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Als Andrea in dem kleinen, ländlichen Dorf Niederheid am Niederrhein eintrifft, stolpert sie zuallerst über eine Frauenleiche. Sie stellt Nachforschungen über die Tote an und erfährt, dass die ländliche Idylle sehr trügerisch ist. "Heiliges Feuer" brannte im Mittelalter die Sünden von den Seelen der Menschen. Nur wenige überlebten. Doch welche Sünden belasteten die Seele der Toten so sehr, dass sie sterben musste?
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Seitenzahl: 228
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Des Einen Freud‘, Des Andren Leid, Schaut an die Welt Und geht befreit.
Danke, Mama, für die wunderschönen Bilder.
ALLE FIGUREN SIND FREI ERFUNDEN. ÄHNLICHKEITEN SIND ZUFÄLLIG.
ANDREA JANSEN
kommt aus Frankfurt am Main und will Jura studieren. Für ein vorbereitendes Praktikum vermittelt ihr Vater sie zu Hofmeister in die Gemeinde Niederheid am Niederrhein. Sie will nach dem Jurastudium in die Kanzlei ihres Vaters einsteigen.
FERDINAND UND YASMIN HOFMEISTER
Der Schlichter und Notar, bei dem Andrea ihr Praktikum macht. Er ist anerkannt und geachtet. Seine Frau engagiert sich stark in der Gemeinde.
NICK WILMS
Polizeioberkommissar der Gemeinde.
MARION GUSTAFS
Polizeikommissarin der Gemeinde, die sich auf Anhieb gut mit Andrea versteht.
HERR HEINRICH
Beamter des LKA, der zur Lösung des Mordfalls in die Gemeinde geschickt wurde. Er hofft, mit der Aufklärung des Falls seiner Karriere einen Schub zu geben.
ANNA REI
Andreas beste Freundin seit der Kindheit. BKA-Beamtin, die Andrea ab und zu mit Informationen zu polizeilichen Ermittlungen aushilft.
SAMIRA
Graue Tigerkatze, die Andrea jeden Abend besuchen kommt.
FABIAN
Andreas Freund, Anwalt für Wirtschaftsrecht, Teilhaber der Kanzlei von Andreas Vater.
JO UND EVA-MARIA PETERS
Ein junges Ehepaar mit einem neuen, modernen Bauernhof. Andrea freundet sich mit ihnen an und hilft am Wochenende im Stall.
WERNER UND HANNE BAUER
Alte Leute, die fleißig ihren alten Hof bewirtschaften.
EHEPAAR LEUTER
Ein kleines, altes Ehepaar, das als Klatschpresse des Dorfes fungiert. Sie wissen alles über jeden (und mehr).
JAN MEYER
Großgemeindevorsitzender der Umweltbewegung ‚Grüne Engel’ und Lebensgefährte der Ermordeten.
ARMINE DENSEN
Andreas Nachbarin und die beste Freundin der Ermordeten.
SWANTJE TWANSTEDT
Bäckerin im Dorf. Sie war mit der Ermordeten befreundet.
DIETER VANDERSEN
Inhaber eines Schweine-Produktionsbetrieb am Rande der Stadt. Armine Densen arbeitet für ihn.
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Epilog
Andrea seufzte, drehte den Autoschlüssel in der Zündung, wartete einen Moment und startete ihren alten, roten Opel. Aber außer einem Röcheln tat sich nichts. Sie fluchte, besann sich darauf, dass das Auto sie hören könnte und schmeichelte ihm. Es tat sich dennoch nichts. „Scheiße!“ schimpfte die junge Frau.
„Komm schon! Es sind nur noch fünf Kilometer“, bettelte sie und drehte den Schlüssel erneut. Nichts. Und jetzt? Anrufen? Aber wen? Sie kannte hier niemanden. Ein neuer Job am Ende der Welt… ‚Nein’, dachte sie grimmig: ‚Hinterm Ende der Welt!’ Ein unzuverlässiger Wagen, Regen und Wind… und kein Handynetz…
„Nein, das kann doch nicht sein!“ jammerte sie leise vor sich hin. Sie stieg trotz des Regens aus und lief über die Straße, das Handy vor sich in die Luft gestreckt: „Komm schon! Wenigstens ein ganz bisschen Netz!“ Aber ihre Bitten wurden nicht erhört. Sollte sie warten, bis jemand vorbeikam? Sie hatte seit einer halben Stunde niemanden mehr gesehen. Es war ein trüber Sonntagnachmittag: niemand würde heute mehr einen Fuß vor die Türe setzen. Sie setzte sich wieder ins Auto und versuchte erneut zu starten. Natürlich tat sich nichts. „Scheiß-Karre!“ Sie schlug wütend auf das Lenkrad.
