Heilung kommt von innen - Harald Walach - E-Book

Heilung kommt von innen E-Book

Harald Walach

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Beschreibung

"Heilung kann immer nur von innen heraus kommen, wenn sie echt sein soll. Alles, was von außen kommt, dient nur der Unterstützung dieser Selbstheilung." Harald Walach Was macht uns eigentlich krank? Und wie können wir unseren Gesundheitszustand maßgeblich und nachhaltig beeinflussen? Harald Walach, einer der führenden Köpfe in der Komplementärmedizin, hilft Patienten, Verantwortung für ihren Körper zu übernehmen. Er zeigt in diesem aufrüttelnden Sachbuch alternative Wege auf, die ihn aus der Rolle des passiven Empfängers medizinischer Interventionen befreien. Seine präzise Erläuterung des Placebo-Effektes auf neuestem Stand der Forschung zeigt den Grundmechanismus der Selbstheilung. Außerdem stellt Harald Walach die zunehmend in den Vordergrund rückende Frage nach der richtigen Ernährung in den Mittelpunkt und gibt fundierte Tipps dazu. In unserem Gesundheitssystem wird Krankheit oft als technische Panne und Heilung als mechanische Reparatur verstanden. Dies rührt daher, dass die Entwicklung neuer Medikamente mit der Heilung von Krankheiten gleichgesetzt wird. Darüber hinaus trägt die Pharmabranche das Ihrige dazu bei, diese Vorstellungswelt zu bestärken. Höchste Zeit also, sich von bequemen Denkmustern zu verabschieden. Ein engagiertes Plädoyer für die Kraft der Selbstheilung und eine aktive Rolle des Patienten.

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Harald Walach

Heilung kommt von innen

Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen

Knaur e-books

Über dieses Buch

»Heilung kann immer nur von innen heraus kommen, wenn sie echt sein soll. Alles, was von außen kommt, dient nur der Unterstützung dieser Selbstheilung.« Harald Walach

 

Was macht uns eigentlich krank? Und wie können wir unseren Gesundheitszustand maßgeblich und nachhaltig beeinflussen?

Harald Walach, einer der führenden Köpfe in der Komplementärmedizin, hilft Patienten, Verantwortung für ihren Körper zu übernehmen. Er zeigt in diesem aufrüttelnden Sachbuch alternative Wege auf, die ihn aus der Rolle des passiven Empfängers medizinischer Interventionen befreien. Seine präzise Erläuterung des Placebo-Effektes auf neuestem Stand der Forschung zeigt den Grundmechanismus der Selbstheilung. Außerdem stellt Harald Walach die zunehmend in den Vordergrund rückende Frage nach der richtigen Ernährung in den Mittelpunkt und gibt fundierte Tipps dazu.

 

In unserem Gesundheitssystem wird Krankheit oft als technische Panne und Heilung als mechanische Reparatur verstanden. Dies rührt daher, dass die Entwicklung neuer Medikamente mit der Heilung von Krankheiten gleichgesetzt wird. Darüber hinaus trägt die Pharmabranche das Ihrige dazu bei, diese Vorstellungswelt zu bestärken. Höchste Zeit also, sich von bequemen Denkmustern zu verabschieden.

Ein engagiertes Plädoyer für die Kraft der Selbstheilung und eine aktive Rolle des Patienten.

