auch das grundlegende Problem einer gesellschaftlichen Kontrolle von Macht und Reichtum. Seit es schriftliche Aufzeichnungen gibt, wurde es wieder und wieder thematisiert; es steht an der Wiege des politischen Denkens überhaupt.

Der griechische Dichter Hesiod (um 700 v.u.Z.). beschreibt in einem Abschnitt seines Lehrgedichts Werke und Tage, der in der Kulturgeschichte vielfältigen Nachhall gefunden hat, den Abstieg von einem verklärten fiktiven Urzustand eines Goldenen Zeitalters hinab zu unserem gegenwärtigen Zeitalter, von Hesiod Eisernes Zeitalter genannt. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm das Recht des Stärkeren gilt und die »Befürworter und Vertreter des Faustrechts« (»cheirodikai«), das Sagen haben. Sorgten ursprünglich drei Gottheiten, nämlich Eunomia, als Personifikation einer guten Ordnung, Dikē, als Personifikation des Rechts, und Eirene, als Personifikation des Friedens und des Wohlstands, für eine gerechte Weltordnung, so waren diese, enttäuscht von den Menschen, mit Ende des Goldenen Zeitalters zu Zeus zurückgekehrt. Damit blieben den Menschen nur noch Gottheiten wie Aidõs und Nemesis. Nemesis stellt die Personifikation des gerechten Zorns und der Bestrafung moralisch unziemlichen Verhaltens dar, die dem Hochmütigen das ihm Gebührende zuteilt.1Aidõs, die Personifikation von Scham und gegenseitigem Respekt, steht ihr zur Seite. Nemesis bestraft vor allem die menschliche Selbstüberschätzung, das schamlose Ausnutzen von Macht (»hybris«) und die Missachtung von Recht und Sittlichkeit. Da jedoch der Gerechtigkeitssinn allein nicht reicht, um die Menschen in ihrem Verhalten zu einem Respekt vor dem Gesetz zu bewegen, muss Aidõs dafür sorgen, dass die Verletzung einer Norm von Scham begleitet wird und dass Menschen frevelhaftes Verhalten nicht einfach hinnehmen, sondern sich dagegen auflehnen und den Schuldigen zur Rechenschaft ziehen.2 Wenn aber Scham und wechselseitiger Respekt weichen und Selbstüberschätzung und skrupelloses Ausnutzen von Macht keine Grenzen mehr kennen, ist die Menschheit unabwendbar verloren. So sind nach Hesiod die Gottheiten Aidõs und Nemesis die letzten Götter, die das verderbte Menschengeschlecht des Eisernen Zeitalters verlassen werden.

»Weder wird der Eidestreue Achtung finden noch der Gerechte, noch der Redliche, sondern eher werden sie Frevler und Gewaltmenschen ehren. Das Recht liegt in den Fäusten, Rücksicht wird es nicht geben. Der Schurke schädigt den Ehrenmann mit krummen Worten und schwört einen Meineid. Neid wird alle die elenden Menschen begleiten, lärmend, hämisch, Hass im Blick. Dann nun verlassen Anstand und Ehrgefühl die Menschheit […] Übrig bleiben den sterblichen Menschen nur bittere Schmerzen, und nirgends ist Abwehr des Unheils.«3

Wenn Aidõs und Nemesis die Menschheit verlassen haben, hat dies zur Folge, »dass die Menschen ohne moralische Zwänge leben, dass sie keine Scheu vor Übeltaten haben, dass sie sich nicht gegen die Ungerechtigkeit empören und sogar die bösen Menschen statt der guten verehren«.4

Auch im Athen des sechsten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung kam es zu einer großen Anhäufung von Reichtum und Macht in den Händen weniger. Eine kleine Schicht wohlhabender Grundbesitzer und Adelsgeschlechter erzielte immer größeren Reichtum, und zwar durch jährliche Abgaben von kleinen Landeigentümern, die, wenn sie diese Verpflichtung nicht erfüllten, ihr Landstück verloren und in die Sklaverei verkauft werden konnten. Bei den Reichen und Mächtigen verflüchtigte sich immer mehr das Gefühl für Recht und Gerechtigkeit; ihr Verhalten wurde zunehmend von Schamlosigkeit und Verantwortungslosigkeit geprägt. Sie gaben sich ihrer Gier nach Reichtum und Macht ungezügelt hin und scheuten auch nicht davor zurück, sich an öffentlichem Besitz zu vergreifen. In einem zeitgenössischen Text heißt es: »Einen Gipfel des Reichtums sehen die Menschen nie, die nämlich, die das größte Vermögen haben, mühen sich, es zu verdoppeln.«5 Die Kluft zwischen Reich und Arm wuchs unaufhaltsam. Die zunehmende moralische Verkommenheit der Eliten, ihr parasitäres Mehrhabenwollen, also eines Mehrhabenwollens auf Kosten anderer, ihre Ruhmsucht, Maßlosigkeit und Korruption bedrohten Zusammenhalt und Wohlstand des gesamten Gemeinwesens, und Bürgerzwist und soziale Spannungen nahmen zu.6

Diese gesellschaftlichen Zustände prangerte ein schon in seinen jungen Jahren für seine überragenden Geistesgaben und seine Weisheit gerühmter Dichter und Denker namens Solon (630–560 v.u.Z.) in seinen Gedichten öffentlich an, so in seiner berühmten Eunomia-Elegie. Zugleich verlieh er seinen Vorstellungen von einer ›guten‹ wohlgeordneten Gesellschaft Ausdruck. Eindringlich beschrieb er, wie sich eine kleine Schicht von Reichen unter Missachtung von Gesetz und Sitte bereichert und in maßloser Gier im Luxus schwelgt, während Kleineigentümer in die Armut getrieben und als Sklaven in die Ferne verkauft werden. Solon erkannte zudem den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen der rechtlosen Gesinnung und Habgier der Mächtigen und dem Unglück der Ausgebeuteten als Ursache für die sozialen Unruhen und das Unglück der gesamten Stadt.

»Aber die Bürger selber aus Unverstand drohen die großeStadt zu verderben, durch Geld und seine Lockung verführt,und der rechtlose Sinn der Lenker des Volkes. […]ungerechter Erwerb hat ihnen Reichtum verschafft […]weder heil’gen Besitz noch das gemeindliche Gutschonen sie, sondern sie stehlen und raffen von überall alles […]«7

Die Machtgier von Eliten wie auch die Feigheit und Trägheit der Bürger, die die Folgen nicht zu sehen bereit waren, führten die Stadt ins Verderben. »Eure eigene Schuld hat euch zu Knechten gemacht.«8

Solon konnte mit seiner Diagnose der Ursachen für einen gesellschaftlichen Verfall an vielfältige vorhergehende Beobachtungen und Beurteilungen, auch aus benachbarten Kulturen, anknüpfen, allen voran an Homer (um 850 v.u.Z.) und Hesiod. Auch Hesiod beklagte, dass die Herrschenden durch ihre Korruptheit zu »Gabenfressern« und »Volksgutverzehrern«9 (»demophagoi«) geworden seien.

Nicht nur die Diagnosen der Ursachen für einen gesellschaftlichen Verfall gleichen sich über Zeiten und Kulturen. Auch die kollektiven Vorstellungen, worin gerade der Verfall einer Gesellschaft besteht, weisen über Epochen und Kulturen aufschlussreiche Gemeinsamkeiten auf: Der gesellschaftliche Verfall besteht in einer Abweichung von einer ›gerechten‹ und ›wohlgeordneten‹ Gesellschaft. Bereits in frühesten Zivilisationen, sei es in Mesopotamien, Indien, Ägypten, China oder Mittelamerika, finden sich reiche Zeugnisse für solche Vorstellungen, oft in mythischen und religiösen Welterklärungsrahmen. Im Mythos und allgemein in den Vorstellungen der griechischen Antike wurde die ›gute‹ Gesellschaft seit Homer und Hesiod durch die Göttin Eunomia personifiziert. Sie stand für eine gesellschaftliche Ordnung, die nach tradiertem Recht und tradierten Bräuchen – die Griechen sprachen von »nomos« – organisiert und durch das Wohlverhalten aller gekennzeichnet war. Überheblichkeit und Hochmut, von den Griechen als »hybris« bezeichnet, zerstören die Eunomia.

Diese Vorstellungen von den Ursachen eines Verfalls einer ursprünglich wohlgeordneten menschlichen Gesellschaft sind bei Hesiod noch in die Sprache des Mythos gekleidet. In der Folgezeit wurden Vorstellungen ›guter‹ Herrschaft zunehmend von metaphysischen und religiösen Einbettungen abstrahiert und abgelöst; sie wurden also verweltlicht. In diesem Prozess einer Verweltlichung ging die Verantwortung für die Herstellung und Erhaltung einer ›guten‹ Ordnung von den Göttern auf die Menschen über; nun sind sie selbst es, die durch ihr Handeln dafür Sorge tragen müssten, dass Habgier und Machtgier eingehegt und ihre schädlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft begrenzt werden. Diese Gedankenlinie führte schließlich, auf der Basis wichtiger Bausteine, die aus altorientalischen Kulturen übernommen wurden, in kühnen Abstraktionen zu der gänzlich neuartigen zivilisatorischen Leitidee der egalitären Demokratie. Mit dieser Leitidee verbindet sich bis heute die Hoffnung, dem parasitären Mehrhabenwollen, das seit Beginn der Zivilisationsgeschichte den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht, eine Grenze zu ziehen und die Entstehung parasitärer Eliten zu verhindern.

1 Siehe hierzu Roscher (1897, S. 117ff.), Stafford (2005); Berti (2017, S. 281ff.).

2 Zur Bedeutung des Begriffs und zu kulturellen Hintergründen siehe Cairns (1993), der betont, dass aidõs-Worte im Griechischen eine Reihe von Konnotationen haben, die sich von dem Wort ›shame‹ im Englischen unterscheiden« (Cairns, 1993, S. 2). Siehe dazu auch Saxonhouse (2005, S. 62).