Ein halbe Stunde saß Andrea im Auto und diskutierte die Möglichkeiten, die sie hatte und ihre Vor- und Nachteile: aussteigen, laufen, nass werden? Nicht aussteigen, nicht laufen, nicht nass werden? Das klang besser. Im Auto schlafen? Nein, das wollte sie nicht. Also musste sie laufen. In der Pension im nächsten Ort gab es sicher ein schönes, warmes Bett, etwas Warmes zu essen, eine Dusche, vielleicht sogar eine Badewanne. Das überzeugte sie. Sie nahm ihre Handtasche, ihren kleinsten Trolly und stieg aus.
Nach fünfzig Metern fluchte sie schon. Aber die Aussicht auf eine heiße Badewanne lockte sie vorwärts. Andrea war eine junge, schlanke Frau, die nur dann Sport betrieb, wenn es von ihr erwartet wurde. Wenn zum Beispiel ihre Freundinnen der Meinung waren, etwas für Körper und Gesundheit tun zu müssen und Andrea keine Ausrede fand. Oft überlegte Andrea, dass es eigentlich nicht schlecht wäre, ein paar Muskeln aufzubauen. Sie fand sich zu dünn. Aber immer wieder entschied sie sich für die angenehmere Variante des Dickerwerdens: mehr essen. Von Mamas Hackbraten, Omas Kalbsragout, Papis Hackfleischsauce über den Nudeln, dem Mandelpudding ihrer Schwester und – nicht zu toppen – dem Rinderfilet mit Champignon-Sahne-Sauce und Rotwein-Kartoffeln ihres Mannes… ‚Freundes’ verbesserte sie in Gedanken. Verheiratet waren sie nicht. Aber da sie sicher bald heiraten würden, sprach sie schon von ‚Mann’, wenn sie von Fabian sprach. Fabian… Er fehlte ihr. ‚Er war ein Idiot!’ verbesserte sie sich grimmig: ‚ein riesiger Idiot! Wie ihr Vater!’ Die beiden waren Schuld daran, dass sie auf dieser Straße im Nirgendwo, zwischen hohen Bäumen, im strömenden Regen und mit undichter Regenjacke umherlief. Es begann zu dämmern.
Andreas blondes Haar klebte an ihrem Gesicht. Wassertropfen bahnten sich den Weg vom Kopf in ihre Augen oder den Nacken hinab auf den Rücken. Der Stoff ihrer Bluse klebte an der Haut, die Regenjacke hatte versagt. Andrea hielt Ausschau nach dem Dorf Niederheid, in dem sie ihre Praktikantenstelle antreten sollte. Sie erwartete schon längere Zeit das Ortseingangsschild zu entdecken. Langsam regten sich Zweifel ihn ihr: war sie auf der Straße, auf der sie dachte zu sein? Die Straßenkarte hatte sie natürlich im Auto gelassen. Aber bei diesem Regen hätte sie ihr sowieso nichts genutzt. ‚Tock tock tock tock’ hörte sie weit entfernt. Sie sah sich um, sah aber nur Bäume und Asphalt. ‚Tock tock tock’. Es kam näher. Aber was war es? Es war nicht schnell. Andrea ging weiter, drehte sich aber immer wieder nach dem Geräusch um.
Es klang nach einer Maschine, einem Motor. Aber welcher Motor machte solche Geräusche? Sie blieb stehen und sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Langsam drang Licht, ein sehr schwaches Licht, um die letzte Biegung der Straße und das ‚Tock tock tock’ wurde lauter. Sie ging ihm entgegen.
Jedes metallische Teil an dem Gefährt sah gusseisern aus und wahrscheinlich war es das auch. Andrea bekam Mitgefühl für den Motor, der dieses Gewicht vorwärts treiben musste. Der Mann hinter dem Lenkrad des schlepperähnlichen Gefährts schien der gleichen Zeit entsprungen zu sein wie sein Fahrzeug. Aber im Gegensatz zu dem tatenlustigen, geschäftigen ‚Tock tock tock’ der Maschine, machte der Mann ein griesgrämiges, missmutiges Gesicht. Andrea blieb stehen. ‚Lanz’ las sie die roten Buchstaben auf dem Kühler. Der missmutige Mann sah sie nicht an. Er sah stur vor sich auf die Straße und lenkte die langsame, laute Maschine. Nicht mit einem Hinweis ließ er Andrea merken, ob er sie gesehen hatte. Andrea würde ihn auf keinen Fall kommentarlos vorbeifahren lassen. Das Regenwasser lief ihr über das Gesicht und tropfte in die Augen. Sie war mittlerweile nass bis auf die Haut.
