Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik - Konrad Bundschuh - E-Book

Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik E-Book

Konrad Bundschuh

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  • Herausgeber: UTB GmbH
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Wie diagnostiziert man Beeinträchtigungen bei Entwicklungsverzögerungen im Vorschulalter, Lern-, Leistungs- und Verhaltensproblemen sowie Behinderungen unterschiedlicher Art bei Kindern und Jugendlichen? Wie leitet man adäquate Fördermaßnahmen aus der Diagnose ab? Das Standardwerk der sonder- und heilpädagogischen Diagnostik erläutert förderdiagnostische Sichtweisen und Methoden und informiert lernzielorientiert über - wissenschafts- und testtheoretische Grundlagen, - die Praxis der Förderdiagnostik in einzelnen Anwendungsfeldern, - forderungsorientierte, sonderpädagogische Gutachtenerstellung.

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Seitenzahl: 615

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Prof. em. Dr. phil. Konrad Bundschuh war Ordinarius und Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik bei geistiger Behinderung und Pädagogik bei Verhaltensstörungen am Department Pädagogik und Rehabilitation, Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dr. phil. Christoph Winkler ist Akademischer Oberrat und Lehrkraft für Sonderpädagogik am selben Lehrstuhl.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 999

ISBN 978-3-8252-5286-1

ISBN 978-3-846-35286-1 (EPUB)

9. Auflage

© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Cover unter Verwendung eines Fotos von ©istock.com/Ankudi

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur neunten Auflage

Vorwort zur ersten Auflage

1     Einleitung

2     Geschichtlicher Aufriss der Intelligenzdiagnostik unter besonderer Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte

2.1  Die Entstehung der Psychodiagnostik

2.2  Beiträge der Psychiatrie

2.3  Der Ansatz Alfred Binets

2.4  Die Weiterentwicklung des Binet-Systems

2.5  Fortschritte der Intelligenzmessung

3     Begriff, Aufgaben, Funktionen und Bereiche der sonder- und heilpädagogischen Diagnostik

3.1  Zum Begriff „Psychodiagnostik“

3.2  Gegenstands- und Aufgabenbereich sonderpädagogischer Diagnostik

3.3  Aufgabenbereiche sonder- und heilpädagogischer Diagnostik im Rahmen institutioneller und organisatorischer Entscheidungsfelder

3.4  Sonderpädagogisch-psychologische Diagnose als Förderdiagnose

4     Testtheoretische Voraussetzungen zur Realisierung sonder- und heilpädagogischer sowie lerntherapeutischer Diagnostik

4.1  Der psychologische Test

4.1.1  Bestandteile eines Tests

4.1.2  Phasen des testdiagnostischen Prozesses

4.2  Gütekriterien psychologischer Tests – sonder- und heilpädagogische sowie lerntherapeutische Relevanz

4.2.1  Objektivität

4.2.1.1  Durchführungs- oder Darbietungsobjektivität

4.2.1.2  Auswertungsobjektivität

4.2.1.3  Interpretationsobjektivität

4.2.1.4  Objektivität der „diagnostischen Konsequenzen“ oder der Förderungsansätze

4.2.2  Reliabilität

4.2.2.1  Bedingungen für Reliabilität

4.2.2.2  Methoden zur Bestimmung der Zuverlässigkeit eines Tests

4.2.3  Validität (Gültigkeit)

4.2.3.1  Inhaltliche Validität

4.2.3.2  Übereinstimmungsgültigkeit (kriterienbezogene Validität)

4.2.3.3  Vorhersagegültigkeit (prognostische Validität)

4.2.3.4  Konstruktvalidität (theoretische Gültigkeit)

4.2.4  Normierung

4.2.4.1  Notwendigkeit

4.2.4.2  Der historische Ansatz zur Gewinnung von Normen

4.2.4.3  Mathematisch-statistische Voraussetzungen für das Verständnis von Normen

4.2.4.4  Gebräuchliche Normenskalen

4.2.4.5  Standardmessfehler und Vertrauensbereiche

4.2.5  Nebengütekriterien von Tests

4.2.5.1  Vergleichbarkeit

4.2.5.2  Ökonomie eines Tests

4.2.5.3  Nützlichkeit eines Tests

4.3  Zum Begriff „Standardisierung“

4.4  Objektivität, Standardisierung und sozialpsychologische Überlegungen

4.5  Klassifikation von Testverfahren und deren Bedeutung für die sonder- und heilpädagogische Diagnostik

4.5.1  Verschiedene Klassifikationsaspekte

4.5.2  Zur Problematik „Projektion“ und Verfahren projektiver Art

4.5.3  Psychometrische und projektive Verfahren

4.5.4  Der eigene Klassifikationsaspekt

5     Informationsgewinnung im Rahmen förderdiagnostischer Praxis mit dem Ziel der Kompetenzförderung

5.1  Phase der Vorinformation: Informationsgespräch – Anamnese – Exploration

5.2  Die Informationsphase

5.2.1  Verhaltensbeobachtung

5.2.2  Entwicklungsdiagnose und Entwicklungstests unter besonderer Berücksichtigung von Früherkennung und -förderung

5.2.2.1  Grundprinzipien der Entwicklungsdiagnostik

5.2.2.2  Klassifikation von Entwicklungstests und Screenings

5.2.2.3  Einzelne Verfahren zur Ermittlung des Entwicklungsstandes des Gesamtverhaltens – Darstellung und Kritik

5.2.2.4  Entwicklungstests und Screenings – Möglichkeiten und Grenzen

5.2.3  Verfahren zur Diagnose kognitiven Verhaltens: Intelligenztests / Intelligenzdiagnose

5.2.3.1  Intelligenztests als Individualverfahren

5.2.3.2  Intelligenztests als Gruppenverfahren

5.2.3.3  Intelligenz- und Entwicklungsdiagnostik

5.2.4  Schulleistung – Fehleranalyse – didaktischer Zugang

5.2.4.1  Für die sonderpädagogische Diagnostik spezifische Verfahren

5.2.4.2  Schulleistungstests mit förderdiagnostischer Bedeutung – Fehleranalyse

5.2.5  Soziales und affektiv-emotionales Verhalten

5.2.5.1  Quantitativ orientierte Verfahren

5.2.5.2  Projektive Verfahren

5.2.6  Arbeitsverhalten

5.2.7  Sprachliches Verhalten – Sprache

5.2.7.1  Relevanz einer gezielten Beobachtung des Sprachverhaltens

5.2.7.2  Methodische Anregungen zur Diagnose von Sprachstörungen

5.2.7.3  Semantik – Wortschatz und situative Verfügbarkeit

5.2.7.4  Pragmatik – Sprache und Kommunikation

5.2.7.5  Primärsprachmilieu – Dialekt / Soziolekt / Umwelt

5.2.8  Motorik

5.2.8.1  Allgemeine Kriterien für die gesunde Entwicklung eines Kindes

5.2.8.2  Formen der Bewegungsstörung

5.2.8.3  Beobachtung und Messung motorischer Fähigkeiten durch motometrische Verfahren

5.2.9  Wahrnehmung

5.2.9.1  Unterschiedliche Wahrnehmungsarten

5.2.9.2  Die frühe Entwicklung der Wahrnehmung

5.2.9.3  Störungen und Förderung der Wahrnehmung

5.2.9.4  Diagnose von Wahrnehmungsleistungen

5.3  Diagnose – Förderung – Erziehung als pädagogische Einheit bei Menschen mit schwerer Behinderung bzw. sehr hohem Förderbedarf

5.4  Grundlageninformationen zur Problematik „Autismus-Spektrum-Störung“

5.4.1  Kennzeichen und einzelne Symptome

5.4.2  Medizinisch-fachärztliche Diagnose und Sichtweise

5.4.3  Grundlageninformationen zur Faciliated Communication (FC)

5.5  Verstehens- und handlungsorientierte Diagnose

5.5.1  Pädagogische Ziele unter spezieller Berücksichtigung sonder- und heilpädagogischer Problemstellungen

5.5.2  Qualitative Lernförderungsdiagnostik

5.6  Kind-Umfeld-Analyse

5.7  Kompetenzorientierung als konzeptionelle Grundlage sonder- und heilpädagogischer Diagnostik

5.7.1  Handlungskompetenz als Basis pädagogischer Förderung

5.7.2  Förderung kommunikativer, kognitiver, sozialer, moralischer und emotionaler Kompetenz

5.8  Kompetenzen des im sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeld tätigen Diagnostikers

6     Das förderungsorientierte sonderpädagogische Gutachten

6.1  Einführung

6.2  Die Befunderstellung

6.3  Fragen und Probleme des Gutachtenaufbaus

6.4  Formen und Möglichkeiten der Gutachtengestaltung

6.5  Zusammenfassung zur Problematik Gutachtenerstellung

6.6  Gutachtenentwurf

6.6.1  Förderdiagnostische Gutachtenerstellung unter Berücksichtigung der Kompetenzorientierung

6.6.2  Konkrete kompetenzorientierte Förderungsvorschläge

6.6.2.1  Alltagsbewältigung und lebenspraktische Bereiche

6.6.2.2  Förderung kognitiver Kompetenzen

6.6.2.3  Emotionale Unterstützung (Emotionalität, Erleben und Verhalten)

6.6.2.4  Förderung sozialer Kompetenz

6.6.3  Konzeptionelle Überlegungen zur Förderplanung

6.6.4  Beispiele förderdiagnostisch orientierter Gutachtenerstellung

6.6.4.1  Fallbeispiel: Schülerin mit geistiger Behinderung – Förderbedarf geistige Entwicklung Schwerpunkte: Beratung und Förderung

6.6.4.2  Fallbeispiel: Realschule – Sonderpädagogischer Förderbedarf im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

7     Ausblick

Literatur

Verzeichnis diagnostischer Tests und Förderverfahren

Sachregister

Vorwort zur neunten Auflage

Seit der letzten Überarbeitung des vorliegenden Buches (2014) sind zwar erst wenige Jahre vergangen, es stellen sich aber in dieser Zeit gerade vor dem Hintergrund der Inklusionsdiskussion sowohl im Bereich der Diagnostik im sonder- und heilpädagogischen als auch im lerntherapeutischen Arbeitsfeld vermehrt drängende Fragen.

Die kontinuierliche Nachfrage hat zu einer erneuten Auflage der „Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik“ geführt. Die zahlreichen positiven Rückmeldungen zu den bisherigen Auflagen bestätigen den Bedarf einer aktuellen Publikation zu diesem Fragenkomplex mit seiner impliziten Dynamik und ermutigten zur Bearbeitung und Erweiterung. So trägt die vorliegende Neuauflage Veränderungen und Herausforderungen im sonder- und heilpädagogischen sowie im lerntherapeutischen Arbeitsfeld Rechnung.

Die Ausführungen der achten Auflage wurden durchgängig überarbeitet. Literatur, die Information zu diagnostischen Verfahren sowie zur Förderung bietet, und das Sachregister wurden ebenfalls ergänzt und aktualisiert. Teilweise wurden Inhalte verändert und neu konzipiert.

Dieses Buch ist Grundlage für diagnostische Fragestellungen der Sonder- und Heilpädagogik, Lerntherapie, Psychologie und auch allgemeinen Pädagogik, wenn man Störfaktoren in den Bereichen Schule, Kind- und Umfeldsituation, Gesellschaft und auch Schulsystem in die Frage nach einer bestmöglichen Erziehung integrieren möchte. Förderdiagnostik, eine Beziehung herstellen und reflektieren sowie Verstehen von Kindern und Jugendlichen mit Problemen bilden zusammen mit diagnostischer Fachkompetenz eine Einheit.