3 Hesiod, Werke und Tage, Vers 175–200, übersetzt und herausgegeben von Schönberger (2007, S. 17). Der römische Dichter Ovid (43 v.u.Z.–17 n.u.Z.) greift in seinen Metamorphosen Hesiods Weltaltermythos in veränderter Form auf; seine Diagnosen der Ursachen für den Verfall sind jedoch gleich, und zwar die frevelhafte Habgier (»amor sceleratus habendi«) der Reichen: »Es flohen Scham, Wahrheit und Treue. Deren Platz nahmen Betrug und Hinterlist ein, Heimtücke, Gewalt und heillose Habsucht.« Zitiert nach Fink (2004, S. 17).

4 Berti (2017, S. 283).

5 Zitiert nach Stein-Hölkeskamp (2019, S. 435).

6 Die Habgier oder das »Mehrhabenwollen« wurde von den Griechen als »pleonexia« bezeichnet. Sie verstanden darunter eine parasitäre Form der Gier. In dem parasitären Mehrhabenwollen sahen sie einen zentralen Gefährdungsfaktor für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Siehe hierzu Balot (2001a).

7 Solon W 4,5–13, zitiert nach Fränkel (1962, S. 253–255); siehe auch Franyó & Gan (1981, S. 35), Mülke (2002, S. 43).

8 Solon in Diogenes Laertius 1, 52, übersetzt und herausgegeben von Apelt (1921/1965, S. 28).

9 Raaflaub (1989, S. 12).

Einführungund Überblick

»Wenn sie dich dazu bringen können,die falschen Fragen zu stellen,brauchen sie sich über die Antworten keine Sorgen zu machen.«

Thomas Pynchon

Es ist neunzig Sekunden vor Zwölf. Diese unmissverständliche Angabe macht die Weltuntergangsuhr des Bulletin of the Atomic Scientists, die seit 1947 im Januar eines jeden Jahres neu festgesetzt wird. Sie startete 1947 mit sieben Minuten vor Zwölf, 1991 erreichte sie ihren größten Abstand mit siebzehn Minuten und mit neunzig Sekunden im Januar 2023 ihren geringsten Abstand zum zivilisatorischen Abgrund, den es je gab. Die Zeitangabe steht symbolisch dafür, wie groß gegenwärtig das Risiko einer globalen Katastrophe aufgrund eines Atomkrieges oder einer Klimakatastrophe ist. Wir können sie metaphorisch als einen Gradmesser betrachten, der zeigt, wie stark oder schwach die zivilisatorischen Schutzbalken gegen die dunkle, destruktive Seite der Macht sind, wie ungehindert sich also in einer Gesellschaft zerstörerische Macht entfalten kann.

Die menschliche Zivilisationsentwicklung ist durch die wachsende kollektive Einsicht gekennzeichnet, dass Gewalt und Macht, wenn sie sich selbst überlassen bleiben, eine Gesellschaft zu zerstören drohen. Früh erkannte man, dass die rohe Gewalt Einzelner und miteinander verbündeter Einzelner, die bei der Durchsetzung ihrer Interessen ein Recht des Stärkeren geltend machen, in ihren destruktiven Auswirkungen auf die Gesellschaft durch geeignete Schutzinstrumente in robuster Weise eingehegt werden muss. Wie eine solche Einhegung im konkreten Einzelfall aussehen kann, wurde in tausenden von Jahren und auf vielen Pfaden stets aufs Neue kreativ ausgelotet und erprobt. Schließlich gelangte man zu der Einsicht, dass Macht und Gewalt einem kollektiv vereinbarten Recht unterworfen, also vergesellschaftet und verrechtlicht werden müssen. Dies gerade ist die große zivilisatorische Leitidee der Demokratie. Um sie geht es in diesem Buch, um den langen Weg zu ihr, um ihre Beschaffenheit und die ursprünglich mit ihr verbundenen Intentionen und vor allem um den gegenwärtigen Zustand der mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Schutzfunktionen.

Die Einsichten, die zur Entwicklung dieser zivilisatorischen Leitidee führten, traten bereits mit dem Beginn der Zivilisationsgeschichte in das kollektive Bewusstsein, zunächst vorbewusst, dann zunehmend klarer erfasst. Zeugnisse dafür sind die Bemühungen frühester Gemeinschaften, Gesellschaften und Zivilisationen, Instrumente zu finden, durch die sie sich vor den zerstörerischen Einflüssen schützen können, die aus unersättlichen Machtbedürfnissen kleiner Minderheiten erwachsen. Die dabei jeweils gewonnenen gesellschaftlichen Schutzinstrumente waren lückenhaft und büßten zumeist in der weiteren Entwicklungsdynamik gesellschaftlicher Transformationen rasch ihre Wirksamkeit ein. So kam es im Verlauf der Zivilisationsgeschichte immer wieder zu schweren zivilisatorischen Rückschritten und zu Zivilisationsbrüchen, wenn die rohe Macht sich ihrer zivilisatorischen Fesseln entledigte. Nach einem Erschrecken darüber gelang es der Menschheit aber immer wieder, neue Wege zu finden, um ihre zivilisatorischen Schutzinstrumente zu verbessern und zu stärken. Daher durchzieht ein kreatives Bemühen um eine fortwährende Weiterentwicklung dieser Schutzinstrumente die Geschichte.

Ein kollektiver Lernprozess, der durch ein Entsetzen über Zivilisationsbrüche ausgelöst wird, kann jedoch nur dann in eine bessere Zukunft führen, wenn die Auswirkungen von Zerstörungsprozessen nicht so groß sind, dass sie die Zukunft der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen, insgesamt bedrohen. Genau diese Gefahr ist aber durch die globalen Hebelwirkungen der heute zur Verfügung stehenden Mittel gesellschaftlicher und ökologischer Zerstörungen gegeben, sodass wir nicht mehr wie bislang darauf vertrauen können, nach dem nächsten Blick in den Abgrund weitere Chancen auf kollektive Lernprozesse zu haben. Das verfügbare Arsenal an Atomwaffen, mit dem sich, wäre dieses Wort nicht grob unpassend, spielend die gesamte Menschheit gleich mehrfach auslöschen lässt, stellt dabei nur das konkreteste Symbol für dieses Potential der Selbstzerstörung dar. Auch die technologischen Möglichkeiten der Bevölkerungskontrolle und der Bewusstseinsmanipulation, die sich zusehends und immer unverhüllter entfalten, bahnen global den Weg in den zivilisatorischen Abgrund totalitärer Herrschaft.

Wenn es also, wovon wir allen Vorbehalten zum Trotz ausgehen können, bislang kollektive Lernfortschritte in der Zivilisationsgeschichte gegeben hat, sollten wir auf der Basis geschichtlicher Erfahrungen in der Lage sein, dies zu erkennen: Allein die globalen Hebelwirkungen des heute einer kleinen Minderheit zur Verfügung stehenden zerstörerischen Potentials machen ein Weiter-So auf den bisherigen Wegen nicht möglich. Viel Zeit für ein Handeln bleibt also nicht. Wir müssen dringend verstehen, was eigentlich in unseren Gesellschaften passiert ist, dass wir in eine solche Situation gekommen sind.

Jedes gezielte Handeln muss freilich mit einem Verstehen der Situation einhergehen, die es zu bewältigen gilt. Vor jeder Therapie muss die Diagnose stehen und vor jedem gesellschaftlichen Handeln ein Verstehen der relevanten gesellschaftlichen Prozesse und Kausalitäten. Ein solches Verstehen darf nicht an der Oberfläche der alltäglichen Erscheinungsweisen politischer Phänomene verhaftet bleiben. Es muss vielmehr auf die abstrakten Prinzipien und Kausalitäten zielen, die erst die Vielfalt der Erscheinungsweisen hervorbringen. Eine politische Analyse der Ursachen gegenwärtiger Missstände muss sehr viel tiefer ansetzen, als es die aktuell drängenden konkreten Probleme nahelegen. Sie muss an die Wurzeln der Probleme gehen und die relevanten gesellschaftlichen Kausalitäten identifizieren, wenn aus ihr Ansatzpunkte für ein erfolgreiches Handeln erwachsen sollen.

Bei dem Versuch, an die Wurzeln der beiden konkret in die Weltuntergangsuhr eingehenden Risikofaktoren für einen zivilisatorischen Abgrund zu gehen, wird ein sehr viel tieferliegender und allgemeinerer Risikofaktor erkennbar, wie besonders Noam Chomsky aufgezeigt hat. Dieser fundamentale Risikofaktor bezieht sich auf die Manipulation unseres Denkens, wie wir Risiken für unsere Gesellschaft bewerten und wie wir mit ihnen umgehen. Diese gezielten Angriffe auf das menschliche Bewusstsein10, durch die »jegliches Bewusstsein zum Schweigen gebracht worden ist, dass unsere gesellschaftlichen Institutionen uns in diese Katastrophen treiben«,11 stellen den wirkmächtigsten Risikofaktor für die Zerstörung unserer Gesellschaft und unserer Lebensgrundlagen dar. Die gezielten Angriffe auf Denken, Fühlen und die psychische Integrität des Menschen mögen sinnlich weniger augenfällig sein als andere Zerstörungsfaktoren. Ihre Folgen sind jedoch dramatisch, zerstören sie doch die Befähigung, globale Krisen überhaupt in angemessener Weise erkennen und schließlich bewältigen zu können. Und mehr noch: Sie zielen darauf, unsere Befähigung grundlegend zu schwächen, überhaupt Widerstand gegen ein Manipuliertwerden leisten zu können. Wenn wir die Frage geeigneter zivilisatorischer Schutzinstrumente gegen zerstörerische gesellschaftliche Entwicklungen behandeln, gebührt diesem fundamentalen Risikofaktor der gezielten Angriffe auf das menschliche Bewusstsein die höchste Aufmerksamkeit. Da dieser Aspekt – oder allgemeiner das, was in der Soziologie auch ideologische Macht genannt wird – für die Themen dieses Buches grundlegend ist, soll er bereits hier in der Einleitung dargestellt werden. In Teil III des Buches wird er systematischer behandelt.