Schimpfend, schnaufend und stöhnend machte das Gespann aus Arbeitsmaschine und missmutigem Fahrer neben ihr halt. Der Lärm war so laut, dass Andrea die Ohren schmerzten. Als sie ‚Bulldog’ seitlich auf dem Motor las, musste sie lächeln: genau so musste dieses Fahrzeug heißen.
„Wo willse, Mätsche?“ brummte der Mann unfreundlich. „He is doch nix.“ Das große, runde und vom Wetter gezeichnete Gesicht des Mannes verriet keine Gefühle.
‚Freundlich sein’ entschied Andrea sich und erklärte: „Guten Abend. Ich heiße Andrea Jansen. Ich fange morgen bei Schlichter Ferdinand Hofmeister ein Praktikum an. Mein Auto ist leider kaputt und…“
„Red nich so viel! Komm he! Komms mit bei uns!“ Missmutig riss er Andrea am Arm hoch und verfrachtete sie mitsamt ihres roten Trollies auf die Radverkleidung. Nicht wissend wie ihr geschah, konnte Andrea sich nur noch schnell an Irgendetwas festkrallen, bevor der rüpelhafte Fahrer wieder Gas gab.
Das ‚Tock tock tock’ der Maschine tat in den Ohren weh. Erst war ihr die Maschine sympathisch gewesen: sie kämpfte sich genauso wie sie gegen den Regen ab. Aber jetzt schien ihr dieses Fahrzeug doch sehr menschenfeindlich und so unfreundlich zu sein wie sein Fahrer. Der saß auf dem Metallsitz und starrte noch missmutiger und unfreundlicher als zuvor auf die Straße vor ihm. Die Farbe seines Gesichts sprach von Bluthochdruck und Alkohol. Der Schein der Funzeln, die als Scheinwerfer verkleidet waren, erhellten kaum die nächsten fünf Meter Straße. Um sie versank alles in Dunkelheit, kalte, nasse, unfreundliche Dunkelheit.
Als Andrea sich an das rhythmische Klopfen des einen Zylinders gewöhnt hatte, begann ihr Gehirn zu arbeiten: ‚Konnte sie dem Mann trauen?’, ‚Wo fuhren sie hin?’, ‚Wer ist ‚os’?’, War sie wirklich so dumm gewesen, sich von einem unbekannten Mann auf einen Trecker hieven zu lassen und mit ihm in die stockfinstere Nacht zu fahren? Eine Hand im Straßengraben! Andrea schrie auf. Fahrer und Gefährt machten erschreckt einen Satz und Andrea hatte das Gefühl, beide sähen sie äußerst missbilligend an.
„Eine Hand… Da war eine Hand… Im Graben…“
„Bis joa beklopp!“ tadelte der Fahrer sie und ignorierte sie wieder.
Sie hatte eine Hand gesehen! Nur ganz kurz, aber sie war sich sicher. Ihre Fahrt wurde langsamer. Sie bogen in eine Hofeinfahrt ab. So nah bei der Hand im Graben? Was, wenn…
„Jeh da rinn!“ befahl der Mann und riss Andrea vom Trecker auf den aufgeweichten Boden. Mit zitternden Gliedern, aber unfähig, sich dem Befehl zu widersetzen, stolperte Andrea den gepflasterten Weg entlang und öffnete die Türe eines alten Hauses. Das ‚Tock tock tock’ erstarb. Eine niederdrückende Stille legte sich über den Ort und machte ihr noch mehr Angst, als das ohrenbetäubende Geräusch, an das sie sich gewöhnt hatte.
Sie tastete sich einen kalten, dunklen Flur entlang, der so roch, wie die alte Holzkiste ihrer Oma: Mottenkugeln, feuchter, alter Stoff und feuchtes, altes Holz.
„Werner?“ rief eine sonore, weibliche Stimme. Die beiden ‚e’s im Namen wurden sehr gedehnt.