Im Bereich der Diagnostik im Sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeld stellen sich gerade vor dem Hintergrund der Inklusionsdiskussion vermehrt Fragen. Kann sonderpädagogische Diagnostik im Sinne von Förderdiagnostik (Bundschuh 2019) einen Beitrag zu entwicklungsbezogenen, lernprozess- oder strukturniveauorientierten Angeboten leisten? Um pädagogisch-didaktische, förderungsspezifische und therapeutische Maßnahmen in Gang zu setzen, müssen zweifellos die Nöte, Schwierigkeiten, biografischen Verletzungen zwingend benannt, analysiert und verstanden werden. Diagnostischer und förderdiagnostischer Handlungsbedarf ergibt sich bereits im Vorschulbereich, des Weiteren bei 20 bis 30 Prozent aller Schüler zwischen Förderschulen, Allgemeinschulen, Realschulen und Gymnasien temporär und teilweise langfristig angesichts einseitig fordernder sowie überfordernder – sowohl schulischer als auch außerschulischer – Wirklichkeiten. Nicht nur Lernprozesse, sondern vor allem auch die soziale und emotionale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen sind von ungünstigen Bedingungen (Lernklima, Leistungsdruck, einseitige Orientierung am Leistungsdenken, frühzeitige Stigmatisierung, Mobbing, Erziehungsprobleme, sexueller Missbrauch, ...) tangiert. Orientierung am Kind oder am Jugendlichen und am Förder- und Lerntherapiebedarf stellen eine Herausforderung an die Schulen bzw. an die Lehrer und Lerntherapeuten dar, sich individuell-verstehend und vor allem auch in differenzierter Form auf die Lern- und Lebensprozesse einzustellen und es nicht zuzulassen, dass von außen induzierte Lernstörungen, Versagensängste und Minderwertigkeitsgefühle generiert werden. Schüler müssen die Chance einer optimalen Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Kontext Lernen und Bildung, aber auch sozialer und emotionaler Kompetenzen entsprechend vorhandener Ressourcen und Möglichkeiten erhalten. Kompetenz- und ressourcenorientierte, aber auch verstehende Diagnostik gehört zum Prozess der Inklusion, wobei ein Verlust an Profil sowie fachlich-diagnostischer Kompetenz für die Betroffenen Schaden bedeuten würde.

An diagnostischen Fragestellungen bestand im Zusammenhang mit bedrängenden pädagogischen Problemsituationen schon immer ein besonderes Interesse. Menschliches Handeln beginnt mit der Analyse der Ausgangslage, der Einschätzung des möglichen Verlaufs einer Handlung und eines Denkprozesses sowie einer Prognose des wahrscheinlichen Ergebnisses. Der diagnostische Handlungsbedarf hat angesichts zunehmender Leistungsorientierung des Schulsystems, insbesondere im Bereich Grundschule an den Übergängen zu weiterführenden und vor allem auch an weiterführenden Schulen und anwachsender Vulnerabilität im außerschulischen Umfeld von Kindern (auseinanderbrechende Familien mit entsprechenden Belastungen und Konfliktsituationen gerade für Kinder, Alleinerziehende, Armut, Verunsicherung in Erziehungsfragen, unkritischer Medienkonsum, Kindesmissbrauch, traumatische Erfahrungen, ...), also infolge zahlreicher störungs- und behinderungsinduzierender Bedingungen, deutlich zugenommen. Eltern begleiten und fördern die Bildungsprozesse ihrer Kinder bewusster als früher und hinterfragen intensiver die Vorgehensweisen in Schulen. Leider fühlen sie sich aber häufig auch ohnmächtig und hilflos gegenüber diesen mächtigen Systemen. Sonder- und Heilpädagogen, Lerntherapeuten, Frühpädagogen, Psychologen und Mediziner haben die Aufgabe, Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten, d. h. Förder- und ggf. Therapiebedarf im sozialen und emotionalen Bereich frühzeitig zu erkennen und Maßnahmen zu deren Behebung zu ergreifen sowie bei der Prophylaxe möglicher Fehlentwicklungen unterschiedlicher Art mitzuwirken.

Gerade im umfangreichen Kapitel fünf mit über 200 Seiten, das sich vor allem mit diagnostischen Methoden und Verfahren im Rahmen förderdiagnostischer Praxis mit dem Ziel Analyse der Problemsituation, Verstehen des betroffenen Kindes oder Jugendlichen, ressourcen- und kompetenzorientierte Förderung beschäftigt, wurden Aktualisierungen und weitere wichtige Ergänzungen eingebracht. So wurde auch der Neukonzeption diagnostischer Verfahren Rechnung getragen, und es wurden entsprechende neuere (Test-)Verfahren in strukturierter Form sach- und informationsorientiert, aber auch kritisch eingefügt.

Förderdiagnostik stellt eine Vermittlung zwischen Schülerproblemen und Förderung bis hin zu kinderorientierten Therapien (Spieltherapie, Lerntherapie) dar. Schüler können sich dadurch neu wahrnehmen, von behindernden Bedingungen befreien und sie haben die Chance einer optimalen Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Hierfür sprechen auch die Erkenntnisse der modernen Neurobiologie und -psychologie. Jedenfalls darf die Zahl der Verlierer im System Schule nicht weiter steigen. So ist es auch die Aufgabe einer analysierenden, verstehenden, kompetenz- und förderungsorientierten Diagnostik, gerade diese behindernden Bedingungen stärker als bisher zu diagnostizieren und zu analysieren, jede individuelle Art von Lernen zu achten, anzuerkennen, wertzuschätzen und zu fördern.

Der Bedeutung aktueller Frage- und Problemstellungen wurde noch mehr Raum gegeben. Thematisiert wird im Besonderen das, was für die Gegenwart zum Problem und zur Herausforderung geworden ist. Der Inhalt der neuen Auflage konzentriert sich auf diagnostische Themen, die für die Sonder- und Heilpädagogik, Lerntherapie und Psychologie in einer gewandelten Wirklichkeit grundlegend wichtig sind. Dieses Buch will durch kritisch-reflexive Anmerkungen und Impulse zu neuen Denk- und Handlungsprozessen anregen.

Vor allem auch Fragen der Früherkennung und -förderung, die Problematik Entwicklungsdiagnose und Entwicklungstests, Intelligenz-, Schulleistungs- und Sprachtests sowie Diagnose sozialer und emotionaler Probleme, von Ängsten im Kontext Schule werden im Rahmen dieses fünften Kapitels behandelt.

Kein Zweifel, Förderdiagnostik geschieht auf der Basis von Verstehen und Beziehungsgestaltung. Es geht auch um die heilende Beziehung zu einem Klienten, der neue Fähigkeiten in sich selbst entdecken und diese Beziehung zu seiner Entfaltung nutzen kann.

Im Rahmen von Kapitel sechs werden die Bedeutung von Förderplanung und wichtige Grundsätze der Förderplanung thematisiert. Insgesamt betrachtet wurde der Bedeutung aktueller Fragen und Problempunkte mehr Raum gegeben. Das Grundprinzip, so umfassend wie möglich in enger Vernetzung von Theorie und Praxis sachlich ausgewogen und kritisch-konstruktiv zu informieren, wurde beibehalten.

Der wissenschaftliche Fokus liegt gewissermaßen am Puls einer veränderten und sich rasch weiterentwickelnden Wirklichkeit, die Bisheriges in Frage stellt und zu neuen Denk- und Handlungsprozessen anregt. Kinder und Jugendliche sollen lernen, mit dieser Welt umzugehen, in dieser Welt selbstständig zu handeln und damit Gestalter ihrer Welt sowie ihres zukünftigen Lebens zu werden. Erziehung und Bildung verlangen den Erfahrungsraum positiver menschlicher Zuwendung, der gegenseitigen Achtung sowie der Teilhabe vor allem im Hinblick auf Leben, Lernen und Lebensbewältigung – und nicht Ausgrenzung. Bildung des Menschen als Person und Mitglied der Gesellschaft fordert ganzheitliche Bildung, in der sich nicht nur die intellektuellen, sondern auch die emotionalen und sozialen Möglichkeiten mit Blick auf Personalisation (individuelle Entfaltung) und Sozialisation (erfülltes Leben in der Gesellschaft und Gemeinschaft) entwickeln können.

München im April 2019 Konrad Bundschuh

Vorwort zur ersten Auflage

1 Motivation / Ausgangslage

Während meines Studiums der Sonderpädagogik in München (1970 bis 1972) fiel mir auf, dass zu sonderpädagogisch-diagnostischen Problem- und Fragestellungen nahezu keine Literatur vorlag. Die sonderpädagogische Diagnostik war weder wissenschaftstheoretisch fundiert (ist es auch heute noch nicht), noch herrschte in der Praxis Klarheit über Ziele, Inhalte und Aufgabenbereiche.

In der Zwischenzeit setzten sich mehrere Autoren – zumeist kritisch – mit diagnostischen Fragen im Bereich der Pädagogik, speziell der Sonderpädagogik auseinander. Diese Literatur beschäftigt sich jeweils mit Teilaspekten diagnostisch-förderdiagnostischer Fragestellungen, wie z. B. mit statistischen Problemen, Testtheorie, mit Tests speziell oder mit diagnostischen Problemen im Zusammenhang mit Lernbehinderten. Eine gründliche Diskussion praktischer Fragen erfolgte nicht.

Immer wieder wurde ich von Studierenden aufgefordert und angeregt, meine Ausführungen der Vorlesung „Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik“ zu publizieren. Deutlich wurde die Notwendigkeit, über diagnostische Fragen im sonderpädagogischen Bereich zu informieren bei Referaten und Diskussionen mit Wissenschaftlern und Praktikern.

2 Ziele

Es wird der Versuch unternommen, die Bereiche und Probleme sonderpädagogischer Diagnostik unter Einbezug einer kurzen Darstellung der geschichtlichen Entwicklung wissenschaftstheoretisch zu hinterfragen und zu diskutieren. In einem zweiten, stärker praxisorientierten Teil werden Probleme förderdiagnostischer Informationsgewinnung unter Einbezug und kurzer Vorstellung möglicher Verfahren behandelt. In einem dritten Teil soll eingeführt werden in die Problematik der „förderungsorientierten Gutachtenerstellung“, wobei eigene praktikable Lösungswege aufgezeigt werden. Insgesamt gesehen soll die Schrift mit der Intention einer möglichst engen Verknüpfung von Theorie und Praxis über diagnostische Probleme im sonderpädagogischen Bereich informieren.

3 Methode

Den Ausgangspunkt bilden die Fragen: Welche Inhalte gehören zum Bereich der sonderpädagogischen Diagnostik, und wie können diese Inhalte reflektiert und weitergegeben werden.

Um diese Problematik zu bewältigen, ist ein umfangreiches Sichten der Literatur aus den Fachgebieten Heil- und Sonderpädagogik (Teilbereiche der Pädagogik), Psychologie, Psychiatrie, Soziologie und Medizin erforderlich sowie eine Aktualisierung eigener Erfahrungen aus dem Problembereich. Es erfolgt dann ein systematischer Aufbau nach logischen Aspekten, wobei der Adressat lernzielorientiert informiert werden soll.

4 Inhalte

Die Arbeit teilt sich in drei große Bereiche: in einen wissenschaftstheoretischen, einen praxisorientierten und einen Teil, der den Aspekt Gutachtenerstellung diskutiert und praktisch aufzeigt.

Im theoretischen Teil erfolgt zunächst ein geschichtlicher Aufriss der Intelligenzdiagnostik unter besonderer Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte (Entstehung der Psychodiagnostik, Beiträge der Psychiatrie, Ansatz Binets, Fortschritte der Intelligenzmessung).