Inhaltsübersicht

Vorwort1. Einleitung2. Neu sehen lernen3. Wir sehen nur, was wir kennen – die Bedeutung von VoraussetzungenHarvey entdeckt den HerzschlagZwei unterschiedliche Formen von Kontroversen4. Der Körper als Maschine – was uns das Maschinenparadigma vom Körper lehrt und wie es uns behindertDas biopsychosoziale Modell: die ganzheitliche Betrachtung von Krankheit und Gesundheit5. Was uns Placeboeffekte über die Kraft des Organismus zur Selbstheilung lehrenWas man als Laie über Statistik wissen sollteDepression – die Effekte verschiedener Therapien und die Bedeutung des PlaceboeffektsDas Wirksamkeitsparadox und der PlaceboeffektAlles Bluff? Oder: Gibt es solche Effekte wirklich?6. Wie Selbstheilungseffekte vermittelt werdenEndogene Opiate und die Schmerzunterdrückung durch PlaceboGute Kommunikation und ZuwendungEntspannung und der entzündungshemmende Reflex7. Noceboeffekte und die Kultur des BewusstseinsKultur des Bewusstseins8. Das mächtigste therapeutische Ritual der Neuzeit – Placeboeffekte in der Chirurgie9. Ernährung, Nahrungsenthaltung, LebensstilErnährung und Erkrankung»Metabolisches Syndrom« oder die hausgemachte KatastropheKrebsKoronare Herzkrankheit und HerzinfarktKalorienreduktionDer glykämische Index, Zucker und leicht aufschließbare KohlenhydrateDer Warburg-Effekt – Zuckerentzug als HeilmittelZuckerreduktionMahlzeiten reduzierenFastenDas Richtige essenBewegung»Lebensmittelallergien« – Milch, Brot und Co. und die Gefahr einer zwanghaften Fixierung auf gesunde ErnährungLebensstilinterventionen – wenig wirksam auf lange Sicht? Der Unterschied zwischen Verantwortung und InterventionVisionäres Denken10. Sanftes Heilen – die Bedeutung der Komplementärmedizin für eine ganzheitliche medizinische VersorgungPhytotherapieHomöopathieDas konventionelle und das unkonventionelle Lager – Streit und Berührungsmöglichkeiten11. Der heilende Glaube – Krankheit als Entfremdung und Therapie als Neukonstruktion des LebensKrankheit als EntfremdungTherapie als Gestaltung eines neuen LebenskontextesTherapie als Raum des Wunders12. Krankheit, Gesundheit, Profit – das Geschäft mit der KrankheitDie Pharmabranche geht weite Wege, um ihren Ruf zu sichernInteressenkonflikte13. Das Gesundheitssystem der Zukunft – eine VisionDer Schlüssel: VerantwortungDrei Bereiche: Krankenversorgung – Gesundheitserhaltung – RehabilitationEin neues Bild vom OrganismusDer GesundheitserhaltungssektorDie Ressource ZeitModell eines neuen GesundheitserhaltungssektorsLiteratur
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Vorwort

Dieses Buch ist eine Neufassung meines 2011 erschienenen Buches Weg mit den Pillen. Wie ich erst später an manchen Reaktionen festgestellt habe, war dieser Titel nicht sehr glücklich gewählt. Er hat falsche Assoziationen erweckt und ein negatives Kampfszenario heraufbeschworen, um das es mir gar nicht gegangen ist. Insofern bin ich sehr froh, dass ich nun die Möglichkeit habe, den Text in überarbeiteter Fassung mit einem angemesseneren Titel neu vorzulegen. Dies gab mir auch die Möglichkeit, den ursprünglichen Text zu überprüfen, neue Erkenntnisse einzuarbeiten und an manchen Stellen Erweiterungen anzubringen, die in der alten Fassung keinen Platz mehr gefunden haben.

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1. Einleitung

Die Entwicklung eines neuen Medikaments kostet in Europa und den USA derzeit etwa 600–800 Millionen Dollar, und der Patentschutz währt nur wenige Jahre. Anschließend kann jeder, der etwas von Chemie versteht, die Substanz nachbauen, für wenig Geld unter die Leute bringen und dennoch eine Menge Profit machen. Jedoch nicht jedes der neu entwickelten Medikamente schafft es auf den Markt. Sehr viele werden irgendwann unterwegs aufgegeben, etwa weil man sieht, dass die im Tiermodell gefundenen Effekte beim Menschen nicht auftreten, oder weil die positiven Effekte mit zu vielen Nebenwirkungen erkauft werden müssen. Das Ganze ähnelt einem verstopften Trichter: Oben wird viel an Arbeit und Ressourcen eingefüllt, aber nur sehr wenig findet seinen Weg auf den Markt und damit in die Gewinnzone.

