Heilpädagogische Psychologie - Konrad Bundschuh - E-Book

Heilpädagogische Psychologie E-Book

Konrad Bundschuh

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Beschreibung

Heilpädagogische Psychologie ist ein Kernfach im Studium der Sonderpädagogik. In der Neuauflage des UTB-Klassikers wurden grundlegende Wissensbereiche wie Entwicklung, Lernen, Emotionalität, Förderdiagnostik und Sozialpsychologie inhaltlich aktualisiert und erweitert. Leitgedanke ist hierbei, dass auch Kinder mit schwierigen Startbedingungen lernen sollen, als Gestaltende ihres zukünftigen Lebens aktiv zu werden. Im Kontext zunehmender Komplexität und Häufigkeit von Lern- und Leistungsstörungen sowie psychischen Problemen wurden die Systemische Therapie sowie Familien- und Lerntherapie neu thematisiert. Zahlreiche didaktische Elemente und praxisorientierte Inhalte ermöglichen schnelles Begreifen, fundierten Wissenserwerb und effektives Lernen sowie Reflektieren.

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Seitenzahl: 569

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Prof. em. Dr. phil. Konrad Bundschuh, Dipl.-Psychologe, Lehrer an Regel- und Förderschulen; von 1974–1993 Lehr- und Forschungstätigkeit an den Universitäten Würzburg und Frankfurt in den Disziplinen Lern- und Geistigbehindertenpädagogik, Sonderpädagogische Diagnostik und Sonderpädagogische Psychologie; 1993–2010 Ordinarius und Inhaber des Lehrstuhls für Geistigbehinderten- und Verhaltensgestörtenpädagogik an der Fakultät für Psychologie und Pädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Vom Autor außerdem im Ernst Reinhardt Verlag als UTB lieferbar: „Einführung in die Sonderpädagogische Diagnostik“ (ISBN 978-3-8252-5286-1)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 1645

ISBN 978-3-8385-6091-5 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-6091-0 (EPUB)

5., überarbeitete und erweiterte Auflage

© 2023 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Motivs von ©istock.com / Jatuporn Tansirimas

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Vorwort zur fünften Auflage

Vorwort zur ersten Auflage

Einleitung

1 Die Bedeutung der Heilpädagogischen Psychologie

1.1 Heilpädagogische Psychologie als multidimensionaler Wissenschaftsbereich in den Arbeitsfeldern der Sonder- und Heilpädagogik sowie Lerntherapie

1.2 Die Komplexität Heilpädagogischer Psychologie und das wissenschaftstheoretische Dilemma

1.3 Heilpädagogische Psychologie und herausfordernde schulische Erziehungs- und Lernwirklichkeiten

1.3.1 Überfordernde Störungs- und Behinderungsprozesse im Bereich der Schulen mit kumulierender und progredienter Tendenz

1.3.2 Verheerende Auswirkungen überfordernder schulischer Wirklichkeit auf Kinder

1.3.3 Grundlegende Prinzipien einer edukandenorientierten schulischen Erziehung und Unterrichtung

1.3.4 Integration und Inklusion

1.3.5 Intersubjektivität des pädagogischen Bezugs: Heilpädagogische Beziehungen zwischen Wissenschaftlichkeit und pädagogisch-menschlicher Grundhaltung

1.4 Lernfragen zur Wiederholung von Kapitel 1

2 Handlungs- und Gegenstandsbereiche Heilpädagogischer Psychologie

2.1 Heilpädagogische Psychologie unter dem Aspekt Verhalten

2.1.1 Verhalten beschreiben

2.1.2 Verhalten erklären

2.1.3 Verhalten verstehen

2.1.4 Verhalten vorhersagen

2.1.5 Verhalten verändern

2.2 Heilpädagogische Psychologie unter dem Aspekt Erleben

2.3 Aufgaben-, Handlungs- und Gegenstandsbereiche Heilpädagogischer Psychologie im Überblick

2.4 Lernfragen zur Wiederholung von Kapitel 2

3 Entwicklung im Rahmen sonder- und heilpädagogischer sowie lerntherapeutischer Fragestellungen

3.1 Entwicklungstheorien, sonder- und heilpädagogische sowie lerntherapeutische Herausforderungen

3.1.1 Reifungstheorie

3.1.2 Milieutheorie

3.1.3 Interaktionistische Entwicklungstheorien in ihrer Bedeutung für die Sonder- und Heilpädagogik

3.1.4 Konstruktivistische Stadientheorien oder organismische Theorien

3.2 Entwicklung im Verständnis Heilpädagogischer Psychologie

3.3 Grundlegende Entwicklungsprozesse und mögliche Störfaktoren

3.3.1 Reifung und die Bedeutung der Reflexe in frühester Kindheit

3.3.2 Differenzierung

3.3.3 Integrierung und Zentralisierung

3.3.4 Strukturierung und Selektion

3.3.5 Herausbildung gefestigter und sicherer Verhaltensformen

3.4 Prozesshaftigkeit und Dialogisches der menschlichen Entwicklung

3.5 Die „genetische Erkenntnistheorie“ von Piaget in ihrer Relevanz für die geistige Entwicklung im Rahmen einer Heilpädagogischen Psychologie

3.5.1 Zentrale Begriffe und grundlegende Prozesse: Assimilation, Akkommodation, Äquilibration, Zentrierung, Dezentrierung und Reversibilität

3.5.2 Kognitive Entwicklung nach Piaget – die vier Stufen der Intelligenzentwicklung

3.5.3 Folgerungen für die Entwicklung von Kindern mit Behinderungen

3.5.4 Überlegungen im Hinblick auf Frühförderung

3.6 Konstruktivismus und Ko-Konstruktion

3.6.1 Konstruktivismus als Erkenntnistheorie

3.6.2 Die Bedeutung von Ko-Konstruktionen im Rahmen von Förderung

3.7 Begegnung und Erfahrung im Kontext emotionaler Entwicklung

3.8 Querverbindungen der Entwicklungspsychologie zu anderen psychologischen Bereichen unter den Aspekten Erziehung und Förderung

3.9 Lernfragen zur Wiederholung von Kapitel 3

4 Lernen in sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeldern: Neurobiologische und neuropsychologische Erkenntnisse

4.1 Das Gedächtnissystem: Filterung und Speichern von Informationen

4.1.1 Das Ultrakurzzeitgedächtnis – das Blitzgedächtnis: ein erster Filter für Informationen und Wahrnehmungen

4.1.2 Das Kurzzeitgedächtnis: zweiter Filter für Wahrnehmungen und Operationsspeicher

4.1.3 Das Langzeitgedächtnis: Verankerung und Speicherung von Informationen

4.1.4 Dimensionen und Vernetzungen des Langzeitgedächtnisses

4.2 Übertragung der Erregung von einer Nervenzelle auf die andere und Störfaktoren

4.3 Emotionalität, Motivation und Lernen

4.4 Lernen im Netzwerk

4.5 Selbstgesteuertes Lernen – zentrales Moment im dynamischen Wissenserwerb

4.6 Verursachungsmomente von Lern- und Wahrnehmungsstörungen

4.7 Konsequenzen für Erziehung, Förderung, Unterricht: Lernsituation und basale Lernprozesse

4.8 Lernen – Querverbindungen und Zusammenhänge

4.9 Lernfragen zur Wiederholung von Kapitel 4

5 Heilpädagogische Diagnostik als Förderdiagnostik – Herausforderungen und Leistung

5.1 Basisüberlegungen, Bezugsrahmen und Begriffsproblematik

5.2 Entwicklungen diagnostischer Vorgehensweisen: Von der traditionellen zur prozessorientierten Diagnostik

5.3 Förderdiagnostik als mehrperspektivischer Ansatz

5.4 Kritische Thesen zum Problembereich Diagnostik – Förderdiagnostik

5.5 Prozessdiagnostik, Fehler- und Lernprozessanalyse

5.6 Beratung als wichtiger Bestandteil von Förderdiagnostik

5.7 Kompetenzen im Bereich Förderdiagnostik als Orientierungs- und Handlungsaspekt

5.8 Verstehens-, bedürfnis- und handlungsorientierte Diagnose

5.9 Querverbindungen heilpädagogischer Diagnostik im Kontext von Erziehung und Förderung

5.10 Lernfragen zur Wiederholung von Kapitel 5

6 Therapien in sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeldern

6.1 Grundsätzliche Überlegungen zum Therapieproblem im pädagogisch-heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Bereichen

6.2 Kenntnisse psychotherapeutischer Ansätze – Möglichkeiten und Grenzen im Rahmen sonder- und heilpädagogischer sowie lerntherapeutischer Fragestellungen

6.3 Störung, psychische Störung, Auffälligkeit, Normalität

6.4 Tiefenpsychologische Grundannahmen in ihrer Bedeutung für die Heilpädagogische Psychologie und Lerntherapie

6.4.1 Abhängigkeit und Dynamik zwischen Es – Über-Ich – Ich

6.4.2 Die Individualpsychologie Alfred Adlers

6.4.3 Möglichkeiten und Herausforderungen im sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeld: Spiel-, Zeichen- und Gruppentherapien

6.5 Lerntheoretische und verhaltenstherapeutische Ansätze

6.5.1 Beeinflussung des Verhaltens durch verschiedene Variablen, „kognitive Wende“ und Imitationslernen

6.5.2 Anwendungsmöglichkeiten verhaltensmodifikatorischer Prinzipien bzw. Techniken im Bereich Erziehung, Unterricht und Therapie

6.5.3 Kritische Anmerkungen zur Verhaltenstherapie / -modifikation

6.6 Klientenzentrierte Verfahren

6.6.1 Geschichtliches und Menschenbild

6.6.2 Psychische Störungen, Beziehung und Haltung im Rahmen der Gesprächspsychotherapie

6.7 Die Kindertherapie nach Virginia M. Axline

6.8 Gestaltpsychologie und therapeutische Ansätze

6.9 Systemische Therapie / Familientherapie

6.9.1 Grundlagen und Vorgehensweise

6.9.2 Positive Orientierungen, Einstellungen und Wirksamkeit

6.10. Lerntherapie im Dienst der Persönlichkeitsentfaltung und Beziehungsgestaltung

6.10.1 Lerntherapie – aktuelle Herausforderungen und Handlungsbedarf

6.10.2 Lerntherapie – Arbeitsweise und Persönlichkeit des Lernenden

6.10.3 Lernen, behindernde Bedingungen und das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung

6.10.4 Grundlagen von Lerntherapie

6.10.5. Lernschwierigkeiten und Handlungskonzept

6.10.6 Lerntherapie im Dienst von Kindern und Eltern – Systeme und zukünftige Handlungsmöglichkeiten

6.10.7 Grundlegende Prinzipien lerntherapeutischen Vorgehens im Kontext Orientierung am Kind

6.11 Möglichkeiten und Grenzen von Therapien im Rahmen sonder- und heilpädagogischer sowie lerntherapeutischer Aufgabenfelder

6.12 Therapien – Querverbindungen und Zusammenhänge

6.13 Lernfragen zur Wiederholung von Kapitel 6

7 Sozialpsychologische und soziologische Grundfragen im Rahmen der Heilpädagogischen Psychologie

7.1 Die Notwendigkeit eines Einbezugs sozialpsychologisch-soziologischer Fragestellungen

7.2 Sozialpsychologie und Soziologie im Kontext Heilpädagogischer Psychologie

7.3 Einstellung, Vorurteil, Stigma

7.3.1 Einstellung

7.3.2 Einstellung und Vorurteil

7.3.3 Funktionen von Vorurteilen

7.3.4 Der Stigmatisierungsansatz

7.4 Querverbindungen der Sozialpsychologie / Soziologie zu anderen psychologischen Bereichen unter den Aspekten Erziehung, Förderung und Lerntherapie

7.5 Lernfragen zur Wiederholung von Kapitel 7

8 Ausblick

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Zur schnelleren Orientierung werden in den Randspalten Piktogramme benutzt, die folgende Bedeutung haben:

Literaturempfehlung

Begriffserklärung, Definition

Pro und Contra, Kritik

Beispiel

Forschungen, Studien

Fragen zur Wiederholung am Ende des Kapitels

Vorwort zur fünften Auflage

Die Heilpädagogische Psychologie wurde an den deutschsprachigen Hochschulen mit sonder- und heilpädagogischen Disziplinen und Nachbarwissenschaften sowie in der Praxis, vor allem auch im lerntherapeutischen Arbeitsfeld als informative, sachlich-objektive, aber auch kritisch-progressive Publikation auf der Basis wissenschaftlicher Argumentation angenommen. Aufgrund der enormen Breite des Themengebietes und der Themenbereiche gehört es zu der schwierigen Aufgabe, den Text wissensbasiert und für Leserinnen und Leser effektiv zu gestalten. Die Inhalte werden so präsentiert, dass die Informationsvermittlung nicht nur zum Lesen, Lernen und Reflektieren anregt, sondern auch Spannung zum Weiterlesen generiert.