„Werner!?“ rief die Frau ärgerlicher, weil sie keine Antwort bekam. Dann wurde eine Tür aufgerissen und warmes Licht fiel auf die tropfende Andrea. Die kleine hagere Frau, die nach ‚Werner’ gerufen hatte, erschrak, rief dann aber laut aus: „Kind! Owiije! Komm rinn, komm rinn! Bis joa klätschnaat! Na, komm, komm!“ Wie eine aufgeschreckte Glucke hüpfte die erst so unbewegliche Frau um Andrea herum, die kaum verstand, wie ihr geschah. Die Frau trieb sie durch den dunklen, kalten Flur in ein Badezimmer. Sie redete ununterbrochen, aber Andrea verstand sie kaum. Aufgeregt erklärte die Frau Andrea die Armaturen über der Badewanne, überhäufte sie mit Badetüchern und rannte wieder aus dem Bad. Die Frau kam wieder, legte ein Stück Kernseife auf den Handtuchstapel in Andreas Händen und verschwand wieder.
Andrea blieb wie versteinert stehen und versuchte zu verstehen, was geschehen war. „Kanns dusche. Mein Mann kommt nich. Jeh dusche, Kind, jeh schonn!“ Das meiste verstand Andrea nur, weil die Frau sehr stark gestikulierte. Als die Frau das Badezimmer wieder verlassen hatte, legte Andrea die Handtücher weg und zog sich aus.
„Dein Zeuch, Kind! He, dein Zeuch. Jeh dusche, los!“ Die Frau schob Andreas roten Trolly ins Badezimmer und verließ es dann wieder.
Als Andrea unter dem warmen Wasser stand und über ihre Situation nachdachte, musste sie lachen: sie hatte Angst vor zwei ganz lieben, selbstlos-fürsorglichen Menschen gehabt. Nach der Dusche klopfte sie warm, trocken und fröhlich an die Tür, hinter der sie Stimmen hörte. Sie wurde von der kleinen, sehnigen Frau besorgt und überfürsorglich empfangen. Der Mann, der wohl Werner hieß, saß am Esstisch und löffelte den köstlich duftenden Eintopf. Ein Teller stand schon für Andrea bereit und wurde gefüllt, noch bevor sie saß.
„Frau Jansen, ich frage Sie nochmals: um welche Uhrzeit fanden Sie die Leiche?“
Genervt sah Andrea den arroganten, drahtigen LKA-Beamten an und wiederholte geduldig: „Gestern Abend, gegen 21 Uhr, habe ich im Scheinwerferlicht diese Hand gesehen. Aber weil es so geregnet hat und auch schon dunkel war, war ich mir nicht sicher. Es hätte ja auch ein Zweig gewesen sein können. Heute Morgen wollte ich dann sicher gehen und bin hierher gelaufen. Ich habe auf dem Bauernhof der Eheleute Bauer, hier um die Ecke, übernachtet, weil mein Auto kaputt gegangen ist.“
„Aber wieso haben Sie den Leichenfund nicht bereits gestern der Polizei gemeldet? Haben Sie etwas zu verbergen?“
Nun reichte es Andrea: so durfte der Westernheldverschnitt nicht mit ihr reden. „Ich weiß nicht mal, wer tot ist! Ich komme nicht aus der Gegend! Ich mache hier ein Praktikum und soll heute anfangen…“
„Frau Jansen! Sie verstehen das nicht: beim Auffinden der Leiche vor dem Regen hätten unsere Experten die möglichen Spuren vor dem Regen schützen können. So hätten wir vielleicht Hinweise auf den… auf die Todesursache finden können.“
Andrea kochte: sie hasste es, wie eine dämliche Gans behandelt zu werden: „Lieber Herr Heinrich – Nein! Jetzt hören Sie mir mal endlich zu! Hinweise auf die Todes‘ursache’ finden die ‚Gerichtsmediziner’ an der Leiche! Ihre ‚Experten’ – allgemein auch ‚Spurensicherung’ genannt – suchen Hinweise auf einen ‚Mörder’! Verkaufen Sie mich nicht für blöd! – Nein, ich bin noch nicht fertig! Als ich gestern die Hand gesehen habe, hat es bereits seit einer Stunde in Strömen geregnet. Da hätte selbst die beste KTU nichts mehr gefunden! Gucken Sie nicht so erstaunt…“ – beinahe hätte sie ‚Lackaffe’ gesagt – „Ich weiß sogar, was KTU heißt.“
Herr Heinrich war fertig mit ihr. Er bat sie noch steif, ihn darüber zu informieren, wenn sie die Gegend wieder verlassen sollte und entließ sie dann.