Im Klartext: Pharmaunternehmen müssen, um rentabel zu arbeiten, die Kosten der Fehlschläge auf die vermarktbaren Medikamente umlegen und sehen, dass sie ihre Kosten in etwa sieben Jahren einbringen. Denn dann schlägt die billige Konkurrenz zu. Wer aber bezahlt all das? Sie und ich – über unsere Krankenkassenbeiträge. Oder abstrakter: die Öffentlichkeit. Die Pharmabranche ist der einzige Industriezweig, der fast ausschließlich aufgrund öffentlicher Förderung gedeiht und die dabei gemachten Gewinne an die Eigner der Firmen weitergibt. Umgekehrter Kommunismus sozusagen.

Bedenkt man nun, dass die Menschen immer älter, die Krankheiten immer teurer, die technischen und pharmakologischen Möglichkeiten der Lebensverlängerung immer ausgefeilter werden, dass die Auflagen von Behörden zunehmen, dass man die genetischen Hintergründe des Abbaus pharmakologischer Substanzen immer genauer erforschen wird, dass im Moment nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung nach diesem Modell behandelt wird, aber alle anderen unserem Beispiel folgen wollen, und dass auch die Pharmabranche ein klares Expansionsinteresse hat – bedenkt man all das, kann man eigentlich nur drei aufeinander aufbauende Schlussfolgerungen ziehen:

Es handelt sich um eine spiralförmige Entwicklung, die irgendwann nicht mehr beherrschbar sein wird.

Es muss im Interesse der Akteure liegen, die mit diesem System Geld verdienen, das System so lange zu erhalten wie nur irgend möglich.

Man muss das System fundamental verstehen, kritisieren und entsprechend handeln, wenn man es verändern will. Und nicht mal hier eine rote Liste von Arzneien aufstellen und mal dort eine Sparmaßnahme beschließen.

Wenn man diese Entwicklung zusammennimmt, dann kann man eigentlich nur zu der Schlussfolgerung kommen, dass wir Gesundheit und Krankheit aus einer neuen Perspektive betrachten sollten. Muss sich etwas ändern? Wenn ja, was? Und: Wie genau könnte diese notwendige Veränderung nachhaltig vonstattengehen? Gibt es vielleicht andere Denkmodelle? Wie könnten sie aussehen?

All diesen Fragen möchte ich in diesem Buch nachgehen und einige Antworten vorschlagen. Zwei wichtige Antworten möchte ich für neugierige Leser vorwegnehmen:

Ich denke, dass es notwendig ist, die Rolle der Person, der Patienten und damit auch der Ärzte in diesem System neu zu denken. Bislang wird der Patient als ein passiver Empfänger von therapeutischen Handlungen gesehen, die Fachleute, Ärzte und Gesundheitspersonal, an ihm oder ihr ausführen. Das sieht man schon am Sprachgebrauch. »Patient« kommt vom lateinischen »pati- – leiden«. So definiert sind Patienten nicht nur Menschen, die an ihrer Krankheit leiden, sondern auch die Passiven. Das linguistische »Passiv«, also die Wortform patient, signalisiert, dass etwas an mir oder mit mir gemacht wird. Demgegenüber sollten wir betonen, dass Patienten in erster Linie Akteure sind, Handelnde – außer sie sind in akuter Lebensgefahr und handlungsunfähig. Daher heißt mein Schlagwort: vom Patienten zum Agenten, vom Erleidenden zum Handelnden.322 Und das Wundermittel, das diese Wandlung vollbringt, heißt: »Verantwortung«. Damit meine ich, dass wir alle uns unserer Verantwortung, auch unserer Freiheit und unserer Fähigkeit, uns zu entscheiden, bewusst sind. Im Kontakt mit Ärzten und therapeutischem Personal ergibt sich daraus eine partnerschaftliche Beziehung, im Idealfall. Diese ist Voraussetzung für gelingende Heilung.