Die Menschheit steht heute so nah wie nie zuvor in ihrer Geschichte am Rande eines zivilisatorischen Abgrunds. Zugleich werden Krisen und Bedrohungen aller Art von den Mächtigen nicht nur genutzt, sondern auch erzeugt, um den Übergang zu totalitären Herrschaftsformen zu beschleunigen. Damit stellt sich zugleich die Frage, warum die im Verlauf der Geschichte entwickelten und immer wieder verbesserten zivilisatorischen Schutzinstrumente in der Gegenwart so eklatant versagen.

Die Gattung Mensch – die sich selbst das Attribut sapiens, also weise, gegeben hat – hat es zugelassen, dass man ihr das Bewusstsein für die Konsequenzen des in ihr selbst angelegten destruktiven Potentials genommen hat. Dadurch konnte sich dieses in der Zivilisationsgeschichte immer stärker entfalten und sich gegen alle anderen schöpferischen Befähigungen und moralischen Kapazitäten durchsetzen. Wie konnte es dazu kommen, wenn doch der Mensch über eine in der Natur einzigartige Befähigung zu einem kollektiven Lernen verfügt? Was hat ihn in so hohem Maße unfähig gemacht, angemessene Schlussfolgerungen aus den gewaltigen Blutspuren der Geschichte zu ziehen? Warum duldet er immer noch gesellschaftliche Entwicklungen, die ihn vielfach wiederholten geschichtlichen Erfahrungen zufolge erneut in zivilisatorische Abgründe zu führen drohen?

An Einsichten in die Ursachen der Entwicklungen, die Gesellschaften zerstören und in Abgründe führen, mangelt es gewiss nicht. Die Grundbausteine eines solchen Verstehens wurden bereits in der frühesten Zivilisationsgeschichte identifiziert und sind seit mehr als zehntausend Jahren bekannt. Die Einsicht, dass ein parasitäres Mehrhabenwollen als eine anthropologische Konstante die Ursache eines Verfalls des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Ursache von Krieg ist, durchzieht in unterschiedlichem Gewand das gesamte politische Denken von Solon, Herodot, Thukydides, Platon und Aristoteles über Machiavelli, Hobbes und Rousseau bis in die Gegenwart. Historisch stellt die Einsicht in die Wirkungskraft dieser anthropologischen Regularität die erste Identifikation einer gesellschaftlichen Kausalität für selbstzerstörerische gesellschaftliche Dynamiken dar. Die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für die gesellschaftlich vorteilhaftesten Organisationsformen von Macht fallen indes in der politischen Philosophie sehr unterschiedlich aus.

Seit Beginn der Neuzeit werden die gesellschaftlichen Ursachen selbstzerstörerischer Dynamiken in großer gedanklicher Tiefe analysiert; sie stehen bis heute im Zentrum emanzipatorischer Verstehensbemühungen. Beispielhaft für die große emanzipatorische Tradition seien hier nur wenige Klassiker genannt: John Lilburne (1614–1657), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), François Noël Babeuf (1760–1797), Charles Fourier (1772–1837), Michail Bakunin (1814–1876), Karl Marx (1818–1883), Friedrich Engels (1820–1895), Rosa Luxemburg (1871–1919) oder Anton Pannekoek (1873–1960). Nicht zu vergessen auch die große Tradition der deutschen Volksaufklärung mit Vertretern wie Moses Mendelssohn (1729–1786), Rudolph Zacharias Becker (1752–1822) oder Johann Benjamin Erhard (1766–1827).12

Die von diesen Klassikern gewonnenen Einsichten beziehen sich vor allem auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit. Heutige Entwicklungsformen des Kapitalismus, seien es globalisierter Finanzkapitalismus oder monopolkapitalistische Akkumulationsformen auf der Basis von Daten, Wissen oder intellektuellem Eigentum, sind um Größenordnungen komplexer. Hierfür geeignete Begriffs- und Erklärungsrahmen zu finden, ist Ziel vielfältiger gegenwärtiger Anstrengungen. Gleichwohl sind viele der von den Klassikern gewonnenen Einsichten von sehr grundsätzlicher Natur; sie lassen sich auch für gegenwärtige Verhältnisse fruchtbar machen. Insbesondere gehört hierzu die Einsicht, dass in allen Gesellschaften Kräfte wirksam werden, die zur Ausbildung von Macht- und Besitzeliten führen, die ihren gesellschaftlichen Status auf Kosten anderer und auf Kosten der Gemeinschaft erworben haben und ihn auf gleiche Weise zu stabilisieren und auszuweiten suchen. Diese Wenigen erlangen Macht über den Rest der Gesellschaft, indem sie rücksichtlos ihre Eigeninteressen verfolgen und andere für ihr unstillbares Mehrhabenwollen ausbeuten. In diesem Sinne sind sie parasitäre Eliten, weil ihre gesamte Lebensform davon abhängt, sich an den von anderen erwirtschafteten Erträgen zu bedienen. Emanzipatorisches Handeln zielt seit jeher – in den bekannten Worten von Karl Marx aus dem Jahr 1844 – darauf, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.

Wie konnte es dazu kommen, dass die Einsichten, die in der langen Geschichte emanzipatorischer Bemühungen gewonnenen wurden, heute im kollektiven Gedächtnis – und damit auch für ein politisches Handeln – praktisch nicht mehr zur Verfügung stehen? Auf diese Frage müssen wir bei der Suche nach geeigneten zivilisatorischen Schutzinstrumenten eine Antwort finden. Die Geschichte kann dabei ein nützlicher Leitfaden sein.

Macht- und Besitzeliten haben in der Zivilisationsgeschichte viele Instrumente entwickelt, mit denen sie ihre Macht zu stabilisieren und zu erweitern suchen. Dazu gehört neben roher Repression und wirtschaftlicher Gewalt auch das, was der Soziologe Michael Mann in seinem Werk History of Power »ideologische Macht« nannte.13 Ideologische Macht bezieht sich auf die Macht, sinnstiftende Denkkategorien, Deutungszusammenhänge und Rahmenerzählungen zu beeinflussen und zu kontrollieren, mit denen Menschen sich ein gedankliches Bild ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit machen. Ideologische Macht ist also psychologische Manipulationsmacht. Sie ist gerade diejenige Form von Macht, die darauf zielt, das gesamte Bewusstsein der Machtunterworfenen zum Nutzen der Mächtigen zu formen. Ideologische Macht beruht darauf, gleichsam auf der Klaviatur unseres Geistes zu spielen und unsere natürlichen menschlichen Kapazitäten – insbesondere des Lernens, Gedächtnisses und des Denkens sowie unsere natürlichen Gefühle, wie Empörung und moralische Sensitivitäten – für Manipulationszwecke zu nutzen.

Gegenüber physischer Macht bietet ideologische Macht den Vorteil, kostengünstiger und sehr viel tiefenwirksamer zu sein und über Massenmedien ihre Wirkung mit einer nahezu grenzenlosen Reichweite entfalten zu können. Um die Wirkungsweise ideologischer Macht besser zu verstehen, ist es notwendig, sich mit einigen Eigenschaften der Beschaffenheit des menschlichen Geistes zu beschäftigen, auf deren systematischer Ausnutzung sie beruht.

Ideologische Macht hat heute eine überwältigende Bedeutung erlangt. Im vergangenen Jahrhundert haben die jeweiligen Machteliten diese Form der Macht und die ihr zugrundeliegenden Eigenschaften des menschlichen Geistes mit einem kaum vorstellbaren Forschungsaufwand in den Bereichen der Psychologie und der Sozialwissenschaften studiert. Auf dieser Basis haben sie ein Arsenal von Methoden der Bewusstseinsmanipulation entwickelt, über dessen Wirkungskraft sich kaum jemand eine angemessene Vorstellung zu machen vermag. Ideologische Macht ist auf diese Weise fast unsichtbar geworden. Ihre Wirkungsweise ist so gestaltet worden, dass sie weitgehend unser natürliches Immunsystem gegen ein Manipuliertwerden unterläuft. Die Methoden der Bewusstseinsmanipulation sind mittlerweile so perfektioniert worden, dass ein großer Teil der Bevölkerung überzeugt ist, in einem System zu leben, das im Großem und Ganzen frei von Propaganda und Indoktrination ist. Das ist eine höchst bemerkenswerte Leistung, die wohl als eine der spektakulärsten Erfolge in der Geschichte der modernen Propaganda angesehen werden muss.

Die Wege, auf denen das psychische Immunsystem des Menschen, das ihn vor Manipulation, vor Ausbeutung und vor einer Unterwerfung unter den Willen anderer schützen soll, blockiert oder gar zerstört werden kann, wurden bereits in einflussreichen literarischen Werken beschrieben. Der ›harte‹ Weg durch George Orwell in seinem Roman 1984, der ›sanfte‹ Weg durch Aldous Huxley in seinem Roman Schöne neue Welt.

