Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat - Tabea Steiner - E-Book

Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat E-Book

Tabea Steiner

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Beschreibung

Tabea Steiner legt nach zwei erfolgreichen Romanen einen Band mit Texten vor, die in den Jahren 2016 bis 2024 entstanden sind. Ausgehend von familiären Herkunftslinien, von Räumen oder Erinnerungen gestaltet sie Verbindungen zwischen individuellen Wahrnehmungen und den Gegebenheiten unserer Lebenswelt. Sie erzählt von Heidi, vom Alpöhi und dem eigenen Großvater, von Missionsarbeit in Papua-Neuguinea in den 1980er-Jahren oder von der soziologischen Vielschichtigkeit einer Mietwohnung in der teuersten Stadt der Welt. Auch in diesen kurzen Texten erweist sich Tabea Steiner als Autorin, die genau wahrnimmt und ihre Beobachtungen in eine klare, nüchterne Sprache einfließen lässt. Es sind faszinierende Details, die die Leser:innen direkt ansprechen und auf Reisen mitnehmen, sei es auf eine Radtour die Mur bei Graz entlang, bei der die Erzählerin in ein heftiges Gewitter gerät, oder aber zurück in eine Kindheit, die geprägt ist von klaren, oft unausgesprochenen Regeln, aber auch von Vertrauen, die das Kind vor allem bei der Großmutter findet. Dabei gelingt es Tabea Steiner immer wieder, größere Zusammenhänge aufzuzeigen, Bezüge zur Natur, zu Tieren und Pflanzen zu schaffen, und sie macht deutlich, wie neue Technologien diese Beziehungen verändern.

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Seitenzahl: 125

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Was ich wusste

Der Himmel über Zürich

Streuobst

Heidi kann brauchen, was es gelernt hat

Nach drei Seiten hin Fenster

Friendly Alien

Social Freezing

Sienna Street 55

Lichtbilder

Was fehlt

Außer Reichwiete

Schnelle Autos

Von Hirschen

Bar 63

Nachdenken über Bäume

Abspann

Zimmli geil

Literatur

Zitatnachweise

Erstveröffentlichung

Was ich wusste

Es muss September gewesen sein, ich war sechs, vielleicht auch schon sieben Jahre alt, als mein Vater mich fragte: Willst du mitkommen?

Eine Kuh war sehr krank geworden und musste notgeschlachtet werden. Ich strich ihr über die fieberkühlen Nüstern, den hellen Fleck auf ihrer Stirn, schaute in ihre großen Augen mit den langen Wimpern. Dann führte mein Vater das Tier in den Transporter, wo es sich hinlegte. Er verschloss den Riegel und hob mich auf den Kindersitz, der über dem Schutzblech des großen Rades angebracht war. Ich musste mich gut festhalten, und während der Fahrt hämmerten meine Stiefelchen gegen das vibrierende Blech.

Der Metzger wartete schon vor dem Schlachthaus. Alles war vorbereitet. Ich schaute mich im sauber gekachelten Raum um, während mein Vater die Kuh hereinholte. Ihr fiel jetzt jeder Schritt schwer, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie eine Todesangst gezeigt hätte. Vielleicht war sie dafür auch einfach zu müde.

Du gehst raus, sagte der Metzger zu mir, mit dem Bolzen in der Hand. Ich verdrückte mich, stellte mich außen am Fenster auf die Zehenspitzen und schaute zu, wie der Metzger den Bolzen ansetzte, abdrückte, wie die Kuh umfiel, schwer und groß. Sie zuckte mehrmals, dann war sie tot.

Die Tür flog auf, der Metzger kam heraus und gab mir eine Ohrfeige. Ich erinnere mich an seine Hand und an seine endlose, dicke, graubeige Plastikschürze, aber dort, wo sein Gesicht wäre, verschwindet meine Erinnerung.

Komm, mein Vater nahm mich an der Hand, setzte mich wieder auf den Kindersitz, verabschiedete sich vom Metzger und fuhr los, und erst nach einer Weile bog er in einen kleinen Feldweg ein, hielt an und stellte den Motor ab.

Der Metzger wollte nicht, dass du siehst, wie die Kuh stirbt, sagte mein Vater und schaute mich an. Verstehst du das?