Das 3. Kapitel enthält Erläuterungen zu Termini, Aufgaben, Funktionen und Bereichen sonderpädagogischer Diagnostik. Abschließend zu diesem Kapitel wird sonderpädagogische Diagnostik schwerpunktmäßig begründet unter dem Aspekt der Förderdiagnose.

Im 4. Kapitel wird eine speziell für sonderpädagogische Fragestellungen notwendige Einführung in testtheoretische Voraussetzungen zur Realisierung von Förderdiagnostik gegeben. Als Grundlage dient die den Umgang mit psychologisch-pädagogischen Verfahren fundierende klassische Testtheorie (Begriff Test, Gütekriterien psychologischer Testverfahren und sonderpädagogische Relevanz, Probleme der Standardisierung und Klassifikation von Tests).

Das 5. Kapitel, mit dem der zweite Teil der Arbeit beginnt, weist Möglichkeiten der Informationsgewinnung im Rahmen förderdiagnostischer Praxis auf, wobei teilweise eine kritische Auseinandersetzung mit vorliegenden Verfahren erfolgt, und praktische Fragen der Informationsgewinnung mittels Verhaltensbeobachtung, Intelligenz und Schullei- stungstests, Verfahren zur Überprüfung des sozialen, affektiv-emotionalen Verhaltens, des Arbeitsverhaltens, der Sprache und Motorik behandelt werden. Dieses Kapitel endet mit der theoretischen und praktischen Erörterung der Bereiche Exploration – Informationsgespräche.

Das 6. Kapitel (dritter Teil) beschäftigt sich mit der förderungsorientierten sonderpädagogischen Begutachtung, denn sinnvoll wird sonderpädagogische Diagnostik nur, wenn sie einen Förderungsprozess auslöst, ihn begleitet, sich unmittelbar am Kind orientiert und damit eine effektive Hilfe zur Entfaltung von Möglichkeiten und Integration bietet.

Unter diesem Aspekt wird das förderungsorientierte Gutachten von der psychologischen und medizinischen Begutachtung abgehoben, indem es durch seinen spezifischen Aufbau und Inhalt auf die Einleitung von Fördermaßnahmen (eines Förderungsprozesses) zielt.

Bisher vorliegende Gutachtenschemata und -formen werden diskutiert.

Abschließend möchte ich einen eigenen Gutachtenaufbau vorschlagen (Schwerpunkt Förderung) und dazu zwei praktische Falldarstellungen (Kind mit geistiger Behinderung und Kind mit Lernbehinderung) vorstellen.

5 Ausblick

Im Verlauf der Arbeit wurde mir immer stärker bewusst, dass der Aufgabenbereich sonderpädagogischer Diagnostik sehr weit reicht, denn er umfasst an sich alle Altersgruppen und sämtliche Behinderungsarten. Es wäre für mich ein Erfolg, wenn die Basis für einen systematischen Ansatz der Behandlung dieser umfangreichen Problematik für Theorie und Praxis gelegt wäre.

1   Einleitung

Praktische und wissenschaftliche Probleme fordern im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen und Behinderungen immer wieder Diagnostik im sonder- und heilpädagogischen sowie lerntherapeutischen Arbeitsfeld gerade in der heutigen Zeit heraus. Dieser Bereich ist von einem Anstieg multidimensionaler und komplexer Fragestellungen im Hinblick auf individuellen Förderbedarf geprägt. Die bisherigen eher „klassischen“ diagnostischen Arbeitsfelder Lernbehinderung, geistige Behinderung, Verhaltensstörung, Sprachstörungen und -behinderungen, körperliche Behinderung, Beeinträchtigungen und Behinderung der Sinne (Seh- und Hörbehinderung) haben sich angesichts verstärkter und immer komplexerer Not- und Problemsituationen von Kindern bis in den Bereich der Regelschule erweitert. Dieses Problemfeld Regelschule ist teilweise durch Schüler mit Verhaltens-, Lern- und Leistungsstörungen, psychosomatischen Auffälligkeiten (Essprobleme, Bauch- und Kopfschmerzen, Tics, Obstipation, Magenbeschwerden, Einschlafschwierigkeiten etc.) sowie durch Abhängigkeit von Medikamenten, Drogen und Alkohol gekennzeichnet. Wir haben es mit einer Heterogenität der Schülerschaft zu tun, wie sie bisher noch nicht festgestellt werden konnte. Entwicklung, Schullaufbahn und Leben von ca 25 Prozent der Kinder in der Regelschule erweisen sich nicht als positiv. Diese Kinder gelten als lern-, leistungs- oder verhaltensgestört und damit meist auch als erziehungsschwierig. Es handelt sich dabei um Schüler, die durch das Erleben permanenter Frustrationen und Ängste in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit gefährdet sind. Ein kritisches Hinterfragen der Lehrplaninhalte, pädagogischer und didaktischer Methoden, eigentlich eine Diagnostik der Schule und deren Umfeldbedingungen ist längst überfällig.

Erst recht im Förderschulbereich (bisher „Sonderschulbereich“) kann man von einer heterogenen Schülerschaft sprechen, die von schwerster geistiger Behinderung und damit Mehrfachbehinderung, von der Sinnesbehinderung bis hin zum überdurchschnittlich intelligenten, aber extrem verhaltensgestörten Kind reicht. Darunter finden sich Schüler mit Wahrnehmungsstörungen unterschiedlicher Art, mit Teilleistungsstörungen, gravierenden Lese- und Schreibproblemen, Dyskalkulie, Erziehungsschwierigkeiten, mit psychischer und physischer Frühdeprivation, mit autistischen Zügen, seelischer Behinderung und Hyperaktivität – allgemein gesehen: Schüler mit kognitiven und emotionalen Strukturierungs- Und Verarbeitungsstörungen sowie Schüler, die unter primär behindernden Bedingungen außerschulischer Art aufgewachsen sind, bei denen eine Kind-Umfeld-Diagnose dringend geboten ist. Dabei muss man erkennen und feststellen, dass es diese Störungen oder Behinderungen in linearer oder einheitlich-homogener, klar abgrenzbarer Form überhaupt nicht gibt. Wir haben es sowohl mit den Phänomenen Heterogenität, Individualität, Mehrfachstörung und -behinderung von Schülern als auch mit behindernd wirkenden Umfeldbedingungen zu tun.

Daraus erwächst – unter bildungspolitischem Aspekt betrachtet – die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen ein von ihrem spezifischen Förderbedarf bestimmtes, also beobachtungs- / diagnosegeleitetes und differenziertes Förder- sowie Lerntherapieangebot sowohl im Regel- als auch im Förderschulwesen ggf. unter Einbezug von Lerntherapie bereitzustellen. Zieldifferentes Lernen wird orientiert an der jeweiligen Entwicklungsstufe des Schülers angestrebt.

Historisch betrachtet haben diagnostische Fragestellungen im sonder- oder heilpädagogischen Arbeitsfeld eine bewegte, meist vom Zeitgeist geprägte, insofern auch kritikbedürftige Geschichte, die hier allerdings nur in akzentuierter Form aufgezeigt werden kann.

Im Jahre 1904 setzte das französische Ministerium für Unterricht eine Kommission ein, die einen Unterrichtsplan für anormale und zurückgebliebene Kinder ausarbeiten sollte. Alfred Binet (1857–1911), der anfangs Jurist war, sich später den Naturwissenschaften der Psychologie und medizinischen Fragen zuwandte, befand sich als Berichterstatter in dieser Kommission. Seine Aufgabe war die Klärung der Frage, wie der Intelligenzgrad jener Kinder festgestellt werden könnte, die nicht in der Lage waren, dem üblichen Unterricht zu folgen. Die „Auslese“ der genannten Kinder stand als Problem im Mittelpunkt. Für Binet war dies der Anstoß, zusammen mit dem Arzt Théodore Simon (1873–1961) das bekannte Binet-Simon-Testsystem auszuarbeiten.

Diese Zeit, die noch zahlreiche Impulse durch die experimentelle Psychologie, Physiologie, Medizin, durch die Naturwissenschaften, v. a. auch durch die Mathematik erfuhr, wird als ein wesentlicher Ausgangspunkt der sonderpädagogisch-psychologischen Diagnostik betrachtet.

Die 1884 durch das französische Unterrichtsministerium eingesetzte Kommission aus Medizinern, Naturwissenschaftlern, Pädagogen und Psychologen arbeitete ein dreiteiliges Verfahren zur Erfassung von Kindern mit geistiger Retardation aus. Binet und Simon stellten im Jahre 1905 dieses Verfahren zur Feststellung von Kindern mit „geistiger Inferiorität“ vor. Es beinhaltete:

„1  Ärztliche Untersuchung (,medizinische Methode‘) zur Aufdeckung der anatomisch-physiologischen Ursachen, geistiger Inferiorität‘.

 2  Schulleistungsprüfung (,pädagogische Methode‘) zur Feststellung des Wissensbestandes und der Fertigkeit in den Kulturtechniken.

 3  Intelligenzprüfung (,psychologische Methode‘) zur Feststellung, ob schon von der Anlage her eine geistige Minderbegabung als Ursache für das Schulversagen vorliegt.“ (Kautter / Munz 1974, 291).

Es ergibt sich die Überlegung, ob und inwieweit die vorhandenen psychologisch-pädagogischen und auch medizinischen Methoden der Gegenwart sich als Entscheidungshilfen zur Förderung von Kindern mit Auffälligkeiten, Störungen und Behinderungen eignen. Auch wenn wir es zunächst mit diagnostischen Problemen zu tun haben, erhält die pädagogisch-heilpädagogische Fragestellung (Bundschuh 2010, 32–37) den Vorrang. Im Zentrum stehen Kinder, allgemein sich lebenslang entwikkelnde Menschen mit mehr oder weniger großen Problemen, Beeinträchtigungen und Behinderungen, ihnen muss geholfen werden.

In diesem Zusammenhang gelten an sich teilweise immer noch folgende aus den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates (1973) abgeleitete Prioritäten:

a)  Prophylaxe von Schulversagen und Lernbehinderung,

b)  Schulprobleme beheben sowie Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen – ggf. durch therapeutische Maßnahmen – aufarbeiten und therapieren,

c)  Vermittlung von Kenntnissen, Einstellungen und Fertigkeiten mit der Zielrichtung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.

So wird die Aufgabe der Erörterung der Problematik „sonderpädagogisch-psychologische Diagnostik“ als „Förderdiagnostik“ vor allem mit der Erkenntnis verbunden sein, dass es um Informationsgewinnung zwecks Hilfe in einer Not- und Problemsituation und damit um Verstehen und Förderung geht. Der heilpädagogische Aspekt steht im Vordergrund.

Unter Berücksichtigung dieses Aspektes erfolgt in Kapitel 2 ein kurzer Überblick zur Geschichte der Intelligenzdiagnostik unter Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte.

Kapitel 3 thematisiert Aufgaben, Funktionen und Bereiche, Ziele und Fragestellungen der aktuellen sonder- und heilpädagogischen Diagnostik.

Das vierte Kapitel behandelt testtheoretische Voraussetzungen zur Durchführung sonder- und heilpädagogischer Diagnostik. Es gibt eine kritische Einführung in das Verständnis notwendiger testtheoretischer Grundlagen. Dabei werden grundsätzliche Kompetenzen vermittelt, über die professionell diagnostizierende Lehrer an Förderschulen, sonderpädagogischen Förderzentren, in heilpädagogischen Einrichtungen und im Bereich Lerntherapie verfügen müssen.

