Heideopfer - Kathrin Hanke - E-Book

Heideopfer E-Book

Kathrin Hanke

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Bei Abrissarbeiten auf einem Grundstück in Lüneburg finden Arbeiter ein menschliches Skelett. Die forensischen Untersuchungen ergeben, dass es sich um die Leiche eines Mannes handelt, der bereits Anfang der 1990er Jahre keines natürlichen Todes gestorben ist - damit hat das Lüneburger Ermittlerteam um Katharina von Hagemann und Benjamin Rehder seinen ersten Cold Case auf dem Tisch. Wer ist der Tote? Die Ermittlungen gleichen einem Puzzle, das nur zäh und langsam ein verstörendes und ebenso verworrenes Bild ergibt.

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Kathrin Hanke

Heideopfer

Der 8. Fall für Katharina von Hagemann

Zum Buch

Grabesstille Bei Abrissarbeiten im Lüneburger Stadtteil Wilschenbruch finden Bauarbeiter ein menschliches Skelett. Die forensischen Untersuchungen ergeben, dass es sich um die Leiche eines Mannes handelt, der keines natürlichen Todes gestorben und bei lebendigem Leib begraben worden ist. Das Todesdatum wird auf Anfang der 1990er Jahre datiert. Es dauert nicht lange, bis Katharina von Hagemann und Benjamin Rehder herausfinden, um wen es sich bei dem Toten handelt: Peter Kruse, der 1991 spurlos verschwunden ist. Damit haben die Ermittler unerwartet einen Cold Case auf dem Tisch. Die alten Akten werden durchgegangen, genauso wie die Zeugen von damals noch einmal befragt werden. Es stellt sich heraus, dass der Tote seine freie Zeit regelmäßig im Lichtheideheim Glüsingen, einem FKK Feriengelände, unweit von Lüneburg bei Amelinghausen, verbrachte. Musste er deswegen sterben? Die Ermittlungen gleichen einem Puzzle, das nur langsam ein Bild ergibt, aus dem die Kommissare schließen, dass der Fall damals verschleppt worden ist. Vielleicht mit Absicht?

Kathrin Hanke wurde in Hamburg geboren. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften in Lüneburg machte sie das Schreiben zu ihrem Beruf. Sie jobbte beim Radio, schrieb für Zeitungen, entschied sich schließlich für die Werbetexterei und arbeitete zudem als Ghostwriterin. Ihre Leidenschaft ist jedoch das Geschichtenerzählen, wobei sie gern Fiktion mit wahren Begebenheiten verbindet. Daher arbeitet sie seit 2014 als freie Autorin in ihrer Heimatstadt. Kathrin Hanke ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur, sowie bei den Mörderischen Schwestern.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Christian Horz / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6750-9

Widmung

Für B.

Zitat

»Gib deine Illusionen nicht auf. Hast du sie verloren, so magst du zwar noch dein Dasein fristen, aber leben im eigentlichen Sinne kannst du nicht mehr.«

(Mark Twain)

Ein paar wenige Worte vorweg

Wie auch die ersten sieben Bände der Heidekrimi-Reihe, so ist auch dieser Band mit Uhrzeiten und Daten versehen, damit Sie als Leser wie gewohnt den chronologischen Ablauf schnell nachvollziehen können. In den Vorgängertiteln wurde dabei auch stets auf tatsächliche Vorfälle in und um Lüneburg herum eingegangen. In Heideopfer ist dies anders, denn die Zeit, in der dieses Buch entstand und in der es vor allem spielt, stand ganz unter dem ersten Lockdown der Corona-Pandemie. Da ich nicht nur spannend, sondern auch leicht und unbeschwert unterhalten möchte, habe ich mich bewusst dazu entschlossen, Corona in Heideopfer keinen Raum zu geben. Ich hoffe auf Ihr Verständnis und wünsche Ihnen mörderisch gute Lesestunden bei bester Gesundheit,

Herzlichst,

Ihre

Kathrin Hanke

Gedicht

»Rasch tritt der Tod den Menschen an,

Es ist ihm keine Frist gegeben,

Es stürzt ihn mitten in der Bahn,

Es reißt ihn fort vom vollen Leben,

Bereitet oder nicht zu gehen

Er muss vor seinen Richter stehen.«

(aus »Wilhelm Tell«, Friedrich von Schiller)

Prolog

Dienstag, 18.06.1991

06:00 Uhr

Der Wecker klingelte wie jeden Tag um 6 Uhr. Er war bereits vor sieben Minuten wach geworden, nach einem kurzen Blick auf das Ziffernblatt hatte er jedoch seine Lider wieder gesenkt und war liegen geblieben, um noch ein wenig zu dämmern – er hatte eine kurze Nacht gehabt. Mit dem Klingeln schlug er jetzt wieder die Augen auf. Er war Seitenschläfer und blickte nun auf die geöffnete Schlafzimmertür. Seine Bettseite war seit jeher die der Tür zugewandte gewesen, ganz gleich, in welchem Bett er einschlief und aufwachte. Es war ein Tick von ihm. Vor Jahren, als er noch ruhelos gewesen war und sich in seiner Körperlichkeit ausprobiert hatte, hatte eines der Mädchen, die er zu diesem Zweck damals zuhauf vernascht hatte, zu ihm gesagt, dass dies etwas mit seinem Urinstinkt zu tun hätte. In der Vorzeit hätte der Mann sich auch immer nahe des Höhleneingangs hingelegt, damit er gleich zu Stelle wäre, wenn etwas seine Sippe bedrohte. Er hatte darüber gelacht. Sie hatte sich jedoch an ihn gekuschelt und gesagt, er wäre halt ein echter Kerl, und die Beschützerrolle läge ihm im Blut. Ihm hatte das gefallen, und dann hatte er Sachen mit ihr gemacht, die nicht unbedingt üblich waren und die meisten Frauen in der Regel nicht zuließen, wovon jedoch nicht nur er, sondern auch andere Männer träumten. Das wusste er von seinen Stammtischfreunden, deren Zungen zur späten Stunde durch die vielen Kurzen locker saßen. Der Stammtisch im Brauhaus Nolte in der Dahlenburger Landstraße fand seit jeher jeden Montagabend statt. Gestern war Montag gewesen.