Ich verstand es nicht. Ich wusste, dass die Kuh sterben musste. Ich wusste auch, warum. Ich verstand nicht, warum ich nicht sehen sollte, was ich sowieso schon wusste. Ich war vom Leben auf dem Bauernhof, wo ich aufwuchs, an einiges gewohnt.

Ich wusste, was es bedeutete, wenn sich die Kühe auf der Weide gegenseitig auf den Rücken sprangen. Dann waren sie stierig. Ein Tierarzt wurde herbestellt und brachte seinen Koffer mit den vielen Röhrchen. Zusammen mit meinem Vater wählte er eines davon aus, bevor er sich einen dünnen Plastikhandschuh überzog, bis weit über den Ellbogen hinauf. Dann führte er das Samenröhrchen in die Kuh ein und warf das verschmierte Plastik in den Abfall. Die Kuh gebar neuneinhalb Monate später ein Kalb.

Sobald die Spitzen der kleinen gelben Hufe des Kalbes aus der Scheide der Kuh herauslugten, musste mein Bruder die Eisenkette mit den beiden Griffen holen. Die Kette wurde einmal um die Hufe gelegt, und im Rhythmus der gebärenden Kuh zog mein Vater daran. Die Nüstern wurden sichtbar, dann der Kopf, bis das Ohr herausflappte. Jetzt ging es nicht mehr lange, bis das ganze Kälbchen da war.

Ich wusste, dass mich niemand ins Bett schicken würde, solange das Neugeborene nicht versorgt war, und oft kamen die Kälbchen spätabends zur Welt. Aber weil ich noch zu klein war, um mich nützlich zu machen, beachtete mich niemand, wie ich in Gummistiefeln und Pyjama an der Stallwand stand. Manchmal hatte ich eine alte Jacke von meinem Vater übergehängt.

Aus sicherer Entfernung, aber nah genug, sah ich zu, wie meine Großmutter das blutige, zerzauste Kälbchen mit einem Büschel Stroh abrieb, um seinen Kreislauf anzukurbeln. Wenn es nicht mehr zitterte, überließ sie das Kälbchen seiner Mutter, um in der Küche einige Liter Rotwein aufzukochen, Eier aufzuschlagen und das Ganze mit viel Zucker und Gewürzen – Nelken waren dabei, vielleicht auch Muskat – zu verrühren. Sie flößte das Gebräu dem erschöpften Tier ein, das es widerstandslos schluckte und anschließend mehrere Kübel Wasser trank. Danach begann die Kuh, das Kälbchen abzulecken, bis das Muster seines weichen Felles sichtbar wurde.

In der Zwischenzeit hatte mein Vater das Geschlecht des Kälbchens geprüft. Eine richtig gute Milchkuh wurde nur mit Qualitätssamen befruchtet. Hatte mein Vater einen teuren Samen von einem guten Zuchtstier ausgewählt, war er schlecht gelaunt, wenn ein Stierkalb zur Welt gekommen war. Hatte die Kuh nur befruchtet werden müssen, damit sie wieder in die Milchproduktion einsteigen konnte, war es einerlei, welches Geschlecht das Jungtier hatte. Dann war in der Regel ein preiswerterer Vater ausgewählt worden.

Die Milch von Kühen, die gerade ein Kalb zur Welt gebracht hatten, war eine Weile ungenießbar und durfte nicht in den Tank gelangen. Eines Tages beschloss Großmutter, dass ich groß genug war, zu lernen, wie man aus dieser Biestmilch Schokoladencreme kochen kann. Zuerst musste ich im Hühnerstall ein paar Eier holen. Ich konnte das am besten, weil ich klein genug war, um unter das Legegehege zu kriechen, wo die Hühner manchmal ihre Eier versteckten, wenn sie sie nicht hergeben wollten. Dann schnallte ich den Melkschemel um und molk die Galtkuh von Hand. Das machte ich besonders gern, weil die Kuh zwischen Bauch und Euter eine Mulde hatte, in die ich den Kopf legen konnte, das hielt meine Stirn warm. Aber als ich beinahe fertig und der Eimer fast voll war, schlug die Kuh aus und stieß mit ihren Hufen den Eimer um. Die dickliche, dunkelgelbe Milch floss ins klein gehäckselte Stroh.