Im fünften Kapitel werden wichtige Methoden und relevante Verfahren zur Gewinnung diagnostischer Informationen beschrieben, die zur Beobachtung und Feststellung des Entwicklungsstandes, der Intelligenz, der Schulleistung, des sozialen und affektiv–emotionalen Verhaltens, der Sprache, Motorik, Wahrnehmung und damit der Beantwortung (sonder-) und (heil-) pädagogischer Fragestellungen dienen. Diese Methoden und Verfahren bilden die Grundlage für die Erstellung förderungsorientierter sonderpädagogischer Gutachten und für Lerntherapie. Dieses Kapitel thematisiert auch spezielle Probleme wie diagnostische Fragen bei Autismus, schwerer geistiger Behinderung und im Kontext Kind-Umfeld-Analyse.

Das sechste Kapitel beschreibt das Vorgehen bei der Erstellung eines pädagogisch-psychologischen, speziell förderungsorientierten Gutachtens mit dem Ziel der Feststellung und Beschreibung des sonder- und heilpädagogischen Förderbedarfs. Ferner enthält es wichtige Aspekte der Förderung.

Ressourcen und Kompetenzen der Schüler zu erkennen, trägt nicht nur dazu bei, Schüler zu fördern, Unterricht erfolgreich planen und durchführen zu können, sondern auch dazu, Schüler zu bilden und die Persönlichkeit zu entfalten. In diesem Kontext bietet dieses Kapitel auch kompetenzorientierte Fördervorschläge z. B. für die Bereiche Alltagsbewältigung, Kognition, Schule, Unterricht, Emotionalität und Sozialverhalten sowie konzeptionelle Überlegungen zur Förderplanung im Hinblick auf Notwendigkeit, Verständnis, Grundsätze, Aufgaben, Prozesshaftigkeit, Aufbau und Inhalt.

2   Geschichtlicher Aufriss der Intelligenzdiagnostik unter besonderer Berücksichtigung sonderpädagogischer Aspekte

Lernziele

1.  Informieren über erste Ansätze sonderpädagogischer Diagnostik im Rahmen der Geschichte der Intelligenzdiagnostik.

2.  Aufzeigen, welche unterschiedlichen Versuche unternommen wurden, um Intelligenz näher zu erfassen und zu beschreiben.

3.  Den Ansatz Binets nachzuvollziehen und kritisch zu würdigen.

4.  Wesentliche Momente einer Weiterentwicklung der Intelligenzerfassung und -beschreibung aufzuzeigen.

Zur Zeit des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert, im Zeitraum zwischen 1890 und 1920, vollzog sich in der Psychologie eine Wende. Aus einer mehr theoretisch ausgerichteten Psychologie, die sich anfangs nur sehr vorsichtig an praktische Aufgaben heranwagte, wurde immer mehr eine angewandte Psychologie. Sie erhielt ihre Impulse im Wesentlichen durch das technisch-wissenschaftliche Denken dieser Zeit (Dorsch 1963, 40 ff).

2.1  Die Entstehung der Psychodiagnostik

Die ersten Psychologen, die sich mehr dem Experiment zuwandten, waren in hohem Maße durch die Physik und Medizin geprägt. Den Grundstein für die Entstehung einer besonderen Diagnostik auf psychologischem Gebiet legte Francis Galton (1822–1911) in einem Laboratorium in London 1884 / 85. Er beschäftigte sich mit der Messung individueller psychologischer Unterschiede und legte den Schwerpunkt auf die Abweichungen vom Durchschnitt. Er schuf damit den Ansatz für eine differenzielle Psychologie. Sein im Jahre 1883 erschienenes Werk trug den Titel: „Inquiries into human faculty and its development“. Ihn interessierten vor allem die menschlichen Fähigkeiten und deren Entwicklung. Galton gab dem Experiment in der Psychologie die besondere Wende zur Testform, indem er z. B. beim Menschen die Hörschwelle feststellen, Gewichte ordnen und Reaktionszeiten messen ließ.

Bereits in seinem Buch „Hereditary genius, an inquiri into its laws and consequences“ (1869) versuchte er die Hochbegabung messbar zu machen, indem er das Verhältnis feststellte, in welchem der Geniale zur Bevölkerung steht. Galton wandte statistische Methoden auf die Problematik der Vererbung an, indem er das unter dem Namen Gauß-Verteilung bekannte Gesetz aufgriff. Damit war die Grundlage der Normalverteilungs- oder auch Wahrscheinlichkeitskurve geschaffen.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Psychodiagnostik muss auch noch James McKeen Cattell (1860–1944) genannt werden. Er schrieb im Jahre 1890 einen Arikel über „Mental tests and their measurements“. Aufgrund dieses Artikels wird Cattell gewöhnlich als Urheber des Begriffs „Test“ bezeichnet. Bereits 1896 begann Cattell bei Studenten, die sich an der Columbia-Universität immatrikulieren ließen, mit der Überprüfung der Intelligenz. Seine Testbatterie beinhaltete z. B. Maximalgeschwindigkeit der Armbewegung, Bestimmung der Schmerzschwelle bei Druck, Reaktionszeit für Farben, Halbierung einer Strecke nach Augenmaß, Zahl der nach einmaligem Hören behaltenen Buchstaben ...

Bekannt ist auch die Methode von Hermann Ebbinghaus (1850–1909), der sich mit Lern- und Gedächtnisvorgängen beschäftigte, vor allem im Zusammenhang mit erlebnisneutralen, unvorbelasteten Elementen (Lernen sinnloser Silben). 1897 veröffentlichte Ebbinghaus einen Lückentest als Intelligenztest, der gelegentlich heute noch Verwendung findet (Lück 2013, 59 ff.). Es handelt sich um einen Gruppentest, zu dessen Durchführung lediglich Papier und Bleistift gebraucht werden.

2.2  Beiträge der Psychiatrie

In Deutschland versuchten Psychiater durch psychologische Versuche, die individuellen Unterschiede vor allem zur Klärung „psychischer Defekte“ sichtbar zu machen. Zu nennen sind hier an erster Stelle Konrad Rieger (1855–1939) und Emil Kraepelin (1856–1926). Sie brachten die experimentell-psychologischen Methoden als erste in die Nervenheilkunde ein. Kraepelin führte an Patienten Versuche durch, über die wir heute (zumindest partiell) geteilter Meinung sein können. Lernvorgänge wurden gemessen, einstellige Zahlen mussten fortlaufend addiert, Zahlenreihen und sinnlose Silben auswendig gelernt werden. Es entstand die Idee, „künstliche Geistesstörungen“ auf dem Wege der Ermüdung, Erschöpfung, aber auch über Stimulanzien und Giftwirkungen zu erzeugen. Versuchspläne weisen darauf hin, dass sich Vpn fünf Tage lang den verschiedensten Arbeiten und Prüfungen aussetzen mussten (Dorsch 1963, 46 ff).

Der Würzburger Psychiater Rieger arbeitete bereits (1889 / 90) einen Entwurf zur Intelligenzuntersuchung aus, der eine allgemein anwendbare Methode zur Intelligenzüberprüfung darstellte. Gemessen wurden u. a. Wahrnehmung, Gedächtnis, Nachahmung, Assoziation, identifizierendes Erkennen, Kombination.

Den Ideen zur Überprüfung der Intelligenz fügte Theodor Ziehen (1862–1950) einen sehr wichtigen Gedanken hinzu. Er stellte die Forderung auf, man müsse erst bei allen Aufgaben zur Intelligenzprüfung die Schwankungsbreite ermitteln, bevor man solche Aufgaben verwende. Es genügte also nicht, dass man Tests entworfen hatte, vielmehr mussten sie auch erprobt werden, d. h., es musste experimentell geklärt werden, wie gut oder wie schlecht eine bestimmte Personengruppe die Testaufgaben löste. Dieser Ansatz stellte vor allem im sonderpädagogischen Bereich einen Anlass zur Kritik dar (Defizitbeschreibungen, Wertungen; Kap. 3.4 und 5.2).

2.3  Der Ansatz Alfred Binets

Man kann Alfred Binet (1857–1911) als das „Haupt“ der französischen Schule für experimentelle Psychologie bezeichnen. Er schuf einen ganz neuen, vor allem auch für die sonderpädagogische Diagnostik – zumindest historisch gesehen – relevanten Ansatz (Dorsch 1963, 48 ff.; Lück 2013, 175 f.). Binet studierte zunächst Jura, dann wandte er sich hauptsächlich den Gebieten Medizin, Psychiatrie und Psychologie zu. Ganz allgemein ausgedrückt, suchte er nach Zusammenhängen zwischen der körperlichen und geistigen Entwicklung. Man kann es wohl als Binets Leistung bezeichnen, dass er Alter und Intellekt in Bezug setzte. Dies soll insofern näher dargestellt werden, als diagnostisch-sonderpädagogische Belange tangiert werden. Darüber hinaus interessierten Binet stets Fragen, die Kinder betrafen. So gab er zwischen 1894 und 1896 Arbeiten über Gedächtnis und Suggestibilität bei Kindern heraus. Immer wieder beschäftigen ihn die Auswirkungen des Altersfortschrittes, der altersbedingten Reife auf die Intelligenzleistung und auf den Intelligenzwandel des Individuums.

Binet blieb jedoch nicht bei Fragen zur geistigen Leistung des Kindes stehen. Er wandte sich vielmehr auch der Erkundung körperlicher Leistungen und deren Abhängigkeit vom Alter zu. Gemessen wurden Muskelkraft, Handdruck, Zugkraft, Sprungkraft, Schnelligkeit, Vitalität, Atmung und Zirkulation. Er experimentierte mit Reaktionsgeräten wie Dynamometer und Ergograph. Um 1900 veröffentlichte er Arbeiten unter dem Titel „Attention et adaptation“. Darin verglich er intelligente und unintelligente Schüler. Binet benutzte dazu eine Testserie mit Gedächtnisaufgaben, Buchstabendurchstreichen, Übertragen von Ziffern, Sätzen und Zeichnungen, ferner sollten taktile Eindrücke unterschieden werden. Seine Idee, ein Stufenmaß der Intelligenz zu schaffen, war damit jedoch noch nicht realisiert.

Einen entscheidenden Impuls erhielt Binet, als das französische Unterrichtsministerium 1904 eine Kommission einsetzte, die eine Klärung der Frage nach der Unterrichtung geistig zurückgebliebener Kinder herbeiführen und auch einen Unterrichtsplan für „abnorme“ und behinderte Kinder ausarbeiten sollte. In diese Kommission wurde Binet berufen. Von dem Gremium wurde beschlossen, dass ohne pädagogisch-medizinische Begutachtung kein zurückbleibendes Kind aus der Normalschule in die Spezialschule überwiesen werden dürfe.

Diese Maßnahme war gedacht zum Schutz des Kindes. Willkür und Subjektivität sollten verringert werden. Die zentrale Frage lautete nun: Wie aber soll man begutachten? Binet sollte dieses Problem lösen. Zusammen mit seinem Mitarbeiter, dem Arzt Théodore Simon (1873–1961), brachte er eine Serie von 30 Testaufgaben heraus, die hinsichtlich des Schwierigkeitsgrades so anstiegen, dass die ersten Aufgaben dem niedrigsten Intelligenzniveau und die letzten Aufgaben dem normalen kindlichen Intelligenzdurchschnitt entsprachen. Wurden also alle Aufgaben von einem Kind der entsprechenden Altersstufe gelöst, galt das Kind als „normal“. Die Entwicklung der Intelligenz war altersentsprechend.

Damit schufen die beiden Wissenschaftler „eine Klassifikation vom Grenzfall der Idiotie über Imbezillität, Debilität, Schwachbegabte zum Normalfall“ (Dorsch 1963, 51).

