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Drei tote Frauen. Und die Polizei tappt im Dunkeln. Andrea wollte sich um ihre Angelegenheiten kümmern: um ihr Praktikum beim Notar, um den angekündigten Besuch ihres Freundes. Aber wenn die Polizei nicht weiterkommt... Und sie dann noch um ihre Mithilfe bittet... Doch dann befindet sie sich plötzlich in höchster Lebensgefahr.
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Seitenzahl: 274
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Sieh nach rechts und sieh nach links, Sieh nach vorn‘ und denk: „was bringt‘s?“ Sieh zu dir und freu‘ dich sehr: Bist perfekt, verlang‘ nicht mehr.
Mama, Du hast wieder tolle Bilder gemalt. Vielen Dank.
ALLE FIGUREN SIND FREI ERFUNDEN. ÄHNLICHKEITEN SIND ZUFÄLLIG.
ANDREA JANSENaus Frankfurt am Main will Jura studieren. Sie macht ein Praktikum bei Hofmeister in die Gemeinde Niederheid. Sie will nach dem Studium in die Kanzlei ihres Vaters einsteigen.
FERDINAND UND YASMIN HOFMEISTERSchlichter und Notar, bei dem Andrea ihr Praktikum macht. Er ist anerkannt und geachtet. Seine Frau engagiert sich stark in der Gemeinde.
NICK WILMSbleibt Polizeioberkommissar, weil er nicht in eine größere Stadt versetzt werden will. Er ist zu Andreas bestem Freund in der Gemeinde geworden.
MARION GUSTAFSPolizeikommissarin und Freundin von Andrea.
HERR HEINRICHLKA-Beamter, der zur Lösung des Mordfalls nach Niederheid geschickt wird. Schon beim letzten Mord hat Andrea sich oft mit ihm gestritten.
ANNA REIAndreas beste Freundin seit der Kindheit. BKA-Beamtin, die Andrea ab und zu mit Informationen zu polizeilichen Ermittlungen aushilft.
SAMIRAGraue Tigerkatze, die Andrea besuchen kommt. Sie gehört mittlerweile zu Andreas Leben.
FABIANAndreas Freund, Anwalt für Wirtschaftsrecht, Teilhaber der Kanzlei von Andreas Vater.
JO UND EVA-MARIA PETERSein junges Ehepaar mit einem modernen Bauernhof. Andrea hilft ihnen am Wochenende im Stall oder besucht sie in der Woche. Eva erwartet ihr erstes Kind. Jo ist Nicks bester Freund.
LEO UND THEO LEUTERein altes Ehepaar, die Klatschpresse des Dorfes. Sie wissen alles über jeden und machen einen Bogen um die Polizei.
PAUL HENSENhat keinen guten Ruf. Er führt mit seiner Mutter einen Bauernhof, nachdem er seinen Vater in ein Pflegeheim gebracht hat.
WALTER GEHEIDENein Bauer aus dem Nachbardorf Mühlendorf. Nach dem Tod seines Vaters bewirtschaftet er den Hof mit seiner Mutter Babette zusammen.
HOLGER BOREJAANSein Freund von Nick. Lebt von der Schweinemast.
JAN BRECHTSOHNHufschmied und ein Freund von Nick.
ARMIN THEMENein Freund von Nick und protestantischer Pfarrer.
MALTE LOHDENein Freund von Nick und Bauer der Gemeinde.
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Epilog
„Nick!“ Andrea lief über die größte Straße des kleinen Dorfes Niederheid am unteren Niederrhein zu dem jungen Streifenpolizisten.
„Wie geht’s dir?“ fragte sie ihn fröhlich. Hinter ihr rauschte ein früher Pendler vorbei, der wahrscheinlich nach Düsseldorf musste.
Der Beamte erwiderte Andreas Lächeln: „Gut, danke. Und dir? Was machst du hier?“
„Konnte nicht schlafen. Sonst geht’s mir gut. Kalt ist es heute morgen! Warum bist du schon wach?“ Andrea neckte ihn gerne mit seinen großzügigen Beamten-Arbeitszeiten. Sie konnte ihren Atem in der kalten Luft des klaren Septembermorgens sehen.
„Hab´ gleich Feierabend“, brummte der große Mann und änderte Andrea zuliebe die Richtung, in die er gelaufen war. Gegen Ende der Nachtschicht, wenn die ersten Kollegen schon wieder auf der Wache waren, ging Nick immer durch die verlassenen Straßen des Dorfes. Einerseits würde er sonst in seinem kleinen Büro einschlafen, andererseits genoss er es, wenn er mal bei einem Spaziergang durchs Dorf niemandem begegnete.
Andrea arbeitete beim Schlichter und Notar der Gemeinde. Da sie ihre guten Schuhe trug und Nick unter ihrer Jacke den Kragen einer Bluse erkannte, nahm er an, dass sie zu Fuß zur Arbeit ging. Weit war der Weg von ihrer Wohnung zum Büro des Schlichters Hofmeister nicht. Andrea war ihn schon öfter gegangen. Sie ging gerne spazieren und bewunderte die Vorgärten.
„Hattest du Nachtschicht?“ Die Frage war zwar überflüssig, aber aus irgendeinem Grund schien sie eine logische Antwort auf seine Aussage zu sein.
„Mmh“, brummte Nick nur.