Ich durfte frische weiße Milch aus dem Tank schöpfen, die ich in die Pfanne goss, ich schmolz die Schokolade und schlug die Eier auf. Eines der Eigelbe enthielt einen dunkelroten Schleim, das Ei war befruchtet gewesen. Verrühr es schnell, sagte Großmutter und drehte den Herd an, dann musst du es nicht mehr sehen.

Im Hühnergehege gab es einen Hahn. Großmutter sagte, die Hühner wären so einfacher zu halten. Küken wurden aber keine ausgebrütet. Die Legehennen wurden beim Zuchtbetrieb gekauft, wo sie von den überschüssigen jungen Hähnen getrennt worden waren.

Ich wusste also, dass das Hähnchen auf meinem Teller oder das Schnitzel am Sonntag in den meisten Fällen Fleisch war, das von einem männlichen Tier stammte.

Und ich wusste auch, dass jene Hasen, die ich aufzog und die ich mit Gras und Kraftfutter fütterte, bis sie ein bestimmtes Gewicht erreicht hatten, und die ich dann in eine geflochtene Kiste packte und sie mit dem Fahrrad ins Nachbardorf zum Hasenmetzger fuhr, am Ende irgendwo auf einem Teller landeten. Der Erlös davon war mein Sackgeld.

Ich bin mit meiner Großmutter aufgewachsen, und mir war klar, dass sie die Mutter von meinem Vater war, und dass mein Vater wiederum der Vater von meinem Bruder und mir war. Meine Großmutter kümmerte sich um uns, meistens war sie es, die abends dafür sorgte, dass wir rechtzeitig ins Bett kamen.

Sie achtete streng darauf, dass mein Bruder und ich nicht im gleichen Zimmer schliefen, aber irgendwann begannen wir, uns dagegen aufzulehnen, weil wir uns immer sehr viel erzählen mussten und einiges zu beraten hatten. Wir redeten davon, dass wir die Brüste der jungen Nachbarin gesehen hatten, die ihr Kind im Garten stillte, wenn das Wetter schön war. Und wir rätselten darüber, warum ich im Sommer nicht im Unterleibchen herumlaufen durfte, aber mein Bruder das Leibchen sogar ausziehen konnte. Großmutter hatte nur gesagt, es sei wegen dem alten Nachbarn.

Wir zerbrachen uns den Kopf darüber, wie es sein konnte, dass die junge Nachbarin, über die das ganze Dorf redete, ein Kind bekommen konnte, wenn sie doch gar keinen Mann hatte. Und als ich schließlich lesen konnte, fragte ich ihn, was das Wort Sex bedeutet, das ich in der Zeitung entdeckt hatte. Großmutter hatte es mir nicht erklären wollen, das sei etwas, was nur die Erwachsenen angehe.

Einmal kam nach dem Mittagessen eine andere Bäuerin mit der Zeitung vorbei. Sie und meine Großmutter saßen vor dem Haus und besprachen die Nachrichten, und als sie mich bemerkten, schwiegen sie schnell. Aber ich hatte bereits gehört, wie sie sich über diese neuen Zeiten aufregten, in denen Frauen ihre Ehemänner anzeigen durften, wenn diesen die Triebe ein wenig durchgingen.

Ich verdrückte mich, ging bei den Kälbern vorbei und mopste eine kleine Faust Kälbermilchpulver. Das mochte ich, weil es wie weiße Schokolade schmeckte. Dann setzte ich mich hinter die Brombeerbüsche, wie immer, wenn es warm und trocken genug war und ich über etwas nachdenken musste. Ich wusste, dass meine Großmutter es gut mit mir meinte, dass sie mich beschützen wollte. Aber ich verstand nicht, warum sie mit der Bäuerin schwieg, und mir war immer noch nicht klar, warum ich nicht im Unterleibchen herumlaufen durfte.

Ich verstand nicht, warum nicht nur Großmutter, sondern auch Vater und der Metzger und überhaupt alle aus dem Dorf immer aus allem ein Geheimnis machten. Vor allem aber verstand ich nicht, warum es Dinge gab, die ich nicht wissen sollte, wenn ich sie doch längst gesehen hatte.