Den Testaufgaben ging eine Reihe von Vorversuchen voraus. Man kann unter dieser Rücksicht sogar von einer empirisch orientierten Arbeitsweise sprechen. Es gab auch so etwas wie standardisierte Bedingungen; die Forderungen hierzu lauteten: geringer Zeitaufwand, eindeutige Instruktion, keine Kenntnisaufgabe, keine suggestive Beeinflussung, Beobachtung der Versuchsperson ...

Folgende Aufgabenstellungen, die sich auf die Bereiche „Urteil“, „gesunder Menschenverstand“, „praktischer Sinn“, „Initiative“, „Fähigkeit sich anzupassen“ erstreckten, werden u. a. angeführt:

–   Fixierendes Sehen (folgen die Augen des Kindes einer brennenden bewegten Kerze?).

–   Durch Sehen hervorgerufenes Greifen. Gegenstand erkennen (ein Holzklötzchen und ein Stück Schokolade zur Wahl).

–   Befolgen einfacher Befehle (Türe schließen u. a.). Wortverständnis bei Gegenständen (z. B. Kopf, Augen zeigen lassen). Wortverständnis bei Bildern. Vergleich von zwei verschieden langen Linien. Wiederholen von drei vorgesprochenen Zahlen. Vergleichen von zwei verschieden schweren Gewichten. Definieren von bekannten Gegenständen (Zweckangaben). Wiederholen von vorgesprochenen Sätzen mit 15 Wörtern.

–   Erinnerung an vorgelegte Bilder. Zeichnen aus dem Gedächtnis, (geometrische Figur). Wiederholen von mehr als drei vorgesprochenen Zahlen. Längenvergleich mit dem Augenmaß. Ordnen von 5 gleich aussehenden, aber verschieden schweren Gewichten. Ergänzen von Lücken in einem leichten Text mit 7 Lücken. Satzbildung mit drei gegebenen Wörtern.

–   Zeitangabe bei umgestellt bzw. vertauscht gedachten Uhrzeigern. Ausschneidversuch. Definieren von abstrakten Begriffen (Dorsch 1963, 51 f.).

Damit versteht Binet letztlich unter Intelligenz die Fähigkeit zum guten Urteilen, Verständnis und Denken.

Binet und Simon schlugen vor, man solle diese psychologische Untersuchung zugleich verbinden mit einer pädagogischen Untersuchung, mit einer Überprüfung des Schulwissens und des allgemeinen Lebenswissens sowie mit einer medizinischen Untersuchung mit allgemein körperlichem Befund und Feststellungen zu physiologischen Funktionen, dem Entwicklungsstand und den erblichen Einflüssen. Milieufaktoren spielten offensichtlich kaum eine Rolle.

Die Testversuche wurden zunächst an Kindern im Alter von 3–11 Jahren durchgeführt. Die 30-Test-Methode aus dem Jahre 1905 verbesserten die beiden Wissenschaftler infolge neuer Erkenntnisse bald. l908 erschien erstmals die unter dem Namen Binet-Simon weltbekannte und verbreitete Methode der Intelligenzprüfung mit dem Titel: „Le développement de l’intelligence chez les enfants“. Diese Intelligenzprüfung enthielt für jedes Alter zwischen 3 und 13 Jahren Testaufgaben. Die Lösung der Aufgaben eines bestimmten Jahrganges wies darauf hin, dass die entsprechende Intelligenznorm erreicht worden war. Löste ein Kind alle Testaufgaben einer Altersstufe, so entsprach dies dem Intelligenzalter dieser Altersstufe. Löste z. B. ein siebenjähriges Kind alle Aufgaben, die für sieben Jahre vorgesehen waren, so stimmten Intelligenzalter (IA) und Lebensalter (LA) überein, d. h., das Kind verfügte nach der damaligen Interpretation über eine „normale Intelligenz“.

Einen Intelligenzrückstand von zwei Jahren – später waren es drei – interpretierte Binet mit „geistiger Schwäche“, die eine Einweisung in die Hilfsschule rechtfertigte. So gab es grob dargestellt drei Möglichkeiten:

IA > LA: Intelligenzvorsprung (IV) oder überdurchschnittliche Intelligenz.

IA < LA: Intelligenzrückstand (IR) oder unterdurchschnittliche Intelligenz.

Damit gebrauchte Binet zur Charakterisierung der jeweiligen Verhältnisse die Begriffe „Intelligenzvorsprung“ und „Intelligenzrückstand“. Man kann also feststellen, dass Binet die Bezeichnungen Intelligenzalter (IA) und Lebensalter (LA) einführte und die beiden Daten miteinander in Beziehung setzte. Aufgrund dieses Gedankens, Lebensalter und Intelligenzalter zu vergleichen, waren Ansätze für eine „Messung“ (Abschätzung) der Intelligenz geschaffen. Wie bereits dargelegt, beschrieb der Wissenschaftler die Abweichungen von der durchschnittlichen Norm mit den Begriffen Intelligenzvorsprung (IV) bzw. Intelligenzrückstand (IR).

Indem die Aufgaben ständig bezüglich ihres Schwierigkeitsgrades in Kindergärten und anderen Einrichtungen für Kinder überprüft wurden, kann man sagen, dass Binet den Versuch unternahm, eine auf empirischem Wege entstandene Maßskala aufzuzeigen und zu erproben. Mit Hilfe der genannten Aufgabenstellungen ergab sich eine Möglichkeit zur „Klassifizierung des Schwachsinns“ (unterdurchschnittliche Intelligenzgrade). So kam Binet zur folgenden Einteilung geistig Retardierter („Schwachsinniger“):

„Der Debile bleibt auf der Intelligenzstufe des 9- bis 10jährigen Kindes stehen. Er kann nicht ohne Beaufsichtigung leben und seinen Unterhalt nicht selbständig erwerben“ (vergleichbar etwa heute mit dem Intelligenzbereich 55–75).

„Der ,Imbezille‘ bleibt auf der Stufe des 6jährigen Kindes stehen. Er kann weder schreiben noch lesen“ (etwa IA 25–59).

„Der Idiot steht auf der Stufe des 2jährigen Kindes, das nicht spricht und nicht versteht“ (etwa IA < 25) (Dorsch 1963, 52 f.).

Im pädagogischen Bereich ist eine solche Einteilung zu kritisieren:

1.  Mit dieser schematischen Klassifizierung verbindet sich die Gefahr, dass die so bezeichneten Kinder „festgeschrieben“ werden, d. h., die Beurteilung bzw. Einschätzung der Intelligenz wird als weitgehend endgültig gesehen.

2.  Der milieutheoretische Aspekt bleibt unberücksichtigt; die Intelligenzentwicklung scheint damit im Wesentlichen von Anlagefaktoren abzuhängen.

3.  Der Versuch einer Charakterisierung menschlicher Leistungen und Fähigkeiten durch die Attribute „Unterhalt selbstständig erwerben“, „weder lesen noch schreiben können“, „nicht sprechen und nicht verstehen“, muss scheitern, weil etwa der Persönlichkeitsbereich völlig unberücksichtigt bleibt, wie z. B. das Gefühlsleben und der musische Bereich, weil insgesamt gesehen die Ausgangsbasis viel zu schmal und zu schematisch ist.

4.  Die Begriffe „Debilität“, „Imbezillität“ und „Idiotie“ werden zwar heute teilweise noch im psychiatrischen Bereich verwendet, ihr Gebrauch sollte aber – nicht nur im pädagogischen Feld – entschieden abgelehnt werden, weil deren Inhalte mit Vorurteilen behaftet sind und damit einen diffamierenden Charakter tragen („Menschen zweiter Klasse“ ...).

Bei aller Kritik an der Klassifizierung Binets darf nicht der Impuls dieses Wissenschaftlers für die Problematik der Intelligenzprüfung in Vergessenheit geraten. Seine Ansätze stellten einen wesentlichen Fortschritt dar; so etwa der Aufbau der Verfahren nach dem sogenannten „Staffelsystem“ (Staffel- oder Stufenprinzip), d. h., es liegt eine Staffelung des Tests nach steigendem Schwierigkeitsgrad mit ansteigendem Lebensalter vor. Binet überprüfte die einzelnen Aufgaben ständig. Verbesserungen wurden durchgeführt. Noch vor seinem Tode im Jahre 1911 bestimmte er, dass einheitlich für jede Altersstufe fünf Tests verwendet wurden. Für die 11 Altersstufen vom 3. bis zum 13. Lebensjahr wurden insgesamt 59 Testaufgaben eingeführt (vgl. Dorsch 1963, 53).

Die Forschung und Wissenschaft erkannte Binets Leistung an. Seine Tests und seine Werke wurden in etwa 50 Sprachen übersetzt. Vor allem die Psychiater griffen sein Verfahren, die „Binet-Simon-Stufenleiter zur Messung der Intelligenz“, auf. Binet konnte den mächtigen Aufschwung und den raschen Ausbau seines Systems, aber auch die teilweise heftigen, kritischen Einwände nicht mehr erleben.

Die Leistung Binets wird sicherlich treffend durch einen Beitrag Groffmanns (1971, 167) charakterisiert:

Geht man davon aus, dass ein psychologischer Test im Wesentlichen ein objektives und standardisiertes Maß einer Stichprobe von Verhaltensweisen darstellt, so ist im Zusammenhang mit dem Stufentest von Binet und Simon festzustellen, dass diese Definition in einem Maße erfüllt wurde, wie dies vorher nicht der Fall war. Das Verfahren ist in Anwendung und Auswertung standardisiert, beruht auf einer empirisch hergestellten, objektiven Schwierigkeitsordnung der Aufgaben, Die Notwendigkeit von Reliabilität und Validität war erkannt, der Schritt zum Testsystem vollzogen und ein Vorbild psychologischer Messung geschaffen.

2.4  Die Weiterentwicklung des Binet-Systems

Es begann nun ein rascher Aufschwung der Intelligenzmessung, zunächst am stärksten in den USA.

Um 1912 versuchte L. M. Terman eine Revision des Stufentests herauszugeben. Aus den Vorarbeiten entstand 1916 die sehr erfolgreiche „Stanford Revision of the Binet-Simon Intelligence Scale“. 1937 wurde diese Revision weiter ausgebaut und als Stanford-Revision von Terman und M. A. Merrill herausgebracht. Inzwischen erschien 1960 eine dritte Stanford-Revision. In den USA gilt dieser Test heute noch als gut standardisiert. Die Stanford-Revisionen hatten vor allem deshalb Erfolge, weil sie doch sorgfältig konstruiert und geeicht, aber auch praktisch problemlos durchzuführen waren. Eine deutsche Bearbeitung von H. R. Lückert (1957) lehnt sich an die Stanford-Revision von Terman und Merrill aus dem Jahre 1937 an.

In Deutschland beschäftigte sich bereits 1910 bis 1914 O. Bobertag mit der Übertragung des Binet-Tests auf deutsche Verhältnisse.

Irmgard Norden gab 1953 das Binetarium – eine Zusammenstellung des Testmaterials – heraus. Damit war der Test so bearbeitet, dass er in Deutschland Verwendung finden konnte. 1954 wurde das Binetarium nochmals überarbeitet.

In Deutschland wurden Eichversuche des Binet-Tests unternommen von Elisabeth Höhn, Gerhild von Staabs und Alf Kleiner.

In der Schweiz sorgten Hans Biäsch, Josefine Kramer und Ernst Probst für die Ausbreitung und Überarbeitungen des Binet-Testsystems.

J. Kramer war mehrere Jahre lang in Heimen tätig, in denen Kinder von 8 bis 16 Jahren betreut wurden. Zugleich war sie Leiterin einer Erziehungs- und Schulberatungsstelle. Kramer überarbeitete den Binet-Test besonders für Schulversager und weniger begabte Kinder (Groffmann 1971; Kramer 1972, 72–78).