Unser medizinisches System ist unschlagbar gut, wenn es um die Behandlung akuter Krankheiten und Notfälle geht. Denn es hat sich schließlich auch aus der Tradition der Versorgung akut Kranker entwickelt – von Verletzten in den Kriegen und von akut Gefährdeten durch lebensbedrohliche Krankheiten und Unfälle. Dabei hat es sich einer bestimmten Denkfigur bedient, die den Körper als eine biologische Maschine sieht, die zu reparieren ist. Das Dumme ist nun, dass die meisten Krankheiten, die heute zu einem Problem geworden sind, chronischer Natur sind und sehr häufig eine Folge unseres Lebensstils und manchmal auch die Folge von früheren, mehr oder weniger erfolgreichen medizinischen Behandlungen. Um solche Krankheiten mit Erfolg zu behandeln oder, noch besser, gar nicht erst aufkommen zu lassen, bedarf es eines anderen Denkmodells. Auch hier ist der Schlüssel wieder: Wir sollten uns alle als Akteure, als Handelnde begreifen und uns unserer Verantwortung bewusst werden. Dies hat notwendigerweise auch Auswirkungen auf das medizinische Denkmodell. Daher spreche ich von einem neuen »Paradigma«. Was das heißt und wie dies aussieht, das will ich im Folgenden skizzieren.

Auf jeden Fall hätte all das weitreichende Konsequenzen für unser Denken und Handeln im Gesundheitssystem. Die Grundlagen und Folgen werde ich in diesem Buch beschreiben.

 

Zuvor jedoch ein paar Worte zu meiner Person. Ich war an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder tätig. Dort hatte ich eine Professur für Forschungsmethodik inne und bildete Ärzte im Rahmen des von mir geleiteten weiterbildenden Studiengangs »Kulturwissenschaft – Komplementärmedizin« aus. Mit der Forschung auf dem Gebiet der Komplementärmedizin habe ich mich die letzten 30 Jahre befasst und war damit einer der Ersten in diesem Land, der sich diesen Themen zugewandt hat. Derzeit arbeite ich an neuen Konzepten, etwa als Professor der Medizinischen Universität Poznan in Polen und als Dozent an der Universität Witten-Herdecke.

Ich möchte Sie Anteil nehmen lassen an meinen Visionen und Wunschvorstellungen – daran, wie ich mir den Weg in eine zukünftige nachhaltige medizinische Versorgung und Gesundheitskultur vorstelle. Diese Vorstellungen beruhen auf meinen bisherigen Erfahrungen und Forschungen. Mir geht es dabei nicht darum, irgendjemanden – Ärzte, Politiker, die Industrie – an den Pranger zu stellen. Das wäre billig. Nein, mein Anliegen reicht tiefer: Wie müsste eine Medizin aussehen, die die positiven Einsichten und Errungenschaften bewahrt und gleichzeitig schädliche Exzesse überwindet? Ich meine, der Schlüssel für eine Antwort liegt im Verständnis dessen, was sich in den letzten Jahrzehnten am Rande der Hochschulmedizin und in der Grundlagenwissenschaft zugetragen hat.

Dort haben sich in der biologischen Grundlagenforschung, aber auch im Bereich der Placeboforschung interessante Einsichten aufgetan. Man hat zum einen begonnen zu verstehen, dass unser Organismus ein hoch vernetztes und selbsttätiges System ist, das sich auf vielerlei Weise die Bedingungen seiner Existenz immer wieder neu schafft, viele Fehlerkorrekturen eingebaut hat und auf äußerst raffinierte Weise mit der Umwelt zusammenwirkt. Gene, von denen man sich einstmals den Schlüssel zum Verständnis der Krankheiten erwartet hat, erweisen sich als Schalter, die nur in einem bestimmten Milieu aktiv sind. Mit anderen Worten, es hängt von unserem Verhalten ab, von dem, was wir tun und essen, lassen und zu uns nehmen, ob Gene aktiv werden oder nicht.

Daraus hat sich ein Bild ergeben, das unter dem Stichwort »Theorie komplexer Systeme« oder »Systembiologie« beschreibt, dass unser Organismus in vielfältigen Interaktionen mit der Umwelt, die er selbst gestaltet, seine Gesundheit aufrechterhält oder auch zu seiner Erkrankung beiträgt.

Durch die Placeboforschung hat sich gezeigt, wie mächtig psychologische Prozesse beim Zustandekommen von Krankheit und bei der Gesundung sind. Was wir erwarten und befürchten, was wir erhoffen und glauben, das bestimmt zu einem guten Teil, was geschehen wird. Diese Erkenntnisse kommen nicht zuletzt aus der akademischen Beschäftigung mit der Komplementärmedizin.