„War was Spannendes?“
„Hmm… Nö, nicht wirklich.“
Sie lächelte zu Nick auf. Er war etwa anderthalb Köpfe größer als sie und wahrscheinlich fast doppelt so breit. Aber seine Taille war schmal. „Bist du zur Mittagspause wieder wach? Ich muss dir unbedingt was erzählen“, ereiferte sich Andrea.
Er lächelte: „Ja, bin ich. Ich kann sowieso nicht schlafen, wenn es hell ist. Ich…“
„Mach doch die Rollladen runter“, meinte Andrea erstaunt.
Nick schüttelte den Kopf: „Mach ich ja. Ich kann trotzdem nicht schlafen.“ Er tat es mit einem Schulterzucken ab. „Soll ich dich abholen?“
„Je nachdem, wo du essen willst. Wenn es nicht so weit von Hofmeister weg ist, können wir uns auch im Restaurant treffen. Sonst musst du mich abholen.“ Andrea kannte sich mittlerweile recht gut in Niederheid aus. Alle Gassen kannte sie aber noch nicht. Vielleicht gab es ja in einer dieser Gassen das beste Restaurant der Welt?
„Ich hol´ dich ab“, unterbrach Nick ihre Phantasie von der geheimen, versteckten Gourmet-Sensation.
„Schlaf gut“, rief Andrea fröhlich, als sie die kurze Treppe zur Haustüre der Hofmeisters emporstieg. Der klare, kühle Morgen gefiel ihr: es würde ein schöner, warmer Spätsommertag werden.
Es kam nicht zum gemeinsamen Mittagessen. Gegen zehn Uhr hörte Andrea die Sirenen mehrerer Streifenwagen, die stadtauswärts fuhren. Sie hoffte noch, der Einsatz der Polizei wäre vor zwölf Uhr beendet, aber als Nick bis viertel nach zwölf nicht an der Haustüre der Hofmeisters geklingelt hatte, entschloss sie sich, zu der kleinen Bäckerei des Ortes zu gehen.
Ein großes ‚B’, in geschwungenen Linien geschrieben, zierte die Fassade. Es diente einerseits dem Wort ‚Bäckerei’, andererseits dem Namen ‚Brookjeman’ als Anfangsbuchstabe. Bea Brookjeman hatte die Bäckerei von ihrer Schwester übernommen, nachdem diese wegen versuchten Mordes verhaftet worden war. Und es war auch nur verständlich, dass Frau Brookjeman die Bäckerei umbenannt hatte: ihre Schwester hatte eine Frau mit einem selbstgebackenen Rosinenstütchen vergiftet.
Manchmal unterhielt Andrea sich mit der Bäckerin. Sie war eine stille, etwas spröde Frau. Ihre Schwester war geselliger gewesen. Ihr Handwerk verstanden beide sehr gut.
Heute wollte Andrea den schönen, warmen Tag genießen. Sie kaufte ein Käsebrötchen und einen Nougatring und ging damit spazieren. Es wunderte und verstörte sie etwas, dass Nicks Einsatz so lange dauerte: das hieß nichts Gutes! Aber wahrscheinlich waren nur ein paar Kühe ausgebrochen und die Polizei konnte sie nicht einfangen. Normalerweise passierte nicht viel in der Kleinstadt. Kleinere Prügeleien und Betrunkene an den Wochenenden, ein kleinerer Nachbarschaftsstreit oder Traktoren, die das Tempolimit im Dorfkern überschritten, waren die häufigsten Störfälle. Einmal war ein Schlepper mit zwei Anhängern einem großen LKW begegnet. Die Straße war so eng, dass sie nicht aneinander vorbei kamen und rückwärts konnten sie beide nicht fahren. Es war ein riesiges Spektakel gewesen: die halbe Stadt war gucken gekommen und die umliegenden Geschäfte hatten dreimal mehr Lebensmittel als sonst verkauft. Mit viel Geduld hatte Nick versucht, den Bauern aus dem Nachbardorf zu überreden, seine Anhänger abzuhängen und einzeln aus der Gasse zu schleppen. Ohne Erfolg. Der Mann war immer wütender geworden und sein Blutdruck schien ungeahnte Höhen zu erklimmen. Der junge, verstörte, lettische LKW-Fahrer hatte so schüchtern in einer Ecke gestanden und Kette geraucht, dass Andrea ihn schon trösten wollte. Er weigerte sich, jemand anderen seinen LKW fahren zu lassen. Als es Nick zu bunt geworden war, hatte er dem LKW-Fahrer unter Androhung einer Haftstrafe den LKW-Schlüssel abgenommen und den 40-Tonner eigenhändig aus der engen Straße gelenkt. Diese Eigenmächtigkeit des Polizeioberkommissars sollte noch ein Nachspiel haben, aber bisher wartete Nick vergeblich darauf.
Andrea hörte eine Polizeisirene, die schnell näher kam. Sie blieb stehen und sah dem Geräusch entgegen. Der Wagen war so schnell an ihr vorbei, dass sie den Fahrer nicht erkennen konnte. Das Nummernschild erkannte sie: ‚NRW 4 - 4312’, der Wagen, den Nick meistens fuhr. Scheinbar war es doch etwas Ernsteres, als ein paar freiheitsliebende Rindviecher.
„Frau Jansen, ich habe den Termin bei Familie Klein abgesagt. Sie wissen ja, dass es da um die Auflösung eines Haushaltes geht.“
Das wusste Andrea nur zu gut: sie hatte die Eheleute Klein vor sich sitzen gehabt und sich gefragt, ob die beiden Menschen sich wirklich mal so geliebt hatten, dass sie heirateten. Es war einer der anstrengendsten Fälle, die Andrea bisher bei Hofmeister bearbeitet hatte.