Orwell führte uns vor Augen, mit welchen Mitteln der Wille und das Selbst des Einzelnen, der Kern seiner Individualität und seines Menschseins, restlos zerstört werden können. Der Protagonist Winston wird in diesem ausgeklügelten Disziplinierungssystem durch »Umerziehung« »gereinigt«. Das heißt, in ihm wird alles zerstört, was ihn als Menschen in seiner menschlichen Bezogenheit ausmacht. Die Mittel dazu sind recht elementar: rohe Gewalt, individualisiert entworfene psychische Folter und die »Gedankenpolizei«. Jüngere Varianten für diesen Weg sind die unter Mithilfe von Psychologen entwickelten und verfeinerten Methoden der sogenannten »weißen Folter«. Diese Formen der Folter wurden so konzipiert, dass sie für die Öffentlichkeit gleichsam unsichtbar sind. Ihre Entwicklung war daher eng verknüpft mit der Entwicklung demokratischer Rechtsstaaten und der mit ihnen verbundenen größeren Öffentlichkeitskontrolle. Historisch entwickelten sich, wie vielfach aufgezeigt wurde, moderne Formen kapitalistischer Demokratien und Methoden »weißer Folter« Hand in Hand. In das Licht einer breiteren Öffentlichkeit gelangten diese Methoden für kurze Zeit durch Berichte über die von den USA in Guantánamo und in ihren zahlreichen anderen Foltergefängnissen in aller Welt durchgeführten Behandlungen Inhaftierter.14

Aldous Huxley beschrieb einen scheinbar sanfteren Weg, wie man durch die manipulativen Möglichkeiten der Biologie und der Psychologie Menschen dazu bringen kann, ihre Unterdrückung freiwillig zu akzeptieren. In seiner totalitären Dystopie, deren Leitmotto »Kollektivität, Identität, Stabilität« lautet, geschieht dies, indem man die Unterdrückung durch Konsumismus, medikamentöse Kontrolle, Infantilisierung und ›glückliche‹ Unmündigkeit möglichst angenehm gestaltet. Angesichts heutiger Methoden zur Herstellung einer glücklichen Unmündigkeit kann dieser Ansatz zu einer totalitären Herrschaft durchaus als höchst erfolgreich gewertet werden (siehe Kapitel 5.3).

Die gezielten Angriffe auf das menschliche Bewusstsein: Den Denkrahmen insgesamt so verdrehen, dass Schlimmes als gut erscheint

Ideologische Macht kann über die vielfältigen Wege kulturvermittelnder Instanzen ausgeübt werden, also über Schulen und Ausbildungssysteme, über Kirchen sowie in modernen Gesellschaften vor allem über die Massenmedien und die Unterhaltungsindustrie. Dabei wurden in kapitalistischen Demokratien die Methoden der Manipulation von Einstellungen und Meinungen – die im Wesentlichen für Bereiche des Produktmarketings und für politische Zwecke dieselben sind – mit großem Aufwand bis zur Perfektion verfeinert.15 In ihrem Kern sind sie freilich recht elementar.16 Entscheidend für ihre Wirksamkeit ist, ob jemand über die medialen Mittel verfügt, diese Manipulationstechniken in der Breite der Bevölkerung politisch wirksam werden zu lassen.

Wie einfach sich bestimmte Funktionsprinzipien des menschlichen Geistes für Manipulationszwecke ausnutzen lassen, möge ein Beispiel aus dem Bereich der visuellen Wahrnehmung illustrieren.

Betrachten wir in der folgenden Abbildung jeweils auf der linken und der rechten Hälfte der Abbildung die vier mondähnlichen Figuren, so erscheinen uns die vier linken Monde als schwarze Objekte, während die vier linken Monde als weiße Objekte erscheinen, die jeweils durch helle bzw. dunkle Wolken teilverdeckt sind. Linke und rechte Monde gehören folglich eindeutig unterschiedlichen Farbkategorien an, nämlich den Extrempunkten Schwarz und Weiß. Wenn wir nun den unmittelbaren Einfluss des Kontextes durch breite weiße Ringe um die Monde herum verdecken, wird sofort erkennbar, dass alle acht Monde tatsächlich von exakt derselben Farbe sind. Erst durch die jeweiligen Kontextualisierungen erscheinen die linken Monde schwarz und die rechten weiß. Die Abbildung auf der nächsten Seite führt dies vor Augen.

Objekte, die visuell exakt gleich sind, können also durch geeignete Kontextualisierungen als kategorial extrem unterschiedlich erscheinen. Die Erstellung dieser visuellen Demonstration nutzt recht abstrakte Funktionsprinzipien des visuellen Systems aus.17 Zunächst mussten diese Prinzipien identifiziert werden. Sodann mussten aus ihnen Schlussfolgerungen abgeleitet werden, auf deren Basis schließlich in höchst raffinierter Weise eine geeignete Reizkonfiguration erstellt wurde. Es war in diesem Fall also recht aufwändig, unser Wahrnehmungssystem so ›auszutricksen‹, dass uns in solch schlagender Weise ein und dasselbe Objekt kategorial extrem unterschiedlich erscheint, nämlich einmal als weiß und einmal als schwarz (was noch deutlich stärker ausgeprägt ist, wenn sich die Monde vor dem Hintergrund bewegen). Dieser Effekt ist selbst dann nicht durch Verstandeseinsicht korrigierbar, wenn man seine Konstruktionsprinzipien durchschaut hat. Man kann ihm also nicht entgehen.

Sehr viel leichter als bei dem hier gezeigten Wahrnehmungseffekt lassen sich unsere natürlichen moralischen Sensitivitäten (auf die wir Kapitel 1.2 einen etwas genaueren Blick werfen werden) manipulieren. Hierfür genügen bereits sehr elementare sprachliche Mittel, um ein und denselben Sachverhalt so zu kontextualisieren, dass er einmal als moralisch gut und ein anderes Mal als moralisch verwerflich oder böse erscheint. Genau dies ist gerade das alltägliche politische Metier der Massenmedien. Auch hier ist es schwierig, sich gegen derartige Manipulation zu schützen. Doch es gibt in diesen psychischen Bereichen mehr Möglichkeiten, die Wirkungsweise der Manipulation durch gedankliche Anstrengungen transparent zu machen und auf diese Weise Schutzmöglichkeiten gegen sie zu finden.

Wie viele Menschen darf man töten? Die Verdrehung des gesamten Denk- und Bewertungsrahmens am Beispiel von gezielten Drohnenhinrichtungen

Ein beliebiges Beispiel aus der täglichen Überflutung mit sprachlichen Manipulationen moralischer Urteile durch geeignete Rekontextualisierungen18 sind die außerhalb des Rechts stehenden Hinrichtungen von Personen, die von den USA zu »Terroristen« erklärt werden, also die von den USA im Rahmen ihres »Krieges gegen den Terror« praktizierten Drohnenmorde. 19 Nach den üblichen und auch von den USA selbst aufgestellten Kriterien müssen sie als ein klarer Fall von »Staatsterrorismus« angesehen werden.20

Da bei diesen gezielten Hinrichtungen zumeist auch zahlreiche unschuldige Zivilisten getötet werden, hat der damalige US-Präsident Barack Obama den Kreis der ›terroristischen‹ Zielpersonen einfach umdefiniert. Er deklarierte, wie die New York Times am 29.05.2012 berichtete, »alle männlichen Personen im militärfähigen Alter, die sich in einer Kampfzone befinden, als Kombattanten, es sei denn, es gibt eindeutige Geheimdienstinformationen, die posthum ihre Unschuld beweisen«.21 Was eine Kampfzone ist, wird allein von den USA festgelegt, sodass nach Obamas Neudefinition in solchen Zonen alle erwachsenen männlichen Personen präventiv getötet werden können, weil sich ihre Unschuld ja noch nach ihrer Ermordung feststellen lässt. Die einstweilige Ermordung Verdächtigter nach Belieben einzelner Staaten scheint sich mit dem Rechtsverständnis der Befürworter einer »regelbasierten Weltordnung« problemlos vereinbaren zu lassen.

Die Bilanz dieser nicht so ganz regelbasierten Drohnenmorde ist mittlerweile gut dokumentiert. Beispielsweise veröffentlichte die New York Times am 18.12.2021 die Civilian Casualty Files, vertrauliche Pentagon-Berichte, die belegen, dass die USA bei diesen außerlegalen Tötungen aus der Luft wissentlich tausende ziviler Opfer in Kauf nahmen.22 In Pakistan allein wurden in der Zeit von 2005–2008, wie die New York Times vom 16.05.2009 berichtete, 14 Terroristen gezielt mit Drohnen getötet, dabei seien 700 Zivilisten als Kollateralschaden umgekommen – »fünfzig Zivilisten für jeden Kombattanten, eine Trefferquote von zwei Prozent«.23 Bei diesen militärischen »Präzisionsschlägen« wurden immer wieder auch ganze Hochzeitsgesellschaften zu Asche gemacht. Das Bureau of Investigative Journalism hat bis 2017 2.250 bestätigte Drohnenangriffe dokumentiert, denen zwischen 6.248 und 9.019 Menschen zum Opfer fielen, darunter zwischen 736 und 1.391 unschuldige Zivilisten, von denen zwischen 242 und 307 Kinder waren.24 In Afghanistan, im Jemen und in Somalia waren in den jeweils berichteten Zeiträumen regierungsamtlichen Dokumenten zufolge von den getöteten Personen mehr als neunzig Prozent Zivilisten, die von den USA nicht als Ziele intendiert waren.25 Soweit ein paar Fakten.