Er lauschte in sein Haus hinein. Warum war die Schlafzimmertür nicht geschlossen? Nachts standen alle Zimmertüren im Haus offen, die vom Schlafzimmer allerdings nie. Und er war sich sicher, sie auch gestern Abend zugezogen zu haben. Er machte das schon automatisch. Ohne darüber nachzudenken. Eva hatte das so gewollt, und er hatte es beibehalten, nachdem sie vor einigen Wochen einfach weg gewesen war. Er war gestern Abend auch nicht betrunken gewesen, nur ein bisschen angesäuselt, und hatte noch sehr wohl gewusst, was er tat.

Er schlug die Decke zurück, setzte sich auf die Bettkante und schlüpfte in seine bereitgestellten Pantoffeln. Sie standen nicht so akkurat, wie er es mochte. Eva hatte das gewusst, und er hatte sich in dieser Hinsicht auf sie verlassen können. Leise tappte er die zwei Schritte zur Schlafzimmertür. Er spähte angespannt aus dem Türrahmen hinaus in den schmalen langen Flur, in den das Licht, das durch die Fenster der angrenzenden Zimmer einfiel, drang. Da war nichts außer aufgewirbeltem Staub, der in einem Lichtstrahl seine Spiralen tanzte. Dennoch blieb er achtsam. Das Gerede über ihn hatte in letzter Zeit zugenommen, und er hielt es für besser, auf der Hut zu sein.

Mit angehaltenem Atem, damit er besser hören konnte, schlich er weiter. Rechter Hand lag sein Badezimmer, in das er ebenfalls seinen Kopf hineinstreckte und den quadratischen Raum mit den Augen abtastete. Auch hier fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Um sicher zu gehen, huschte er zur Badewanne hinüber und riss abrupt den Duschvorhang zur Seite. Nichts. Nach wie vor konnte er auch kein anderes Geräusch im Haus ausmachen. Er entspannte sich wieder und sog die Luft tief in seine Lungen ein. Trotzdem war er noch immer nicht gänzlich beruhigt, sodass er ungeachtet seiner aktuellen Erleichterung leise seinen Weg durchs Haus fortsetzte und mit Argusaugen die verbliebenen Zimmer begutachtete. Auch im Souterrain. Selbst wenn hier niemand war, waren vielleicht Gegenstände verrückt? Er konnte auch das nicht erkennen. Alles war wie gewöhnlich. Dessen ungeachtet hatte er das Gefühl, die Atmosphäre im Haus sei anders. Irgendwie beklemmend.

Ihn fröstelte. Er war nackt. Wie immer.

Eva konnte nicht da gewesen sein, um noch ein paar ihrer Sachen zu holen. Sie hatte keinen Schlüssel mehr. Den hatte sie ihm auf sein Kopfkissen gelegt, bevor sie sich davongemacht hatte. Er zog eine abschätzige Grimasse und begann sein tägliches Ritual, aber das unwohle Empfinden blieb.

Er ging ins Wohnzimmer, stellte das Radio an, dann in die Küche und brühte sich einen Kaffee auf. Er ließ das heiße Gebräu auf dem Küchentresen stehen, damit es abkühlte, und ging zurück ins Schlafzimmer zum Schrank, aus dem er sich ein großes Handtuch holte. Daraufhin tappte er ins Bad, um zu duschen. Wieder fröstelte ihn und er meinte, einen leichten Luftzug an seinen Waden zu spüren, deren Härchen sich sofort aufstellten. Dabei hatte er doch nirgendwo ein Fenster geöffnet! Er hätte es bei seinem Gang durchs Haus bemerkt und vor allem hatte er gestern vor dem Zubettgehen alle geschlossen, da es geregnet hatte. Das wusste er noch ganz genau, zumal ihn das Tröpfeln beim Einschlafen gestört hätte – da war er empfindlich.

Leise Musik drang aus dem Radio im Wohnzimmer ins Bad. Er stieg in die Badewanne und zog den Duschvorhang, der von seiner Überprüfung eben noch beiseitegeschoben war, zu. Gerade, als er die Dusche anstellen wollte, hörte die Musik auf und der Radiomoderator berichtete, wie in der letzten Zeit so häufig, von den Geschehnissen in Gorleben. Heute war der Tag, an dem trotz des Widerstands des niedersächsischen Umweltministeriums aufgrund einer Weisung des Bundesumweltministers Klaus Töpfer Atommüllcontainer aus dem belgischen Kernforschungszentrum Mol im Zwischenlager Gorleben endgültig eingelagert werden sollten. Ein paar Tage zuvor waren die drei Transporter kurzfristig in der Polizeikaserne Lüchow untergestellt worden. Er stoppte mitten in seiner Bewegung und lauschte dem Bericht, doch viel mehr sagte der Sprecher nicht mehr.