Herr Hofmeister erzählte Andrea in seiner üblichen, bedächtigen und sehr genauen Art, warum er den Termin abgesagt hatte: „Sie haben ja sicher die Martinshörner der polizeilichen Dienstwagen gehört. Ich habe eben kurz mit Nick Wilms gesprochen. Er sagte, die Straße nach Norden hinaus ist zurzeit gesperrt und das ist ja genau die Straße, die wir hätten fahren müssen. Wir werden morgen zu Familie Klein fahren.“
„Was ist denn passiert?“ wollte Andrea wissen. Ihr Chef würde noch ausführlicher von dem Termin und der gesperrten Straße erzählen, wenn Andrea ihn nicht ablenkte.
„Nick wollte es nicht sagen“, antwortete der große athletische Mann mit dem schneeweißen Haar. Seine durchdringenden blauen Augen ruhten besorgt auf Andreas Gesicht.
Sorgen machten sich jetzt auch in Andrea breit: Nick erzählte Hofmeister normalerweise, was los war. Nicht immer erzählte Hofmeister es Andrea, aber er sagte ihr, wenn er es wusste und nicht weitererzählen durfte oder wollte. Trotzdem erfuhr Andrea es immer. Meistens auch von Nick selbst.
Andrea wurde unruhig. Anna, ihre beste Freundin, fiel ihr ein. Sie arbeitete beim BKA und kam auch an die Polizeiberichte der Provinz, in der Andrea zurzeit arbeitete. Aber dazu mussten diese Berichte erst mal geschrieben sein. Andrea hatte keine Möglichkeit zu erfahren, was passiert war. Sie hoffte, dass es nichts Schlimmes war. Aber wenn… Sie musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren!
„Nick! Hallo.“ Andrea gähnte und öffnete die Wohnungstüre ganz. „Komm rein.“
„Ich hab dich geweckt“, brummte er. Er folgte Andrea in die Küche.
Sie winkte ab: „Nicht schlimm. Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen und da wird mir sowieso immer kalt. Ich hab letzte Nacht kaum geschlafen.“ Sie reichte ihm eine Flasche Bier und zog sie gleich darauf wieder zurück. „Oder bist du im Dienst?“
„Nee, hab Feierabend. Wurde auch Zeit! Danke.“ Er nahm einen großen Schluck aus der Flasche.
Andrea wollte nicht nachfragen, was passiert war. Er würde es ihr freiwillig erzählen oder sie würde Anna fragen. Sie wollte Nick nicht in Schwierigkeiten bringen. Bei Anna hatte sie da weniger Skrupel.
Sie setzte sich Nick gegenüber an den Tisch und nippte an ihrem Bier: „Hast du schon gegessen?“
„Hmm? Nee. Hatte noch keine Zeit.“
„Ich hab auch noch nichts gegessen. Was hältst du von Pizza?“
Nick sah auf: „Entschuldige bitte, dass ich dich nicht zum Mittagessen abgeholt habe. Ich… Es…“
„Schon okay!“ beruhigte Andrea. „Ich hab gehört, dass ihr schwer beschäftigt ward. Ihr macht ja immer so viel Theater darum, wenn ihr mal was tut: Blaulicht, Sirene…“
Nick reagierte nicht. Er lächelte nicht mal.
Schweigend saß Nick an Andreas Esstisch in ihrer kleinen Küche und trank sein Bier. Andrea beobachtete ihn ebenso schweigend. Nach einer Weile reichte es ihr aber: „Nimmst du `ne Schinken-Peperoni-Pizza, wie immer?“ Sie unterstrich ihren Entschluss, sein Schweigen nicht länger zu tolerieren, indem sie aufstand.
Nick fuhr erschreckt zusammen: „Was? Äh… ja, genau. Danke.“ Seine Gedanken schweiften wieder ab.
Andrea bestellte die Pizza für Nick und eine Lasagne für sich. Dann tauschte sie Nicks leere Flasche Bier gegen einen volle und setzte sich wieder an den Tisch. Als sie ihre Flasche leer getrunken hatte, ging sie ins Schlafzimmer, um sich einen dickeren Pullover zu holen. Ihr war kalt. Als sie zurückkam, saß Nick noch so in der Küche, wie sie ihn verlassen hatte. Sie nahm sich eine neue Flasche Bier. Sie hatte nicht mehr viel Bier, aber genug für den Abend. Es war Donnerstag. Sie hatte nur noch den morgigen Freitag bis zum Wochenende, an dem sie ausschlafen konnte: sie hatte Zeit. Zeit, um abzuwarten, bis Nick mit ihr redete.
„Hast du heute Mittag lange gewartet?“ fragte Nick nach einer Weile, in der niemand gesprochen hatte. Die Stille war ihm aufgefallen und hatte ihn aus seinen Grübeleien geweckt.
„Nein, nur `ne viertel Stunde“, antwortete Andrea. „Ich hab ja gehört, dass ihr mit Sirene durch die Stadt gerast seid.“
Er nickte geistesabwesend. Wieder eine kleine Weile später murmelte er: „Ich hab einfach vergessen abzusagen…“
„Kein Problem“, schüttelte Andrea den Kopf. „Wirklich nicht!“
Sie hatte das Gefühl, dass Nick über das reden wollte, was passiert war, es aber aus irgendeinem Grund nicht konnte. Vielleicht half ein kleiner Schubs: „Was ist los, Nick?“
Er sah auf und dann wieder auf den Boden. Nick war nicht zimperlich. Er war selten von einem Ereignis aus seinem Job so betroffen, dass es ihn nach Dienstschluss noch belastete. Und wenn es ein solches Ereignis gab, sprach er mit ihr darüber. Meist ohne Namen zu nennen und immer mit Andreas Versprechen, nicht darüber zu reden.