Wie lassen sich diese Drohnenmorde nun medial so kontextualisieren, dass sie nicht mehr als völkerrechtliche Verbrechen und Staatsterrorismus erscheinen, sondern als unvermeidbare Nebenfolgen moralisch gerechtfertigten Handelns? Hier genügt wieder sehr wenig. In den großen Medien wurden diese Drohnenmorde, sofern überhaupt über sie berichtet wurde, bestenfalls als »völkerrechtlich strittig« eingestuft. Die zivilen Opfer wurden als »unvermeidbar« erklärt und die »Entscheidungsqualen« des persönlich verantwortlichen Auftraggebers dieser Drohnenmorde, nämlich des damaligen US-Präsidenten Barak Obama, in den Fokus gerückt. So schrieb DER SPIEGEL am 23.04.2015:

»Zum Wesensmerkmal des Drohnenkriegs gehören eben ganz unvermeidlich die Tragödien um zivile Opfer. Es war Barack Obama am Donnerstag anzusehen, wie sehr er mit dieser furchtbaren Verantwortung ringt.«26

Freilich kann Obama die von ihm persönlich angeordneten Morde nicht als allzu belastend empfunden haben, denn 2012 bemerkte er zu dem von ihm selbst massiv ausgeweiteten Programm von Drohnenmorden: »Ich bin wirklich gut darin, Leute umzubringen« (»I’m really good at killing people«).27

Wie ist es möglich, dass sich jemand, ohne damit in der Öffentlichkeit großen Widerspruch oder gar Empörung auszulösen, mit den von ihm zu verantwortenden Massenmorden brüsten kann? Normalerweise gar nicht, weil sich systematische Morde an der Zivilbevölkerung mit unserem natürlichen sittlichen Empfinden nicht in Einklang bringen lassen. Um dies dennoch zu erreichen, müssen die Verdrehungen von Kategorien eines Weltverstehens sehr viel tiefer ansetzen und nahezu das gesamte psychische Gefüge betreffen. Eine einfache sprachliche Kontextualisierung solcher Taten würde nicht genügen, um sie als moralisch gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Dazu muss zuvor das gesamte gesellschaftliche Weltbild gleichsam auf den Kopf gestellt worden sein, und zwar in einer Weise, dass es gar nicht mehr möglich ist, derartige Taten als das zu denken, was sie tatsächlich sind – nämlich Verbrechen.

Zu diesem Zweck muss das gesamte geistige Begriffssystem für ein Verständnis und für eine moralische Einordnung derartiger Verbrechen so geformt werden, dass es im Wortsinne undenkbar wird, dass die Täter dieser Taten Verbrechen begehen können. Ist erst der gesamte moralische Urteilsrahmen verbogen und verdreht – dessen war man sich schon in der Antike bewusst –, werden die Menschen »sich nicht gegen die Ungerechtigkeit empören und sogar die bösen Menschen statt der guten verehren«.28 Um dies zu erreichen, müssen die Täter als wesenhaft Gute erscheinen, die grundsätzlich nur moralisch einwandfrei handeln können. Sollte trotzdem einmal eine ihrer Taten allzu offenkundig als Verbrechen empfunden werden, so könne dies nur daran liegen, dass man den wesenhaft guten Intentionen der Täter nicht gebührend Rechnung getragen habe. Damit wäre ein derartiges gesellschaftliches Denk- und Interpretationssystem ein für alle Mal gegen negative Zuschreibungen und gegen widerstreitende Fakten immunisiert.

Eine Verdrehung des kompletten gesellschaftlichen Weltbildes ist nicht einfach herzustellen. Sie muss über längere Zeiträume schleichend aufgebaut werden und nicht nur in der Psyche einzelner Individuen, sondern im kollektiven und kulturellen Denken stabilisiert werden. Dazu müssen alle relevanten meinungsbildenden Instanzen in geeigneter Weise zusammenarbeiten. Auch hierzu hat Obama Aufschlussreiches beizutragen: Er rühmte sich – am 28.05.2014 –, dass die USA in der Lage seien, weltweit die öffentliche Meinung zu formen (»our ability to shape world opinion«).29 Und sie haben diese, zumindest in den mit ihnen verbündeten Staaten, so geformt, dass die USA nun einmal – wie es der damalige US-Präsident Bill Clinton auf einer Tagung am 28.04.1996 ausdrückte – als »the world‹s greatest force for peace and freedom, for democracy and security and prosperity« gelten, als »die größte Kraft der Welt für Frieden und Freiheit, für Demokratie, Sicherheit und Wohlstand«.30 Es versteht sich daher von selbst, dass es schon aus grundsätzlichen Erwägungen ganz und gar ausgeschlossen ist, dass die USA als wesenhaft gute Friedenskraft systematisch Staatsverbrechen begehen könnten.

Dieser Angriff auf das menschliche Bewusstsein und die mit ihm verbundene Verdrehung des moralischen Urteilsrahmens sind in bedrohlichem Maße gelungen. »Wie viele Menschen muss man töten, bis man sich die Bezeichnung verdient hat, ein Massenmörder und Kriegsverbrecher zu sein?«, fragte der englische Dramatiker Harold Pinter 2005 in seiner Rede zur Verleihung des Literaturnobelpreises.31 Er erinnerte an das »weitverzweigte Lügengespinst, von dem wir uns nähren«. Damit die Macht der herrschenden Eliten erhalten bleibt, so Pinter weiter, »ist es unabdingbar, dass die Menschen unwissend bleiben, dass sie in Unkenntnis der Wahrheit leben, sogar der Wahrheit ihres eigenen Lebens«. Zu diesem Lügengespinst gehört es, dass Verbrechen der als wesenhaft gut dargestellten Täter im Bewusstsein der Bevölkerung unsichtbar sind; sie sind schlicht nicht passiert. »Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand.« Womit sich die beängstigende Frage stellt, wie sich eine moralische Apathie solchen Ausmaßes erreichen lässt.

»Was ist aus unserem sittlichen Empfinden geworden? Hatten wir je eines? [...] Ein Gewissen nicht nur hinsichtlich unseres eigenen Tuns, sondern auch hinsichtlich unserer gemeinsamen Verantwortung für das Tun anderer? Ist all das tot?«

Wie lässt sich das natürliche sittliche Empfinden zum Schweigen bringen?

Das natürliche sittliche Empfinden von Menschen zum Schweigen zu bringen, erfordert erhebliche Angriffe auf das menschliche Bewusstsein. Wer jedoch über die nötigen medialen Mittel verfügt, kann dies – zumindest zeitlich begrenzt und vor allem in Situationen, die für die Stabilität herrschender Machtverhältnisse kritisch sind – auf relativ einfachen Wegen bewerkstelligen. Auf der Grundlage einer Verdrehung des gesamten Denk- und Bewertungsrahmens lässt sich nach Belieben Schwarz zu Weiß und Weiß zu Schwarz machen. Ist erst das gesamte Interpretationssystem verdreht, kann man eine Tat oder einen Sachverhalt leicht als moralisch ›gut‹ oder aber als ›böse‹ erscheinen lassen. So lassen sich Menschen daran gewöhnen, dass es zwei Kategorien von Staatsverbrechen geben kann, nämlich solche, die keine sind, sondern moralisch gerechtfertigte Taten, und solche, die auf das Schärfste zu verurteilen sind. Sie lassen sich daran gewöhnen, dass moralisch verwerfliche Taten, wie beispielsweise Folter, Drohnenmorde, Bombardierungen ziviler Infrastruktur oder die Verwendung von geächteten Streubomben und Uranmunition, moralisch gerechtfertigt sein können, solange sie nur von den ›Richtigen‹ begangen werden.

Machtstrategisch ist es überaus nützlich, Menschen – ganz nach Orwell – daran zu gewöhnen, dass Schwarz Weiß ist, Krieg Frieden, Desinformation Information und totale Überwachung Transparenz und dass Pazifismus eine Gefahr für den Frieden ist. Diese Verdrehung natürlicher moralischer Bewertungskategorien steht im Zentrum ideologischer Macht. Wer über die Macht hierzu verfügt, vermag Menschen auch zu einer freiwilligen Unterwerfung zu bringen und ihnen ihre Unterwerfung als wahre Freiheit erscheinen zu lassen.

Wenn die Mächtigen es schaffen, bei der Wahrnehmung gesellschaftlicher Realitäten den gesamten Denkrahmen von Menschen zu verdrehen, werden diese unfähig, gesellschaftliche Kausalitäten erkennen und angemessen beurteilen zu können. Wenn sie über Massenmedien und Sozialisationsinstanzen zu einer Kausalitätenverdrehung geradezu konditioniert werden, besteht kaum Aussicht, eine solche Verdrehung im argumentativen Austausch und auf rationalem Wege zu kurieren. Durch eine Verdrehung des gesamten Denkrahmens lassen sich auch moralische Bewertungen nach Belieben umkehren sowie ein- und ausschalten – wovon Massenmedien täglich reichen Gebrauch machen. Wie tief sich derartige Verdrehungen bereits in der gesamten Kultur niedergeschlagen haben, lässt sich am Friedenspreis des Deutschen Buchhandels illustrieren, der jedes Jahr eine Persönlichkeit auszeichnen soll, »die einen wichtigen Beitrag zum Frieden, der Menschlichkeit und der Verständigung der Völker geleistet hat«. Im Jahr 2022 hat ein Schriftsteller diesen Preis für ein Buch erhalten, in welchem er Russen als »Horde«, »Verbrecher«, »Tiere« und »Unrat« bezeichnet und fordert: »Brennt in der Hölle, ihr Schweine!« DIE ZEIT vom 20.10.2022 berichtete hierüber, hielt dies jedoch keineswegs für anstößig und befand, derartige Literatur »kämpft für nichts anderes als Frieden«.32 Es reicht also wenig, um Völkerhass in orwellscher Weise in Friedensliebe umzudefinieren.

Sollte freilich jemand der Überzeugung sein, dass sich in diesem spezifischen politischen Kontext ein derartiger Ausdruck des Hasses moralisch rechtfertigen lasse, so hat er sich der Frage zu stellen, ob er die dabei angeführten moralischen Kriterien gleichermaßen auch in anderen politischen Kontexten anzulegen bereit ist. Denn eine selektive Verwendung moralischer Kriterien je nach gewünschtem politischen Kontext wäre nichts anderes als moralischer Nihilismus, also moralische Gleichgültigkeit und ein Verlust moralischer Bewertungsmaßstäbe.