In den vergangenen Jahren hat sich der Bereich Heilpädagogische Psychologie dynamisch weiterentwickelt, so dass sich inhaltliche und didaktische Veränderungen bzw. Ergänzungen als sinnvoll und notwendig erwiesen.

Zahlreiche positive Rückmeldungen zu den bisherigen Auflagen dieses Buches bestätigen den Bedarf dieser interdisziplinär angelegten „Heilpädagogischen Psychologie“. Diese beständige Nachfrage hat eine Neuauflage erforderlich gemacht. Das Buch ist inzwischen auch in koreanischer Übersetzung in einem Verlag in Südkorea erschienen. Dem Ernst Reinhardt Verlag danke ich sehr, dass er es mit der Neuauflage ermöglicht hat, ganz neue Inhalte zu konzipieren und die übrigen Ausführungen auf den neuesten Stand zu bringen.

Aktuelle Forschungsergebnisse, neuere Entwicklungen und Veränderungen sowie Herausforderungen hinsichtlich der heilpädagogischen Grundlegung und Grundhaltung im Kontext Entwicklungspsychologie, Lernpsychologie und Lernen, Förderdiagnostik, Therapien, Sozialpsychologie und Soziologie werden berücksichtigt, Inhalte und wissenschaftliche Literatur aktualisiert.

Hervorzuheben ist die lernprozessorientierte Vorgehensweise, d. h. den einzelnen Kapiteln werden inhaltlich curriculare Schwerpunkte vorangestellt. Am Ende der jeweiligen Kapitel finden sich zudem Impulse bzw. Lernfragen zu den Ausführungen. Somit dient die Neuauflage nicht nur der inhaltlichen Aktualisierung, sondern auch der besseren Strukturierung des doch mittlerweile umfangreichen Buches.

Kapitel 4, das sich vor allem mit Fragen des Lernens im sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeld unter besonderer Berücksichtigung neurobiologischer und -psychologischer Erkenntnisse auch im Kontext von Emotionalität und Verhalten, weiterhin mit Verursachungsmomenten von Lern- und Wahrnehmungsstörungen beschäftigt, wurde ergänzt sowie aktualisiert.

Auch Kapitel 5 mit anthropologischen, pädagogischen, sozialpsychologischen, didaktischen und therapeutischen Informationen und Aussagen über neuere Entwicklungen im Bereich Förderdiagnostik wurde im Hinblick auf lerntherapeutische Aspekte, Diagnose und Analyse behindernder Bedingungen und Fragen der Kompetenz- und Ressourcenorientierung erweitert.

In Kapitel 6, das sich mit wesentlichen Therapien und möglichen Anwendungen im Rahmen praktischer Arbeit auch kritisch beschäftigt, wurden die Systemtherapie und die Lerntherapie neu konzipiert.

Insgesamt betrachtet wurden die Ausführungen inhaltlich aktualisiert und mit neuer wissenschaftlicher Literatur ergänzt.

Für eine möglichst produktive Arbeit mit der vorliegenden Neuauflage wird auf die Lernfragen am Ende eines jeden Abschnittes sowie auf die jeweiligen Zeichen am Rande der einzelnen Abschnitte verwiesen. Die meisten Lernfragen ermöglichen auch die Wiederholung des dargestellten Inhaltes. Die Kontrolle der Lösungen kann durch eine fokussierte wiederholte Lektüre des Textes erfolgen. Viele Fragen regen auch zu einer selbstständigen Stellungnahme und Diskussion an.

Die Schlüsselbegriffe am Rande der jeweiligen Ausführungen bieten eine fokussierte Wahrnehmung wichtiger Aussagen und ermöglichen eine individuelle und konstruktive Art, den Lernstoff strukturiert aufzunehmen und zu reflektieren.

Die einzelnen Kapitel – Grundlagen aus den Bereichen Heilpädagogische Psychologie, Entwicklung, Lernen, Förderdiagnostik, Therapien, Sozialwissenschaften – bauen von der Systematik her aufeinander auf und stehen auch in einer bestimmten Reihenfolge, die quasi einen „roten Faden“ beim Lesen ermöglichen soll. Je nach Interessenschwerpunkt können aber auch einzelne Kapitel für sich gelesen und bearbeitet werden, wobei insbesondere auf die Querverbindungen am Ende der einzelnen Kapitel im Hinblick auf Vernetzungen mit Nachbarwissenschaften verwiesen wird.

Diese Neuauflage ist getragen von dem Gedanken, dass vor allem im Rahmen von Integration, Inklusion und Heilpädagogischer Psychologie Kinder lernen sollen, mit dieser Welt umzugehen, in dieser Welt selbstständig zu handeln und damit Gestalter ihrer Welt sowie ihres zukünftigen Lebens zu werden.

Auch in dieser Neuauflage umfassen Personen- und Berufsbezeichnungen weibliche, männliche und diverse Personen.

München, im Mai 2023 Konrad Bundschuh

Vorwort zur ersten Auflage

Seit mehreren Jahren trage ich mich mit dem Gedanken, ein Buch über grundlegende Fragen und Probleme Heilpädagogischer Psychologie zu schreiben. Anfängliche Zweifel, ob eine solche Schrift im Hinblick auf die Komplexität der Problematik und die vielen Unsicherheiten im gegenwärtigen sonder- oder heilpädagogischen Arbeitsfeld realisierbar sei, wichen der Überzeugung, dass es wichtig ist, dieses Buch meinem Verständnis und meiner Überzeugung entsprechend in wissenschaftlicher Form zu verfassen. Diese Schrift hat sich die Aufgabe gestellt, Probleme anzusprechen und sie nicht einfach durch wissenschaftliche Terminologie oder „theoretische Wendungen“ zu neutralisieren und zu nivellieren. Wissenschaftlich bedeutet hier auch das Bemühen um Weiterentwicklung von Problemen und Fragen, um Öffnung im Sinne der Verbesserung der Situation von Menschen in Not, Veränderung festgefahrener Strukturen, Neuorientierung.

Dieses Buch möchte auch provozieren. Insofern erweist sich der Inhalt als nicht bequem für Personen, die in unserem Bildungswesen mit der Überzeugung tätig sind, es sei gut und aktuell im Hinblick auf Fragen der Erziehung, der Bildung, speziell des Lernens, der gemeinsamen Unterrichtung von Kindern mit und ohne Behinderung. Bildungsfachleute übersehen oft die vielen Fragen, Probleme und Nöte von Kindern und Eltern im Zusammenhang mit dem Erziehungs- und Unterrichtsgeschehen im Grundschulbereich bis hin zu den Gymnasien. Bildungsfachleute sind häufig nicht in der Lage, sich die subjektive Betroffenheit der Eltern vorzustellen, die sich immer wieder mit der Erfahrung der Lernprobleme ihrer Kinder, mit einer speziellen Behinderung, mit den zahlreichen behindernden Bedingungen in der Alltagswelt konfrontiert sehen. Selbst im Rahmen der Aufnahme in die Schule wird die schockartige Erfahrung der Behinderung, schlichtweg der Ausgrenzung neu belebt, wenn die Türe der Schule, die eigentlich eine Schule für alle Kinder sein sollte, verschlossen bleibt.

Wo ergibt sich die Perspektive für das Kind, das Eltern für das Leben erziehen möchten? Wenn Erziehungs- und Bildungsfragen eng mit der Weitergabe des Lebens von einer Generation zur anderen verbunden sind, bedürfen sie im Zusammenhang mit mehrfach veränderten Situationen – Kind mit einer Behinderung, zukünftiges Leben in einer sich ständig wandelnden Situation – der permanenten kritischen Reflexion. Erziehung und Integration verlangen den Erfahrungsraum menschlicher Zuwendung und nicht der Ausgrenzung. Bildung des Menschen als Person und Mitglied der Gesellschaft fordert ganzheitliche Bildung, in der sich nicht nur die intellektuellen, sondern auch die emotionalen und sozialen Möglichkeiten des Menschen entwickeln können. Lernen wird hier auch nicht ausschließlich im Sinne eines kognitiven Lernprozesses verstanden, vielmehr im Hinblick auf Lebens- und Handlungsfähigkeit in zukünftigen Lebenssituationen.

Menschen mit Behinderungen leisten in unserer Gesellschaft Bedeutsames. Die so häufig als „schwach“ und „hilflos“ Bezeichneten tragen zur Weckung und Freilegung tiefer menschlicher Kräfte und damit zur Sinnerfahrung bei. Menschen mit Behinderungen sorgen dafür, dass sich nicht alles Streben in Richtung Leistung, Effektivität und Perfektion verdichtet. Sie provozieren vielmehr die Frage nach dem Wesen des Menschen in seiner Lebenswirklichkeit auch unter dem Aspekt des Bedroht-Seins von Behinderung immer wieder neu.

Eine Herausforderung stellten die zahlreichen Impulse und Fragen der Studierenden der Sonderpädagogik an der Universität Würzburg dar. Die Diskussion und die Zusammenarbeit mit Studentinnen und Studenten, die immer wieder äußerten, dass es keine aktuelle Schrift zum Problembereich der Heilpädagogischen Psychologie gebe, und mich drängten, meine Gedanken zu publizieren, haben zu einer kritischen und mit Zweifeln behafteten Einstellung gegenüber der Sonderpädagogik geführt.

Frau Karin Klein danke ich sehr für Anregungen zu Kapitel 7, für die Mithilfe beim Entwurf von Skizzen sowie bei Schreib- und Korrekturarbeiten. Danken möchte ich auch meinem Kollegen, Herrn Dipl. Psych. Dr. Alfred Fries, für Literaturhinweise im Zusammenhang mit sozialpsychologischen Fragestellungen, Herrn Michael Wagner für die kritische Durchsicht meiner Ausführungen über Piaget sowie für Korrekturarbeiten.

Ohne das Verständnis meiner Frau und unserer Kinder Carolin, Laura und Anne wäre dieses Buch zum jetzigen Zeitpunkt nicht geschrieben worden.