„Es… Wir… Wir haben draußen vor der Stadt eine Leiche gefunden… Das heißt, ein Bauer hat sie auf einem Feld gefunden.“
Eine Leiche war nichts Gewöhnliches in der kleinen Gemeinde, aber warum verstörte Nick das so stark? Hatte er den Toten oder die Tote gekannt? Andrea fragte etwas atemlos nach.
„Nein, ich glaub nicht…“ war seine Antwort.
„Wieso ‚glaubst’ du nicht? Du musst doch wissen, ob du den oder die Tote kennst?“
Langsam schüttelte der große Mann den Kopf: „Wir wissen nicht, wer sie ist. – Ihr Schädel ist zertrümmert. Man kann ihr Gesicht nicht erkennen“, murmelte Nick.
Andrea erschrak. Einen Moment brauchte sie, um sich zu fassen, dann fragte sie: „‚Zertrümmert’?“
„Hmm.“ Nick sah auf: „Richtig zertrümmert. Entweder war es ein schrecklicher Unfall… Oder…“ Er schwieg. „Ich glaube, sie war blond. Und etwa so alt wie du… Genau erkennen kann man das nicht…“ überlegte er.
„Man kann nicht mal erkennen, ob sie blond war?“ entfuhr es Andrea erschüttert.
Nick schüttelte den Kopf: „Nein. Der Kopf ist… Es ist nur noch eine seltsame Masse aus Blut, Gehirn und Knochensplittern.“
„Also hat ihr jemand mit einem Baseballschläger oder was Ähnlichem den Schädel eingeschlagen? Und er hat nicht nur einmal zugeschlagen?“
Nick schüttelte den Kopf: „Nein. Es sieht irgendwie anders aus. Ich glaube nicht, dass man das mit einem Baseballschläger so hinkriegt. Es ist wirklich alles kaputt.“
„Das tut mir leid, Nick“, sagte Andrea leise.
Nick sah überrascht auf: „Was?“
„Das du dich mit so was beschäftigen musst. Das hast du nicht verdient!“
Nick lächelte: „Danke! Aber ich bin es selbst Schuld: ich hab mir den Job ausgesucht. Wann kommt die Pizza?“
Andrea grinste heimlich: das war die typische Reaktion von Männern, die es gewohnt waren zu beschützen und nicht damit umgehen konnten, beschützt zu werden.
„Müsste gleich da sein.“
„Ist Sammy gar nicht da?“ wollte Nick wissen. Sie saßen im Wohnzimmer und tranken Andreas letztes Bier. Sechs neue Flaschen hatte der Pizzabote mitgebracht: die Pizzeria feierte Geburtstag und beschenkte ihre Gäste mit Bier oder Wein. Andrea hatte wählen dürfen.
Sie zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung. Normalerweise will sie um die Zeit wieder raus. Also kommt sie wohl nicht mehr.“
Samira, die graue Tigerkatze, die Andrea jeden Abend besuchen kam, war nicht sehr glücklich über ihren Spitznamen. Aber sie hörte darauf und arrangierte sich damit. Sie verstand sich gut mit Nick und freute sich immer, ihn bei Andrea anzutreffen. Mit Andrea hatte sie oft Meinungsverschiedenheiten.
„Wisst ihr irgendwas? Motiv? Mordwaffe? Täter?“ wollte Andrea wissen. Beim Essen hatten sie nicht über die Leiche gesprochen.
Nick schüttelte den Kopf: „Nein, gar nichts. Wir wissen überhaupt nichts. Noch nicht mal, wer sie ist und was sie da im Feld wollte. Gestern zwischen sechs und acht Uhr abends muss sie gestorben sein. – Über ihr Gebiss können wir sie auch nicht identifizieren. Es ist einfach kein Gebiss mehr da. Wir müssen auf passende Vermisstenanzeigen warten.“
„Und du sagst, es war kein Baseballschläger?“
Nick überlegte: „Nein. Das wären andere Schäden. Es sieht so aus… Es sieht fast so aus, als hätte ihr jemand mit einer großen, schweren Platte den Kopf zertrümmert. – Es muss eine grade Fläche gewesen sein. Ich weiß nicht, was sie ins Gesicht bekommen hat. Auf jeden Fall war es schwer und hat sie mit großem Schwung getroffen.“
Andrea wusste nichts zu antworten und schwieg.
Nick sah auf: „Andrea, versprich mir was!“
„Was denn?“ fragte sie erstaunt.
„Sieh dir die Bilder nicht an! Ich weiß, dass Anna dir die schickt, wenn du sie fragst. Aber… Sieh sie dir nicht an!“
Es erschreckte Andrea, dass Nick sie darum bat.
Sie nickte. „Ja, in Ordnung“, murmelte sie.
„Frau Jansen, sagen Sie, wissen Sie, welches Ereignis gestern zu dem großen Polizeieinsatz an der Landstraße geführt hat?“ fragte Herr Hofmeister am nächsten Morgen beim Frühstück.