Erst viel später, als ich erwachsen und meine Großmutter schon sehr alt war, erzählte sie mir davon, wie ihr eigener Bruder ihr nachgestellt hatte, als sie anfing, eine Frau zu werden.

Hingegen hatte ich bereits als Kind gewusst, dass der alte Nachbar meine Großmutter hatte heiraten wollen, nachdem mein Großvater sehr jung gestorben war. Der alte Nachbar hatte später eine andere Frau geheiratet. Aber erst, als meine Großmutter gestorben und auch der alte Nachbar tot war, kam heraus, dass er jahrelang seine Tochter missbraucht hatte. Ich weiß nicht, ob meine Großmutter davon gewusst hatte, und wenn ja, was genau sie gewusst hatte.

Und auch meinen Vater kann ich nicht mehr fragen.

Der Himmel über Zürich

Zwischen Pizol und Vorab hinweg, über Glarus und das Kaltbrunner Riet geflogen, diesen Sumpflandschaftüberrest, vorbei am Nuolener Ried, immerhin: ein Vogelrastplatz. Ein Stück tiefer gleiten, über die Moorlandschaft Frauenwinkel, Kiebitze sollen hier brüten, Kiebitze! Zwischen Lungenenzian und Sibirischen Schwertlilien. Über den Zürichsee segeln, träge liegt er in seinem Bett zwischen Seiten- und Endmoränen.

Die Gletscherreste bei Wädenswil, die Bären und Wolfsrudel im Sihlwald, schnell abbiegen bei Kilchberg, kurz vor der Stadt nochmals über das Wasser schweben. Den Botanischen Garten links liegenlassen, auch den Gessnergarten mit seinen Heilpflanzen, nur beim Opernhaus nochmals aufsteigen, einen Blick nach München werfen.

Die Kuppel der Universität, interessant sieht das aus. Von Weitem. Da wirft einer ein Buch in die Rückgabeklappe, klingt kompliziert, und erst die Fußnoten1, die liest ja doch kein Mensch, so klein, wie sie geschrieben sind. Der Informationsstand für Touristen, nur nutzlos, dieser Tage, auch das Marriott steht leer, keine Kids beim Dynamo. Der Fluss wird breiter. Endlich. Ein Bad, gerne. Eine Maus, danke. Und ein Käfer. Aber die Federn jucken schon wieder, schnell mit dem Schnabel einen Floh herausgepickt.

Der große Bahnhof, das Wasser lassen sie unter den Gleisen hindurchfließen, wenn das nur gut geht. Soll nicht unsere Sache sein. Eine angenehme Strömung, bisschen Auftrieb, nanu, wer steht denn dort vor dem Passbüro. Einerlei, nur die Abzweigung zur Dammstraße nicht verpassen, der Tulpenbaum ist frei, recht so. Ein paar Täubchen können gern zum Nachtisch vorbeischauen, Krähen lieber nicht, keine Krähen! Ein paar Baumstationen weiter gehupft, zur Rosskastanie, sie versteckt die Blätter noch in kleinen Knospenfingern. Aber da, diese Scheibe muss es sein, da hockt sie. Am Fenster. Schaut nicht raus.

Seit ein paar Jahren schaue ich zu, wie im Frühjahr Falken über der Zürcher Josefswiese und in Altstetten brüten, wie die Jungvögel schlüpfen und schließlich flügge werden. Genauer gesagt, ich werfe ab und zu einen Blick in die Livestreams, die über Youtube gesendet werden. Grünstadt Zürich hat dafür eigens Kameras bei den Nistkästen angebracht.

Wobei, um wirklich präzise zu sein: In den letzten Jahren habe ich bloß gelegentlich einen Blick in einen Twitteraccount geworfen, der besonders gelungene Screenshots von den Falken-Livestreams postet.

Aber in diesem Frühjahr schaue ich ständig in den Stream. Ich habe sogar ein Falkentagebuch angelegt und lese auf Social Media mit, was andere über die Zürcher Falken diskutieren.