Würzburg, im Juni 1991 Konrad Bundschuh

Einleitung

Praktische und wissenschaftliche Probleme fordern im Zusammenhang mit Störungen in den Bereichen Lernen, Verhalten und speziell auch Emotionen, allgemein Beeinträchtigungen, Behinderungen und behindernden Bedingungen Heilpädagogische Psychologie heraus. Der gesamte schulische Bereich ist von einem Anstieg multidimensionaler und komplexer Fragestellungen im Hinblick auf individuellen Diagnose-, Förder- und Lerntherapiebedarf geprägt. Die bisherigen eher „klassischen“ Arbeitsfelder Lernbehinderungen, Lernstörungen, geistige Behinderung, Verhaltensstörungen, Sprachstörungen und -behinderungen, körperliche Behinderung, Beeinträchtigungen und Behinderung der Sinne (Seh- und Hörbehinderung) haben sich angesichts verstärkter und immer komplexerer Not- und Problemsituationen von Kindern bis in die Bereiche Regelschule und weiterführende Schulen erweitert. Diese aktuellen Problemfelder sind teilweise durch Schüler mit Verhaltens-, Lern- und Leistungsstörungen, Ängsten, psychosomatischen Auffälligkeiten (Essprobleme, Bauch- und Kopfschmerzen, Tics, Obstipation, Magenbeschwerden, Einschlafschwierigkeiten etc.) sowie durch die Abhängigkeit von Medikamenten, Drogen und Alkohol gekennzeichnet. Wir haben es in allen Schularten zunehmend auch im Kontext der Corona-Pandemie mit einer Heterogenität der Schülerschaft zu tun, wie sie bisher noch nicht festgestellt wurde. Entwicklung, Schullaufbahn und Leben von ca. 25 % der Kinder in der Regelschule erweisen sich nicht als positiv. Diese Kinder gelten als lern-, leistungs- und / oder sozial-emotional allgemein als verhaltensgestört und damit meist auch als erziehungsschwierig. Es handelt sich dabei um Schüler, die durch das Erleben permanenter Frustrationen und Ängste in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit gefährdet sind. Zu der genannten Anzahl kommen ca. 40 % der Kinder und Jugendlichen, die durch die Corona-Epidemie größtenteils massiv in ihrem Lernen, im Sozial- und Emotionalbereich, ja auch im physischen Bereich gestört wurden und. für längere Zeit darunter mehr oder weniger schwer leiden. Ein kritisches Hinterfragen der Lehrplaninhalte, pädagogischer und didaktischer Methoden, eigentlich eine Diagnostik des Problemfeldes Schule und deren Umfeldbedingungen ist längst überfällig.

Erst recht im Förderschulbereich kann man von einer heterogenen Schülerschaft sprechen, die von geistiger Behinderung und damit Mehrfachbehinderung, von der Sinnesbehinderung bis hin zum überdurchschnittlich intelligenten, aber schwer verhaltensgestörten Kind reicht. Darunter finden sich Schüler mit Wahrnehmungsstörungen unterschiedlicher Art, mit Teilleistungsstörungen, gravierenden Lese- und Schreibproblemen, Dyskalkulie, Erziehungsschwierigkeiten, mit psychischer und physischer Frühdeprivation, mit Ängsten, autistischen Zügen, seelischer Behinderung und Hyperaktivität – allgemein gesehen: Schüler mit kognitiven und emotionalen Strukturierungs- und Verarbeitungsstörungen sowie Schüler, die unter primär behindernden Bedingungen außerschulischer Art aufgewachsen sind und aktuell leben, bei denen eine Kind-Umfeld-Analyse dringend geboten ist. Dabei muss man erkennen und feststellen, dass es diese Störungen und Behinderungen in linearer oder einheitlich-homogener, klar abgrenzbarer Form nicht gibt. Wir haben es sowohl mit den Phänomenen Heterogenität, Individualität, Mehrfachstörung und -behinderung von Schülern als auch in allen Schularten mit teilweise gravierend behindernd wirkenden Umfeldbedingungen wie z. B. Armut, Erziehungsfehlern, -problemen, -notständen und soziokultureller Benachteiligung zu tun.

Daraus erwächst – unter bildungspolitischem Aspekt betrachtet – die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen ein von ihrem spezifischen Förderbedarf, von ihren Ressourcen und Kompetenzen bestimmtes, also beobachtungs- und diagnosegeleitetes, vor allem differenziertes Förder- und ggf. Therapieangebot in allen Schularten, speziell im Förderschulwesen, insbesondere auch im lerntherapeutischen Arbeitsfeld bereitzustellen. Zieldifferentes Lernen wird orientiert an den jeweiligen Möglichkeiten bzw. der Entwicklungsstufe des jeweiligen Schülers angestrebt.

Die Bedeutung, ja dringende Notwendigkeit der Heilpädagogischen Psychologie in den Arbeitsfeldern Sonder- und Heilpädagogik, Allgemeinpädagogik, Psychologie sowie Lerntherapie ist unbestritten.

Durch den immer umfangreicheren Einbezug psychologischer Inhalte in das sonder- und heilpädagogische sowie lerntherapeutische Arbeitsfeld und die damit verbundenen Herausforderungen hat die Heilpädagogische Psychologie in den vergangenen Jahren weiter an Bedeutung gewonnen. Es besteht die dringende Notwendigkeit, hierzu eine Informationsbasis zu schaffen. Gefragt ist auch Orientierungswissen nicht nur im Zusammenhang mit der Zunahme wissenschaftlicher Fragen und Erkenntnisse, sondern auch im Hinblick auf Wert- und Sinnorientierung im Kontext sonder- und heilpädagogischen Denkens und Handelns. Angesichts der doch über 7 % Kinder und Jugendlichen, die – im Zusammenhang mit vorgegebenen Curricula in den allgemeinen Schulen – hohen bis sehr hohen Förderbedarf und weiteren ca. 20 %, die einen zeitweiligen Förderbedarf in den Bereichen Lernen und Verhalten, geistige sowie soziale und emotionale Entwicklung aufweisen, wird die strukturierte und systematische Darstellung psychologischer Teildisziplinen und der damit verbundenen Handlungsfelder notwendig.

Ein wichtiges Motiv für dieses Buch liegt also in der Notwendigkeit, eine informative Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung angesichts wachsender Lern- und Verhaltensprobleme bei Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Entwicklung, Lernen, Diagnostik, therapiewirksame Prozesse, soziale Problemstellungen und das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung bilden die Brennpunkte in den Bereichen Sonder- und Heilpädagogik sowie Lerntherapie, integriert in die Frage nach bestmöglicher Erziehung, Förderung, Unterrichtung und ggf. Therapie.

Die Defekt- und Defizitorientiertheit traditioneller diagnostischer Ansätze könnte zur Grenze der Erziehung von Kindern mit Behinderungen werden, vielleicht die Legitimation für die langfristige Aufnahme in eine mehr oder weniger gut geführte Institution oder Einrichtung bedeuten. Wie sicher erweisen sich schon die Diagnosen von Ärzten, Psychologen, Lehrern und Sonderschullehrern hinsichtlich einer bestimmten Ätiologie oder eines Erscheinungsbildes? Was wissen wir wirklich genau über die organischen, sozialen und sonstigen Bedingungen, die z. B. für Wahrnehmungsstörungen, geistige Behinderung, Lernbehinderung, Teilleistungsstörung oder Autismus als verantwortlich gelten? Sind solche Diagnosen nicht häufig geradezu fixiert auf die Behinderung mit dem Ziel einer noch exakteren, differenzierteren, fokussierteren Beschreibung ohne Berücksichtigung des ganzen Kindes und seiner Familie mit all den Sorgen und Nöten in einer problemvollen Situation, die durch die Corona-Pandemie noch verschärft wurde und wird? Ging nicht aus Theorien und damit zusammenhängenden Diagnosen z. B. die ganz spezielle Konzeption „geistige Behinderung“, „Lernbehinderung“ sowie „Behinderung“ im Allgemeinen hervor?

Die im Gefolge des Deutschen Bildungsrates entstandenen Publikationen der 1970er Jahre, speziell Handbücher mit ihren zahlreichen und unübersehbaren Systematisierungsversuchen über „Behinderte“ mit ihren Auswirkungen auf wissenschaftliches Denken, Lehre und die Praxis, haben es nicht gerade gefördert, Menschen mit Behinderungen und ihre unmittelbaren Bezugspersonen zu Handlungs- und Aktivitätsträgern ihrer eigenen Belange, d. h. autonom werden zu lassen. Insofern wirken traditionelle Aussagen im Zusammenhang mit Behinderungen im wissenschaftlichen Bereich auch kontraproduktiv.

Deshalb ergeben sich gerade für Wissenschaftler der Gegenwart Aufforderung und Notwendigkeit zur Befreiung von einer verengten defektorientierten Sichtweise und die Aufforderung zur Suche nach einer neuen Wahrnehmung von Kindern mit Behinderungen in Richtung Ressourcen, Kompetenzen, Möglichkeiten und Können. Befreiung tut Not, will man die Fragen und Probleme wieder ursprünglich und neu zugleich sehen.

Wissenschaft des Aufbruchs

Sonderpädagogik war einst die Wissenschaft des Aufbruchs, der Unruhe, – der eingestandenen – ungelösten und an sich häufig unlösbaren Probleme einer menschlichen Wirklichkeit voller Verletzbarkeiten. Sie stand damit der Wirklichkeit einer von Zerstörung und Zerfall bedrohten, noch von Menschen bevölkerten Umwelt, dem Leben näher als manche anderen – „unanfechtbaren“ – Wissenschaften, die in nahezu atemberaubendem Tempo und mit vielleicht präzisesten Technologien die Welt, und damit den Menschen, perfektionieren möchten. Sie verdrängen dabei ihre eigene Vulnerabilität und Vergänglichkeit, haben in Wirklichkeit durch ihre Perfektion den Hebel für die totale Zerstörung bereits angesetzt. Die Millionen Kinder, die täglich hungern, verhungern, an heilbaren Krankheiten sterben, keine Schulen besuchen können, in Deutschland auch die enorme Zunahme von Ängsten, psychischen Störungen sowie Lernblockaden und der drastische Anstieg von Armut, sind der eigentliche Ausdruck des Behindert-Seins von Menschen.

Erst wenn wir sogenannten „Nichtbehinderten“ lernen, den Aspekt der Menschlichkeit, des Gestört- und Behindert-Seins sowie Vulnerabilität allgemein als zum Wesen des Menschen gehörend zu begreifen, unsere zahlreichen Behinderungen und Grenzen bewusst wahrzunehmen, können wir den Weg zum Kind und zum Menschen mit seinen speziellen Problemen in seiner besonderen Situation finden.

Sonder- und Heilpädagogische Psychologie markierte bisher wie ein roter Faden sonder- und behindertenspezifische Publikationen, bestimmte die Argumentation zahlreicher wissenschaftlicher Diskussionen, wurde jedoch erst in den 1990er Jahren explizit thematisiert.

Interdisziplinarität

Durch den vielfältigen Einbezug psychologischer Inhalte in das sonderpädagogische Arbeitsfeld hat die Heilpädagogische Psychologie nach einem Aufschwung unter Heinrich Hanselmann und Paul Moor in den vergangenen Jahren weiter an Bedeutung gewonnen. Sie ist zu einem interdisziplinären Teilbereich der Sonder- und Heilpädagogik sowie Lerntherapie geworden. Der gegenwärtige Mangel an wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Bereich besteht vielleicht deshalb, weil es schwerfällt, der Interdisziplinarität, Multidimensionalität und Komplexität der Heilpädagogischen Psychologie gerecht zu werden. Es verwundert, dass trotz der Tatsache des vielfältigen Einbezugs und der Verankerung des Faches „Sonderpädagogische Psychologie“, „Heilpädagogische Psychologie“, oder „Psychologie der Behinderten“ in den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen für Sonder- und Heilpädagogen nur wenige wissenschaftliche Publikationen zu diesem Wissenszweig im deutschen Sprachraum vorliegen.