Jeden Morgen frühstückte Andrea mit Herrn und Frau Hofmeister. Das Ehepaar wollte das so und Andrea gefiel es: sie mochte die bedächtigen älteren Leute gut leiden. Nur ihre überkorrekte Art versuchte sie etwas aufzulockern. Bisher aber nur mit sehr geringem Erfolg. Unsicher blickte Andrea ihren Chef an, der ein Bekannter ihres Vaters war.
„Nick hat es Ihnen erzählt“, schloss Herr Hofmeister aus ihrem Blick.
In den vielen Jahren, die er als Schlichter arbeitete, hatte er kontinuierlich seinen Blick für die Mimik und Gestik anderer Menschen geschult. Er konnte in einem Gesicht lesen wie in einem Buch. Andrea bewunderte ihn dafür und eiferte ihm nach. Es störte sie auch nicht, dass er in ihrem Gesicht las: sie wollte ihn nicht belügen und vertraute ihm und seinem Verständnis für Diskretion.
„Ja…“ stammelte sie. „Aber… Aber er hat mir nicht erlaubt, darüber zu sprechen“, sagte sie vorsichtig. Sie wusste nicht, wie Herr Hofmeister darauf reagierte. Normalerweise wusste er vor ihr, was passiert war.
Der Schlichter nickte bedächtig: „Dann reden Sie nicht darüber!“
„Gucken Sie nicht so unglücklich, Kind“, mischte Frau Hofmeister sich ein. „Sie tun das Richtige!“ Frau Hofmeister war groß und ebenso athletisch wie ihr Mann. Sie hatte kräftiges, schneeweißes Haar, das sie immer zu einem dicken Zopf geflochten trug. Imposant sah sie aus. Und herzensgut war sie.
„Es ist richtig, dass Sie gegenüber einem Freund Ihr Wort nicht brechen! Bezweifeln Sie das nie! Auch dann nicht, wenn Sie jemand anderen dadurch zurückweisen oder verletzen.“
Dankbar sah Andrea zu der Frau auf, die zusätzlich zur moralischen Unterstützung noch ein warmes Lächeln für sie hatte.
„Kommt Nick Sie zum Mittagessen abholen?“ wollte Herr Hofmeister wissen.
„Wir haben uns nicht verabredet“, sagte Andrea. Nick kam sie regelmäßig, aber nicht oft zum Mittagessen abholen. Er war Andreas bester Freund in Niederheid geworden.
„Ruf ihn doch an“, sagte Frau Hofmeister etwas reserviert. Es ärgerte sie, dass ihr Mann Andrea so bedrängte. Man musste sie gut kennen, um den hauchdünnen Unterton wahrzunehmen und zu verstehen.
Samstagabend traf Andrea sich mit Marion Gustafs, einer kleinen Polizeibeamtin, die gerne und zum Spaß mit ihren Karatekünsten drohte. Zusammen fuhren sie in den Nachbarort Hochtann und setzten sich dort in eine gemütliche Kneipe. Die ‚Tannenbar’ war die einzige Kneipe des Kreises, die auf jüngeres Publikum eingestellt war und neben Bier und Schnaps auch Cocktails und moderne Mixgetränke anbot. Außerdem erweckten nicht rustikale Eichenmöbel und karierte Tischdecken ein Eindruck, mit unter 60 Jahren fehl am Platz zu sein.
„Ein Bier trinke ich“, entschied sich Andrea. Sie grinste Marion frech an: „Und das kannst du ruhig deinen Kollegen sagen!“
Marion grinste zurück: „Wenn du nur ein Bier trinkst, lohnt sich das ja nicht. Da musst du schon mehr trinken!“
„Lustig wird es erst, wenn die dich anhalten“, kicherte Andrea.
Marion stimmte in das Kichern ein und nickte: „Stimmt! Für die Gesichter würd sich das fast noch lohnen. Aber… Ich glaube, ich probiere das erst mal nicht aus.“
Eine ganze Weile redeten und kicherten die beiden Frauen miteinander. Von ihrer Umwelt bekamen sie nichts mit, außer dem Kellner, den sie regelmäßig baten, ihre Gläser wieder aufzufüllen.
„Was ist? Warum guckst du plötzlich so ernst?“ wunderte sich Andrea.
Marion sah an Andrea vorbei, in den hinteren Teil der Kneipe: „Dahinten ist Nick.“
Andrea kicherte: „Ist das schlimm? Darf dein Chef dich nicht besoffen sehen?“
Marion grinste: „Ich bin nicht besoffen! Ein bisschen angetrunken vielleicht… Ey, lach nicht so!“ beschwerte sie sich und stimmte in Andreas Kichern ein.
Nachdem sie sich beruhigt hatten, fragte Andrea vergnügt: „Hat er uns gesehen? Sollen wir mal hingehen? Wo ist er denn?“
Marions Gesicht wurde wieder ernst. Sie schüttelte den Kopf: „Ich glaube, er hat uns nicht gesehen. Da hinten, mit der großen Blondine.“
Andrea entdeckte ihn: ein Bier in der Hand, einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhls gelegt, auf dem eine hübsche, blonde Frau saß. Sie redete auf ihn ein, aber er reagierte kaum.
„Ist das Susi?“ Andrea kannte die Frau nicht, von der gesagt wurde, dass sie Nicks Freundin war. Nick bezeichnete sie nie als seine Freundin. Er sprach sowieso nie über sie.
„Nein. Keine Ahnung, wer das ist.“
Andrea sah Marion überrascht an und schwieg erst mal.