Mit dem Taxi fuhr Andrea zu ihrem neuen Praktikumsplatz. Sie würde zwei Stunden zu spät kommen und hoffte, dass ihr Chef dafür Verständnis hatte. Während der Befragung des fiesen LKA-Beamten hatte Andrea sich mehrmals fast verplappert und erwähnt, dass sie sich die Leiche angesehen hatte, als sie auf die Polizei wartete. Ihr waren die grün lackierten Fingernägel aufgefallen. Die Frau war vielleicht Mitte vierzig gewesen, blond und hübsch. Kein Ring am Finger, aber einen Fleck am Hals, der fast wie ein Knutschfleck aussah. Er war etwas dunkler. Hände und Gesicht waren seltsam verzerrt, verkrampft, die Augen weit aufgerissen. So wie sie im Graben lag, hatte es ausgesehen, als wäre sie betrunken hineingefallen und nicht wieder herausgekommen. Sie hatte erbrochen. Etwas vom Erbrochenen klebte noch am Mund, den Rest hatte der Regen weggespült. Sie war im Graben gestorben. Aber warum? Woran? Andrea musste sehen, wie sie an den Obduktionsbericht kam. Zuhause wäre so was kein Problem gewesen: ihr Onkel war Staatsanwalt.
„Sie hatte Schmerzen!“
Herr und Frau Hofmeister sahen Andrea erstaunt, dann besorgt an. Herr Hofmeister schüttelte den Kopf: „So ein unsensibler Mensch, der Herr…“
„Heinrich“, half seine Frau.
Andrea und das Ehepaar Hofmeister saßen am Tisch im Haus des Schlichters, redeten, tranken Kaffee und aßen Weißbrot mit Marmelade. Frau Hofmeister hielt es für die beste Therapie gegen den Fund einer Leiche am ersten Arbeitstag.
Herr Hofmeister nickte: „Ja. Aber leider kann ich da nichts machen.“
Er erklärte wieder, dass er lediglich Schlichter und Notar sei und keinen Einfluss auf die Polizei und deren ‚Verhörmethoden’ nehmen könnte. Aber Andrea hörte nur halb zu. Die Leiche hatte sie nicht so sehr erschreckt, wie es ihr neuer Chef glaubte. Sie rätselte über die Todesursache. Vielleicht war es einfach eine Alkohol- oder Drogenvergiftung? Andrea gingen die Hände nicht mehr aus dem Kopf. Aber warum? Andrea betrachtete ihre eigenen Hände. ‚Die Farbe!’ sagte sie beinahe wieder laut. Die Frau im Straßengraben hatte bläuliche Hände gehabt, als wäre ihr kalt gewesen. Es war in der Nacht nicht kalt gewesen, fünfzehn bis siebzehn Grad. Aber wenn die Frau so durchnässt gewesen wäre, wie Andrea am Vorabend? Bekam man schon bei fünfzehn Grad blaue Finger?
Andrea hatte den Rest ihres ersten Arbeitstages frei. Sie hatte nicht darum gebeten, aber es war ihr ganz recht. So konnte sie ihre Einliegerwohnung beziehen und einkaufen. Die nette, kleine Wohnung war mit hellen, gemütlichen Holzmöbeln eingerichtet. Von einem kleinen Flur kam man links in die hübsche Küche und geradeaus in ein großes Wohnzimmer. Nach rechts setzte sich der Flur fort. Eine Türe führte ins geräumige Badezimmer und geradeaus endete der Flur vor der Schlafzimmertüre. Als Andrea ihre Sachen verstaut hatte, rief sie Anna an. Anna war ihre beste Freundin seit Kindertagen. Andrea erzählte ihr alles, angefangen bei ihrem kaputten Auto über den brummeligen Bauern bis hin zum Leichenfund und über den widerlichen LKA-Beamten.
Anna, die lieber ausführende als ‚redende’ Kraft war, also lieber BKA-Beamtin als Juristin, stellte trocken fest: „Du willst den Obduktionsbericht.“
„Ja, na ja. Ich wüsste schon gerne, woran die Frau gestorben ist… Aber…“
„Kannst du deinen Onkel nicht fragen?“
„Der ist für hier nicht zuständig. Aber hier gibt es bestimmt einen Dorfsheriff oder so was. Vielleicht bekomme ich über den was raus.“
„Ich kann mich auch mal ‚umhören’“, bot Anna an.
„Nein! Ich will nicht, dass du Ärger bekommst. Und du bist doch auch nicht hier zuständig…“
„Ich bin BKA, Kleine! Ich bin überall zuständig!“
Andrea grinste: in manchen Fällen hatte ihre Freundin sich eine erstaunliche, aber aufgesetzte Überheblichkeit angeeignet.