Noch bis vor ein paar Tagen hatte er vorgehabt, nach Gorleben zu reisen und die Zufahrten zum Zwischenlager zu blockieren, wie rund 200 Treckerfahrer und andere Menschen es jetzt in diesem Augenblick taten. Er hatte mit dem Schuldirektor darüber gesprochen und auch seine Klasse dafür mobilisieren wollen, aber der Direktor hatte es ihm verboten und mit einem Verweis gedroht. Aufgrund der anderen schon bestehenden Anschuldigungen gegen ihn, hatte er zähneknirschend darauf verzichtet, zum Atommülllager zu fahren. Es hatte ihm schwer zu schaffen gemacht, denn was dieser Töpfer da zuließ, war Raubbau an der Natur und den Menschen.

Der Radiomoderator berichtete nur noch kurz sachlich, dass die Polizei bereits anfing, die Blockaden vor den Gorlebener Zufahrten zu räumen, dann kam wieder Musik. Er runzelte die Stirn. Er konnte sich vorstellen, wie brutal bei der Räumung vorgegangen wurde. Eine Schande war das. Er stellte das Wasser an und wartete einen Moment, bevor er sich unter den Duschkopf stellte – in den ersten Sekunden kam nur kaltes Wasser heraus. Duschte er in der Natur, machte ihm das nichts, aber in seinem eigenen Badezimmer sollte es angenehm warm sein.

Durch den morgendlichen Gang durchs Haus war sein täglicher Zeitplan verrutscht. Er hasste es, wenn seine Routinen durch Unvorhergesehenes gestört wurden. Sein Leben war durchdacht. Für alles hatte er einen strukturierten Plan – kleine Pläne, die er in die Struktur seines großen einband, damit er vorausdenken konnte. Natürlich, auch er musste hin und wieder spontan handeln, doch dann sah er zu, dass er schnellstmöglich wieder zurückfand in seinen alltäglichen Ablauf. Ein bisschen so, wie wenn man mit dem Auto leicht ins Schleudern geriet und vorsichtig wieder die Spur einnahm. Nur auf diese Weise konnte er alles unter Kontrolle halten, und das war immens wichtig für ihn. Aus diesem Grund duschte er heute schneller als gewöhnlich. Damit würde er zumindest die Zeit wieder einholen, die er zuvor auf der Suche nach was auch immer im Haus gleich nach dem Aufstehen verplempert hatte. Seine Laune war auf jeden Fall bereits jetzt im Keller und das, obwohl er gestern so einen amüsanten Abend gehabt hatte. Er hatte gehofft, davon noch ein bisschen zehren zu können, schon wegen Eva. Um sie zu vergessen. Und auch wegen der anderen, die ihn verleumdeten – wenn die wüssten …

Nachdem er außerhalb des Wasserstrahls seinen Körper eingeseift hatte, waren seine bis zur Schulter reichenden Kopfhaare an der Reihe. Er nutzte kein gesondertes Shampoo dafür, sondern den Schaum des Duschgels, der sich noch auf seinem Körper befand. Alles andere wäre für ihn Verschwendung. Gerade als er sich komplett abduschen wollte, hörte er ein Klirren. Er hielt inne in seinen Bewegungen. Was war das denn nun wieder? War es aus dem Radio gekommen? Oder wurde er jetzt verrückt? Er drehte rasch das Wasser aus und horchte angestrengt. Da war nichts. Nichts mehr, denn er war sich sicher, sich nicht getäuscht zu haben.

Nass und nackt, wie er war, stieg er aus der Wanne und wanderte ein weiteres Mal durch das Haus. Hier war nach wie vor alles unverändert. In der Küche nahm er einen Schluck aus seinem inzwischen abgekühlten Kaffee und blickte dabei gewohnheitsmäßig aus dem Fenster. Und dann sah er einen Schatten blitzartig hinter seinem am Ende des Gartens stehenden Schuppen verschwinden. Fast hätte er im ersten Moment vor Schreck seine Tasse fallen lassen. Aber er hatte sich schnell wieder im Griff und fluchte nur leise vor sich hin. Es war der Nachbarskater gewesen, den er erspäht hatte. Ein über die Maßen fettes gelbgetigertes Tier, das er schon längst mit seiner Schrotflinte abgeschossen hätte, wenn es nicht die vielen Mäuse in der Gegend und damit auch auf seinem Grundstück wegfangen würde. Plötzlich kam ihm ein Gedanke in den Sinn, und so schnell, wie er sich über den Kater geärgert hatte, so schnell grinste er jetzt beruhigt: Das war es also gewesen! Der olle Kater hatte ihm den Morgen versaut! Sicherlich war das Vieh in aller Frühe auf Mäusejagd um sein Haus herumgeschlichen und hatte dieses beunruhigende Gefühl in ihm wachgerufen. Zwar erklärte das die offene Schlafzimmertür nicht, aber vielleicht war er gestern doch mehr als nur ein bisschen angeschickert gewesen und hatte sie nicht richtig geschlossen, sodass sie von allein wieder aufgegangen war. Ja, so wird es gewesen sein. Er nahm noch einen Schluck Kaffee und dann sah er zu, in sein Badezimmer zu kommen. Auf dem Weg dorthin hinterließ er eine kleine Pfütze auf dem Linoleumboden in der Küche. Sonst nichts.

Gedicht

»Ja, tobe nur in deinen Ketten, Tier:

Aus diesem Kerker wirst du niemals frei,

Denn dieser Knochenbau umschließt dein Leben

Wie eine panzerartige Bastei.

Und nimmer sprengt das Klopfen deines Herzens

Den Gürtelring, der deine Brust umschließt,

Und kein Erkenntnisdrang sprengt dir den Schädel,

Dass drein ein Strahl vom Himmelslichte fließt.