Dass derartige manipulative Verdrehungen natürlicher Urteilskategorien (ebenso wie ein moralischer Nihilismus) unvermeidlich zerstörerische Auswirkungen auf eine Gesellschaft haben und die Menschen ins Unheil führen, war bereits in der Antike bekannt. In Sophokles Antigone heißt es:

»Wen die Götter ins Unheil führen wollen, dem verwirren sie die Sinne und lassen ihn Schlimmes als gut erachten.«33

Heute müssten wir dies so formulieren: Wen die Mächtigen ins Unheil führen wollen, dem verwirren sie den Sinn für Recht und Unrecht und lassen ihn die Untaten der Mächtigen als gut erachten. Doch ist das Problem heute viel tiefergehender: Nahezu alle grundlegenden politischen Denk- und Interpretationsbegriffe sind in orwellscher Manier verdreht, weil bereits der gesamte politische Denkrahmen für ein Verstehen gesellschaftlicher und politischer Realitäten verdreht ist. Mehr noch: Nicht nur die Denkrahmen für ein Verstehen der gesellschaftlichen Welt sind verdreht. Auch die Denkrahmen für ein Verstehen unserer sozialen Identität selbst und für das, was wir über uns selbst glauben sollen, sind systematisch verdreht. Diese Verdrehungen zielen darauf ab, alles gesellschaftlich faktisch Bestehende als ›normal‹ erscheinen zu lassen und auf diese Weise den Status quo gegenwärtiger Machtverhältnisse zu normalisieren und damit zu stabilisieren.

Die gezielten Angriffe auf das menschliche Bewusstsein: Den Denkrahmen insgesamt so verdrehen, dass Opposition undenkbar wird

Wenn erst der Denkrahmen selbst verdreht ist und unter manipulativer Kontrolle steht, wird es zwangsläufig immer schwieriger, grundlegende Opposition überhaupt noch zu denken, geschweige denn, kollektiv zu organisieren. Denn wenn bereits die Denkkategorien zur Erfassung gesellschaftlicher Realitäten verdreht und bis in die Wurzeln ideologisch kontaminiert sind, sind auch die Wege zu angemessenen Schlussfolgerungen versperrt. Am Schicksal jüngerer emanzipatorischer Bewegungen lässt sich dies illustrieren: Zwar konnten politische und soziale Bewegungen auf horizontaler gesellschaftlicher Ebene bei der sozialen und politischen Inklusion zuvor ausgegrenzter Gruppen und auch bei lokalen Kämpfen gegen Umweltzerstörungen wichtige emanzipatorische Erfolge erzielen. Doch auf der vertikalen gesellschaftlichen Ebene der Organisation ökonomischer Machtverhältnisse sind die Erfolge emanzipatorischer Bewegungen innerhalb großer kapitalistischer Demokratien in den vergangenen drei Jahrzehnten bei nüchterner Betrachtung wohl als dürftig anzusehen, ungeachtet der bewundernswerten Beharrlichkeit, mit der unzählbare einzelne Gruppen und Individuen sich für emanzipatorische Belange engagieren.34 Selbst die anfangs so hoffnungsvoll begonnene und zeitweise weltumspannende Occupy Wall Street-Bewegung, die wichtige Debatten über das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie angestoßen hat, konnte, als sie den Mächtigen zu bedrohlich wurde, in kürzester Zeit gespalten und zersetzt werden. Mehr Spielraum für revolutionäre basisdemokratische Aktivitäten besteht in Ländern des globalen Südens, in denen auf lokaler Ebene neue gesellschaftliche Arrangements höchst kreativ entwickelt und erfolgreich erprobt wurden und noch werden.35

Ein prominentes Beispiel, das unzählige emanzipatorische Bewegungen in aller Welt inspiriert, sind die mexikanischen Zapatistas.36 Zweifellos gibt es also außerhalb der großen kapitalistischen Demokratien wichtige lokale basisdemokratische Erfolge, doch in den Industrienationen selbst müssen emanzipatorische Bewegungen der letzten Jahrzehnte trotz der immer dramatischer werdenden gesellschaftlichen Anlässe im Großen und Ganzen wohl als politisch folgenlos angesehen werden. Offensichtlich ist heute unsere Befähigung zu einem kreativen Erfinden und Erproben geeigneter gesellschaftlicher Arrangements, wie sie in der Zivilisationsgeschichte Motor zivilisatorischen Fortschritts war, massiv blockiert und gestört und mit ihm auch die Befähigung zu einem kollektiven emanzipatorischen Handeln.

Einige der Gründe für dieses Scheitern sind recht leicht auszumachen. Dazu gehören zum einen die immer abstrakter werdenden Organisationsformen von Macht, die durch Verflechtungen staatlicher, überstaatlicher und privater Akteure in so komplexer Weise organisiert ist, dass es größter kollektiver Anstrengungen bedarf, diese Organisationsformen von Macht auch nur in zentralen Grundaspekten gedanklich fassbar zu machen.37

Ein weiterer Grund liegt darin, dass gegenwärtige Protestbewegungen in den großen kapitalistischen Demokratien eine Verwurzelung in emanzipatorischen Traditionen weitgehend verloren haben. Kollektiv mühevoll gewonnene Einsichten sind durch gezielte Angriffe auf das menschliche Bewusstsein für ein gesellschaftliches Handeln nicht mehr verfügbar. Ohne ein Erinnern kann sich das kollektive Gedächtnis nicht weiterentwickeln. Es bleibt in seinen Erfahrungsmustern gleichsam eingefroren und kann das kreative Potential zu einem Andersdenkenkönnen des Bestehenden nicht mobilisieren. Das Gedächtnis gleicht keineswegs lediglich einem Behältnis zum Aufbewahren des Vergangenen, es ist ebenso und vielleicht noch mehr eine Ressource zur Antizipation und zur Bewältigung des Zukünftigen. Mit dem Verlust ihrer Tradition ist emanzipatorischen Bewegungen auch ein Ziel abhandengekommen, das erst dem Denken Richtung, Stabilität und Kohärenz verschaffen kann. Ohne die Möglichkeit, ein rationales Ziel halbwegs kohärent formulieren zu können, laufen bloße Protestbewegungen Gefahr, in einer gedanklichen Fragmentierung und in einer atomisierten Ansammlung von Protesten und isolierten Forderungen zu verharren und gedanklich diffus in einer radikalen Subjektivität zu kreisen. Ihre – zumeist sehr berechtigte – Empörung bleibt begriffslos oder artikuliert sich in der vorherrschenden ideologisch durchtränkten Begrifflichkeit. Beides birgt die Gefahr, dass berechtigte Veränderungsenergien auf Ablenkziele gerichtet werden und eine angemessene Erfassung relevanter gesellschaftlicher Kausalitäten blockiert wird.

Protestbewegungen, die in einer begriffslosen Empörung verharren, neigen zudem dazu, einem Empörungskonsumismus zu verfallen. Zu dessen Befriedigung benötigen sie immer neue Empörungsanlässe, die sich ohne tiefere Reflexion konsumieren lassen. Da sich ein Empörungskonsumismus gedanklich nicht stabilisieren lässt, tendiert er letztlich dazu, in Empörungserschöpfung und Apathie zu versanden. Begriffslose Protest- und Empörungsbewegungen können also dazu beitragen, dass politische Veränderungsenergien absorbiert und neutralisiert werden. Weil sie zumeist politisch folgenlos bleiben, stellen bloße Protestbewegungen die von den Mächtigen bevorzugte Form für die gesellschaftliche Artikulation von Dissens dar.

Eine Entwurzelung von emanzipatorischen Traditionen blockiert also die Möglichkeit, emanzipatorischem Denken Stabilität und politische Wirksamkeit zu verleihen. Selbst in dem Fall, dass sich Protestbewegungen um eine begriffliche Erfassung gesellschaftlicher Realitäten bemühen, machen die Absonderung von emanzipatorischen Traditionen und der Verlust des kollektiven Gedächtnisses sie dafür anfällig, ihrem Denken unbewusst bereits die begrifflichen Bausteine zugrunde zu legen, auf denen gerade jenes Ideologiegebäude beruht, zu dem sie sich eigentlich in Opposition sehen. Dieser Grund eines Scheiterns ist sehr viel schwieriger auszumachen, weil er sich auf die unbewusst verwendeten Fundamente gedanklicher Verstehensbemühungen selbst bezieht.

Wenn nämlich Protestbewegungen in ihrem Denken unbewusst bereits antiemanzipatorische Basisbegriffe zugrunde legen, muss dies zwangsläufig dazu führen, dass sie unfähig werden, ein angemessenes gedankliches Bild gesellschaftlicher Realitäten und Kausalitäten zu gewinnen. Sie können sich nicht gedanklich stabilisieren, bleiben flüchtig und werden anfällig für Spaltungen oder für eine Fixierung auf Ablenkziele.

Dies lässt sich an zwei Beispielen politischer Grundbegriffe illustrieren, die beide heute zutiefst ideologisch durchtränkt sind und die in bloßen Protestbewegungen oft und in folgenschwerer Weise naiv verwendet werden, nämlich »Freiheit« und »Demokratie«.