Legitimation

Ihre Legitimation erfährt die Heilpädagogische Psychologie vor allem auch aus der Situation in Probleme und Not geratener Kinder und Jugendlicher, die sich nicht nur auf das speziell sonderpädagogische oder heilpädagogische Arbeitsfeld erstreckt. Heilpädagogische Psychologie bezieht demnach auch Kinder in ihren Aufgabenbereich ein, die im gegenwärtigen Regelschulsystem durch einseitiges Leistungsdenken und daraus hervorgehendem sozialen und emotionalen Druck in ihren psychisch-emotionalen, sozialen und kognitiven Möglichkeiten bedroht sind. So leiden schätzungsweise in der Grund- und Hauptschule des Regelschulsystems mehr als 20 % aller Schüler an Lern-, Leistungs- und Verhaltensstörungen, hervorgerufen durch ein viel zu rigides lehrer- und lehrplanorientiertes Erziehungs- und Unterrichtswesen. Diese Kinder befinden sich im Gefahrenbereich, leben ständig mit der Erfahrung, als Schul-Versager zu gelten. Weil in der Schule aber vor allem Leistung wahrgenommen wird, geraten Kinder mit Leistungs-Versagen und sonstigen psychischen Störungen leicht ins pädagogische Abseits oder „Niemandsland“. Im Zusammenhang mit Homeschooling und Corona-Pandemie leiden ca. 4000 der Kinder und Jugendlichen mehr oder weniger langfristig an Lernstörungen und psychischen Problemen.

Erziehung und Unterricht im Bereich gegenwärtiger Regelschulen vollziehen sich in einer Weise, als hätten Piaget, Montessori, Rogers und Klafki nie existiert. Entscheidungsspielraum und Mitspracherecht von Eltern und Kindern erweisen sich im Hinblick auf Lehrplan- und Unterrichtsgestaltung, auf Erziehungsfragen schlechthin als gering. Dem Wunsch vieler Eltern nach integrativer Unterrichtung ihrer Kinder wird in den meisten Bundesländern Deutschlands nur in begrenztem Maße entsprochen. Die eigentlich Betroffenen, Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung, werden auch in einer Demokratie nicht gefragt, wie Schule heute sein könnte. Dort, wo demokratisches Leben und Denken, Demokratie als solche beginnen sollte, wird sie in viel zu geringem Maße gelebt. Es fehlt eine öffentliche Schule mit einer echten Wahlmöglichkeit für Eltern und Kinder (vgl. Kap. 1.3).

Der Ausdruck „Heilpädagogische Psychologie“ wird dem Terminus „Sonderpädagogische Psychologie“ im Zusammenhang mit dem weniger diskriminierenden Charakter des Begriffes „Heilpädagogik“ an sich vorgezogen. Es fehlt das Attribut „Besonderung“. „Heilpädagogik“ weist auch aus historischen Gründen deutlich auf den pädagogischen Auftrag hin. Angestrebt wird eine kind- und kinderorientierte Sichtweise, die das Können, Vermögen, schlechthin die Möglichkeiten, Ressourcen und Kompetenzen der betroffenen Kinder intendiert und vor allem eine Analyse behindernder Bedingungen und Verhältnisse anstrebt. Es geht nicht um Heilung, sondern um Erhellung und Verbesserung einer Situation, um Ermöglichung eines „erfüllten Lebens“ (Moor 1994) im Rahmen einer „sinnorientierten Heilpädagogik“ (Palvi-Springer 2019).

Inhaltlich gesehen wird in diesem Buch zunächst die Bedeutung Heilpädagogischer Psychologie in Theorie und Praxis der Sonder- und Heilpädagogik sowie Lerntherapie dargestellt, wobei eine kritische Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Problemen der Sonderpädagogik erfolgt, soweit sie sich für das Verständnis der vorliegenden Schrift als bedeutsam erweist. Des Weiteren werden fünf umfangreiche grundlegende Bereiche thematisiert, die im Rahmen komplexer Prozesse im sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeld eine zentrale Rolle spielen: Entwicklung, Lernen, Förderdiagnostik, Therapien und sozialpsychologische bzw. soziologische Fragestellungen.

■Entwicklung: Nur auf der Basis grundlegender Kenntnisse über Entwicklungsvorgänge und -prozesse wird ein Erkennen und Verstehen der Probleme eines Kindes mit Entwicklungsverzögerung möglich. Vor allem wird die überragende Bedeutung exogener Bedingungen, speziell der Lernvorgänge im Zusammenhang mit dem Werden der kindlichen Persönlichkeit – behindernde Kind-Umfeldbedingungen – deutlich.

■Lernen: In engem Kontext mit der entwicklungspsychologischen Fragestellung steht die Frage nach dem Lernen. Informationen über neurophysiologische und neuropsychologische Prozesse im Hinblick auf Gedächtnis, Übertragung und Verarbeitung von Lernprozessen im Netzwerk Gehirn folgen. Vor allem die Bedeutung von Emotionalität und Motivation bei Lernvorgängen wird auch auf der Basis neurobiologischer Erkenntnisse begründet und hervorgehoben. Schließlich werden in kompakter Form Verursachungsmomente von Lern- und Wahrnehmungsstörungen angeführt sowie Folgerungen für eine basale Lernförderung und Lerntherapie gezogen.

■Förderdiagnostik: Diagnostik im heilpädagogischen und lerntherapeutischen Arbeitsfeld orientiert sich an den Prinzipien der Förderdiagnostik. Gerade Kinder mit Entwicklungsverzögerungen und -störungen sehen sich im Verlauf ihrer Personagenese zahlreichen behindernden Prozessen durch eine an sich speziell für Menschen ohne Behinderung konzipierte Umwelt ausgesetzt. Diese behindernden Bedingungen und Verhältnisse gilt es zu diagnostizieren und zu analysieren mit dem Ziel der Neutralisierung und Veränderung im Hinblick auf die spezifischen Bedürfnisse und Möglichkeiten des Kindes und Jugendlichen mit einer Behinderung. Förderdiagnostische Prozesse haben unter Berücksichtigung der Not- und Problemsituation eines Kindes im Rahmen anthropologischer, pädagogischer, sozialer, didaktischer und therapeutischer Prinzipien ihre Legitimation. Verstehen und Kompetenzorientierung geben die Richtung für eine gute Persönlichkeitsentfaltung an.

■Therapien: Psychische Störungen spielen im Rahmen der vorliegenden Problematik relativ häufig eine Rolle. Insofern werden Möglichkeiten der Begegnung durch psychotherapeutische Ansätze thematisiert. Ein Grundlagenwissen über tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische, klientenzentrierte, gestalttherapeutische, system- und lerntherapeutische Ansätze wird vermittelt, Möglichkeiten und Grenzen im Rahmen der Probleme im sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeld werden diskutiert. Keine „Patentlösungen“ werden aufgezeigt, nicht „Heilung“ kann in erster Linie intendiert werden, sondern Hilfe und Unterstützung zur Identitätsfindung, Stärkung der Persönlichkeit und Erweiterung der Handlungsfähigkeit. Auch wenn hierfür viel zu wenig Raum zur Verfügung steht, wird der Versuch einer Vermittlung von Grundlagen sowie eine kritische Beleuchtung wesentlicher Therapieformen im Hinblick auf Fragen und Probleme im heilpädagogischen und lerntherapeutischen Arbeitsfeld unternommen.

■Sozialpsychologische Fragen: Die Betrachtung sozialer Fragen im Kontext sozialpsychologischer bzw. soziologischer Problemstellungen im Rahmen sonder- und heilpädagogischer sowie lerntherapeutischer Arbeit dient der Bewusstmachung und Verdeutlichung alltäglicher Prozesse wie sie in der Gesellschaft, beim Laien wie beim Wissenschaftler gleichermaßen, in vorurteilsbildender Weise ablaufen können. Einzelvorgänge und Zusammenhänge mehr oder weniger bewusster Art werden in die Überlegungen einbezogen, ins Bewusstsein gerückt. Nichtbeachtung des Kindes mit einer Behinderung und verengte, einseitige, starre, schlichtweg vorurteilsbildende Wahrnehmung können gleichermaßen „leise Euthanasie“ bedeuten.

didaktischer Aufbau

Die Kapitel 3 bis 7 beinhalten ihrer Struktur nach vor allem

■Allgemeine Lernziele zu Beginn der Kapitel;

■Begründungen, d. h., es geht um die Frage, welche Bedeutung und Aufgabe den entsprechenden Bereichen – Entwicklung, Lernen, Förderdiagnostik, Therapien, Sozialpsychologie – im Zusammenhang mit behindernden Bedingungen, beeinträchtigten Verhältnissen und speziellen Erziehungsbedürfnissen zukommt;

■Grundlageninformationen, wobei Akzente gesetzt werden müssen. Im Hinblick auf das sehr umfangreiche Material, das dem Verfasser insbesondere zu den Bereichen Entwicklung, Lernen, Therapien und Sozialpsychologie in Form eigener Manuskripte vorliegt, fällt die Auswahl schwer. Möglicherweise erscheinen hierzu noch Einzelpublikationen. Der Problembereich pädagogischer Diagnostik / Förderdiagnostik wird nur knapp eingebracht, weil es hierzu bereits einschlägige Publikationen des Verfassers gibt;

■kritische Diskussion und Reflexion, wobei Möglichkeiten der Anwendung in Theorie und Praxis, des Transfers psychologischer Erkenntnisse auf den heilpädagogischen Bereich einbezogen wurden. Dabei geht es auch um den Zusammenhang zwischen Wissen und Handeln;

■Querverbindungen zwischen Entwicklung, Lernen, Diagnose, Therapien und sozialen Prozessen zeigen am Ende eines jeden Kapitels die enge Verzahnung zwischen diesen Bereichen im Sinne strukturierter Zusammenhänge auf. Das Netzwerk Heilpädagogische Psychologie lässt sich so leichter erschließen. Die Subsysteme können durch diese Übersichten besser in das Gesamtsystem integriert werden. Gerichtet sind alle diese Überlegungen auf das Kind in der Problem- und Notsituation, schlechthin auf den Menschen mit einer Behinderung. Intendiert ist die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten, Verbesserung der Gesamtsituation, vielleicht gelingt auch damit die Vermittlung von mehr Lebenssinn;

■zusammenfassende Fragen zur Wiederholung am Ende der Kapitel.

Zahlreiche an sich spezifisch psychologische Begrifflichkeiten, wie z. B. „Verhalten“, „Prognose“, „Entwicklung“, „Reifung“, „Lernen“, „Diagnose“, „Therapien“ finden in diesem Buch in erweiterter, z. T. neuer Bedeutung Eingang. Viele Begriffe werden im Kontext heilpädagogischer Fragestellungen in einem neuen Licht gesehen und verstanden, ohne die eigentliche und ursprüngliche wissenschaftliche Bedeutung zu neutralisieren.