Mit Komplementärmedizin sind all die Bereiche der Medizin gemeint, die nicht an den Hochschulen gelehrt und beforscht werden und daher auch nicht in die Ausbildung unserer jungen Ärzte einfließen, etwa die Homöopathie, die Akupunktur, das geistige Heilen und seit neuerer Zeit Methoden der Gesunderhaltung und Therapie durch Meditation und Geistesschulung. Ärzte bilden sich in solchen Methoden oft fort, wenn sie bereits seit einiger Zeit praktisch tätig sind und sehen, dass sie mit konventionellen Methoden nur begrenzt weiterkommen, oder weil Patienten danach fragen.

Warum ist die Komplementärmedizin so in der Gunst der Verbraucher gestiegen, und zwar zu einer Zeit, da unser medizinisches und soziales System zu dem besten gehört, was es auf der Welt gibt? Warum wird diese Entwicklung von Vertretern der Hochschulmedizin meist ignoriert? Ich meine, dies hängt damit zusammen, dass sich hinter den Ansätzen der Komplementärmedizin (nicht immer, aber oft) andere Vorstellungen vom Menschen, ganzheitliche Konzepte von Krankheit und Heilung verbergen, die nur schwer im Rahmen der gültigen Modelle von Ursache und Wirkung verstehbar sind.

Dass wir zu einem solchen ganzheitlichen Verständnis von Heilung und Krankheit finden, dabei aber das Gute, das uns die Entwicklung der Wissenschaft beschert hat, nicht aus den Augen verlieren, ohne wissenschaftsgläubig zu sein – dafür setze ich mich ein.

Zu Beginn der 1980er-Jahre, als ich Anfang 20 war, nahm ich an einem 30-tägigen Exerzitienkurs teil, der von Schweigen und mehreren Stunden intensiver Meditation pro Tag geprägt war. Mir ist damals so manche heilsame Einsicht und Erfahrung zuteilgeworden. Aber wichtig für dieses Buch ist vor allem eine: dass Heilung immer nur von innen heraus kommen kann, wenn sie echt sein soll. Alles, was von außen kommt, dient nur der Unterstützung dieser Selbstheilung. Das klingt banal – ist es aber nicht, wenn wir Praxis und Theorie moderner Medizinsysteme betrachten. Und genau darum geht es mir. Ich möchte diese simple Einsicht vor dem Hintergrund unseres modernen Medizinsystems betrachten, genauer gesagt, ich möchte das System an diesem Maßstab messen. Mittlerweile habe ich nicht nur diese Einsicht erweitert, sondern bin auch um sehr viele andere Erfahrungen und viele Tausend Seiten Fachlektüre reicher.

Ich habe mich intensiv mit Homöopathie und mit Geistheilung beschäftigt, mit Achtsamkeit und der Bedeutung des Bewusstseins sowie des Lebensstils und der Ernährung – und was das alles für unser Gesundheitswesen bedeutet. Durch die Beschäftigung mit Homöopathie und Komplementärmedizin erreicht man rasch die Kernfragen: Wie kommt Heilung zustande? Welche Rolle spielen dabei kausale, materielle Effekte, wie sie von der Pharmakologie ausschließlich genutzt und für sich in Anspruch genommen werden? Man stößt schnell auf eines der größten Paradoxa der modernen Medizin, den Placeboeffekt. Dann erkennt man Folgendes: Obwohl »nichts« verabreicht wurde, keine pharmakologisch wirksame Substanz, kein eigentlich wirksamer chirurgischer Eingriff vorgenommen wurde, obwohl also »nichts« materiell Greifbares passiert ist, verbessert sich der Zustand eines Patienten, oder es kommt gar zur Heilung. Wie kann das sein?