Der Freiheitsbegriff, wie er im politischen Alltag nahezu durchgängig zugrunde gelegt wird, ist der des kapitalistischen Liberalismus (siehe Kapitel 6). Dieser im 18. und 19. Jahrhundert entstandene, entpolitisierte Freiheitsbegriff bezieht sich keinesfalls auf eine Freiheit unter der Voraussetzung einer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, an der man teilhat und von der man Schutz erfährt. Er bezieht sich nicht auf eine solidarische Selbstbestimmung über die eigenen Angelegenheiten oder auf eine Freiheit von sozialer Not. Vielmehr bezieht er sich, geradezu im Gegenteil, auf die Rechtsgarantien, welche die staatlichen Institutionen der Freiheit des privaten Genusses des Eigentums gewähren, also auf die Vertragsbeziehungen zwischen Kapitalbesitzendem und Nichtbesitzendem, die als freie und gleiche Rechtspersonen die Ware ›Arbeitskraft‹ kaufen beziehungsweise verkaufen können. In dieser besitzindividualistischen und von gesellschaftlichen Beziehungen abgelösten Konzeption von Freiheit wird das Individuum nicht als ursprüngliches Mitglied einer größeren gesellschaftlichen Ganzheit angesehen, sondern als Eigentümer seiner selbst, der ungestört dem privaten Genuss nachgehen kann. Mit dem Siegeszug der neoliberalen Ideologie wurde dieser Freiheitsbegriff in extremisierter Form tief im öffentlichen Bewusstsein verankert. Dass sich auf seiner Grundlage keine emanzipatorischen Ziele verfolgen lassen, sollte sich mit einem Blick auf seinen ideologischen Gehalt leicht erkennen lassen.

Gleiches gilt für die Verwendung des Begriffs »Demokratie« im politischen Alltag. Dieser Begriff wird in kapitalistischen Demokratien durchgängig als eine Form der Elitenherrschaft oder der Eliten-Wahloligarchie verstanden (siehe Kapitel 5.2). Dieser Konzeption stellen bloße Protestbewegungen oftmals in naiver Weise Formen einer ›direkten Demokratie‹ als eigentliche Form der Demokratie gegenüber. Damit wird die in emanzipatorischen Traditionen gewonnene Konzeption von Demokratie (siehe Kapitel 3.5), die nichts anderes bedeutet als eine »rechtliche Verpflichtung der politischen Machteliten auf den Willen der Beherrschten« und die somit wesentlich auf eine Demokratisierung der Wirtschaft und der Medien zielt, auf einen Nebenaspekt, nämlich den Aspekt direkter Wahlen, reduziert. Es ist jedoch ein gravierendes Missverständnis, zu meinen, dass Wahlen den Kern der Leitidee von Demokratie ausmachten. Wahlen spielen bei dieser zivilisatorischen Leitidee nur eine vergleichsweise nebensächliche Rolle (siehe Kapitel 3.3). Das lässt sich bereits daran erkennen, dass formal freie Wahlen in dem Maße politisch folgenlos bleiben müssen, wie die Prozesse der Meinungsbildung selbst nicht psychologisch frei sind (siehe Kapitel 5.5). Sie können nur dann psychologisch frei sein, wenn die Massenmedien ihre normative Funktion in einer Demokratie erfüllen, also in angemessener und unverzerrter Weise über alle gesellschaftlich relevanten Fragen unterrichten und zudem allen gesellschaftlichen Gruppen ein Sprachrohr bieten, mit dem sich diese gleichberechtigt in den öffentlichen Diskussionsraum einbringen können.

Diese normative Funktion wird jedoch in kapitalistischen Demokratien in so durchgängiger und massiver Weise verletzt, dass von einem faktischen Verlust dieser Norm gesprochen werden kann. Da gegenwärtig alle großen Medien fest in politische und ökonomische Machtbeziehungen eingebunden sind und folglich der öffentliche Debattenraum durch Machtgruppierungen dominiert und massiv eingeschränkt wird, kann es schon aus diesen Gründen keine psychologisch freie Meinungsbildung geben. Formal freie Wahlen sind in diesem Fall politisch irrelevant, weil bereits die psychologischen Prozesse der Meinungsbildung von den Machtausübenden kontrolliert werden. Damit sind diejenigen, die eigentlich durch die Medien kontrolliert werden sollen, letztlich die Kontrollierenden.

Ein weiteres, ebenso gravierendes Missverständnis der ursprünglichen Konzeption einer auf Volkssouveränität basierenden Demokratie kommt hinzu: In dieser Konzeption hat das auf die Zeit des Absolutismus zurückgehende Widerstandsrecht keinen Platz mehr, weil der demokratische Souverän (und er allein) berechtigt ist, jederzeit demokratisch gesetztes Recht zu ändern oder sich eine neue Verfassung zu geben (siehe Kapitel 3.5). Demokratisch gesetztes Recht als allein legitimes Recht ist kraft der Souveränität des Gesetzgebers offen für Änderungen und kann jederzeit an gesellschaftliche Entwicklungen angepasst werden. Das gesetzgebende Volk hat ein Recht auf Irrtum, es ist ein lernender Souverän, der sich durch Änderungsgesetzgebung korrigieren kann. Es ist also ein gravierendes Missverständnis von Demokratie, wenn sich basisdemokratische Aktivitäten als Ausübung eines Widerstandsrechts verstehen. Sie geben sich damit, so die Demokratie- und Verfassungstheoretikerin Ingeborg Maus, »freiwillig in jenen selbstreferentiellen Zusammenhang eines totalisierten Verfassungsverständnisses, das der Interpretationsherrschaft der Herrschenden zuarbeitet«.38

Das Problem der ideologischen Kontamination von politischen Begriffen, mit denen wir uns ein angemessenes Bild gesellschaftlicher Realitäten und Kausalitäten zu machen suchen, tritt noch deutlicher hervor, wenn es um aktuelle für die herrschenden Machtverhältnisse relevante Vorgänge geht. Je näher wir einer Tagesaktualität sind, desto fester wird der gesamte begriffliche Apparat von den Mächtigen geformt. Gewaltige Apparate der Narrativkontrolle und der Festlegung von ›Fakten‹ sind entstanden und bestimmen die begriffliche Darstellung gesellschaftlicher Realitäten in den privaten und öffentlich-rechtlichen Massenmedien (siehe Kapitel 5.7).

Die gezielten Angriffe auf das menschliche Bewusstsein: Wie lässt sich wieder ein Außenstandpunkt gewinnen?

Der »soziale Käfig« (Michael Mann) ideologischer Macht ist mittlerweile dermaßen engmaschig geworden, dass nur durch größte kollektive Anstrengungen Möglichkeiten gefunden werden können, ihm zu entkommen. Schon bei der Formulierung gesellschaftlicher Fragen und Probleme ist die gesamte Begrifflichkeit des Denkens in hohem Maße ideologisch kontaminiert. Zudem ist das gesamte geistige Feld gesellschaftlicher Verstehensbemühungen mit Ablenkthemen vermint. Gibt es unter den Gegebenheiten eines solchen ideologischen Käfigs überhaupt noch Möglichkeiten, Außenstandpunkte wieder denkbar zu machen, von denen aus sich eine Souveränität des Denkens und des Handelns wiedergewinnen ließe?

Für einen ideologisch unbelasteten, sich also außerhalb des gedanklichen Käfigs befindlichen Betrachter wären natürlich viele Möglichkeiten denkbar, wie sich gedankliche Perspektiven finden lassen, die ein angemessenes Verstehen gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungsdynamiken erlauben. Das war seit jeher das Anliegen der emanzipatorischen Tradition. Dazu gibt es, auch in unserer Gegenwart, eine reiche Literatur. Dass der große Ertrag dieser Tradition für emanzipatorische Veränderungsbemühungen so schwer fruchtbar zu machen ist, liegt wesentlich auch daran, dass mit dem schon genannten hohen Abstraktionsgrad der gegenwärtigen faktischen Organisationsformen von Macht zwangsläufig auch der Abstraktionsgrad der zu ihrer Erklärung benötigten gesellschaftstheoretischen Analysen gewachsen ist. Das macht ihre Vermittelbarkeit in der Breite der Gesellschaft immer schwieriger.

Aus diesem Grund soll in Teil II dieses Buches ein anderer Weg zur Gewinnung eines geeigneten Außenstandpunktes beschritten werden. Dieser kann ohne größeres theoretisches Gepäck beschritten werden und bleibt nahe an unseren gesellschaftlichen Alltagsintuitionen. Zugleich verspricht er, Einsichten in elementare Funktionsprinzipien von Macht und Unterdrückung bereitzustellen, die sich für emanzipatorisches Handeln fruchtbar machen lassen. Dieser Weg folgt einer historisch-anthropologischen Orientierung. Er nimmt seinen Ausgangspunkt bei den zivilisationsgeschichtlichen Anfängen der Entstehung von Macht- und Besitzeliten sowie bei der Organisation von Macht in frühen Gesellschaften. Das hat den Vorteil, dass sich in frühesten Phasen der Zivilisationsentwicklung elementare Funktionsprinzipien der Entstehung parasitärer Macht- und Besitzeliten und die dynamischen Beziehungen von Macht und Gegenmacht39 sehr viel leichter transparent machen lassen als in modernen Gesellschaften.

Die systematische Ausbeutung der Machtunterworfenen zeigt sich in frühesten Stammesfürstentümern in anderer Form als in archaischen Königtümern und wiederum in gänzlich anderen Formen in modernen kapitalistischen Staaten. Die Funktionsprinzipien der Ausbeutung der Vielen durch die Wenigen zeigen jedoch in struktureller Hinsicht stets Gemeinsamkeiten auf. Sie sind in der emanzipatorischen Tradition seit langem in ihren Grundzügen und in hohem Auflösungsgrade analysiert worden. Auch die Entstehung und zunehmende Verfeinerung ideologischer Macht lässt sich am leichtesten in frühen Gesellschaften studieren. Ihr kam mit der Entstehung von sakralen Königtümern und mit der Organisationform des Staates eine immer größere Bedeutung als Machttechnik zu; neben ökonomischer Macht und der rechtlichen Codierung von Macht stellt ideologische Macht heute die raffinierteste und wirkmächtigste Form der Macht dar.