Terminologie und Etikettierung

Es sollten vor allem Pauschalisierungen, Diskriminierungen, Vorurteilsbildung vermieden werden, wie sie häufig auch in sonderpädagogischen Publikationen vorgekommen sind. Die Etikettierung eines Kindes als „behindert“ stellt eine Reduktion der Komplexität kindlicher Persönlichkeit dar, verbunden mit der Gefahr der Gleichsetzung eines Menschen mit einem mehr oder weniger dominanten Merkmal seiner körperlichen, geistigen oder emotional-affektiven (seelischen) Identität. Möglicherweise beeinträchtigt die „so reduzierte Persönlichkeit“ via Definitionsprozess als Vorgang von außen und Identifikation als Prozess von innen die gesamte Entwicklung eines Menschen. Historisch betrachtet war die spezifische Kennzeichnung einer differenziellen Behinderung, wie z. B. „geistig behindert“, „lernbehindert“, „verhaltensgestört“, „gehörlos“ … ein pauschalisierender Vorgang mit generalisierender und kumulierender Tendenz. Er verstellte auch die Möglichkeit einer vorurteilsfreien Wahrnehmung. Die „Grenz-Linie“ zwischen „behindert“ und „nichtbehindert“ ist eine Fiktion. Solange man den Behinderungsbegriff unter Berücksichtigung mehrerer Bedeutungszusammenhänge weder klar bejahen noch verneinen kann, sollte man vielleicht auf solche Differenzierungsversuche – zumindest im wissenschaftlichen Kontext – ganz verzichten, um prophylaktisch der Gefahr einer zusätzlichen Gefährdung von Kindern zu begegnen.

Dieses Buch stellt den Versuch einer systematischen Behandlung vielfältiger Problemstellungen Heilpädagogischer Psychologie in gegenwärtigen und zukünftigen Arbeitsfeldern dar, wobei bezüglich der Inhalte und der Umfänglichkeit ihrer Bearbeitung Akzente gesetzt und eine Auswahl getroffen werden mussten. Besonders schwer fielen die Entscheidungen im Zusammenhang mit Lernen und Therapieansätzen, vor allem aber bezüglich entwicklungspsychologischer Fragestellungen, speziell zu Piagets genetischer Erkenntnistheorie und damit verbundenen Begrifflichkeiten. Zum Bereich Förderdiagnostik wird hier ein im Hinblick auf das Kind mit speziellen Förderungsbedürfnissen notwendiger Grundriss unter Berücksichtigung der Herausforderungen dieses Jahrtausends aufgezeigt.

1Die Bedeutung der Heilpädagogischen Psychologie

Lernziele

1.Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Sonderpädagogik und Allgemeiner Pädagogik

2.multidimensionale Verflechtung der Heilpädagogischen Psychologie

3.Komplexität, theoretische Aspekte und praktische Probleme der Heilpädagogischen Psychologie – aufgezeigt anhand von Fallbeispielen

4.Relevanz der Heilpädagogischen Psychologie im Rahmen der schulischen, heilpädagogischen und lerntherapeutischen Lebenswelten bzw. Wirklichkeiten

5.kritische Diskussion zentraler Begriffe (z. B. Integration, Inklusion …) und deren Realisierung im Hinblick auf Erziehung und Unterricht / Schule und Lerntherapie

Arbeitsfelder

Die Bedeutung der Heilpädagogischen Psychologie ergibt sich unmittelbar aus den praktischen Arbeitsfeldern, der Sonder- und Heilpädagogik sowie Lerntherapie. Diese Arbeitsfelder erstrecken sich auf alle Kinder und Jugendliche – an sich auch Erwachsene –, bei denen erschwerte Erziehungs-, Lern- und Bildungsbedingungen vorliegen, d. h. auf alle Personen mit mehr oder weniger gravierenden Störungen oder Behinderungen (Lern-, Sinnes- und Verhaltensbeeinträchtigungen, soziale Beeinträchtigungen, speziell auch Personen mit Lernbehinderung, geistiger Behinderung, Verhaltensauffälligkeiten, Körperbehinderung sowie Blinde, Gehörlose, Sprachgestörte). Es liegt ein hoher bis sehr hoher Förder-, teilweise auch Therapiebedarf vor.

Die Diskussion der vergangenen 30 Jahre, die aktuelle Situation und die weniger starke begriffliche Belastetheit sprechen dafür, dem Ausdruck „Heilpädagogische Psychologie“ den Vorzug vor „Sonderpädagogische Psychologie“ zu geben. Obwohl zahlreiche im sonderpädagogischen Bereich tätige Wissenschaftler den Begriff „Sonderpädagogik“ in Universitäten und in Publikationen gebrauchen, verbinden sich mit „Sonderpädagogik“ und den damit implizierten Inhalten auch Unbehagen, Zweifel und Skepsis. Die alljährlichen Tagungen der Dozenten der Sonderpädagogik deutschsprachiger Länder lassen Anzeichen erkennen, die auf einen Identitätsverlust, möglicherweise sogar auf eine Selbstauflösung dieses Faches hindeuten (Speck 1990, 38–48).

Begriff „Sonderpädagogik“

Die folgenden Impulse konzentrieren sich zunächst auf die Problematik, die sich mit dem Begriff „Sonderpädagogik“ verbindet:

■ Gibt es überhaupt eine Sonderpädagogik, oder handelt es sich hierbei nicht schlichtweg um „Pädagogik … und nichts anderes“ (Moor 1974, 273)?

■Stellt „Sonderpädagogik“ möglicherweise inhaltlich und begrifflich eine diskriminierende Einengung des eigentlich Gemeinten dar?

■Steckt die Sonderpädagogik überhaupt vor allem durch die jahrzehntelange Betonung der separierenden Erziehung und Unterrichtung in einer Legitimationskrise, befindet sie sich in der Selbstauflösung, kann sie der Kritik von verschiedenen Seiten standhalten?

■Benötigt man den Begriff „Sonderpädagogik“, das Adjektiv „sonderpädagogisch“, wenn „sonderpädagogisches“ Denken und Handeln nicht einfach kinderorientiertes Denken und Handeln bedeuten?

Dieses Buch steht im Dienste des in Probleme, ja in Not geratenen Kindes, des pädagogischen Geschehens schlechthin, orientiert sich an den speziellen Bedürfnissen von Kindern, die im Rahmen von Erziehung und Unterricht als „lern-, leistungs-, verhaltensgestört“ oder „behindert“ bezeichnet werden, die im Zusammenhang mit – teilweise – separierender Erziehung in Kindergärten und Schulen erzogen und gefördert werden. Sie bezieht also Kinder mit – wie auch immer bedingten – „Lernstörungen“ und / oder psychischen Problemen im Regelschulsystem ebenso ein wie Kinder, die in Förderschulen / -einrichtungen unterrichtet und erzogen werden und dort als entwicklungsverzögert, beeinträchtigt, behindert gelten. Die Frage nach der Integration wird seit Jahren mit unterschiedlichen Akzenten diskutiert und inzwischen auch in die Praxis umgesetzt (Bundschuh et al. 2007a, 136 ff, 141 ff; 2010, 72–99). Die Frage nach der Integration, also nach der integrierten Unterrichtung im Regelschulsystem, sollte von den jeweils Betroffenen, also den Eltern und den Schülern, möglichst autonom unter Einbezug entsprechender Fachberatung beantwortet und entschieden werden.

Begriff „Heilpädagogik“

Der Begriff „Heilpädagogik“ hat insbesondere in pädagogischer und medizinischer, aber auch in soziologischer, sozialpädagogischer und theologischer Hinsicht eine bewegte Geschichte. Unter historischem Aspekt betrachtet lässt sich dreierlei anmerken (vgl. auch Bundschuh 2010, 19–57, 2023):

1.Der Begriff „Heilpädagogik“ ist 1861 durch die Pädagogen Georgens und Deinhardt eingeführt worden. Sie gründeten 1857 in Baden bei Wien die „Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana“ für geistig zurückgebliebene und auch verwahrloste Kinder. Arzt und Pädagoge sollten hier eine Arbeitsgemeinschaft bilden, medizinische Behandlung und pädagogisches Wirken sollten die Aufgabe begleiten und ergänzen. Mittel und Methoden hat die Heilpädagogik aus dem Bereich der allgemeinen Erziehung zu gewinnen, wobei es hier um verfeinertes und gründliches Bewusstsein für das hilfsbedürftige Kind, um „Modificationen“, pädagogisches Helfen geht. Für Georgens und Deinhardt ist Heilpädagogik auch in der allgemeinen Erziehung enthalten, die es bisweilen mit körperlichen und geistigen Störungen, mit krankhaften Neigungen, Verwahrlosung und Verwilderung zu tun hat. Bereits damals spielte die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen und Ursachen für Kinderprobleme eine Rolle.

2.Hans Asperger gilt als einer der ersten Kinder- und Jugendpsychiater. In seiner 1952 erschienenen „Heilpädagogik“ betont er:

„Wir lieben diesen Ausdruck Heilpädagogik. Es liegt darin das Bekenntnis, dass nur das Pädagogische, im weitesten Sinn freilich, imstande ist, einen Menschen wirklich zum Besseren zu verändern, aus den verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes durch überlegene Menschenführung die beste auszuwählen“ (Asperger 1952, 5).

3.„Heilpädagogik“ wird heute ganz allgemein als „Theorie und Praxis der Erziehung unter erschwerten personalen und sozialen Bedingungen“ verstanden (Meinertz et al. 1987, 14; Klein et al. 1999, 18 f). Häufig wird Heilpädagogik synonym zu „Sonderpädagogik“, „Behindertenpädagogik“, „Spezialpädagogik“, „Orthopädagogik“, „Rehabilitationspädagogik“ u. a. verwendet. Während in den zuletzt genannten Termini im Zusammenhang mit Behinderung auch die Besonderung betont wird, sehen wir im Begriff „Heilpädagogik“ bzw. im Adjektiv „heilpädagogisch“ weniger Abgrenzung, Festlegung, Separierung, auch ein weniger an Möglichkeit und Gefahr für definitorischen Abusus. Heilpädagogik impliziert mehr Offenheit.

Für den Schweizer Heilpädagogen Emil E. Kobi befassen sich Heilerziehung und Heilpädagogik mit

„Problemen der Erziehung und Bildung in menschlichen Beziehungs- und Lernverhältnissen, welche durch Behinderung eine Beeinträchtigung erfahren, die nach Art und Ausmaß als so schwerwiegend gilt, dass sie den konventionellen Erziehungs- und Bildungsrahmen sprengt“ (Kobi 1993, 18).

Für Kobi steht am „Anfang der Heilpädagogik … nicht einfach das Faktum ‚Behinderung‘, sondern das menschliche Subjekt“ (ebd. 34).

ganzheitliches Wahrnehmen und Verstehen

Mit Ferdinand Klein geht es „um ein ganzheitliches Wahrnehmen und Verstehen des Menschen“ (Klein et al. 1999, 16). Er fragt mit den Schweizer Heilpädagogen und Erziehungswissenschaftlern Heinrich Hanselmann (1885–1960) und Paul Moor (1899–1977) primär nach

■„dem Menschen mit seinen Schwierigkeiten (und nicht nach den Schwierigkeiten des Menschen),

■dem Menschen in seiner Ganzheit, der auffallende Symptome hat (und nicht nach dem auffälligen Menschen) und

■nach der Wirklichkeit heilpädagogischen Helfens (und nicht nach dem Begriff des heilpädagogischen Helfens).

Der einzelne Mensch in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit steht also im Zentrum des Wahrnehmens und Verstehens: seine Individualität, sein unversehrter innerer Kern“ (Klein et al. 1999, 16).