Der Tod allein, der Tod wird dir die Pforte

Zur Ewigkeit und Überwelt erschließen!

Doch traue nicht zu sehr dem stolzen Worte, –

Es muss dein Ich dabei im All zerfließen.«

(Ludwig Scharf)

Kapitel 1

Montag, 09.03.2020 – morgens

8:59 Uhr

Katharina von Hagemann blickte angespannt in die Augen ihres Vorgesetzten Hauptkommissar Benjamin Rehder. Er lächelte ihr aufmunternd zu, doch sah er dabei alles andere als locker aus. Er hatte seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben, während Katharina nervös mit dem Zeigefinger an der empfindlichen Haut ihres Daumens knibbelte. Wie gern hätte sie sich in diesem Moment eine Zigarette angesteckt. Vielleicht würde dann der dicke Kloß verschwinden, der sich seit etwa 20 Minuten in ihrem Hals immer breiter machte.

»Er ist im Anmarsch«, wisperte es von der Bürotür her. Es kam von Vivien Rimkus, die an der halb geöffneten Tür stand und den Kopf hinaus auf den Gang gesteckt hatte. Jetzt zog sie ihn zurück und drückte die Tür sachte zu. Die junge Kommissarin, mit der Katharina bis heute nicht richtig warm geworden war, hatte Tobi nach seinem schweren Unfall vor etwa drei Jahren in ihrem Dezernat ersetzt. Erst gestern Abend, kurz vor Feierabend, hatte sie sichtlich widerstrebend ihren Schreibtisch, der zuvor Tobis gewesen war, freigeräumt und war an einen eigens für sie in das Gemeinschaftsbüro gestellten neuen Schreibtisch umgezogen. Katharina ihrerseits hatte ihren Tisch mit der Stirnseite an Tobis alten herangeschoben, sodass sie ihm direkt gegenübersitzen würde. Zudem hatten sie das Büro mit einer Girlande, auf der »Herzlich Willkommen« stand, geschmückt. Heute Morgen hatte sie dann noch schnell vom Godehus, das in der Nähe des Bahnhofs Am Schützenplatz lag, jede Menge Franzbrötchen besorgt. Das Godehus befand sich zwar überhaupt nicht auf ihrem Weg zum Kommissariat, aber sie hatte den erheblichen Schlenker in den Bioladen gern in Kauf genommen. Franzbrötchen waren ihr und Tobis Lieblingsgebäck, und sie hoffte, er würde sich über die Geste freuen, denn er war es, der heute wieder seinen alten Platz im Kommissariat einnehmen würde, und sie wollte ihm einen schönen Wiedereinstieg bescheren.

Bis vor einer Woche hatte Katharina noch gebangt, ob ihr Kollege Tobias Schneider überhaupt je wieder irgendwann soweit auf dem Damm war, um eingegliedert werden zu können. Die Zeit des Wartens und Hoffens war ihr zäh vorgekommen. Als Ben sie dann letzte Woche informiert hatte, dass Tobi heute endlich wiederkommen würde, war plötzlich alles ganz schnell gegangen. Und spätestens seit diesem Morgen war die Zeit wie im Flug an Katharina vorbeigedüst.

Obwohl sie gestern spät im Bett gewesen war, hatte sie in der Nacht kaum schlafen können und sich eher hin und her gewälzt, bis sie dann um 5.45 Uhr aus dem Bett gekrochen war. Sie hatte ihre Joggingklamotten angezogen und war eine Runde gelaufen, um sich den Kopf durchpusten zu lassen. Es hatte nicht viel gebracht, sie war nach wie vor nervös wie ein Teenager vor seinem ersten Date gewesen. Wieder zu Hause war sie nicht wie sonst unter die Dusche gesprungen, sondern hatte ein ausgiebiges Bad genommen. Trotz der ätherischen Öle, die sie reichlich ins Wasser gegossen hatte, war die Entspannung nicht eingetreten. Irgendwann war Bene verschlafen im Bad erschienen. Er hatte nur einen kurzen Blick auf sie geworfen und war wieder verschwunden, um kurz darauf mit einem Pfefferminztee in der Hand wiederzukommen. Dankbar hatte sie ihn entgegengenommen. Bene wusste einfach, was ihr guttat. Sie waren inzwischen nach einigen Irrungen und Wirrungen knapp sieben Jahre zusammen und seit etwas über zwei Jahren lebten sie miteinander. Das allerdings auch nicht so wie normale Paare, sondern Tür an Tür oder besser Wohnung an Wohnung. Sie hatten lange nach einem Heim für sie beide gesucht, waren sich jedoch selbst bei den schönsten Wohnungen nicht einig gewesen, bis Katharina plötzlich gewusst hatte, woran dies lag. Die Erkenntnis war ihr an Tobis Krankenbett gekommen. Sie erinnerte sich noch gut an die Situation. Damals war Tobi gerade erst ein paar Wochen aus seinem Koma erwacht. Sie hatte ihm etwas aus der Zeitung vorgelesen, doch dann war er weggedämmert, und sie hatte ihren Gedanken nachgehangen. Sie hatte, wie so häufig in dieser Zeit, überlegt, wie schnell das Leben vorüber sein konnte. Von jetzt auf gleich. Und dass man jede einzelne Sekunde möglichst auskosten und so gestalten sollte, als wäre es die letzte. Später hatte sie Bene getroffen und ihm gesagt, dass sie nicht mit ihm zusammenziehen würde. Sie hatte ihm erklärt, sie wolle sich jeden Morgen beim Augenaufschlagen neu für ihn entscheiden, ohne, dass der Alltag in einer gemeinsamen Wohnung sie »auffräße«, ja, sie hatte von Auffressen gesprochen.