„Wenn du mir den Namen der Toten sagst, schicke ich dir den Obduktionsbericht. Ich muss Schluss machen: irgendsoein Halbintelligenter macht hier Ärger. Halt die Ohren steif! Kann ich dich unter der Nummer erreichen?“
„Ja, das ist meine private Nummer hier.“
„Gut, bis später.“
„Guten Morgen Frau Jansen. Kommen Sie rein“, begrüßte die Frau ihres Chefs Andrea am nächsten Morgen. Sie war eine hochgewachsene, schlanke und ruhige Frau. Ihr weißes Haar hatte sie – wie am Vortag – zu einem langen, dicken Zopf geflochten.
„Kommen Sie, Frau Jansen. Mein Mann kommt auch gleich und dann wollen wir erst mal frühstücken. Was für ein schrecklicher Tag das gestern für Sie war. Aber Ihr Auto fährt wieder?“ Die Frau sprach langsam und sehr deutlich, aber mit so viel Autorität, dass niemand sie unterbrechen würde.
„Ja, mein Auto fährt wieder. Vielen Dank, dass Sie sich darum gekümmert haben!“
„Nein, kein Problem! Das ist doch selbstverständlich! Setzen Sie sich. Ohne ein gutes Frühstück kann man den Tag nicht beginnen.“
Während des Frühstücks erfuhr Andrea, dass sie jeden Morgen in der Woche zum Frühstück erwartet wurde. Erst danach würde die Arbeit beginnen. Herr Hofmeister erzählte in seiner ruhigen und besonnen Art von seiner Arbeit und seiner Bekanntschaft mit Andreas Vater. Auch er hatte weißes Haar. Er war groß und kräftig und hatte durchdringende blaue Augen. Gegen Ende des Frühstücks kam das Gespräch auf die Tote. Andrea hatte sich nicht getraut, nach ihr zu fragen, brannte aber auf Neuigkeiten über die tote Frau im Straßengraben. Viel Neues erfuhr sie nicht, nur endlich ihren Namen: Antonia Wiedmann.
Anna hatte Andrea den vorläufigen Obduktionsbericht der toten Antonia Wiedmann geschickt. ‚Lysergsäurediethylamid’. Das würde Andrea zu Hause im Internet nachgucken. Sie hatte Mittagspause. Sie ging, wie jeden Tag seit Beginn des Praktikums zur einzigen Bäckerei des kleinen Ortes Niederheid und kaufte sich dort ein belegtes Brötchen und etwas Süßes. Die Frau hinter dem Tresen war ihr erster und bisher einziger sozialer Kontakt in der Kleinstadt. Sie war etwa zehn bis zwölf Jahre älter als Andrea, also Anfang vierzig und eine fleißige und freundliche Frau. Ihr gehörte die Bäckerei.
„Frau Jansen, guten Tag! Wie geht es Ihnen?“ begrüßte die Bäckerin Andrea freundlich.
„Gut, danke. Und Ihnen?“
„Sie wissen doch: wenn es Ihnen gut geht, geht es mir gut. Was darf es heute sein, Frau Jansen?“
Andrea bestellte und entschied sich, an einem der kleinen Tische in einer Nische der Bäckerei zu essen und den Obduktionsbericht zu lesen. ‚Durchblutungsstörungen der äußeren Extremitäten.’ Das war eine Erklärung für die bläulichen Hände, fiel Andrea auf. Sie las weiter: ‚keine äußeren Verletzungen, keine äußere Gewalteinwirkung’. Mehrere schwarze Flecke, von denen Andrea gedacht hatte, es wären Knutschflecke, hatte der Gerichtsmediziner am ganzen Körper dokumentiert. Die Tote hatte etwas Alkohol im Blut, aber nicht genug, um den Tod zu erklären. Außerdem hatte sie etwas Gebäck im Magen, das sie am frühen Nachmittag gegessen haben musste. Das Vorhandensein von Derivaten von Lysergsäurediethylamid und bisher nicht identifizierten Stoffen weckten Andreas Interesse. Doch sie musste auf den toxikologischen Befund warten, der Einzelheiten erläutern würde. Der Tod war durch Herzstillstand am frühen Abend eingetreten.
Nach einer Weile setzte die Bäckerin sich zu Andrea und fragte sie nach der Arbeit.
„Vermisste Kälber, zerstörerische Rinder und freche Schweine“, seufzte Andrea.
„Ach ja, heute war noch was Besonderes: jemand unterstellt seinem Nachbarn, die Katze in einen Hinterhalt gelockt und erschossen zu haben.“ Seit vier Tagen sortierte Andrea die eingehenden Beschwerden der umliegenden Gemeinden. Sie hatte nicht gedacht, dass ihr Job spannend werden würde. Aber etwas mehr Abwechslung hatte sie schon erwartet. Und sie hatte erwartet, dass Herr Hofmeister hauptsächlich als Notar arbeitete. Doch wesentlich häufiger waren bisher seine Fähigkeiten als Schlichter gefragt gewesen.