Kinder und Jugendliche in Problemsituationen

In dieser Schrift geht es primär um Kinder und Jugendliche, die in vorschulischen, schulischen, außer- und nachschulischen Handlungsfeldern aufgrund von Erziehungsfehlern, institutionellem Zwang und Druck und auch gesellschaftlichen Bedingungen in Probleme, ja in Not geraten sind. Insofern gibt es auch hier keinen zureichenden Grund für eine strenge Unterscheidung von Heilpädagogik im Sinne von Theorie, Lehre, Wissenschaft und Heilerziehung als Praxis. Die Bezeichnung „Heilerziehung“ könnte missverständliche Assoziationen wecken und findet hier deshalb keine Verwendung. Es geht

„um ein behutsames erzieherisches Beeinflussen des Kindes in seiner somatopsychischen Ganzheit mit all seinen Schwierigkeiten auf der Basis guter zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Anbahnen, Entwickeln und Vertiefen des erzieherischen Verhältnisses und seine Realisierung in der dialogisch-helfenden Beziehungsgestaltung wird bedeutsam. Die Frage nach dem Sinn (Sinnbezug, Sinnerfüllung) stellt sich immer wieder. – Hier handelt es sich um eine Erziehung, die ein Mehr in quantitativer und qualitativer Hinsicht bedeutet: Es müssen stets mehr Gesichtspunkte bedacht, miteinander in Beziehung gebracht werden und dabei muss vertiefter, genauer und sorgfältiger überlegt, geprüft, geplant und gehandelt werden, um den Störungen und (drohenden) Zusammenbrüchen im erzieherischen Feld wirksam begegnen zu können. – Das alles meint heilpädagogisches Denken und Handeln. Darüber hinaus zeichnet den Heilpädagogen eine innere Haltung aus, die sein Tun und Denken trägt, gerade dann, wenn sich nicht gleich Lösungen finden und Erfolge einstellen. In der Heilpädagogik stellt sich die pädagogische Frage verschärft und radikal“ (Meinertz et al. 1987, 15; Klein et al. 1999, 19).

Andreas Möckel hebt in seiner „Geschichte der Heilpädagogik“ hervor, dass der Pädagogik durch die Heilpädagogik neue Arten von Institutionen und Einrichtungen zugewachsen sind, die nicht nur die Wirklichkeit von Kindern mit Behinderung, sondern die gesamte Schullandschaft verändert haben. „Die Heilpädagogik hat nicht nur Kindern geholfen, sondern mit der Zeit auch die Vorstellung von Behinderung revolutionär verändert“ (Möckel 2007, 25).

Es geht im Rahmen der vorliegenden Publikation nicht um eine umfassende Darstellung der Geschichte der Heilpädagogik, vielmehr auch um eine kurze Begründung für die Wahl des zentralen Ausdrucks „Heilpädagogische Psychologie“ anstelle von „Sonderpädagogische Psychologie“ auch aus dem historischen Verständnis von Heilpädagogik:

■Heilpädagogik weist auf die enge Verbindung zur Pädagogik hin, denn „Heilpädagogik ist Pädagogik und nichts anderes!“ (Moor 1974);

■der Begriff „Heilpädagogik“ akzentuiert das pädagogische Moment, hebt den pädagogischen Auftrag hervor;

■er enthält nicht explizit den Aspekt der separaten Erziehung, der Besonderung.

In der Wortzusammensetzung Heilpädagogik wird mit Klein et al. (1999, 22) und Speck „die Chance und Aufgabe verdeutlicht, von Zerteilung (Dysfunktion, Isolation) bedrohten Lebens durch eine entsprechende Erziehung in sinnvolle Zusammenhänge zu führen“. Mit dem Orientierungsbegriff Heilpädagogik soll insbesondere zum Ausdruck kommen:

■ Die anthropologisch ganzheitliche Orientierung einer Erziehung, die einer drohenden personalen und sozialen Desintegration zu begegnen und (ganzheitlichen) Lebenssinn zu erschließen hat,

■das komplementäre Ergänzungsverhältnis zwischen allgemeiner und spezieller Pädagogik und

■die kooperative Ergänzungsbedürftigkeit zwischen spezieller Pädagogik und Nachbardisziplinen.

Heilpädagogik wird demnach als „Pädagogik unter dem Aspekt spezieller Erziehungserfordernisse beim Vorliegen von Entwicklungs- und Beziehungshindernissen (Behinderungen und sozialen Benachteiligungen) gesehen“ (Speck 2008, 18).

Der Ausdruck „Heilpädagogische Psychologie“ wird hier auch verwendet im Sinne von „kinderorientierte Psychologie“. Dazu gehört ein Menschenbild, das jedes Kind in seiner Eigenart und Einzigartigkeit akzeptiert und ernst nimmt, eine pädagogisch-philosophische Orientierung, die, ausgehend von den individuellen Möglichkeiten sowie konkreten Lebensbedingungen des Kindes, vor allem seine ureigenen Möglichkeiten, Ressourcen und Kompetenzen unterstützt und fördert und nicht primär sein Anpassungsverhalten.

1.1Heilpädagogische Psychologie als multidimensionaler Wissenschaftsbereich in den Arbeitsfeldern der Sonder- und Heilpädagogik sowie Lerntherapie

Frage nach Ursachen

Im Rahmen sonder- und heilpädagogischer Handlungs- und Denkprozesse wurde schon immer die Frage nach dem Woher, also nach den Ursachen von Störungen und Behinderungen, gestellt. Der Bedingungshintergrund für die Entstehung von Erziehungserschwernissen wurde beleuchtet und hinterfragt. Die Entwicklungspsychologie in Verbindung mit der Medizin ermöglicht Aussagen zu den prä-, peri- und postnatalen, den vorschulischen und schulischen Verursachungsmomenten (Ätiologien) von Beeinträchtigungen und deren Auswirkungen auf die Entwicklung, das Lernen und Verhalten von Kindern, auf die Sozialisation und Personalisation des Menschen schlechthin.

Neuere wissenschaftliche Ansätze, die sich mit dem Entwicklungsgeschehen beschäftigen, heben immer wieder – beeinflusst durch Sozialpsychologie und Soziologie – das Prozesshafte, die Dialektik hervor, d. h. die wechselseitig sich beeinflussenden Veränderungen zwischen Kind, sozialer und materialer Umwelt, etwa zwischen Kind, Mutter, Vater und Geschwistern im engeren Sinne. Untersucht wird von Frühpädagogen, Soziologen, Sozialpsychologen und Sozialpädagogen etwa die Frage, wie sich die Behinderungen eines Kindes, die Problematik einer möglichen Ablehnung des Kindes auf die Interaktionen mit der Mutter auswirken und wie Problemen und Missverständnissen besser begegnet werden kann. Es interessiert also die Frage nach der sozialen Umwelt, den Erziehungs- und Bezugspersonen. Damit wird neben der Entwicklungspsychologie vor allem die Sozialpsychologie angesprochen. Folgt man Untersuchungen zu den Familien von Kindern mit Lernbehinderung, so scheint diese „Behindertengruppe“ vor allem auf dem Hintergrund ungünstiger sozialer, kultureller und ökonomischer Bedingungen entstanden zu sein (Begemann 1970; Weiß 1994).

Auch bei ca. 20 % der Kinder, die eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung besuchen, dürften Milieufaktoren für das Erscheinungsbild „geistige Behinderung“ ursächlich sein.

Milieueinflüsse

Frage nach Therapie

Liegen erst einmal psychische, physisch / organische oder lernspezifische Störungen und Beeinträchtigungen vor, wird der Ruf nach spezieller Behandlung laut. Kinder sollen gefördert, ggf. therapiert werden. Der Therapiebereich hat im pädagogisch-sonderpädagogischen Arbeitsfeld geradezu eine Inflation erfahren. Es wird viel von Spiel-, Mal-, Musik-, Arbeits-, von Unterrichtstherapie, schlechthin von pädagogischer Therapie gesprochen. Ziel- und aufgabenorientiert finden sich Bezeichnungen wie Sozial-, Milieu-, Verhaltens-, Psycho-, Lern-, Sprach-, Legastheniker-, Sexual-, Eltern- und Familientherapie. Im Felde der Sonder- und Heilpädagogik gibt es so etwas wie einen „Urschrei nach Therapie“.

förderungsorientierte Diagnostik

Wie aber kommt man zu den Informationen über die Entwicklung, das Lernverhalten, die sozialen Bezüge, über die zu therapierenden Bereiche? Man stößt dabei auf eine Methode, auf einen Tätigkeitsbereich der Psychologen, der ebenso starke Faszination wie Ablehnung hervorruft. Er spielt aber immer wieder eine Rolle im Zusammenhang mit Kindern, bei denen Lernvorgänge erschwert sind: Es handelt sich hierbei um die sonderpädagogische Diagnostik, besser die förderungsorientierte Diagnostik, die sich in der Praxis zumeist als Prozess bzw. Begleitdiagnostik versteht, d. h. als eine den Lernprozess begleitende Diagnostik. Es handelt sich um eine aus der psychologischen Diagnostik abgeleitete Diagnostik, deren Anfänge im heilpädagogischen Bereich um 1900 liegen und auch mit den Namen der französischen Wissenschaftler Binet und Simon verbunden ist (Bundschuh / Winkler 2019, 24–30). Seit Mitte der 1970er Jahre hat sich diese Vorgehensweise deutlich von den Ansätzen traditioneller Diagnostik entfernt, distanziert und stärker in Richtung Kind und Lernprozess modifiziert, sich zu einer Förderungsdiagnostik entwickelt, die sich an den Möglichkeiten, Problemen und Bedürfnissen des in Probleme geratenen Kindes orientiert (Bundschuh 2019; 75–135).

interdisziplinäre Vernetzung

Es könnte bisher vielleicht der Eindruck entstanden sein, als existierten die hier angesprochenen Bereiche (Entwicklungspsychologie, Förderdiagnostik, Sozialpsychologie / Soziologie, Therapien, Lernpsychologie) relativ separat, ganz speziell, als trage jeder seine Funktion in sich. Eine solche Sichtweise entspräche nicht den Fakten, die sich aus dem Aufgabengebiet ergeben. Vielmehr muss man von einer Vernetzung, einer unter einem ganzheitlichen Aspekt zu betrachtenden Integration der Wissenschafts- und Aufgabenfelder sprechen. Jeder dieser Bereiche lebt und existiert primär durch die enge Verbindung mit den anderen Gebieten. Mit der Heilpädagogischen Psychologie verbindet sich ein interdisziplinäres Handlungsfeld. Die Schwerpunkte ergeben sich aus der Besonderheit der jeweiligen Frage- und Problemstellung im praktischen Arbeitsfeld. Der Sonder- oder Heilpädagoge wird quasi als oberster Kybernetiker und Koordinator bestimmen, welchen Bereichen er je nach Problemlage und Gesamtsituation die dominierende Rolle zuweist. Den Sonder- oder Heilpädagogen können wir in der Tat als Vermittler zwischen dem Problemkind, den Eltern, Erziehungspersonen und wissenschaftlichen Disziplinen (Didaktik, Pädagogik, Psychologie …), aber auch als Vermittler und Koordinator zwischen den angesprochenen Ebenen bezeichnen.