Dogmatik im Sinne von Sturheit ist immer falsch. Es ist genauso falsch, über die moderne Medizin zu wettern, wie sie über den grünen Klee zu loben. Es ist genauso falsch, die Komplementärmedizin oder die Homöopathie als Retterinnen der Stunde und einzige Optionen der Zukunft zu preisen, wie sie als unwissenschaftlich und rückständig zu verdammen. Wir können von beiden Richtungen lernen. Die moderne Medizin hat uns großartige Einsichten ins Funktionieren des menschlichen Organismus beschert, und wenn ich einen Verkehrsunfall hätte oder ein akutes Herzversagen, befände ich mich lieber in der Hand eines guten Notfallmediziners als in der eines guten Schamanen. Aber vielleicht befände ich mich auch lieber in der Hand eines guten Schamanen als in der eines schlechten Notfallmediziners. Wenn ich ein ernsthaftes chronisches Problem hätte – sagen wir eine degenerative neurologische Erkrankung –, wäre ich vermutlich um eine klare Diagnose froh, würde mir dann aber sicherlich vertieft Gedanken über eine ganzheitliche Behandlung machen.

Wer auch immer Bücher verkauft mit dem Tenor: »Das muss man tun, wenn x passiert ist« oder »Wenn Sie y haben, haben Sie b falsch gemacht«, verbreitet aus meiner Sicht Unfug. Krankheiten sind so individuell wie die Menschen, die sie haben. Sie entstehen aus einer komplexen Mischung aus genetischen Voraussetzungen, zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten, individuellem Verhalten oder Nicht-Verhalten und sozialen Bedingungen. Die wichtigste Aufgabe von uns als Patienten ist es zu verstehen, wie genau diese Mischung im konkreten Falle zum Krankwerden beiträgt, denn das zeigt uns, was wir tun können, um gesund zu werden und unserer Verantwortung als Akteure und Handelnde gerecht zu werden.

Wir können, wenn wir uns erkältet haben und einen bakteriellen Infekt erleiden, den Infekt bekämpfen. Das nutzt oft, und wenn es schlimm ist, bleibt uns auch gar nichts anderes übrig. Aber wir können auch umgekehrt das Augenmerk auf unsere eigene Widerstandskraft lenken. Im Akutfall ist selten etwas zu tun, außer zu schlafen. Aber wir können vorbeugen und mit Wechselduschen, Sauna oder viel Bewegung in frischer Luft unsere Widerstandskraft stärken. Die Erreger werden uns auch weiterhin umgeben, aber wir werden dann nicht mehr so leicht krank.

In diesem Buch geht es um die Frage: Was können wir tun, anstatt zu erleiden? Wie werden wir von Patienten zu Agenten, also zu Handelnden? Wie werden wir von solchen, denen etwas widerfährt, zu jenen, die ihr Leben, ihr Schicksal und damit auch ihre Gesundheit selbst gestalten?

Daher geht das Buch auch über die unmittelbare Medizinthematik hinaus und berührt unsere Kultur im weiteren Sinne. Ich werde solche Bezüge vor allem am Rande einflechten. Ich gehe folgendermaßen vor:

Zunächst lege ich die Grundlagen, indem ich der Frage nachgehe, warum das Problem überhaupt existiert und was wir daran ändern können. Die Schwierigkeiten hängen damit zusammen, dass wir nur das sehen, was wir bereits kennen, und meist alles ignorieren, was nicht in unsere Welt passt. Deshalb müssen wir, um Neues zu sehen, einen radikalen Perspektivenwechsel vornehmen.

Die Paradigmen, die unsere allgemeine Wahrnehmung steuern, sind auch in der Medizin aktiv. Hier und in unserer ganzen Kultur gehen wir nach dem Prinzip vor, dass der Körper, ähnlich wie ein Auto, eine komplizierte Maschine ist. Ist etwas kaputt, wird es repariert. Wir schrauben nach Belieben daran herum oder tauschen Einzelteile aus. Diese Metapher des Körpers als Maschine geht auf den Philosophen René Descartes zurück. Seine Vorstellung war sehr erfolgreich und nützlich. Sie hat uns viele Erkenntnisse ermöglicht, aber auch einige große Beschränkungen im Denken und Handeln auferlegt. Ich analysiere das im dritten Kapitel.

In Kapitel 4 und 5 widme ich mich dem Placeboeffekt. Ich zeige an ein paar spannenden Beispielen, wie er sich äußert, wie wir ihn verstehen können und was er uns lehrt. Ich zeige auch, wie der Placeboeffekt die Paradoxa des herrschenden Gesundheitsmodells aufzeigt. Solche Paradoxa sind der Anlass, noch grundsätzlicher über die Gültigkeit dieses Modells nachzudenken, und legen den Grundstein zu seiner Überwindung. Ich berichte kurz über das, was wir bereits über Placeboeffekte wissen, wie sie zustande kommen und welche Konsequenzen dies für uns hat.