Frau Twanstedt, die Bäckerin, lachte: „Ja, soviel Schlimmes passiert hier nicht. Deshalb bin ich ja hergezogen.“
Andrea grinste: „Als ich hier angekommen bin, gab es direkt eine Leiche.“ Seit dem Fund der Leiche wurde im ganzen Dorf über nichts anderes gesprochen. Andrea wusste das, war aber nie an den Gesprächen beteiligt.
„Sie war eine liebe Freundin“, dachte Frau Twanstedt laut.
„Sie kannten sich? Sie waren befreundet?“ fragte Andrea überrascht.
Die Bäckermeisterin sah traurig aus. „Ja, natürlich. Hier kennt jeder jeden und Antonia war mit allen gut bekannt. Freunde… na ja das ist vielleicht zu viel gesagt. Aber wir kannten uns gut.“
„Und… kann sich jemand erklären, warum sie gestorben ist? Oder wie?“
Frau Twanstedt schüttelte traurig den Kopf: „Nein, niemand.“
„Lysergsäurediethylamid“, las Andrea sich selbst laut vor: „LSD. Die tote Frau hatte LSD im Blut. – Das hab ich ihr nicht zugetraut! – Also doch nur `ne Überdosis…“ Ein Geräusch am Fenster ließ sie erschreckt aufsehen. Es war schon dunkel und sie hatte vergessen, die Jalousien zu schließen. Andrea spähte in die dunkle Nacht hinaus, sah aber nichts. Wahrscheinlich war ein großer Nachtfalter gegen das hellerleuchtete Fenster geprallt. Sie schloss die Jalousien der Erdgeschosswohnung und rief Anna an: „Anna, die Frau hatte LSD im Blut.“
„Ja, ich weiß, ich hab’s gelesen.“
„Aber davon stirbt man doch nicht, oder? Was sind das denn für andere Stoffe, die sie im Blut hat?“
„Andrea! Woher soll ich das denn wissen? Ich weiß so viel wie du. Ich habe nur den Bericht, den ich dir auch geschickt habe.“
„Mmh… Sie sah nicht so aus, als würde sie LSD nehmen“, überlegte Andrea laut. „Sie sah eher sehr… sehr ‚brav’ aus…“
„Du guckst den Menschen immer nur vor den Kopf, Kleine. Aber ich habe eben mal nachgeguckt: bei dir da in der Ecke sind uns keine LSD-Funde bekannt – bisher.“
„Hat Fabian sich gemeldet?“ wollte Anna Sonntagmorgen von Andrea wissen. Widerwillig schüttelte Andrea den Kopf, sagte aber nichts. Anna kannte ihre Freundin zu gut, um keine Antwort nicht zu verstehen. „Warum rufst du ihn nicht an?“
„Der ist schuld, dass ich in diesem Kaff sitze“, giftete Andrea.
Anna seufzte und wechselte das Thema: „Was machst du heute? Dein erster freier Tag in der Provinz.“
„Ach, Anna… Willst du mich nicht besuchen kommen? Was soll ich denn hier machen? Ich weiß nicht, was man in so einem Kaff macht, wenn man nicht arbeitet.“
Anna verstand ihre Freundin und sie tat ihr leid. Sie selbst hätte mit ihrem Freund Schluss gemacht und ihren Vater aus ihrem Gedächtnis verbannt, wenn die sie in so ein Dorf geschickt hätten. Sie verstand nicht, was Fabian und Andreas Vater damit bezweckten. „Kleine, ich kann nicht kommen“, bedauerte Anna.
„Ja, ich weiß“, seufzte Andrea und fügte hinzu: „Grüß deine Süße von mir und macht euch einen schönen Tag, ja? Ich… Mir fällt schon irgendwas ein…“
„Ich ruf dich wieder an! Versprochen! Halt die Ohren steif!“
Andrea lief schon seit zwei Stunden durch die Felder um das Dorf herum. Sie kam an Getreide- und Kartoffelfeldern vorbei, lief durch kleine Wäldchen, an Pappel-gesäumten Wassergräben entlang und an Weiden mit schwarz-weißen Kühen vorbei. Es war ein trüber, aber trockener Spätsommertag. Seit sie losgegangen war, war sie niemandem begegnet. Das viele Grün der Landschaft faszinierte sie, wie die Einsamkeit und die Ruhe: das war sie von der Stadt überhaupt nicht gewöhnt.