2.5  Fortschritte der Intelligenzmessung

Wie bereits dargelegt, sollte nach Binet die Differenz zwischen IA und LA, d. h. die Abweichung von der altersmäßigen Intelligenznorm, als Richtmaß gelten. Es ergeben sich jedoch Probleme, wenn man die Intelligenzhöhe eines Menschen mit den Begriffen „Intelligenzvorsprung“ bzw. „Intelligenzrückstand“ in Form von Monaten und Jahren zum Ausdruck bringen will. An einem praktischen Beispiel soll veranschaulicht werden, dass die Bezeichnungen „Intelligenzvorsprung“ oder „Intelligenzrückstand“ die objektiven Tatbestände verfälschen können. So besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen einem 14-Jährigen mit einem Intelligenzrückstand von zwei Jahren (er befindet sich also auf der Intelligenzstufe eines 12-Jährigen) und einem vierjährigen Kind mit einem Intelligenzrückstand von ebenfalls zwei Jahren (es befindet sich auf der Intelligenzstufe eines zweijährigen Kindes). Es ist offensichtlich, dass ein Intelligenzrückstand von zwei Jahren bei einem vierjährigen Kind viel gravierender ist als bei einem 14-jährigen Jugendlichen, denn die Intelligenzentwicklung vollzieht sich beim Kleinkind viel rascher.

Aufgrund dieser Probleme musste ein Maßstab gefunden werden, der die Gegebenheiten in objektiver Form darstellen konnte. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistete William Stern (1871–1938) im Jahre 1912 mit der Einführung des Intelligenzquotienten (IQ). Stern schlug vor, den Quotienten aus Intelligenzalter und Lebensalter zu errechnen und damit ein „Entwicklungsmaß der Intelligenz“ zu bilden.

Die Formel hierzu lautet:

Später multiplizierte man mit 100. Dies ergab dann eine ganzzahlige „Quotientenskala“, so dass die Formel lautete:

Es ist zu erkennen, dass dasjenige Kind den IQ 1 (100) aufweist, dessen Intelligenzalter genau dem Lebensalter entspricht. Bei überdurchschnittlich intelligenten Kindern müsste demnach der IQ größer als eins (unechter Bruch), bei unterdurchschnittlich intelligenten Kindern kleiner als eins (echter Bruch) sein. Hierzu einige praktische Beispiele:

Diese Darstellungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass bereits W. Stern klar war, dass die Intelligenzentwicklung im Gegensatz zum Lebensalter nicht gleichmäßig fortschreitet, sondern in der frühen Kindheit rasch und später langsamer verläuft, bis sie schließlich, was angenommen wurde, zum Stillstand kommt, dass also keine lineare Beziehung zwischen IA und LA besteht. Das war der Grund für den Vorschlag des IQ, aber auch die Wurzel der Erkenntnis, dass selbst der IQ kein unbedingt konstanter Ausdruck von Vorsprüngen und Rückständen sein muss. Man weiß z. B. bei den Bearbeitungen von Norden (1953), Kramer (1972) oder Lückert (1957) nicht, „ob Kinder verschiedener Altersstufen bei gleichem IQ wirklich gleich, intelligent‘ oder bei demselben Kind der gleiche IQ in verschiedenen Lebensaltern dasselbe bedeutet“ (Groffmann 1971, 173).

Binet-Tests wurden bis 1985 relativ häufig verwendet. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass der aufgrund der Binet-Tests bestimmte IQ kein Standardwert ist, „sondern ein Quotient aus einem Maß für intellektuelle Entwicklung, dem Intelligenzalter und dem Lebensalter“ ist. Der IQ von 1.00 bzw. 100 stellt nicht notwendigerweise den Mittelwert der IQ-Verteilung dar. Damit zeigen sich gewisse unsichere Implikationen, die mit der Verwendung der genannten Tests verbunden sind.

Wichtige Richtungen der weiteren Entwicklung von Tests:

1. Weiterentwicklung bisheriger Verfahren, Neuentwicklungen unter Einbezug des Säuglings bis zum Schulkind: Zu nennen sind in diesem Zusammenhang z. B. Namen wie Arnold Gesell (Beobachtung der Entwicklung des Säuglings und des Kleinkindes hinsichtlich Motorik, Reizanpassung, Lallen, ersten sprachlichen Äußerungen und sozialem Kontakt seit 1925), Charlotte Bühler sowie Hildegard Hetzer (Erfassung der kindlichen Entwicklungsstufen aus den wesentlichen Merkmalen der Körperbewegung, der sinnlichen Rezeption, Sozialität, Materialbeherrschung und Denkleistung seit 1928), Lotte Schenk- Danzinger (Entwicklungstests für Kinder vom 5. bis 11. Lebensjahr), Inge Flehmig u. a. (Denver-Entwicklungsskalen), Ernst J. Kiphard (Sensomotorisches Entwicklungsgitter für die Entwicklungsbereiche optische Wahrnehmung, Handgeschicklichkeit, Körperkontrolle, Sprache, akustische Wahrnehmung für das Alter von 6 bis 48 Monaten), Reimer Kornmann (Testbatterie für entwicklungsrückständige Schulanfänger).

Dorsch (1963, 55) nennt noch die Entwicklung von „Spieltests“, die jedoch auch als projektive Verfahren Verwendung finden, wie z. B. von Gerhild v. Staabs den „Scenotest“, von Margaret Lowenfeld das „Weltspiel“ und von Charlotte Bühler den „Welttest“.

2. Entwicklung sprachunabhängiger Tests (nonverbale Verfahren): Diese Verfahren reichen zurück bis zu den Formbrettern (Einlegebrettern), die bereits 1866 von einem französischen Arzt zum Training von „Schwachsinnigen“ benützt wurden (Dorsch 1963, 55).

Als in der heutigen Zeit Verwendung findende nonverbale Verfahren kann man beispielsweise nennen den „Progressiven Matrizentest“ von Raven (1947, 1975), Tests zur Erfassung der Grundintelligenz von Weiss und Cattell (1997), evtl. auch Teile aus dem Intelligenztest von Kramer (1972) und den „Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder“ von Wechsler (Hawik-Revision 1985, WISC-IV 2011).

3. Entwicklung analytischer Intelligenztests: Der Intelligenzquotient geht bei diesen Tests nicht etwa auf das Intelligenzalter zurück, vielmehr auf bestimmte Intelligenzfunktionen, die hinsichtlich ihrer Verteilung auf statistischem Wege mit Leistungsmittelwerten verglichen werden. Hierzu gehören die von Meili (1971) und Thurstone und Thurstone (1953) herausgegebenen Testserien sowie die von Wechsler 1939 entwickelte und erprobte Intelligenz-Skala für Erwachsene und der Intelligenzstrukturtest (IST) von Amthauer (1955).

4. Die Entwicklung von Gruppentestverfahren: Aus der praktischen Notwendigkeit heraus, möglichst schnell qualifizierte Personen für bestimmte Aufgaben der amerikanischen Armee auszulesen, wurden Gruppentests entwickelt (Army-Alpha-Test; er setzt englische Sprachkenntnisse und Lesefähigkeit voraus. Army-Beta-Test als sprachfreier Test).

Gruppentests wurden wohl erstmals von W. Stern entwickelt. Gruppentests sind z. B. der bereits genannte Intelligenz-Struktur-Test (IST) von Amthauer (1955), das Begabungs-Test-System (BTS) von Horn (1972), der Grundintelligenztest von Weiß und Cattell (1997), die speziell zur Überprüfung von schulleistungsschwachen Schülern entwikkelte „Schulleistungsbatterie für Lernbehinderte und für schulleistungsschwache Grundschüler“ (SBL 1 und SBL 2) von Kautter und Storz (2000, SBL 2 2002).

Es gibt zahlreiche Gruppenverfahren, die auch für den sonderpädagogischen Bereich Bedeutung haben, wenn es beispielsweise um Intelligenz-, Schul-, Wahrnehmungsleistungen oder um die Erfassung von Feinmotorik und Händigkeit geht.

Gruppentests haben den Vorteil, dass sie unter gleichen Bedingungen durchgeführt und in gleicher Weise ausgewertet werden, dass alle untersuchten Individuen die gleiche Anweisung erhalten, diese Tests ganz global ausgedrückt objektiver und ökonomischer zu handhaben sind.

Zusammenfassung

Die ersten Versuche, Intelligenz zu erfassen und messbar zu machen, wurden unter Einbeziehung geistiger, physiologisch motorischer und perzeptiver Leistungen unternommen. Anregungen lieferten neben der Psychologie und Medizin (spez. Psychiatrie) vor allem auch die Mathematik und Physik. Der Gedanke, vom „durchschnittlichen“ Individuum, von „durchschnittlichen“ Leistungen und von Abweichungen vom Durchschnitt auszugehen, gewann stärker an Bedeutung.

Binet bezog in sein „Staffelsystem“ die Idee einer relativen Übereinstimmung von Intelligenzleistungen und Lebensalter ein. Sein Stufentest wurde verbreitet und weiterentwickelt in den USA, in Deutschland, in der Schweiz und in zahlreichen anderen Ländern. Mit der Einführung des „Intelligenzquotienten“ (IQ) durch William Stern (1912) wurde ein heute noch gebräuchliches Maß für die Messung der Intelligenz geschaffen. Die Methoden der Intelligenzerfassung fanden unter Einbezug sogenannter Gruppen- und nonverbaler Verfahren rasche Verbreitung.

Im pädagogisch-sonderpädagogischen Bereich wäre die Entwicklung von „Verfahren“ zur Einschätzung der kognitiven Möglichkeiten eines Kindes unter Einbezug von Handlungen aus dem Bereich seiner bisherigen Umwelt, also in seiner natürlichen Umgebung, wünschenswert. Hierbei einen gangbaren Mittelweg zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Beobachtung auch im Sinne qualitativer Diagnostik zu finden (Bundschuh 2019, 58 ff., Kap. 5.5.2), könnte eine zukünftige pädagogische Aufgabe sein. Die Kritik am Intelligenzbegriff hat auch zu einer deutlichen Verunsicherung der Intelligenzdiagnostik insbesondere im sonder- oder heilpädagogischen Arbeitsfeld geführt.

Psychologische Diagnostik gilt zunächst als ein Teilgebiet der Psychologie, speziell der angewandten Psychologie. Diagnostik umfasst die Gesamtheit der Verfahren und Theorien, die dazu dienen, Verhalten und psychische Prozesse einzelner Personen oder auch Gruppen zu erforschen. Diagnostik hatte im Rahmen sonder- oder heilpädagogischer Problemstellungen schon immer eine große Bedeutung, wurde aber auch kritisch hinterfragt.

Die Erwartungen an die Diagnostik im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld, speziell auch bezüglich der Kinder mit mehrfachen und komplexen Problemen im Lernen und Verhalten bis hin zu Mehrfachbehinderungen, erweisen sich als hoch. Diese Erwartungen im Sinne des Auffindens optimaler Förderungswege in Richtung Therapie und „Heilung“ sind nicht immer ganz erfüllbar. Dennoch wird eine kinderorientierte, d. h. für die wirklichen Probleme eines Kindes und seines sozialen Umfeldes offene heilpädagogische Diagnostik gute Dienste im Rahmen des Entwicklungs- und Erziehungsgeschehens leisten, vor allem durch die Möglichkeiten der Informationsgewinnung zur differenzierten Beschreibung des Verhaltens und der Lernausgangslage bei Kindern mit einem besonderen Förderungsbedarf, der Diagnose behindernder Bedingungen sowie den daraus hervorgehenden Ansätzen zu deren Beseitigung in Verbindung mit Beratung, Förderung, ggf. Therapie. Insofern nimmt die Beschäftigung mit diagnostischen Fragestellungen angesichts der Zunahme von Not- und Problemsituationen bei Kindern und Jugendlichen auch in einer Zeit des Umbruchs und Wandels im sonder- und heilpädagogischen Arbeitsfeld einen wichtigen Platz ein.