Daraus ergibt sich, dass es auch Placeboeffekte in die entgegengesetzte Richtung gibt – dort nämlich, wo wir uns aufgrund ängstlicher Erwartung selbst krank machen oder wo wir es zulassen, dass uns andere durch ihre Äußerungen krank machen. Hier trifft sich (die schlecht praktizierte) moderne Medizin mit afrikanischen Voodoo-Kulten: Wenn jemand ein Drama zu erwarten gelehrt wird, dann erlebt er auch eins, im schlimmsten Fall bis zum Tod. Dies diskutiere ich in Kapitel 6.

Kapitel 7 und 8 behandeln die Selbstheilung und die traditionellen Wege der Heilung. Schon Primaten fressen, wenn sie von Parasiten befallen sind, bestimmte, pharmakologisch wirksame Pflanzen. In unserem kulturellen und evolutionären Erbe gibt es sehr viele implizite Erkenntnisse darüber, was uns guttut. Wir müssen sie nur ernst nehmen und freilegen. Kapitel 7 bespricht ein paar Beispiele aus der traditionellen Medizin, Kapitel 8 widmet sich Themen der Ernährung und der Nahrungsenthaltung als Grundlage von Regenerationsprozessen.

Schließlich wende ich die gewonnenen Erkenntnisse auf die Gesellschaft im Allgemeinen an. Ich analysiere, warum unser System so ist, wie es ist. Die Lösung des Rätsels ist einfach: weil die entscheidenden Akteure viel Geld damit verdienen und daher gar kein Interesse daran haben, dass es sich ändert. Was muss also geschehen? Dies wird in Kapitel 9 und schließlich 10 diskutiert.

In Kapitel 11 hole ich noch einmal weiter aus und erörtere, inwiefern Krankheit am ehesten als Entfremdung von uns selbst, von entscheidenden Lebenszusammenhängen und unserer tiefsten Lebensintention zu verstehen ist. Womöglich können wir Krankheit erst richtig verstehen und auch Wege zur Gesundheit finden, wenn wir diese tiefere Dimension einbeziehen, die häufig unter dem Thema »Spiritualität« betrachtet wird.

Kapitel 12 ist eine Zusammenschau: Hier trage ich zusammen, was über die Bedeutung von Ritualen und Heilung bisher erforscht wurde und wie sich dieses Wissen in eine integrative Betrachtung des Genesungsprozesses einbauen lässt. In Kapitel 13 schließlich entwickle ich einige weiterführende Thesen für die Zukunft.

Das Buch ist bewusst so aufgebaut, dass einzelne Kapitel für sich alleine stehen können – wenn auch der große Zusammenhang, die Vision, natürlich nur bei der Lektüre des gesamten Werkes klar werden kann.

Notwendigerweise werde ich Partei ergreifen und provozieren, denn nur so kann man Platz für Neues schaffen. Das wird viele ärgern, aber das nehme ich in Kauf. Ein wichtiges Anliegen ist mir, präzise mit den Begriffen zu sein. Außerdem werde ich dort, wo ich meine, eine Aussage könnte nicht völlig klar und allgemein akzeptiert sein, durch Hinweis auf die Quellen die Hintergründe für diejenigen erschließbar machen, die sich weiter vertiefen wollen. Nummern im Text verweisen auf die Literatur am Ende.

Wenn Sie mit mir das Gefühl haben, dass etwas faul ist in unserem Gesundheitswesen, wenn Sie mit mir das Bedürfnis haben zu überlegen, was Sie selbst tun können, damit sich daran und an der Welt im Ganzen etwas ändert, wenn Sie es satthaben als Objekt und Maschine, als Erduldender und passiver Empfänger von Heilversuchen behandelt zu werden, dann gehören Sie zu den Menschen, für die ich dieses Buch geschrieben habe. Es richtet sich an Menschen in allen Lebensbezügen, daher habe ich versucht, so einfach wie möglich und dennoch so präzis wie möglich zu schreiben. Ich hoffe, dass Menschen, die derzeit Patienten sind oder verhindern wollen, dass sie Patienten werden, davon genauso profitieren wie Fachleute im Gesundheitswesen, in der Gesundheitswirtschaft, in der Politik und in der Hochschule: um Anregungen zu erhalten auf dem Weg zu dem Ziel, das am Ende dieser Bemühungen stehen sollte – ein erweitertes, angemesseneres Bild von Krankheit und Gesundheit zu erhalten.