„Aber…“ Sie wusste nicht, wie sie fragen sollte.
„Was denn?“ wollte Marion wissen.
„Ist… Betrügt er Susi?“
Marion schüttelte den Kopf: „Ich glaube nicht, dass er mit Susi zusammen ist.“
Verständnislos sah Andrea Marion an. Die zuckte mit den Schultern: „Die beiden wurden nur ein paar Mal zusammen gesehen. Mehr nicht.“
„Aber alle sagen, sie wäre seine Freundin!? Und er sagt auch nie was dagegen!?“
„Mmh. Ich denke, Nick geht einfach den Weg des geringsten Widerstands und widerspricht nicht. Und: ein paar Verehrerinnen weniger zu haben, gefällt ihm wohl ganz gut.“
„Wie? Äh…“ Andrea war sprachlos.
Marion kicherte: „Es passiert nicht oft, dass du keine Antwort weißt.“
Andrea grinste, blieb aber beim Thema: „Und wenn er eine andere kennenlernt, ist ihm Susi plötzlich egal?“
Marion zuckte mit den Schultern. Als wäre ihr unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl vor: „Andrea, ich sag nicht, dass das richtig ist. Nick… Er… Die Frauen stehen auf ihn! Und manchmal lässt er sich einfach von den Frauen ablenken. Er hat einer Frau noch nie was versprochen und… sich auch noch nie gebunden. Er…“ Marion zuckte wieder mit den Schultern: „Manche ersäufen Stress in Alkohol, ihm helfen die Frauen, Stress zu vergessen.“
Andrea schwieg. Darüber musste sie nachdenken, bevor sie wusste, was sie davon hielt.
„Andrea?“
„Hmm?“
„Ich kenn ihn schon mein ganzes Leben. Er war fünf, als ich geboren wurde. Wir waren Nachbarn. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll… Nimm es ihm bitte nicht übel! Er hat wirklich noch keine Frau betrogen und noch keiner Frau etwas vorgemacht. Da kannst du auch Jo fragen: Nick hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass es für ihn nur eine vorübergehende Sache ist.“
Andrea nickte langsam und erklärte: „Ich muss trotzdem erst darüber nachdenken, was ich davon halte… Warum hat er denn so viel Stress?“
„Wegen der Leiche von Donnerstag. Du hast bestimmt davon gehört?“ Andrea nickte und Marion fuhr fort: „Der Anblick hat ihn sehr mitgenommen. Er hat uns allen verboten, die Fotos und die Leiche anzusehen. Nicht, dass wir das unbedingt gewollt hätten. Aber es muss schon sehr schlimm sein, wenn er die Fotos selbst den ältesten Kollegen nicht zeigt. Und gestern kam dann noch Heinrich vom LKA. Die haben sich schlimm gestritten, Nick und Heinrich, weil Nick die Fotos nicht aufhängen wollte und der Lackaffe meinte, Polizisten müssten alle Fotos ertragen können. Mann! Ich hab Nick noch nie so wütend gesehen…“
„Und?“
„Nick hat sich durchgesetzt. Ich denke, Heinrich hatte zum Schluss Angst, dass Nick ihn windelweich schlägt.“
Erstaunt sog Andrea die Luft ein.
„Wenn Heinrich da ist, geht ihr von Mord aus“, folgerte Andrea nach einer Weile.
„Ja.“
Andrea nickte nur.
„Er hat uns gesehen“, meinte Marion und winkte lächelnd in Nicks Richtung. Andrea drehte sich um und winkte ihm auch. Sie sah, wie Nick sich aus der Umarmung der Blondine schälte und mit seiner Flasche Bier zu ihnen kam.
„Hi, Nick.“ Marion sah ihn freudestrahlend an.
„Hallo“, brummte er.
„Hallo“, Andrea lächelte zu ihm auf. „Setzt du dich eine Weile zu uns?“
„Mmh“, brummte er wieder und setzte sich auf die Bank neben Andrea. „Was macht ihr hier?“ wollte er wissen.
„Das Gleiche wie du“, antwortete Andrea fröhlich und hob demonstrativ ihr Glas Cola.
„Was Ähnliches wie du“, schränkte Marion ein und spähte bezeichnend zu der blonden Frau, die Nick gerade verlassen hatte. Er ignorierte die Andeutung.
„Macht ihr das öfter?“ wollte er wissen.
„Mmh. Wenn wir das schaffen, treffen wir uns ab und zu, besaufen uns und reden jede Menge Unsinn.“
„Na ja, eine von uns besäuft sich. Die andere muss ja fahren“, meinte Andrea.
Ein winziges Lächeln erschien auf Nicks Gesicht: „Und wer muss heute fahren?“
„Ich“, antwortete Andrea.
„Ich kann heute die ganze Karte hoch und runter trinken. Machst du mit?“ fragte Marion betont verwegen.
Nicks Lippen verzogen sich zu einem kleinen Grinsen: „Würd ich gerne! Wirklich! Aber dafür reicht mein Geld nicht…“
„Die reiche Anwaltstochter da bezahlt! Sonst…“
„Was? Vergiss es! Die ist nicht reich!“ entrüstete sich Andrea gespielt.
Marion lächelte zufrieden, als sie Nick kichern hörte. Er musste auf andere Gedanken kommen. Als der erste Schritt gemacht war, war es nicht mehr schwer, Nick von dem Mordfall und der Leiche abzulenken. Zumindest für diesen Abend.