Diagnostik erhält auch eine neue Bedeutung im Rahmen der Erstellung von Förderplänen (Kap. 6.6.3) sowie der herausfordernden Fragen nach Integration und Inklusion (Bundschuh 2010, 91–99; 2019) bis hin zu Möglichkeiten von Therapien (Bundschuh 2008, 242–302), speziell auch Lerntherapie (Metzger 2008).

3   Begriff, Aufgaben, Funktionen und Bereiche der sonder- und heilpädagogischen Diagnostik

Lernziele

1.  Den Begriff „Psychodiagnostik“ kennen lernen.

2.  In der Lage sein, zwischen Psychodiagnostik und sonderpädagogischer Diagnostik zu differenzieren.

3.  Die Einsicht gewinnen, dass der Aufgabenbereich sonderpädagogischer und heilpädagogischer Diagnostik in unmittelbarem Zusammenhang mit dem pädagogischen Feld, d. h. mit Problembereichen von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen, Störungen, Behinderungen und behindernden Bedingungen steht.

4.  Erkennen, dass sonder- und heilpädagogische Diagnostik primär „Förderdiagnostik“ sein sollte.

Zur Orientierung: In diesem Abschnitt wird es um die Klärung des Begriffes Psychodiagnostik, um die Abgrenzung der sonder- und heilpädagogischen Diagnostik von der Diagnostik im Bereich der Medizin, aber auch der Psychologie gehen; schließlich werden Aufgabenbereich und Funktion sonderpädagogischer Diagnostik im Hinblick auf den Aspekt Förderdiagnostik thematisiert.

3.1  Zum Begriff „Psychodiagnostik“

Der Begriff „Diagnose“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „Unterscheidung“, „Entscheidung“. Im medizinischen Sinne ist das Erkennen einer Krankheit gemeint oder ganz allgemein die Erkenntnis der Beschaffenheit eines psychischen oder physischen Zustandes aufgrund von Symptomen. Bei der medizinischen Diagnostik handelt es sich – obgleich gegenwärtig sehr viel von „Vorsorge“ gesprochen wird – mehr oder weniger um die Feststellung eines momentanen Zustandes.

Dagegen soll die Psychodiagnostik im Allgemeinen überdauernde Eigenschaften bestimmen. Die Psychodiagnostik ist daher weitgehend nicht nur Diagnose, sondern auch Prognose (Vorhersage) (Schmidt-Atzert / Amelang 2012, 4). Ein eher traditionelles Vorgehen in der Persönlichkeitsdiagnostik zielt auf ein Verstehen der dem Individuum zugrunde liegenden Persönlichkeitsmerkmale und Eigenschaften ab, um auf diesem Weg Verhalten vorherzusagen. Es ergibt sich die Frage, ob die Psychodiagnostik, vor allem die traditionelle Psychodiagnostik, mit der Vorhersage von Verhalten nicht in hohem Maße stärker eine „Selektionsstrategie“ im Sinne einer Optimierung durch geeignete Auswahl von Personen und / oder Bedingungen betrieb als eine „Modifikationsstrategie“ im Sinne einer „Optimierung durch eine Veränderung des Verhaltens und / oder von Bedingungen“ (Pawlik 1982, 15 f.).

Selektionsstrategie im Zusammenhang mit Personenselektion würde im engeren Sinne realisiert, wenn es z. B. um Aufnahme oder Ablehnung, um die Platzierung eines Bewerbers bei der Personaleinstellung oder im pädagogischen Bereich um die Selektion durch Vorschultestung (Schulreife) oder um die Aufnahme in eine Förderschule geht.

Zu fordern wäre auf jeden Fall im pädagogischen Bereich eine Betonung der Modifikationsstrategie, obgleich die Realität teilweise nur eine „Mischstrategie“ zuzulassen scheint. Nachdem an dieser Stelle der Problemkreis „Strategien der Psychodiagnostik“ nur tangiert werden kann, sollen einige Forderungen an die Psychodiagnostik im pädagogischen Bereich in akzentuierter Form angeführt werden:

Die Verwendung psychodiagnostischer Methoden muss dem jeweiligen Problemfall angepasst sein. So kann z. B. die Intelligenzleistung eines Kindes mit einer Sprachstörung nicht erschöpfend mit dem WISC-IV / HAWIK-IV (2011; 2010) erfasst werden. Weiterhin darf das Ergebnis einer psychodiagnostischen Untersuchung für die betroffene Person nicht „Festlegung“ bedeuten, vielmehr den Ansatz zur Hilfe, zur Förderung und zur Emanzipation der Persönlichkeit. Diagnostik muss also Information zwecks Förderung, ggf. Therapie, d. h. effektive Hilfe für die betroffene Person bedeuten.

Diagnose und damit auch Prognose implizieren den Impuls zu weiteren diagnostischen Maßnahmen in einem späteren Zeitpunkt. So versteht bereits Pawlik alternativ zur „Diagnostik als Messung“ die Diagnostik in einem „übergreifenden Ansatz als Einbringen von Information für und über Behandlung […]. Zielsetzung bei der Konstruktion psychodiagnostischer Verfahren und bei ihrer Gütekontrolle muss daher der Gewinn (Nutzen, „utility“) sein, den diese diagnostische Information 1. für die Auswahl einer geeigneten Behandlung der untersuchten Person und / oder 2. für die Beurteilung der Effektivität der danach realisierten Behandlung bringt. Dabei ist mit „Behandlung“ […] jede Handlung gemeint, die der Psychologe, der Proband selbst und / oder andere Personen mit Wirkung für den Probanden setzen“ (Pawlik 1982, 34).

Welcher Methoden bedient sich nun die Psychodiagnostik? Diagnostiziert wird aufgrund von Anamnese (med. Aspekt: Ermittlung der Krankengeschichte; psychol. Aspekte: Erhellung des Lebenslaufes im Hinblick auf eine Störung, Ermittlung der Lebensgeschichte einer Person; objektive Daten über die Entwicklung: Geburtsverlauf, vorschulische Phase, Schulbesuch, Krankheiten, Berufsausbildung …), Exploration (das Aufsuchen, Erforschen, Erfragen psychischer oder physischer Besonderheiten; heute mehr durch Gespräch, Interview als Stellungnahme zu den erhobenen Anamnesedaten, zu Testdaten sowie zu dem jeweiligen Problem gedacht), Verhaltensbeobachtung, durch vorliegende Befunde und ganz allgemein durch Tests (Methoden der Psychologie thematisiert informativ und anwendungsbezogen speziell Kap. 5). Der Tests, in all ihren Formen, bedient sich die Psychodiagnostik je nach vorliegender Fragestellung in verschiedener Auswahl immer häufiger, ja ausschließlicher, um möglichst objektive und umfassende Informationen zu erhalten. Historisch gesehen entstand die Leitidee von einer Wissenschaft der psychologischen Diagnostik im Zusammenhang mit der Entwicklung des Testbegriffes. Seit der Erscheinung des Rorschachbuchs mit dem Titel „Psychodiagnostik“ im Jahre 1920 setzte sich dieser Begriff immer mehr durch. Rorschach verstand sein Verfahren einmal als „Test“ oder „Prüftest“, zum anderen aber auch als „wahrnehmungs-diagnostisches Experiment“, d. h., aufgrund der Art der Wahrnehmung sollten psychische Krankheiten erkannt werden. In der Folgezeit erschienen Werke über „psychologische Diagnose“, Lehrbücher wurden geschrieben mit den Titeln „Psychodiagnose“, „psychologische Diagnose“, „diagnostische Psychologie“. Unter diesen Bezeichnungen und speziell unter dem Begriff psychologische Diagnose versteht man die Gesamtheit aller Verfahren, welche der Erkundung der individuellen psychischen Struktur eines Menschen dienen.

Die Diskussion der Frage, ob durch diese „Erkundung“ und durch Vorhersage von Verhalten nicht „festgeschrieben“, „selegiert“, statt modifiziert wird, erfolgt an anderer Stelle.

3.2  Gegenstands- und Aufgabenbereich sonderpädagogischer Diagnostik

Am besten gelingt der Zugang zu dem angesprochenen Problembereich, wenn zunächst die Personengruppe beschrieben wird, mit der die sonderpädagogische Diagnostik konfrontiert wird.

Traditionell gesehen lässt sich die sonderpädagogische Diagnostik dadurch kennzeichnen, dass sie es mit – möglicherweise – psychisch-kognitiv oder auch physisch behinderten Kindern und Jugendlichen zu tun hat, die in ihrer geistigen, emotionalen, sozialen, möglicherweise auch motorischen und sensomotorischen Entfaltung beeinträchtigt, gestört oder behindert sind, d. h. von sogenannten durchschnittlich entwikkelten oder nichtbehinderten Kindern hinsichtlich Lern- und / oder Sozial- und Emotionalverhalten abweichen. Dabei ist auf die Problematik des Verständnisses und damit auf die Relativität und auf das unterschiedliche Verständnis von „Störung“ und „Behinderung“ hinzuweisen. Im Zusammenhang mit Schülern mit Lernbehinderungen z. B. wird von einer Gruppe gesprochen, die unterhalb der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit liegt, wobei sonderpädagogischer Förderbedarf nach den KMK-Empfehlungen von 1994 eben nicht nur an speziellen Sonder- oder Förderschulen eingebracht werden kann, vielmehr an allen Schulen denkbar ist, z. B. im Bereich der Grund- und Hauptschule bis hin zu Gymnasien etwa bei vorliegenden Lern-, Leistungs- und Verhaltensstörungen, wie auch immer verursacht. Die spezielle Bedürfnis- und Problemsituation von Kindern fordert gegenwärtig verstärkt vor allem im Präventivbereich psychologische, speziell diagnostische und allgemein didaktisch-fachliche Kompetenzen im Hinblick auf Diagnose und Erkennung der Problematik sowie Unterstützung des Kindes und der Erziehungspersonen und mit der Zielrichtung Förderung ggf. Lerntherapie (Bundschuh 2008, 32–36; 2019).

Wenn auch die Gruppe der Schüler mit Lernbehinderungen (Förderbedarf Lernen) und / oder Verhaltensstörungen (Förderbedarf Verhalten, soziale und emotionale Entwicklung) den größten Bereich der mit sonderpädagogisch-diagnostischen Maßnahmen zu Konfrontierenden umfasst, geht es nicht allein und primär um diese Gruppe, vielmehr steht die Frage der Hilfe, Unterstützung und Förderung aller Kinder mit einem besonderen Förder- und / oder Lerntherapiebedarf im Vordergrund der Überlegungen.

Traditionell gesehen hat es die sonderpädagogische Diagnostik mit allen Personen zu tun, mit denen sich die allgemeine Sonderpädagogik beschäftigt, also mit allen „Formen der Beeinträchtigung“, wie sie von Bach beschrieben wurden (1995, 8 f.). Wenn man vom Schweregrad ausgeht, müsste man die teilweise nicht oder kaum objektiv feststellbare Form der „Gefährdung“ (Auffälligkeit) sowie das Bedrohtsein von Behinderung an den Anfang stellen und als gravierende Form die Behinderung nennen.

Bach definiert „Beeinträchtigung“ als „die Erschwerung“ der Personalisation und Sozialisation eines Menschen. Sie ist durch besondere Herausforderungen an Erziehung und Förderung bei Erziehungsprozessen in Familie, Schulen, ggf. auch in Heimen gekennzeichnet.