Bene hatte sie in seine Arme gezogen und nichts weiter dazu gesagt als »ist gut«. Sie war erleichtert gewesen und hatte sich gleichzeitig gewundert, dass er keine Grundsatzdiskussion über ihre Partnerschaft anfing. Im Gegenteil war er auf sie eingegangen und hatte nach kurzer Überlegung den Vorschlag gemacht, nach zwei freien Wohnungen in einem Haus zu suchen. Tatsächlich waren sie einigermaßen schnell fündig geworden, und ihre Beziehung war seitdem besser als je zuvor. Obwohl in beiden Wohnungen ein Schlafzimmer war, verbrachten sie die Nächte bis auf wenige Ausnahmen gemeinsam – in der Regel bei Katharina. Sowieso waren sie meist bei ihr in der Wohnung. Nur wenn Bene für sich allein Saxofon spielen wollte oder sie wegen eines schwierigen Falles Zeit für sich brauchte und mal wieder »in ihrem Kopf« ihre Arbeit mit nach Hause brachte, wie Bene es nannte, ging er zu sich hinüber. Und genauso fühlte sich das Zusammenleben für Katharina gut an: Ihr reichte es, die Möglichkeit zu haben, sich zurückziehen zu können, ganz nach dem Motto: nichts müssen, nur wollen. Es war ein bisschen wie mit dem Meer. Sie fand den Gedanken schön, hier in Lüneburg in der Nähe von Nord- und Ostsee zu leben, dennoch fuhr sie nur selten hin.

An der Tür klopfte es. Wieder sah Katharina zu Ben, der nur mit den Schultern zuckte. Sie wussten beide, dass es Tobi war, der da hinter der Tür stand. Früher wäre ihr Kollege einfach ohne Klopfen in ihr gemeinsames Büro hineingeschneit, aber in der Zwischenzeit war viel geschehen, vor allem für ihn …

Ben räusperte sich, straffte seine Schultern und dann sagte er: »Komm rein!«

Katharina wandte sich der Tür zu und beobachtete verkrampft, wie langsam – es kam ihr vor wie in Zeitlupe – die Türklinke heruntergedrückt wurde. Sie hatte sich ihre Begrüßungsworte in den letzten Tagen so schön zurechtgelegt, doch auf einmal kamen sie ihr hohl vor. Sie überlegte fieberhaft, was sie stattdessen zu Tobi sagen sollte, doch dann ging plötzlich alles ganz schnell. Bevor sie einen Entschluss gefasst hatte, stand Tobi in der geöffneten Tür und grinste schief in den Raum hinein. Er schien genauso verlegen und auch berührt wie sie und Ben. Der fing sich als Erster, trat auf Tobi zu, nahm ihn in den Arm, klopfte ihm auf die Schulter und meinte: »Hi, Kollege, du hast uns hier gefehlt!«

»Und ihr mir erst«, erwiderte Tobias Schneider langsam. Er hatte sich aus Bens Umarmung gelöst und trat jetzt auf die Kommissarin zu. Katharina musste die aufkommenden Tränen unterdrücken. Sie war sich nicht sicher, ob sie vor Rührung, Glück oder Traurigkeit in ihr hochstiegen. Wahrscheinlich war es alles zusammen. Obwohl sie diesen Moment so sehr herbeigesehnt und sich immer wieder vorgestellt hatte, überrollte er sie jetzt. Tobi war endlich wieder da! Hier im Kommissariat, das er heute zum ersten Mal nach seinem schlimmen Unfall wieder betrat. Nachdem er damals aus dem Krankenhaus entlassen worden war und die Reha hinter sich gebracht hatte, hatten Ben und sie ihn immer wieder gefragt, ob er nicht einfach mal so vorbeikommen wolle. Doch Tobi hatte sich geweigert. »Ich werde erst zum Arbeiten wiederkommen, Kaffeetrinken können wir woanders«, hatte er dazu dann stets gesagt, und irgendwann hatten sie es gelassen, ihn zu fragen, und seine Antwort akzeptiert.

Sie hatten ihn trotzdem regelmäßig getroffen. Nicht jedes Mal gemeinsam, sondern auch jeder für sich. Am Anfang war Jana, Tobis Freundin und Mutter seiner Tochter Mia, häufig dabei gewesen, doch gerade in letzter Zeit hatte diese die Treffen der Kollegen untereinander genutzt, um anderen Dingen nachzugehen. Natürlich lag das vor allem daran, dass es Tobi inzwischen deutlich besser ging und er wieder allein zurechtkam. Lange Zeit hatte das anders ausgesehen. Nach seinem Unfall war es noch nicht einmal klar gewesen, ob er überleben würde. Er war allein in seinem Wagen unterwegs gewesen und von einem anderen Auto angefahren worden, sodass sich seines überschlagen hatte. Sein Unfallgegner hatte Fahrerflucht begangen und Tobi einfach sich selbst überlassen. Erst Monate später hatten sie ihn und seine Begleiter durch einen Zufall stellen können, doch das half Tobi in jenem Moment herzlich wenig. Er hatte, direkt, nachdem er sich aus seinem zerquetschten Wagen befreien konnte, das Bewusstsein verloren und war für eine lange Zeit ins Koma gefallen. Und auch nachdem er wieder daraus erwacht war, stand nicht gleich fest, ob er vielleicht den Rest seines Lebens ein Pflegefall bleiben würde. Doch er hatte fleißig seine Therapien absolviert und sich tatsächlich soweit berappelt, dass er seine Motorik wieder im Griff hatte. Dennoch würde er nie wieder der Alte sein. Das wussten sie alle. Vor allem sein Sprachzentrum war durch die vom Unfall hervorgerufene Kopfverletzung in Mitleidenschaft gezogen worden, und noch immer suchte er häufig während eines Gesprächs nach den einfachsten Wörtern, sodass er trotz regelmäßiger logotherapeutischer Behandlung nur langsam sprach.