Im Nistkasten auf dem Hochkamin bei der Josefswiese sind zwei Kameras angebracht, eine innen, eine außen. Durch die Außenkamera kann man weit über die Stadt schauen. Ich beneide die Vögel um ihr Panorama, um ihre Möglichkeit, die Flügel auszubreiten und davonzufliegen. Auch wenn meine Wohnung im zweiten Stock liegt, lebe ich am Boden, wie eine Waldmaus. Mein Fenster zur Welt bleibt vorerst mein MacBook Air. Trotzdem komme ich den Falken auf diese Weise viel näher, als ich das in der freien Natur könnte, und so sitze ich am Bildschirm, beobachte die Vögel, bestelle im Internet Bücher.

Es gibt über sechzig verschiedene Arten von Falken, drei Falkenartige brüten zuweilen in der Schweiz. Einer davon ist der Turmfalke, den man dadurch bestimmen kann, dass er am Himmel an Ort und Stelle stehen bleibt, im Rüttelflug. Der Wanderfalke ist schwerer zu erkennen, er macht sich vor allem durch die Unruhe bemerkbar, die er bei den anderen Vögeln stiftet. Und der Baumfalke nistet bevorzugt in offenen Landschaften, wo er fremde Nester anderer Vogelarten nutzt.

Der Falke sieht achtmal besser als der Mensch. Während Menschen pro Sekunde zwanzig Bilder sehen, sind es bei Falken siebzig bis achtzig Bilder pro Sekunde. Diese hohe zeitliche Auflösung hilft, kleine Beute selbst in rasendem Flug im Blick zu behalten. Trotzdem: Auf einem Bildschirm kann ein Falke Bewegtbilder nicht erkennen.

Wenn ein Falke einen Gegenstand fokussiert, erhält er blitzschnell ein glasklares Bild davon – er kann aus achtzehn Metern Entfernung ein zwei Millimeter großes Insekt erspähen. Um die Größe und die Entfernung seiner Beute zu ermitteln, nutzt der Falke die Fähigkeit der Bewegungsparallaxe: Er nickt mit dem Kopf, ohne den Blick von der Beute zu lösen.

Die Augen eines Wanderfalken wiegen etwa dreißig Gramm. Für einen Menschen von fünfundsiebzig Kilogramm würde das bedeuten, dass er Augen von 7,5 Zentimetern Durchmesser hätte, die zwei Kilogramm schwer sind.

Der Falke ist das schnellste Tier der Welt. Im Sturzflug erreicht er bis zu 320 Stundenkilometer. An diesem Vogel ist alles ausgelegt auf die perfekte Verbindung von zielendem Auge und greifender Klaue, oder, wie es Helen Macdonald illustriert: Ein Falke besteht aus einem Augenpaar, das in einem kampfstarken, technisch hochausgerüsteten Flugwerk steckt.

Im Frühjahr 2001 brüteten Wanderfalken auf dem Hochkamin bei der Josefswiese. Wanderfalken lieben die Tradition. Sie kehren über Generationen zu den gleichen Nistplätzen zurück, brüten über Jahrhunderte hinweg auf denselben Felsvorsprüngen wie ihre Vorfahren.

Als Beutegreifer jagen sie andere Vögel, Tauben etwa, und in Zürich haben sie auch Zuchttauben gejagt. Die betroffenen Taubenzüchter wiederum haben, um die Falken zu bekämpfen, Kamikazetauben eingesetzt, denen sie Gift auf das Gefieder gestrichen haben. Eine Wanderfalkin, die eine solche Kamikazetaube erlegt hatte, starb vor laufender Kamera und im Beisein ihrer Jungen auf dem Hochkamin.

Heute nisten Turmfalken bei der Josefswiese. Vor ein paar Jahren war ein Turmfalkenpaar auf der Live-Kamera über mehrere Tage nicht gesichtet worden. Der Wildhüter musste die Jungen vom Brutkasten holen, weil sie noch nicht flügge waren. Vier der kleinen Falken konnte er retten und in die Greifvogelstation bringen. Zwei weitere Jungvögel sprangen von der Plattform, wurden aber kurze Zeit später entdeckt, und alle sechs Küken konnten großgezogen werden.



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