„Hey! Komm da raus! Das glaub ich ja nicht!“ Eine rüde Stimme übertönte die Geräusche des riesigen grünen Schleppers mit Sämaschine dahinter. Ein großer Mann stieg schimpfend aus der Fahrerkabine. Er schrie Andrea an, wild mit den Armen fuchtelnd und hochrot im Gesicht. Andrea stand in der Fahrspur in einem Getreidefeld und starrte entsetzt vor sich auf den Boden. Sie bemerkte den muskelbepackten Mann kaum, der wütend zu ihr stürmte. „Hey!“ schrie der Mann noch mal laut.
Andrea sah erschreckt auf.
„Hey, komm da raus! Mann, wie bin ich euch Umweltgurus leid! Keine einzige Probe von meinem Weizen bekommt ihr für euer Feld-Wald-Wiesen-Labor! Raus aus meinem Feld, oder ich… – Was haben Sie? Was ist los?“ Der Mann war so nah zu Andrea gestürmt, dass er ihr entsetztes Gesicht sah.
„Haben… haben Sie ein Gewehr?“ stotterte Andrea.
Der Mann trat neben sie und sah das verwundete Reh zu ihren Füssen. Das laute Röcheln des Tieres hatte Andrea vom Feldweg ab ins Feld gelockt. „Mistkerle!“ knurrte der große Mann sauer. Er stapfte aufgebracht durch das Getreide zu seinem Schlepper zurück.
„Kommen Sie. Meine Frau macht Ihnen einen Kaffee. Dann geht es Ihnen wieder besser“, brummte der Mann. Er führte Andrea zum Schlepper und drängte sie einzusteigen. Wieso drängten sie in letzter Zeit so viele Männer, in deren Trecker einzusteigen? Das tote Reh wickelte er in ein Tuch. Andrea sah nicht, wohin er das Tier legte, bevor er selbst einstieg und sie mit dem riesigen Gefährt losfuhren.
„Wilderer“, murmelte der Mann finster. „Immer wieder werden hier Tiere angeschossen. Weil die Mistkerle im Dunkeln nicht sehen, wohin sie schießen, lassen die die armen Tiere einfach liegen und armselig krepieren… Eine Sauerei ist das! Und die Polizei hat zu wenig Leute, um effektiv dagegen vorzugehen.“
„Ist das Ihr Jagdrevier?“
„Mmh? Nein. Nein, hier nicht mehr. Meine Pacht ist weiter südlich. Aber wir Jagdpächter verstehen uns untereinander ganz gut. Ich ruf den Meyer, Hubert gleich einfach an…“ Der Mann brach ab und musterte Andrea unverhohlen. „Sie kommen nicht von hier. Ich habe Sie noch nie gesehen“, stellte er dann fest.
„Ich bin erst seit einer Woche hier. Ich mache ein Praktikum bei Notar Hofmeister. Andrea Jansen. Danke, dass Sie…“ Andrea brach ab: es fühlte sich falsch an, dem Mann dafür zu danken, dass er das Reh getötet hatte.
„Mmh, ich weiß schon… Armes Tier… Na ja… – Dann sage ich mal: Willkommen in unserer wunderschönen Ecke der Welt, Andrea! Ich heiße Joachim Peters“, er gab Andrea die Hand.
Andrea lächelte: „Danke!“
„Bei Hofmeister arbeiten Sie? Mmh… Ein sehr anständiger Mann!“
„Maria!“ brüllte Joachim quer über den modernen, sauberen Hof. Den Schlepper samt Sämaschine hatte er zuvor ordentlich unter einem Vordach neben der Scheune abgestellt.
„Ja!“ brüllte eine Frau im gleichen Ton aus irgendeiner Ecke des großen Hofes zurück.
„Mach mal Kaffee!“ brüllte Joachim wieder.
Er ging in die Richtung, aus der die Frauenstimme kam. Eine zierliche Frau im schmutzigen Blaumann und mit Kopftuch kam aus einer Türe auf Andrea und Joachim zu. Sie wischte sich die Hände an der Hose ab und strahlte ihren Mann und Andrea an: „Hallo! Mit Besuch habe ich ja heute gar nicht gerechnet. Eva.“
Verwirrt sah Andrea die Frau an und schüttelte die Hand. Sie antwortete automatisch: „Andrea. Hallo.“
Die Frau lächelte: „Ich heiße Eva-Maria. Ich mag den Namen ‚Eva’ lieber und Jo mag ‚Maria’ lieber. Ich höre auf beides. Komm rein, ich mach Kaffee. Ein bisschen Kuchen müsste auch noch da sein. Jo, willst du auch was?“