»Schön, dass du wieder da bist«, flüsterte sie mit rauer Stimme in Tobis Ohr. Er hatte sie eben in den Arm genommen, so wie zuvor Ben ihn.

»So schnell wirst du mich nicht los«, erwiderte Tobi, und nun kullerte doch eine einzelne Träne Katharinas Wange hinunter. Sie schob den Kommissar von sich, murmelte »Ein Glück«, und dann sagte sie laut: »So, bevor es ans Arbeiten geht, wird erst einmal zu deinem Wiedereinstand gebührend gefrühstückt. Wer möchte einen Kaffee?«

Sie wandte sich ab und steuerte auf den büroeigenen Kaffeevollautomaten zu, den sie bereits angestellt hatte, damit das Wasser schon einmal heiß werden konnte.

»Ich bin zum Teetrinker geworden«, sagte Tobi und setzte fast schon entschuldigend hinzu: »Das verträgt sich besser mit meinen Medikamenten.«

»Kein Thema«, sagte die Kommissarin, ohne sich umzudrehen, »ist sowieso gesünder. Allerdings haben wir nur Pfefferminztee hier, ist der okay?«

»Logo«, hörte sie es in ihrem Rücken und musste schmunzeln. Selbst wenn es nur dieses eine Wort war, aber da war er wieder, der alte Tobi, der so unkompliziert war. Wenn sie ihn in den letzten Monaten getroffen hatte, hatte eine Schwermut über ihm gelegen, die ihr manches Mal das Herz zerrissen hatte. Sie war sich sicher, die Arbeit hier mit ihnen im Kommissariat würde ihm guttun. Zwar würde er nur Innendienst machen können, aber er hatte dann wenigstens wieder eine Aufgabe und weniger Zeit zum Trübsal blasen.

»Ich hätte gern einen Cappuccino«, meldete sich nun Ben zu Wort. »Und dann lasst uns doch am besten direkt an den Besprechungstisch gehen.«

»Ich nehme einen Latte Macchiato, aber den kann ich mir selbst machen«, erklang jetzt die Stimme von Vivien, die Tobi bei seinem Eintreten eben nur grüßend zugenickt hatte. Der Ton ihrer Stimme erschien Katharina ungewohnt unsicher. Normalerweise war die junge Kommissarin recht forsch, manchmal zu forsch für Katharinas Geschmack, doch in diesem Moment konnte sie Vivien ihre Zurückhaltung nicht verdenken. Auch für die Kollegin war die Situation sicher nicht einfach. Immerhin war sie trotz der drei Jahre, die inzwischen ins Land gezogen waren, immer noch die Neue in ihrem Team und hatte nie die Lücke füllen können, die Tobi durch seinen Ausfall hinterlassen hatte – absolut nicht, was ihre Arbeit betraf, sondern auf der persönlichen Ebene. Ben sah in Vivien Rimkus einfach nur eine Mitarbeiterin, die ihren Job gut machte und das war’s. Katharina hingegen traute Vivien nicht, was in einem Team, zumal in ihrem Beruf, eigentlich unabdingbar war. Das wusste sie selbst, doch sie konnte nicht dagegen an, obwohl sie sich reichlich Mühe gab und Vivien ihr sogar bereits einige Male in brenzligen Situationen geholfen hatte. Es lag schlicht und ergreifend an ihrem gemeinsamen Start, der recht holperig verlaufen war. Darüber hinaus war Vivien ihnen gegenüber ziemlich verschlossen. Auch Katharina schüttete nicht gleich jedem ihr Herz aus, aber darum ging es ihr auch nicht. Vivien hielt etwas vor ihren Kollegen zurück, was diese wissen sollten, das sagte ihr ihr Gefühl, und dies trog sie selten.

Vivien trat jetzt neben sie, während Ben und Tobi zum Besprechungstisch in Bens Büro gingen, das lediglich durch eine dicke Glaswand vom Gemeinschaftsbüro getrennt wurde. Gleichzeitig war es die Glaswand, an die sie schrieben, wenn sie einen Fall aufzuklären hatten. Heute stand jedoch auch hier, wie auf der Girlande im Gemeinschaftsbüro, in großen Buchstaben »Herzlich Willkommen, Tobi!«.

»Ich kann dir deinen Latte machen, kannst du dafür die Franzbrötchen auf einen Teller legen? Sie sind in meiner Tasche«, sagte Katharina zu Vivien.

»Okay«, antwortete Vivien und machte sich ans Werk.

9:37 Uhr

Die junge Familie – Mutter, Vater, zwei kleine Kinder – stand am Rand des Grundstücks und schaute gebannt den Arbeiten zu. Achim Brenner hatte sie eben kurz begrüßt, bevor er seine Leute eingewiesen hatte und diese losgelegt hatten.