„Nick, ich glaube, du hast heute noch Pflichten“, seufzte Marion erschöpft vom Kichern und Lachen.
„Was für Pflichten?“ fragte Nick neugierig.
„Uneheliche“, erklärte Marion so trocken, dass Andrea losprustete. Ihre Freunde sahen sie amüsiert an.
„Nick, ich möchte jetzt gehen“, unterbrach die Blondine, die Nick zuvor im Arm gehalten hatte, die fröhliche Runde.
Immer noch amüsiert von Andreas Auflachen antwortete Nick: „Mmh, kein Problem. – Hey, verschluck dich nicht“, wandte er sich grinsend an Andrea.
„Willst du noch bleiben?“ fragte die blonde Frau. Sie schien unzufrieden mit seiner Antwort zu sein.
Nick sah erstaunt zu ihr auf. Er nickte: „Ja, ich bleibe.“
Die hübsche Frau seufzte, organisierte sich einen Stuhl vom Nachbartisch und setzte sich neben Marion. Glücklich wirkte sie nicht.
Eine halbe Stunde redeten und lachten Andrea, Marion und Nick miteinander, während die blonde Frau mit am Tisch saß und auf Nick wartete. Sie sagte nichts. Nick und Andrea versuchten, sie in das Gespräch einzubeziehen, bemerkten aber keine Reaktion und unterließen es bald.
Nach einer halben Stunde sagte die Frau: „Nick, ich möchte jetzt wirklich gehen.“
Nick sah sie erstaunt an: „Ja, ist doch kein Problem!“
„Du wolltest mitkommen“, fauchte sie um Beherrschung bemüht.
„Das habe ich nie gesagt!“ erwiderte Nick ruhig und gar nicht mehr lustig. Abwehrend lehnte er sich auf der Bank zurück.
Die Frau starrte ihn giftig an: „Doch! Du hast…“ Sie verstummte.
„Also kommst du jetzt nicht mit?“ fragte sie eingeschnappt.
Nick schüttelte den Kopf: „Nein.“
„Dann brauchst du auch später nicht bei mir zu klingeln! Viel Spaß euch noch – zu dritt!“ Sie rümpfte angewidert die Nase und verschwand.
„Die hat was gegen `nen flotten Dreier“, bemerkte Marion spitz.
„Ich weiß gar nicht, wo sie wohnt. Ich könnte gar nicht bei ihr klingeln, selbst wenn ich wollte.“
„Warum willst du denn nicht? Sie ist doch nett…“ überlegte Andrea. Sie genoss die erstaunten Gesichter von Marion und Nick.
„…wenn sie den Mund hält“, fügte sie grinsend an.
Marion spuckte ihren Schluck Bacardi-Cola fast wieder aus vor Lachen. Nick grinste nur. Andrea hatte ihn mit ihrem Kommentar überrascht. Er versuchte es durch einen großen Schluck aus der Bierflasche zu überspielen.
Mit einem Kater wachte Andrea am Sonntagmorgen auf. Und es war kein Kater, den Samira aus der Wohnung scheuchen würde, wäre sie da. Stöhnend schloss sie die Augen wieder und suchte die unförmige Masse in ihrem Kopf nach Informationen zu ihrem Zustand ab. Sie hatte gestern mit Marion und Nick in der Tannenbar gesessen, war spät mit beiden zu Marion gefahren und da… Es klingelte. Stöhnend quälte sie sich aus ihrem Bett, warf sich ihren Bademantel über und tapste mit geschlossenen Augen zur Tür.
„Guten Morgen!“ Marion strahlte Andrea an.
Wie konnte sie nur??! Andrea stöhnte, drehte sich um und schlurfte in die Küche.
„Geht’s dir nicht so gut?“ stichelte Marion.
Andrea gönnte ihr keine Antwort. Sie trank Wasser in großen Schlucken.
„Was hast du uns da gestern noch gegeben?“ knurrte Andrea.
„Aufgesetzten. Von meiner Oma“, strahlte Marion mit unverschämt schmerzfreiem Ton.
Andrea ließ sich auf einen Stuhl fallen.
Kritisch musterte Marion sie: „Du hättest zwischendurch Wasser trinken sollen, ich hab es dir gesagt.“
„Mmh“, brummte Andrea unzufrieden. Was nutzte es ihr, wenn Marion ihr das gestern gesagt, sie es aber nicht getan hatte?
„Ich hab gedacht, wir gehen Brötchen kaufen und laden uns dann bei Nick zum Frühstück ein“, schlug Marion vor.
„Was hältst du davon?“ bohrte sie nach, als sie bei Andrea keine Reaktion erkannte.
„Mmh“, brummte Andrea wieder.
Nach kurzem Überlegen deutete Marion dies einfach als Einverständnis und erklärte fröhlich: „Dann musst du dich jetzt anziehen! Los!“
„Guten Morgen“, wünschte Marion fröhlich, als Nick ihnen öffnete. Er hatte den Summer für die Haustüre betätigt, die Wohnungstüre aber geschlossen gelassen. Marion hatte kurzerhand noch mal geklingelt. Sie schob sich an ihm vorbei in seine Wohnung und erzählte: „Wir haben Brötchen mitgebracht. Und noch ein bisschen was anderes, weil ich nicht wusste, was du so hast. Ich hoffe, du hast Kaffee?“
Nick sah ihr etwas unwillig nach und blickte dann zu Andrea, die noch vor der Wohnungstür stand. Sie zuckte nur mit den Schultern und schüttelte ratlos den Kopf.