Heilpädagogische Psychologie basiert also auf Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, Pädagogischen Psychologie, Sozialpsychologie / Soziologie, Lernpsychologie, der Pädagogischen / Heilpädagogischen Diagnostik oder Förderdiagnostik und Klinischen Psychologie (Therapien). Heilpädagogische Psychologie beruht ferner auf den Erkenntnissen der Heil- bzw. Sonderpädagogik (s. Abb. 1).

teilhabende Wissenschaften

Sehr viele Erkenntnisse z. B. über Wahrnehmung, Motorik, Sprache, Entwicklung allgemein und speziell Entwicklung des Nervensystems werden auch aus der Medizin, der Neuropsychologie und -physiologie abgerufen, auf den sonderpädagogischen Bereich transferiert, fließen in das Aufgabenfeld der Heilpädagogischen Psychologie ein.

„Jeder bringt von seiner Wissenschaft her den ihm möglichen Beitrag zur Lösung des Problems … Die einzelne Fachkompetenz mündet … ein in ein gemeinsames Fragen und Suchen für das leib-seelisch-soziale Wohl des Kindes. Bei diesem fachlichen Austausch entsteht eine kooperative Fachkompetenz auf neuem Niveau, welche die somatischen, psychischen und sozialen Bedingungen der Beeinträchtigung beachtet.“ (Klein et al. 1999, 24)

Klein und Mitarbeiter sprechen von „teilhabenden Wissenschaften“. Die Heilpädagogische Psychologie umfasst in Theorie und Praxis die psychologischen Aufgaben- und Problemstellungen aller Personen, deren Erziehung, Personalisation und Sozialisation im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen und Behinderung, vor allem unter erschwerenden Bedingungen erfolgt. Die Heilpädagogische Psychologie leitet ihre Legitimation aus der Bedürfnis-, Problem- und Notsituation von Kindern und Erwachsenen ab, steht immer im Dienst der Erziehung, des Erziehungsgeschehens. Die Heilpädagogische Psychologie folgte unter historischem Aspekt zumeist einem sonderpädagogisch-allgemeinpädagogischen „Anruf“. Es wird die gegenwärtige und zukünftige Aufgabe der Heilpädagogischen Psychologie weiterhin darin bestehen, „Anrufe“ von Kindern wahrzunehmen, die sich aus pädagogischen Notsituationen ergeben. Abbildung 1 verdeutlicht die Aspekte der Multidimensionalität und Komplexität Heilpädagogischer Psychologie.

Fokus kindliche Bedürfnisse

Die hier aufgezeigten Bereiche Heilpädagogischer Psychologie haben als Zielrichtung stets das Kind mit seinen speziellen Nöten und Bedürfnissen im Auge. Diese Bereiche werden im Zusammenhang mit heilpädagogischen Aufgabenstellungen hinterfragt bezüglich

■ Prophylaxe / Prävention (Vorbeugung, Vorsorge, Verhütung von Lern-, Verhaltensstörungen und Behinderungen),

■Verstehen (So-Sein der Kinder, Konflikte und Probleme der Eltern),

■Erklären von Zusammenhängen aus den Bedingungen (gegenwärtige Problemlage aus der Biographie und der damit verbundenen ungünstigen [sozialen] Beeinflussung) und

■Beratung / Förderung / Therapie (Hilfe für eine bestmögliche Entfaltung des Kindes).

Heilpädagogische Psychologie steht somit unmittelbar im Dienst des Erziehungsgeschehens. Die Skizze deutet auch die Querverbindungen zwischen den psychologischen Bereichen und damit die Komplexität Heilpädagogischer Psychologie an. Die Heilpädagogische Psychologie stellt einen Wissenschaftsbereich dar, der Erkenntnisse der Psychologie, insbesondere der Entwicklungs- und Sozialpsychologie, der Pädagogischen Diagnostik, insbesondere der Förderdiagnostik, der Klinischen Psychologie sowie der Lernpsychologie auf das Arbeitsfeld der Sonder- und Heilpädagogik transferiert. Dadurch soll auf der Basis förderdiagnostischer Prozesse (Heilpädagogischer Diagnostik) mit der Intention des Verstehens eine bessere Aussage und Information über Ursachen (Ätiologien / Bedingungshintergründe), Erscheinungsweisen (Phänomene) und Förderung (Lernen / Therapien) bei vorliegenden erschwerten Erziehungs- und Lernprozessen erreicht werden, als dies auf der Basis einer rein pädagogischen Fragestellung möglich wäre.

Abb. 1: Querverbindungen, Verflechtungen und Vernetzungen Heilpädagogischer Psychologie

1.2Die Komplexität Heilpädagogischer Psychologie und das wissenschaftstheoretische Dilemma

In höchstem Maße schwierig, ja problematisch scheint es zu sein, wissenschaftlich vertretbare, gleichzeitig allgemeingültige Aussagen für die Bereiche Sonder- und Heilpädagogik sowie Lerntherapie zu formulieren, insbesondere für die Kinder mit Störungen, Behinderungen und mit speziellen Erziehungsbedürfnissen, die im Rahmen dieser Überlegungen intendiert sind. Keine Frage, jeder Mensch erweist sich aufgrund seiner Anlage, der Umwelteinflüsse sozialer und materialer Art, von seiner Eigendynamik her, schlichtweg im Zusammenhang mit seiner Persönlichkeit als einmalig.

Entwicklungsvorgänge

Dennoch scheint es bei der Entwicklung des Menschen ohne Behinderung so etwas wie eine gemeinsame Streubreite zu geben. Es spricht z. B. vieles dafür, dass in einem ganz bestimmten Altersbereich Entwicklungsvorgänge erwartet werden, die als „normal“ gelten. Quer- und Längsschnittuntersuchungen, deren Ergebnisse sich dann in Entwicklungskurven und -tabellen niederschlagen, dokumentieren, dass es so etwas wie eine „altersadäquate Entwicklung“ gibt (vgl. Bundschuh / Winkler 2019, 289 f, 298 f), d. h., dass in einem ganz bestimmten Lebensalter, gewisse Lern- und Verhaltensprozesse erwartet werden (z. B. Laufen lernen zwischen dem 10. Und 15. Lebensmonat, Lallphase etwa mit sechs Monaten, erste sinnvolle Worte, mit ca. 15 Monaten sogenannte „Einwortsätze“, Wunschäußerungen …). Es gibt aber Entwicklungsvorgänge bei Kindern, die völlig anders verlaufen, bei denen nahezu nichts Prognostisches zutrifft, die nicht mehr im Bereich der Erwartungen, der Streubreite der Entwicklungsnorm liegen. Relativ rasch spricht man dann von „Abweichungen“, „Beeinträchtigung der Entwicklung“, „Entwicklungsstörungen“, „Entwicklungsverzögerungen“, von „behinderten Entwicklungen“, von „behinderten Menschen“, von „Menschen mit Behinderungen“ – wobei hier die Frage nach den Ursachen für diese gestörten bzw. behinderten Entwicklungen vernachlässigt wird. Der Mensch stellt ein Phänomen mit unendlich vielen Freiheitsgraden und Möglichkeiten der Entwicklung des Verhaltens dar.

Populärwissenschaftliche und wissenschaftliche Aussagen allgemeingültiger Art über den Menschen mit Beeinträchtigungen (Behinderungen, Störungen) scheitern zum einen an der durchgängig unterschiedlichen Art und Weise der Phänomene dieser Behinderungen. Es gibt nämlich nicht den oder die Menschen mit einer Behinderung schlechthin mit absolut gleichen Verhaltensweisen oder gar Kennzeichen, es gibt nicht die Erziehungsschwierigen, die Menschen mit Lernbehinderung, die Teilleistungsgestörten …, bestenfalls die individuelle Entwicklung dieses oder jenen Kindes mit geistiger Behinderung, Lernbehinderung, mit psychischen Störungen, Körperbehinderung usw. Angesprochen ist hierbei das Problem der Heterogenität und der multifaktoriellen Bedingtheit der angeführten Phänomene, die als „Behinderungen“ bezeichnet werden. „Der Personenkreis, das ‚Behindertenspezifische‘, war letztlich ungeklärt geblieben.“ (Speck 2003, 76)

Beispiel „Lernbehinderung“

Dieses Dilemma kann am Beispiel „Lernbehinderung“ oder „Lernbehinderte“ verdeutlicht werden. Zu diesem Problembereich gibt es zahlreiche Publikationen, die zu keinem Konsens oder wissenschaftlich haltbaren Konzept führen.

„Das Wort ‚Lernbehinderung‘ oder ‚Lernbehinderte‘ ist weder in der Pädagogik noch in der Psychologie, Soziologie, Psychiatrie oder einer sonstigen Wissenschaft klar umschrieben und definiert. Es bezeichnet vielmehr ein Arbeitskonzept, das sich in den letzten zehn Jahren im Erziehungsbereich zunehmend durchgesetzt und in den Schulbestimmungen allgemein Anerkennung gefunden hat.“ (Kanter 1974, 117)

So hatte in den 1960er Jahren der Begriff der „Lernbehinderung“ eine Ausdehnung erfahren, durch die er als Kriterium für eine pauschale institutionelle Besonderung zweifelhaft wurde (in den Städten wurde er z. T. dreimal so häufig attestiert wie auf dem Land) (Speck 2003, 76). Insofern erweist es sich als zutreffend, wenn der Begriff „Lernbehinderung“ auch als „euphemistisch“, „relational“, „diffamierend“, „simplifizierend“, „fixierend“ und schließlich „pauschalierend“ (Baier 1980, 12–41) bezeichnet wird.

Relativierung durch Informationsdefizit

Zum anderen muss die Möglichkeit der Aussagen über Menschen mit Behinderungen am nahezu durchgängigen Informationsdefizit über diese Menschen scheitern. Das Wissen, speziell das wissenschaftliche Wissen bezüglich der Phänomene „Störung“ bzw. „Behinderung“ (Bundschuh / Winkler 2019, 40–45) erweist sich als gering, es erscheint eher approximativ, nur annäherungsweise „richtig“ zu sein. Möglicherweise um diesem Dilemma zu begegnen, folgte ebenfalls in den 1960er Jahren die weitere Ausdifferenzierung, die Aufspaltung in Sonderpädagogiken mit dem Resultat der fortschreitenden Spezialisierung und Fortschritten in technologischer Hinsicht. Spezialisten erweisen sich aber nur für Teilbereiche zuständig. Keinesfalls hat es die Sonder- oder Heilpädagogik nur mit Einfach-Behinderungen zu tun, die Realität ist doch das „mehrfachbehinderte“ Kind.

Zusammenfassung: Es lässt sich konstatieren, dass der Mensch allgemein und Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise nicht hinreichend erforscht sind und unter dem versuchsweise generalisierenden Aspekt auch nicht erforscht werden können. Die jeweilige Biographie und die daraus hervorgehende individuelle Situation divergieren nämlich, dominieren vielleicht sogar im Vergleich zum Allgemeinen (Generalisierenden). Der Mensch als solcher wird wohl auch niemals hinreichend wissenschaftlich erforschbar sein. Das wissenschaftstheoretische Dilemma in Form einer allgemeinen Verunsicherung existiert weiter. Das Ganze der Wirklichkeit besteht eben nicht nur aus Teilen, es stellt mehr als die Summe seiner Teile dar (vgl. 6.8 Gestaltpsychologie). Insofern erweist sich die begriffliche Fassung mit „komplex“ als zutreffend.