Liegt noch keine objektive Feststellung vor, wird erst von bloßer Auffälligkeit gesprochen. Der Übergang zwischen regelhaften und erschwerenden, unregelhaften Gegebenheiten des Erziehungsprozesses ist fließend, Beginn und Ausmaß der einzelnen Beeinträchtigungen sind nicht präzise zu fixieren. Beeinträchtigungen müssen unter dem Aspekt subjektiver, sozialer, situativer und temporärer Relativität gesehen werden.

Im diagnostischen Bereich wird es notwendig sein, die Probleme eines Kindes sowie die behindernden Bedingungen im Umfeld in differenzierter Form zu erkennen und zu analysieren. Traditionell gesehen wurde zwischen einzelnen Formen von Beeinträchtigungen unterschieden, demgemäß zwischen Schweregraden von Beeinträchtigungen.

Kinder mit Behinderungen waren auf der Basis der Überlegungen des Deutschen Bildungsrates der 1970er Jahre dadurch gekennzeichnet, dass ihre individuellen Beeinträchtigungen, „umfänglich“, (d. h., mehrere Lernbereiche sind betroffen), „schwer“ (d. h., graduell mehr als ein Fünftel unter dem Regelbereich liegend) und „langfristig“ (d. h. eine Angleichung an den Regelbereich ist voraussichtlich innerhalb von zwei Jahren nicht möglich) waren. Die Frage wäre natürlich, ob z. B. alle „Lernbehinderten“ „behindert“ waren im Sinne dieser Definition.

Heute beschäftigt sich die Diagnostik im Arbeitsfeld Sonder- und Heilpädagogik vor allem mit der Problemsituation des einzelnen Kindes im Kontext Beeinflussung durch das Umfeld, speziell mit der Frage nach dem individuellen Förderbedarf – im Unterschied zu Klassifizierungen und Zuordnungen zu „Schweregraden von Beeinträchtigungen“.

Die sonderpädagogische Diagnostik befasst sich auch mit Kindern mit Lern- und Verhaltensstörungen bzw. -auffälligkeiten. Bach definiert Störungen als „individuale Beeinträchtigungen, die partiell (d. h. nur einen Lernbereich betreffend), oder weniger schwer (d. h. graduell weniger als ein Fünftel vom Regelbereich abweichend) oder kurzfristig (d. h. voraussichtlich in bis zu zwei Jahren dem Regelbereich anzugleichen) sind“ (1995, 9 f.). Auch hierbei geht es in erster Linie – wiederum traditionell betrachtet – um Zuordnungen.

Bei Kindern mit Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten kommt der sonderpädagogischen Diagnostik primär die Aufgabe zu, Störungen hinsichtlich ihrer Ätiologie, vor allem im Kontext behindernder Bedingungen zu analysieren, das Kind zu stützen und eine für das Kind positive Veränderung im Umfeld zu bewirken.

Die nächste Personengruppe, mit der sonderpädagogische Diagnostik konfrontiert wird, sind Kinder und Jugendliche mit Gefährdungen. Gefährdungen bezeichnet Bach als

„Beeinträchtigungen, die in der Form somatischer, ökonomischer oder sozialer Lernbedingungen mit erschwerendem Charakter Störungen oder Behinderungen zu bewirken oder zu verstärken angetan sind“ (1995, 10).

Im Zusammenhang mit Gefährdungen sind vor allem „Prävention“und „Prophylaxe“ von Bedeutung (Bundschuh 2009, 26–30). So ist es dringend notwendig, dass im vorschulischen Stadium (Kindergarten, Vorschule, Schulkindergarten oder schon früher) Gefährdungen erkannt und aufgrund von Verhaltensbeobachtungen und des Einbezugs von Entwicklungsskalen Möglichkeiten kompensatorischer Erziehung und Förderung im Hinblick etwa auf Lernreize und soziales Verhalten entworfen und realisiert werden.

Schließlich ist es auch notwendig, „Sozialrückständigkeiten“ zu diagnostizieren, d. h. Beeinträchtigungen der Gesellschaft, die in der Form von Einstellungen, Verhaltensweisen, Gepflogenheiten, materiellen Bedingungen und gesetzlichen Regelungen, Gefährdungen, Störungen und Behinderungen teils verursachen, teils steigern und teils ignorieren und damit mögliche Hilfestellungen verhindern (Bach 1995, 19). Die „Diagnose behindernder Bedingungen“ (Bundschuh 2019, 101–105) wird seit einigen Jahren verstärkt gesehen und erforscht.

Es ist darauf hinzuweisen, dass die angeführten Formen der Beeinträchtigung häufig in Verbindung unterschiedlicher Kombinationen mit wechselseitigem Verstärkungscharakter auftreten und dass zwischen Behinderungen und Störungen, zwischen Störungen und Gefährdungen und zwischen Gefährdungen und Sozialrückständigkeiten fließende Übergänge bestehen können.

Aufgabe des vorliegenden Buches ist es nicht primär, über eine Grundlageninformation hinausgehend, Probleme und Kritik der aufgezeigten „Beeinträchtigungen“ mit der Vielfalt wechselseitiger Bezüge und Verflechtungen zu diskutieren und zu erörtern. Hierzu sei auf kritische Literatur im Bereich Sonderpädagogik verwiesen, die sich mit Detailfragen bezüglich Beeinträchtigungen, Störungen und Behinderungen unter dem Aspekt historischer und gegenwärtiger Problemstellungen auseinandersetzt.

Resümierend ist hervorzuheben, dass es nicht nur zum Gegenstandsbereich sonderpädagogischer Diagnostik gehören kann, besondere Strategien der Diagnose in Anlehnung an verschiedene Arten und Schweregrade vorkommender Beeinträchtigungen zu entwickeln, vielmehr wird der Schwerpunkt auf der differenzierten und individuellen Diagnose der kindlichen Problematik und der Bedürfnisse (Bundschuh 2010, 169–178; 2019, 32–42)unter Einbezug des Umfeldes im Sinne des Helfens, Förderns, Kompensierens und des Lernens liegen. Demnach wird die sonderpädagogische Diagnostik in flexibler, dynamischer und differenzierter Weise aktiv werden im Rahmen einer Erziehung unter „erschwerten Bedingungen“ bei vorliegender Behinderung, im Rahmen einer „Fördererziehung“ bei vorliegender Störung, im Rahmen einer „Vorsorgeerziehung“ bei Gefährdung und im Rahmen der „Gesellschaftserziehung“ bei vorliegender Sozialrückständigkeit mit dem Schwerpunkt der Analyse behindernder Bedingungen im Umfeld des Kindes unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen.

Aufgrund dieser weiten Aufgabenbereiche kann es nicht genügen, wenn der im Bereich der Sonderpädagogik tätig werdende Diagnostiker nur psychologisch-diagnostisch „in Aktion tritt“ oder handelt, er muss vielmehr zuerst auch als pädagogischer und didaktischer Fachmann ausgewiesen sein (Bundschuh 2008, 232–241), d. h. es geht um die Vermittlung zwischen Lernausgangslage und Lernen bzw. Lernfortschritt.

Zusammenfassend gesehen umfasst das sonder- und heilpädagogische Arbeitsfeld unter Berücksichtigung institutioneller Entscheidungsbereiche primär die folgenden Personengruppen:

1.  Kinder, die in früher Kindheit und im vorschulischen Alter als auffällig, teilweise auch als „entwicklungsverzögert“ bezeichnet werden. Pädagogisch relevante Stichworte sind „Früherkennung“, „Früherfassung“ und „Frühbetreuung“, wobei in diesem Zusammenhang auf die ungelöste Problematik der frühen Erkennung bzw. Diagnose und Förderung hinzuweisen ist, d. h. Behinderungen können auch durch Diagnosen erzeugt werden (Bundschuh 2008, 314, 326 ff.).

2.  Kinder, die bei der Einschulung individuellen sonderpädagogischen Förderbedarf aufweisen wie z. B. bei offensichtlichen geistigen, sozialen, emotionalen oder körperlichen Beeinträchtigungen.

3.  Kinder, die in der Regelschule auffällig werden infolge partiellen oder auch generellen Nichtleistenkönnens (Leistungs- und Schulversagen im Hinblick auf den vorgegebenen Lehrplan, an sich ein „Versagen“ der Schule) in Unterrichtsfächern, wobei keinesfalls gesagt ist, dass diese Kinder in eine „besondere Schule“ / Förderschule aufgenommen werden müssen. Andere Möglichkeiten spezieller Hilfe und Förderung wären unterrichtliche Maßnahmen, Änderung der Einstellung von Eltern und Lehrern gegenüber dem Kind, Überweisung an eine Erziehungsberatungsstelle, therapeutische Maßnahmen. Optimal wären wohl Förder- und Stützmaßnahmen durch Regel- und Sonder- bzw. Förderschullehrer in der Grund- und Hauptschule nach einem gemeinsam erstellten Förder- und Therapieplan.

4.  Kinder, die aufgrund ihres Verhaltens in der Regelschule „als nicht mehr tragbar“ gelten. Zu denken wäre dabei an erziehungsschwierige oder verhaltensgestörte Kinder.

5.  Kinder, die irgendwelche die Lernleistung und das Sozialverhalten beeinträchtigende Sinnesschädigungen aufweisen (Hör- und Sehstörungen bzw. -behinderungen);

6.  körperbehinderte oder hinsichtlich ihrer Motorik beeinträchtigte Kinder;

7.  sprachgestörte und -behinderte Kinder;

8.  beeinträchtigte Schüler, die vor der Berufswahl stehen. Ihnen sollte bei der Berufsfindung und -ausbildung geholfen werden.

9.  Allgemein gesehen Kinder, Jugendliche und Eltern, die sich im Rahmen von Erziehung und Unterricht (Lernen) in einer Problemsituation befinden, vielleicht unter behindernden Bedingungen wie z. B. Armut leben, individuelle Beratung, Hilfe und Unterstützung in Erziehungs- und Lernfragen suchen.

Diagnostik von Behinderung hängt auch von Rahmenbedingungen (auch Langfeldt 2006, 626 ff.) ab, nämlich davon, was man unter „Behinderung“ verstehen möchte. Der Deutsche Bildungsrat (1973, 32) definierte: „Als behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung.“

Es ist sehr fraglich, ob diese Definition in Zeiten des Bemühens um Integration und Inklusion noch eine Gültigkeit hat. Diese Definition weist auf zweierlei hin:

–   Nicht ein funktionales Defizit macht die Behinderung aus, sondern die Einschränkung, die sich daraus für die gesellschaftliche Integration ergibt.

–   Es besteht eine uneingeschränkte ethische Pflicht zur Förderung.

Die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) hingegen konzentriert sich weniger auf ein medizinisches Verständnis von Behinderung und Defekten als die traditionelle Beschreibung von Behinderung, sondern berücksichtigt deren soziale Konstruktion. Die der ICF zugrunde liegenden, in Wechselwirkung stehenden Komponenten „Körperfunktionen und –strukturen“, „Aktivitäten und Partizipation“, „Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren“ (Hollenweger / Kraus de Camago 2013, 36 ff.) ermöglichen die Verwendung sowohl positiver wie negativer Begriffe und setzen damit auch deutliche ressourcen- und kompetenzorientierte Akzente. Darüber hinaus werten Göttgens und Schröder (2014, 36) die ICF als „Schlüssel für eine gelingende interdisziplinäre Zusammenarbeit, da das Klassifikationssystem eine gemeinsame Sprache für die am förderdiagnostischen Prozess beteiligten Professionen ermöglicht“.

Tab. 1: Anzahl der schulpflichtigen Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Bundesrepublik im Jahr 2002

Anzahl

Prozent

schulpflichtige Schüler der Klassen 1 bis 10 insgesamt

8.941.561

100,000