„Komm rein“, murmelte er.
„Nick! Wo sind die Teller?“ rief Marion aus der Küche.
„Was hat sie vor?“ fragte Nick. Ein kleiner Flur führte in ein großes Wohn-Esszimmer. Hell und nüchtern war das Zimmer, aber nicht ungemütlich. Zwei Sessel standen um einen niedrigen Wohnzimmertisch an der einen Wand, ein Esstisch mit vier Stühlen an der gegenüberliegenden Theke. Dahinter lag die Küche, in der Marion gerade Teller suchte. Zwei Türen im hinteren Teil des Zimmers schienen ins Schlafzimmer und ins Bad zu führen.
„Sie will frühstücken“, erklärte Andrea. „Ich glaub, ich krieg noch nichts runter“, seufzte sie.
Nick musterte sie abschätzend: „So schlimm?“
„Mmh. Bei dir nicht?“
„Mmh“, brummte Nick. „Kopfschmerzen. Was war das eigentlich für Zeug?“
„Nick! Wo sind die Te… Hab sie!“ rief Marion aus der Küche.
„Aufgesetzter. Von ihrer Oma, sagt sie.“
Nick stöhnte. Er ließ sich auf einen Sessel fallen. „Setz dich. Die kann das alleine!“
Leicht schadenfroh und erleichtert, sich setzen zu dürfen, kam Andrea der Aufforderung nach.
„Deine Wohnung ist kleiner als meine“, stellte sie fest.
„Mmh. Und deine ist auch schöner.“
Erstaunt sah Andrea ihn an: „Danke! Aber…“ sie sah sich um. Fotos von seinen Neffen und von seinen Monaten im Ausland zierten die Wand über dem Wohnzimmertisch, in einem Regal standen Bücher in ordentlichen Reihen und drei Grünpflanzen wuchsen auf der Fensterbank. Vor der Tür zum Flur stand eine Kommode, auf der Zeitungen und ein paar andere Dinge lagen. Darüber hing ein Spiegel. „…deine Wohnung ist doch auch schön.“
Wieso er wohl Grünpflanzen hatte?
„Mmh.“
Während Marion in der Küche das Frühstück vorbereitete, den Tisch deckte und sogar Rührei briet, fragte Andrea: „Wo warst du noch mal?“ Sie deutete auf eine Fotographie mit Schirmakazien vor roten Bergen. Nick hatte es mal erwähnt, aber er sprach sehr selten davon. Wie eigentlich von allem, was privat war.
„Namibia.“
„Und da warst du mehrere Monate von der Polizeischule aus, richtig?“
„Mmh. War so `ne Art Schüleraustausch.“
Andrea nickte. Irgendwann würde sie ihn genauer danach fragen. Aber jetzt beschäftigte sie etwas Anderes mehr: „Nick, ich… Ich würde dich gerne was fragen, aber du redest nicht gerne darüber.“
Neugierig sah er sie an: „Was denn?“
„Ich…“ Andrea atmete tief ein und begann wieder: „Was ist das mit dir und dieser Susi? Die ganze Stadt sagt, ihr wärt zusammen, du redest aber nie von ihr. Ich seh dich auch nie mit ihr.“
Zu ihrer Überraschung schien Nick sie amüsiert zu mustern. Dann lachte er leise.
„Was ist?“ wollte Andrea wissen.
„Nix ist mit Susi und mir. Ich hab sie nur ein paar Mal bei irgendwelchen Festen im Dorf getroffen und wir haben uns gut verstanden – und schon redet das ganze Dorf über uns.“
„Und was ist so lustig?“ Andrea war irritiert.
Nick schmunzelte: „Dass du mich direkt fragst und nicht irgendwelchen Gerüchten nachläufst.“
„Ich hasse Gerüchte! Vor allem über Freunde, die mir näher stehen, als diejenigen, die die Gerüchte verbreiten.“
„Mmh“, nickte Nick.
„Also sind es alles nur Gerüchte? Auch, dass sie von dir schwanger ist?“
„Was? Nein!“ Erschrocken sah Nick Andrea an. Er kannte das Gerede über ihn und Susi. Aber dass sie schwanger sein sollte, war ihm neu.
Andrea grinste: „‚gut verstanden‘ ja? Entschuldige! Keine Sorge! Das hab ich mir gerade ausgedacht. Nick!“
Er war aufgestanden. Grinsend drehte er sich zu ihr um: „Wenn ich keine Kopfscherzen hätte, würde ich jetzt überlegen, aus welchem Grund ich dich verhaften könnte!“
Andrea kicherte, sagte aber: „Tut mir leid!“
„Tut es nicht!“ brummte er amüsiert. Mit einem leicht süffisanten Grinsen fügte er an: „Außerdem widerspricht sich das nicht, ‚gut verstehen‘ und schwanger werden.“
Andrea lachte, doch Marion unterbrach ihr Gespräch: „Kommt ihr? Frühstück ist fertig.“ Erstaunt beobachtete sie Nick, der eine Kopfschmerztablette schluckte. „Geht’s dir auch nicht gut?“ wunderte sie sich.
„Kopfschmerzen“, murmelte er. Drohend sah er sie anschließend an: „Wenn du mir noch mal nordkaukasische Reinigungsmittel zu trinken gibst, landest du wegen Körperverletzung in der dunkelsten Zelle, die ich finde!“
Entrüstet verteidigte Marion sich: „Das war kein Reinigungsmittel! Meine Oma hat das gemacht…“