Sonder- und Heilpädagogik als spezielle Pädagogik steht – wie kaum ein anderer wissenschaftlicher Bereich mit vergleichbarem Handlungsbezug – im Schnittpunkt verschiedener, konkurrierender Theorie- und Handlungsansätze. Will sie die Pädagogik mit integrativem Anspruch sein, muss sie sich um fruchtbare Synthesen solcher Teilansätze bemühen, soweit diese mehr Menschlichkeit versprechen. Sie muss sich auch bereitfinden, in einen offenen Austausch auch divergierender Ansätze zu treten. Eine Sonder- und Heilpädagogik, die diesen offenen Diskurs nicht suchte, sondern in die kompromisslose, radikale Konfrontation ginge, machte sich in ihrem Integrationsversprechen unglaubwürdig.

Wir müssen offensichtlich gerade in unserem Wissenschaftsbereich lernen, mit Widersprüchen zusammenzuleben. Es gibt nicht den „typischen“ lern-, geistig- oder körperbehinderten, ebenso wenig den blinden, gehörlosen, sprachgestörten oder verhaltensgestörten Schüler. Jeder Mensch mit einer Störung oder Behinderung erweist sich als ein „Einzelfall“, besser ausgedrückt – so wie jeder Mensch – als einmalig. Eine Vielzahl von Faktoren und Bedingungen bestimmt das Aufwachsen und damit die Entwicklung eines Menschen in einer ganz konkreten soziokulturellen und sozioökonomischen Lebenswelt sowie die jeweils aktuelle Lebens- und Lernsituation. Wenn sich also Heilpädagogische Psychologie mit diesen heterogenen Phänomenen beschäftigt, muss sie mit Komplexität rechnen. Jeder Lehrer, der an Förderschulen und in Diagnose- und Förderklassen unterrichtet, wird dies bestätigen: Nicht nur die Schülerschaft an sich ist heterogen und komplex, vielmehr erweist sich bereits jeder einzelne Schüler als höchst komplex. Die mögliche Lösung des Problems ist nicht in sogenannten „allgemein gültigen wissenschaftlichen Aussagen“ zu suchen, vielmehr muss die unmittelbare Wirklichkeit und Erfahrung der Einzelnen, also der Betroffenen stärker ins Spiel gebracht werden. Dies gilt gleichermaßen für Menschen mit Behinderungen und „Experten“, die mit Menschen mit Behinderungen arbeiten.

Komplexität und Multidimensionalität Heilpädagogischer Psychologie werden in der folgenden Falldarstellung transparent (Begemann 1984, 20 ff; das „reale Beispiel“ Begemanns wird in verkürzter Form und veränderter Reihenfolge wiedergegeben):

1.Das Jugendamt berichtet: M. ist das jüngste Kind von zehn (ein Kind starb kurz nach der Geburt), die im Zeitraum von 1953 bis 1966 geboren wurden. Der Vater (geb. 1929) verdiente als (ungelernter) Gipser recht gut. Den gesamten Verdienst gab er seiner Frau zur Finanzierung des Haushaltes. Die Mutter (geb. 1928) konnte angeblich nicht wirtschaften. Sie galt als „Dorfschlampe“. Sie schickte die Kinder nur unregelmäßig zur Schule. Sie wurden deshalb oft vom Ordnungsamt geholt. In der Schule wurden die Kinder morgens gewaschen und in saubere Kleidung gesteckt, die sie bei Schulschluss – mittags – wieder ausziehen mussten.

Die Familie B. (elf Personen) wohnte in einem Anbau eines dörflichen Gemeindehauses: zwei Zimmer und Küche mit je zehn Quadratmetern Fläche, die Toilette war auf dem Hof, in der Küche war der Wasserhahn. Alle Personen schliefen auf Matratzen, die auf dem Boden lagen. Die Ausstattung der Wohnung war dürftig: Herd, Küchentisch, sechs Stühle, eine Schlafcouch, zwei Kleider- und ein Küchenschrank, ein Radio, keine Zeitung, kein Fernseher, kaum Spielzeug.

M. wurde wie seine Geschwister in der Wohnung geboren. Die Geburt dauerte lange. Die Hebamme kam erst sehr spät. M. war nach der Geburt ganz blau. Die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gewickelt. Ansonsten berichtete die Mutter keine Besonderheiten frühkindlicher Entwicklung. Mit wachsender Kinderzahl kamen auch finanzielle Schwierigkeiten. Bei häufig auftretenden Streitereien bezog Herr B. von seiner körperlich überlegenen Frau Prügel. Als er aufgrund einer Magenoperation Frührentner wurde (1965), begann er zu trinken (Alkoholiker) und hielt sich kaum noch zu Hause auf. Frau B. lief seit 1968 oft von ihrer Familie fort zu ihrer Mutter. Die älteren Kinder versorgten unterdessen die Geschwister. Die älteren Mädchen verdienten als Gelegenheitsprostituierte Geld und brachten ihre Freier mit ins Haus. Erst 1973 wurde den Eltern das Sorgerecht entzogen; alle unverheirateten Kinder kamen in ein Heim. Sie wurden als unterernährt und klein beurteilt, besondere Krankheiten wurden nicht festgestellt.

2.Aus der Vorgeschichte ist bekannt: Zum Zeitpunkt der Umschulung (August 1974) war M. mit acht leiblichen Geschwistern in einem Kinderheim untergebracht. Seinen Eltern war 1973 das Sorgerecht entzogen worden. Fünf Geschwister besuchten die Schule für Geistigbehinderte, vier die Schule für Lernbehinderte, davon war eine Schwester schon in Frankreich verheiratet. Bei Eintritt ins Heim waren die Kinder verlaust, besaßen keine Schuhe, ihre Kleidung war total zerlumpt. M. konnte sich im Heim nur schwer einordnen. Er war gegenüber Kindern und Erwachsenen aggressiv. Er stahl Geld und kaufte sich davon Süßigkeiten. Er wollte sich nicht waschen und weigerte sich, in die Grundschule zu gehen. (Es war nicht mehr die, in die er vor zwei Monaten eingeschult worden war.) M. war kaum satt zu kriegen. Er aß meist doppelte Portionen. Er schläft mit einem Teddy im Arm. Die Erzieherinnen des Heimes sind ausländische Nonnen, die nur gebrochen Deutsch sprechen. Bei der Umschulung wurde M. mit dem HAWIK getestet. Er erreichte einen IQ von 79 (VB 70–88). Das entspricht einem Prozentrang von 9 (2,2–20). Sein Ergebnis ist demnach besser als das von den 9 % der Altersgleichen aus der Eichstichprobe des Tests.

3.Die Heimleitung berichtet: Nach dem Tod der Mutter (47) wird M. zur Adoption freigegeben. Ein kinderloses Ehepaar (62 und 55) ist bereit. Die Adoption scheitert nach mehreren Versuchen, da M. ihnen immer wieder davonläuft und ins Heim zurückkehrt. Der Vater besucht seine Kinder nicht im Heim. Die Schwester der Mutter, die ein größeres Friseurgeschäft leitet, kommt in größeren Abständen, lehnt es aber ab, die Kinder zu sich einzuladen. Der Bruder der Mutter ist Architekt. Er lehnt jeden Kontakt zu M. und seinen Geschwistern ab. Er hat die Familie B., auch als seine Schwester noch lebte, streng gemieden und in keiner Weise unterstützt. – M. lebt in einer gemischten Gruppe von acht Kindern, die von vier Erzieherinnen betreut werden. Unter den Erzieherinnen des Heimes besteht eine große Fluktuation.

5.Der Klassenlehrer beschreibt: M. löst Additionen im Zahlenraum bis 100 durch Zählen unter Zuhilfenahme der Finger, Subtraktionen gelingen so nur selten, Ergänzungen werden als Additionen gelöst, Multiplikationen beherrscht er noch nicht. Einfache, im Unterricht oft behandelte Worte kann M. aus einer kleinen Anzahl von Wortbildern herausfinden, sinnentnehmend kann er fremde (neue) Worte oder Sätze nicht erlesen. In der Rechtschreibung versucht M. Wörter so zu schreiben, wie er sie spricht. Nur wenige Wörter werden sicher geschrieben. M. fehlte in den vier Schuljahren selten, insgesamt 23 Tage.

6.Ein Studierender berichtet: M. (10,7) ist im Mai 1977 Schüler der vierten Lernstufe / Klasse (UIII) einer Schule für Lernbehinderte. Er befindet sich im vierten Schulbesuchsjahr (Schuljahr 1976 / 77). Wegen ungenügender Leistungen im Lesen, Schreiben und Rechnen wurde er nach einem Jahr in der ersten Klasse der Grundschule im August 1974 in die UI der Schule für Lernbehinderte eingeschult. Sein Leistungsstand in der UIII gilt als befriedigend. Seine Leistungen in der Schulleistungstestbatterie SBL 2 sind – gemessen an den Leistungen von Grundschülern in der zweiten Hälfte der zweiten Klasse – recht niedrig. Sie sind im Rechnen nur besser als die schlechtesten 9 %, im Lesen nur besser als die schlechtesten 8 % und in der Rechtschreibung nur besser als die schlechtesten 8 % der Vergleichsgruppe (2. Klasse Grundschule), obwohl er schon vier Jahre beschult wurde.

Als multidimensional erweist sich diese Falldarstellung, weil nahezu alle Wissenschaftsbereiche, die hier angeführt wurden (Entwicklungs- und Sozialpsychologie, heilpädagogische Förderdiagnostik, Lernpsychologie, Klinische Psychologie und Pädagogische Psychologie im Allgemeinen; s. Kap. 1.1) in mehr oder weniger hohem Maße tangiert werden. Die Komplexität dieses „realen Beispiels“ ergibt sich aus dem unterschiedlichen Erscheinungsbild, wie z. B. Intelligenz und Schulleistung sowie Verhalten in verschiedenen Situationen, etwa im Elternhaus, in der Schule, in Heimen, gegenüber Bezugspersonen. Unter pädagogischem Aspekt und im Verständnis Heilpädagogischer Psychologie kann man den Schüler M. nur „ganzheitlich“ sehen, d. h. im Rahmen der engen Vernetzung und Verbindung von problembehafteten Lebens- und Erziehungsbedingungen, die sein „Werden“ stets beeinflussten, und aktuellem, gegenwärtigem So-Sein in seiner jetzigen Situation.

Mit großer Wahrscheinlichkeit lässt sich bei jedem Kind, das in einer Sonder- oder Förderschule, in einem Förderzentrum oder in einem Heim erzogen und unterrichtet wird, ein eigenes, unter individuellen Bedingungen entstandenes (Schüler-)Schicksal beobachten und erkennen, mit dem sich erschwerte Erziehungs- und Lernbedingungen verbinden. Der Versuch Bleidicks (1977), Behinderung, speziell Lernbehinderung, unter dem Aspekt des Paradigmas in vier Kategorien zu fassen, kann zwar eine Strukturierungshilfe darstellen, wird jedoch dem Phänomen Behinderung in seiner Heterogenität und Komplexität nicht gerecht.

Paradigmata des Behinderungsbegriffs

Mit vier Sätzen wird Behinderung gekennzeichnet, die auch in dieser reduzierten Phänomenkennzeichnung als Beleg für die Komplexität und Multidimensionalität Heilpädagogischer Psychologie gelten können (Bleidick 1977, 208–214):

■„Behinderung ist ein medizinisch fassbarer Sachverhalt: Behinderung als medizinische Kategorie;

■Behinderung ist eine Zuschreibung von sozialen Erwartungshaltungen: Behinderung als Etikett;

■Behinderung als Systemerzeugnis schulischer Leistungsdifferenzierung: Behinderung als Systemfolge;

■Behinderung ist durch die Gesellschaft gemacht: Behinderung als Gesellschaftsprodukt.“