In der letzten Woche hatten sie bereits das Haus von allem befreit, das nicht zur Bausubstanz gehörte, damit sie heute mit den eigentlichen Abrissarbeiten beginnen konnten und diese reibungslos vonstattengingen. Sie hatten das in einen kleinen Hügel hineingebaute Haus entrümpelt, die Heizung, das Bad, die Einbauküche und noch einiges mehr entfernt und fachgerecht entsorgt. Achim tat dies jedes Mal in der Seele weh. Natürlich wollte es jeder modern und vor allem nach seinem eigenen Stil haben, wenn er sich ein Haus kaufte. Das konnte er verstehen, und oft waren das Entrümpeln und Entkernen notwendig, da in den vergangenen Jahrzehnten viele Schadstoffe wie Asbest, Blei und Quecksilber verbaut worden waren. Das war auch bei diesem Haus so gewesen. Dennoch hätte man es anders handhaben können, und er fragte sich, woher die junge Familie das Geld hatte, sich das neue Haus leisten zu können. Zumal auch die Wohngegend hier nicht gerade günstig war. Der Lüneburger Stadtteil Wilschenbruch, in dem die meisten Straßen nach Vogelarten benannt worden waren, war nicht nur mit seinen weniger als 1000 Anwohnern der kleinste, er gehörte vor allem zu einem der nachgefragtesten in der Salz- und Hansestadt. Umsäumt von einem ausgedehnten Wald, in dem auch er manchmal mit seiner Frau spazieren ging und durch das die Ilmenau sich ihren Weg bahnte, hatte man hier alles, was man zum Wohlfühlen brauchte: die Natur direkt vor der Haustür und das Stadtzentrum nur knapp drei Kilometer entfernt. Gut, die meisten Wilschenbruch-Häuser standen auf Erbbaugrundstücken, die der Stadt gehörten, was die Sache etwas günstiger in der Anschaffung machte. Allerdings würde er sich gerade deswegen kein neues Haus hinstellen, sondern versuchen, das alte herzurichten. Schließlich konnte man nie sicher sein, bei einem Verkauf seine Kosten wieder reinzubekommen. Andererseits könnte er sich sowieso niemals einen Neubau leisten und auch kein altes Haus. Schon gar nicht in dieser Gegend. Dabei war er mindestens doppelt so alt wie der junge Kerl, der da hinten mit seiner Familie stand. Aber er wollte nicht neidisch sein, dann hätte er viel zu tun! Immerhin wimmelte Lüneburg inzwischen von jungen Familien, die aus Hamburg hierherzogen, weil sie ihre Kinder nicht in einer Metropole aufwachsen lassen wollten und in der Regel von ihren Eltern ein ordentliches Startkapital zu Verfügung gestellt bekommen oder geerbt hatten.

Achim konzentrierte sich wieder auf das vor ihm liegende Grundstück, auf dem sich ihm das Haus nur noch als Gerippe präsentierte, bereit zum endgültigen Abriss. Das Einzige, was sie heute vorher noch schnell erledigen mussten, war die Entsorgung des Schuppens hinten im Garten. Das hatte ihm die Baufirma, die ihn beauftragt hatte, gestern am späten Nachmittag mitgeteilt. Ursprünglich hatten sie den Schuppen stehen lassen sollen, doch der Bauherr hatte es sich kurzfristig anders überlegt. Natürlich hatte Achim gemosert und angemerkt, dass die Entscheidung etwas spät kam, aber der Kunde war König, und so hatte er sich gefügt, besonders da diese ungeplante Leistung gut bezahlt wurde.

Drei seiner Jungs waren bereits am Schuppen zugange, während der Rest seiner Mannschaft schon einmal die schweren Maschinen für den Hausabriss in Position brachte. Das war aufgrund der Größe des Grundstücks glücklicherweise möglich, sonst hätten sie ein Zeitproblem gehabt. Achim hatte für den kompletten Abriss vier Tage kalkuliert und bereits einen Anschlussauftrag angenommen.

»Moin. Und, läuft alles nach Plan?«, sprach ihn der junge Familienvater von der Seite an. Achim hatte gar nicht bemerkt, dass er neben ihn getreten war. Umständlich kramte der Abrissunternehmer seinen Tabak aus der Innentasche seiner Jacke und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Gern hätte er diesem jungen Typen etwas von Holterdipolter-Entscheidungen erzählt, doch was würde das schon nützen? Schließlich beglich dieser Jungspund, der da in Fahrradklamotten und mit einem kleinen Ziegenbärtchen im Gesicht abwartend neben ihm stand, am Ende die Mehrkosten. Außerdem hatte Achim Brenner auch keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten. Er steckte sich die fertig gedrehte Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie an und brummte vielsagend.

»Na, dann ist ja gut«, sagte der junge Mann und lächelte ihn offen an. »Es tut mir übrigens leid, dass wir uns erst jetzt entschlossen haben, den Schuppen auch abzureißen. Wir wollten ihn ursprünglich als Spielhaus für die Kinder stehen lassen, haben uns dann aber doch spontan dagegen entschieden. Ich hätte es ja ganz gut gefunden, aber meine Frau … Na ja, Sie wissen sicher, wie die sein können. Sie möchte einfach alles neu haben, und da ihr Vater uns finanziell ziemlich unterstützt, ist es jetzt halt so.«

Achim brummte ein weiteres Mal, diesmal eher zustimmend. Sie wandten beide ihre Köpfe, als jetzt ein Ruf aus Richtung Schuppen erklang: »Cheeef, komm mal schnell! Oh Mann, das musst du sehen!«

Was war denn jetzt los? Er setzte sich in Bewegung und mit ihm der junge Mann. Aus den Augenwinkeln sah Achim, dass auch die Mutter mit den beiden Kindern auf den Schuppen zusteuerte, von dem nur noch zwei Wände standen. Die hintere und die linke Seitenwand lagen bereits abgetragen und in einzelnen Holzlatten auf dem Rasen.