Indem wir zu den Anfängen der Zivilisationsentwicklung und der Geschichte politischer Ideen zurückgehen, können wir gleichsam in idealisierter Form die historisch einfachsten Fälle der Gesellschaftsorganisation untersuchen. Die Hoffnung dabei ist, einige grundsätzliche Einsichten zu gewinnen, die sich auch für ein Verständnis gegenwärtiger Organisationsformen der Macht, wie sie exemplarisch in Teil III dieses Buches behandelt werden, fruchtbar machen lassen. An den Anfängen der Zivilisationsgeschichte ist die Komplexität der jeweiligen Gesellschaften naturgemäß um viele Größenordnungen geringer ausgeprägt als in späteren Gesellschaften mit ihren ökonomischen, technologischen und bürokratischen Eigendynamiken. Hier besteht mehr Hoffnung, grundlegende Bedingungen der Entstehung parasitärer Eliten und der Entwicklung geeigneter gesellschaftlicher Schutzinstrumente transparent machen zu können.

Heute haben die Funktionsprinzipien der Ausbeutung eine hochgradig abstrakte Form angenommen, die sich einem Verständnis in intuitiven Denkkategorien entzieht. Große kollektive gedankliche Anstrengungen sind daher nötig, um die Funktionsweise der Ausübung von Macht in gegenwärtigen Gesellschaften für emanzipatorische Anliegen besser verstehbar zu machen und geeignete gesellschaftliche Schutzinstrumente zur Einhegung von illegitimer Macht zu entwickeln.

Eine historisch-anthropologische Zugangsweise stellt, da sie ihren Ausgangspunkt auf ideologisch weniger belastetem Gelände nimmt, gleichsam Außenstandpunkte bereit. Dadurch eröffnen sich uns Möglichkeiten, uns Schritt für Schritt aus dem »hermetisch abgeriegelten Gewölbe« (wie Sheldon Wolin dies ausdrückte; siehe Kapitel 7.8) indoktrinierter Denkweisen zu befreien, um auf diese Weise ein Stück Urteilssouveränität zurückzugewinnen und für ein politisches Handeln fruchtbar zu machen.

Das psychologische Problem einer Verengung und Gebundenheit des Denkens bei der Lösung eines Problems und die Notwendigkeit, sich für eine angemessene Lösung durch einen Außenstandpunkt von unangemessenen gedanklichen Beschränkungen zu befreien, sind bereits aus psychologischen Alltagsbeobachtungen vertraut. Worum es geht, lässt sich durch ein einfaches Beispiel leicht vor Augen führen. Bei der als »Neun-Punkte-Problem« bezeichneten Aufgabe, die bereits vor über hundert Jahren in der sogenannten Gestaltpsychologie intensiv behandelt wurde, werden – wie in der Grafik dargestellt – neun in Form eines Quadrates angeordnete Punkte vorgegeben. Die zu lösende Aufgabe besteht darin, diese neun Punkte durch vier gerade Linien zu verbinden, ohne dabei den Stift abzusetzen.

Der gedankliche Käfig, der hierbei das Auffinden einer Lösung blockiert, besteht in der visuellen Anordnungsform eines Quadrates. Die neun Punkte bilden in der Wahrnehmung das eigenständige visuelle Wahrnehmungsobjekt eines Quadrates, also eines Objektes mit hinzugedachten Kanten, die ein Innen dieses Wahrnehmungsobjektes von einem Außen abgrenzen. Damit entsteht für die Problemlösung unbewusst eine gedankliche Beschränkung des Bereichs, innerhalb dessen man eine Lösung sucht, nämlich innerhalb des mental konstruierten Quadrats. Man neigt also dazu, bei der Suche nach einer Lösung stets innerhalb des Quadrates bleiben zu wollen, obwohl in der Aufgabenstellung an keiner Stelle von einer solchen Beschränkung die Rede ist. Solange man aber eine Lösung nur innerhalb der Konturen eines Quadrates sucht, muss die Suche vergeblich bleiben. Eine Lösung lässt sich nur finden, wenn man sich gedanklich von der wahrnehmungsmäßig ergänzten Figur des Quadrates löst und den Außenraum als Lösungsraum mit einbezieht. Die Grafik auf der nächsten Seite zeigt, wie einfach diese Lösung ist, wenn man sich von unbewussten Denkbeschränkungen befreit. Und sie zeigt zugleich, wie groß – selbst in einem so einfachen und gedanklich transparenten Beispiel – die psychologische Kraft von unbewussten Denkrahmen sein kann. Dieses Beispiel zeigt zudem, dass es für eine Denkeinschränkung keines äußeren Zwanges darf. Die Gestalt der Präsentation eines Problems kann bereits so beschaffen sein, dass sie psychologisch zwingend zu internen Denkbeschränkungen Anlass gibt.

Sehr viel wirkmächtiger als hier im Bereich der visuellen Wahrnehmung können die Beschränkungen des Denkens und Fühlens sein, die durch Indoktrination erreichbar sind. In gegenwärtigen Gesellschaften bilden kapitalistische Lebensformen, kapitalistische Ideologie und reale Machtverhältnisse ein geschlossenes Ganzes. Sie bilden ein perfektes System, zu dem ein gedankliches Außen, eine Außenperspektive, aus der heraus man den zutiefst zerstörerischen Charakter dieses Machtsystems erkennen könnte, kaum noch vorstellbar ist. Eine grundlegende Opposition wird damit im Wortsinne undenkbar. Und damit auch die kreative Entwicklung geeigneter gesellschaftlicher Schutzinstrumente, die uns vor Entwicklungen schützen, durch die unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstört zu werden drohen.

Worum geht es in diesem Buch?

Die gesellschaftlich zerstörerischen Entwicklungen, um die es hier gehen wird, haben ihre Ursachen in einem Phänomen, für das alle Gesellschaften anfällig sind, nämlich der Entstehung parasitärer Macht- und Besitzeliten. Da es sich in Gesellschaften aller Zeiten und aller Kulturen findet, müssen seine Wurzeln in der natürlichen Beschaffenheit des Menschen selbst liegen. In der Zivilisationsgeschichte wurden immer wieder Wege gefunden, die durch die Entstehung von Macht- und Besitzeliten verursachten Probleme zu entschärfen oder sogar zu bewältigen. Somit müssen auch die Mittel für eine solche Befähigung in der natürlichen Beschaffenheit des Menschen liegen.

Das Buch gliedert sich in natürlicher Weise in drei Teile.

Teil I beschäftigt sich mit der für die Organisation einer Gesellschaft grundlegenden Dimension von Macht und ihrer Funktionslogik. Er zeigt die tieferen Wurzeln des psychologischen Problems auf, dass Macht wesenhaft eine Neigung innewohnt, sich zu stabilisieren und zu erweitern. Zudem wirft dieser Teil einen Blick auf die psychologischen Instrumente, mit denen der menschliche Geist von Natur aus dafür ausgestattet ist, dieses Problem bei der sozialen Organisation von Gemeinschaften zu bewältigen. Teil I stellt also das psychologische Fundament für die Untersuchungen der übrigen Kapitel des Buches bereit.

Teil II formuliert aus gesellschaftlicher Perspektive das sich aus dem psychologischen Grundproblem der Macht ergebende Problem einer Gefährdung oder Zerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch die Entstehung parasitärer Eliten. Schon in der frühesten Zivilisationsgeschichte war man sich dieses Problems bewusst. Die mit ihm zusammenhängenden gesellschaftlichen Dynamiken lassen sich am Beispiel frühester Gesellschaften am leichtesten herauspräparieren. Dieser Teil betrachtet daher aus einer historisch-anthropologischen Perspektive die Mechanismen der Entstehung parasitärer Eliten in frühen Gesellschaften sowie die damit verbundenen kollektiven Bewältigungsbemühungen zur Einhegung gesellschaftlich destruktiver Machtdynamiken. Solche Bemühungen zeigen das unerschöpfliche kreative Potential des Menschen, geeignete gesellschaftliche Schutzinstrumente gegen Exzesse von Macht zu entwickeln.

Diese Jahrtausende langen Bewältigungsbemühungen fanden schließlich im Athen der Antike ihren Höhepunkt in der Erfindung der Leitidee der egalitären Demokratie als einer robusten Elitenkontrolle durch die gesellschaftliche Basis. Mit der Entstehung des systematischen politischen Denkens in der Antike und seiner Weiterentwicklung, vor allem in der Aufklärung, entstanden zugleich universalisierbare gesellschaftliche Normen für den Schutz von Gesellschaften vor selbstzerstörerischen Dynamiken und für die Organisation einer ›guten‹ Gesellschaft. Diese in einem langen zivilisatorischen Prozess gewonnenen Einsichten und gesellschaftlichen Normen bilden wiederum den Hintergrund und das normative Referenzsystem für die im letzten Teil behandelten Themen.

Teil III befasst sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen, die mit der Entstehung kapitalistischer Demokratien einsetzten und bis in die Gegenwart andauern. Zivilisationsgeschichtlich wird dabei deutlich, dass es sich vor dem Hintergrund der zivilisatorischen Leitidee der Demokratie bei der gesellschaftlichen Organisation von Macht in kapitalistischen Demokratien um den zivilisatorischen Regress einer schrittweisen Entgrenzung und Entzivilisierung von Macht handelt, also den Abbau und den Verlust mühsam in der Zivilisationsgeschichte gewonnener kollektiver Werte und Normen.

Eine so weitgehende Entzivilisierung von Macht mit all ihren zerstörerischen Folgen für die Gesellschaft und für die Lebensgrundlagen des Menschen ist kaum denkbar ohne tiefgreifende gezielte Angriffe auf das menschliche Bewusstsein und auf das kollektive Gedächtnis, sodass dieses Thema den Leitfaden von Teil III bildet.

Dieses Buches handelt von der Organisation von Macht und Herrschaft innerhalb