»Sie wissen, dass ich keine Haftung übernehme, wenn Ihre Kinder hier auf der Baustelle rumspringen?«, stellte er klar.

»Natürlich, wir passen schon auf«, bekam er zur Antwort, und Achim Brenner brummte zum dritten Mal an diesem Morgen.

Beim Schuppen angekommen, blickten sie in das verstörte Gesicht von Ingo – einem Hünen von Mann, der bis zum Hals tätowiert war und sich normalerweise nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ. Er arbeitete schon einige Jahre für Brenner, doch so durch den Wind hatte dieser ihn noch nie gesehen. Neben Ingo standen die anderen zwei Jungs, die er zum ersten Mal angeheuert hatte und die ihre Arbeit bisher gut gemacht hatten. Es waren Brüder, und auch sie waren käseweiß. Seine Männer nannten die beiden Lolek und Bolek, weil sie immer zusammen herumhingen und kaum ein Wort Deutsch sprachen – sie kamen zwar nicht aus Polen, sondern aus Litauen, aber das war für die Namensgebung egal.

»Was ist denn los?«, fragte Brenner.

»Das … ähm … also … guck es dir einfach an …«, stammelte Ingo.

Achim Brenner schwante nichts Gutes, als er jetzt, gefolgt von der Familie, näher an den nur noch halb vorhandenen Schuppen trat. In der Mitte prangte ein größeres Loch im Boden, das er zuvor nicht bemerkt hatte.

»Lolek und Bolek haben die Wände auseinandergenommen, und ich habe die Waschbetonplatten entfernt. Ich hab in der Mitte angefangen, weil hier schon einige lose waren, was mich … was mich jetzt nicht mehr wundert … und … ähm … vielleicht bleiben Sie mit den Kindern besser mal weg«, erklärte Ingo, der sich nicht von seinem Platz gerührt hatte.

»Ja, aber was ist denn da?«, fragte die Mutter, stoppte abrupt mitsamt den Kindern an ihrer Hand, stellte sich hinter ihre Kleinen und legte jedem schützend eine Hand auf die Brust.

Achim Brenner blieb ihr für den Moment eine Antwort schuldig. Stattdessen schluckte er. Dafür erwiderte ihr Mann neugierig: »Das werden wir gleich sehen.«

Er stellte sich neben Achim und senkte ebenfalls seinen Blick in das Loch. »Ach du Scheiße!«, platzte es aus ihm heraus, »Ist es das, was ich glaube?«

»Max, was ist denn da?«, fragte die Frau erneut, doch nach wie vor antwortete ihr niemand.

»Ich schätze schon«, meinte Achim Brenner an den jungen Mann gewandt. »Wir sollten die Polizei rufen.«

»Polizei? Wieso?«, drängelte sich jetzt doch die Frau zwischen die Männer. »Ich möchte jetzt endlich wissen, was da …« Sie stockte mitten in ihrem Satz, dann stieß sie einen kurzen, spitzen Schrei aus, deutete mit einem Finger auf das Loch und stammelte: »Das ist … das ist … eine Hand!«

10:23 Uhr

Das Telefon auf Bens Schreibtisch klingelte. Er erhob sich langsam vom Besprechungstisch und meinte zu den anderen: »Wenn da mal nicht die Arbeit ruft.«

Tobi grinste und sagte: »Ich habe mich schon gewundert. So ruhig war es hier selten.«

»Und es kann auch gern noch eine Weile so bleiben!«, kommentierte Katharina.

»Stimmt«, pflichtete Vivien ihr bei und begann, die leeren Teller und Becher zusammenzuräumen.

»Also ich habe lange genug nichts getan, ich bin nicht hier, um das so weiterzumachen«, meinte Tobi und sah zu Ben, der in diesem Augenblick sagte: »Ja, wir kommen. In 15 Minuten sind wir vor Ort.« Dann legte der Hauptkommissar auf, schaute seinen Kollegen an und erklärte: »Wenn wir Glück haben, sind wir in einer Stunde wieder hier und können weiter klönen, wenn nicht …«

»… dann tun wir mal wieder was für unser Geld«, vervollständigte Katharina seinen Satz und stand auf. »Was ist denn passiert?«

»Bei Bauarbeiten wurde in Wilschenbruch eine Hand gefunden, das heißt, nur noch die Handknochen«, informierte sie der Hauptkommissar. »Mehr weiß ich auch noch nicht.«

Nachdem Ben und Katharina das Büro verlassen hatten, ging Tobi an seinen Schreibtisch. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach all der Zeit wieder hier zu sein. Er hatte sich riesig auf diesen Tag gefreut, doch jetzt fragte er sich, ob sein Wiedereinstieg nicht doch zu früh kam. Noch immer suchte er in seinem Kopf nach den einfachsten Begriffen, wenn er etwas sagen wollte. Dabei wusste er den Inhalt meist ganz genau, doch die Worte wollten dann einfach nicht aus seinem Mund heraus. Natürlich kannte er das schon von früher, vor diesem verflixten Unfall. Wie wohl jedem hatte ihm auch hin und wieder etwas auf der Zunge gelegen, aber jetzt geschah es eben nicht nur manchmal, sondern ziemlich häufig. So hatte er sich immer Alzheimer vorgestellt. Langsam aber sicher verlor man die Worte bis hin zum Gedächtnis und lebte nur noch in frühesten Erinnerungen. Gerade neulich hatte er sich den Film Der seltsame Fall des Benjamin Button