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2. Neu sehen lernen

Alle schauen immer nur aufs Zentrum, in die Mitte. Die führenden Köpfe in der Politik, die in den Schlagzeilen sind, auf sie schauen alle – den Normalbürger beachtet niemand. Dabei lernen wir am meisten, wenn wir gar nicht dorthin schauen, wo alle meinen, dass sich das Wichtigste abspielt. Das ist in der Wissenschaft genauso. Wer wissen will, wohin sich die Wissenschaft bewegt, muss auf den Rand schauen, nicht ins Zentrum.

Ich vergleiche die Wissenschaft gerne mit einer Amöbe. Eine Amöbe, ein einzelliges Kleinlebewesen, ist sehr intelligent und strebt immer den optimalen Verhältnissen zu, dorthin, wo sie Nahrung findet, Licht und die richtige Temperatur. Sie bewegt sich, indem sie kleine Plasmafortsätze ausbildet, diese am Untergrund anheftet und den Körper nachzieht. Sie ernährt sich, indem sie Taugliches mit den Plasmafortsätzen umfließt und schließlich verdaut. Ihre Berührungen und Bewegungen finden also immer vom Rand her statt. So ist es auch mit der Wissenschaft im Allgemeinen und der Medizin im Besonderen: Wer wissen will, wo es hingeht, muss auf den Rand blicken.

Hier, am Rand, stehen Bereiche wie die Ernährungsforschung, die Placeboforschung, die Komplementärmedizin. Das Interesse für Komplementärmedizin in Deutschland – und später in den Vereinigten Staaten – ging im Wesentlichen von der Basis aus. Die Forscher, die sich mit ihr befasst haben, taten dies aus reinem Interesse. Sie mussten ihre Fördergelder von Stiftungen und privaten Sponsoren einwerben. In den Vereinigten Staaten lief es etwas anders: Senator Tom Harkin erhielt 1992 von seinem Freund und früheren Kongresskollegen Berkley Bedell den Tipp, er solle gegen seine Allergien doch einmal Bienenpollen probieren. Er tat es und wurde davon geheilt. Dies verblüffte ihn dermaßen, dass er sich über politische Kanäle dafür einsetzte, dass ein Office of Alternative Medicine an den National Institutes of Health eingerichtet wurde (das sind die großen, staatlichen Gesundheitsforschungsinstitute in den USA).136

Dazu kam etwas später im Jahre 1996 eine weitere Episode: Die kleine Tochter des Kongressabgeordneten Jim Moran hatte einen Hirntumor. Die besten Kliniken des Landes wussten nicht mehr, was noch getan werden könnte. Sie konnten nochmals operieren, hätten dann aber nicht garantieren können, dass das Kind gesund geworden oder ohne Schäden davongekommen wäre. Vielmehr wäre die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls sehr groß gewesen. Der Abgeordnete entschied sich für eine alternative Behandlung. Er lernte Dr. Wayne Jonas kennen, der damals Leiter des neu etablierten Office of Alternative Medicine (OAM) war. Wayne Jonas hatte für den Kongressabgeordneten nur noch einen Rat: den tschechischen Heiler Mietek Wirkus aufzusuchen. Dieser behandelte das Kind in mehreren Sitzungen mit seiner Methode, die er als »bioenergetische Geistheilung« beschrieb. Der Tumor bildete sich langsam zurück, und das Kind genas (die Arbeit des Heilers wurde auch Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung144).

Moran wurde zum zweiten politischen Unterstützer des OAM und sorgte für eine Erhöhung des Budgets – anfangs hatte das Institut ein Mini-Budget von wenigen Millionen Dollar. So entstand das National Center for Complementary and Alternative Medicine (NCCAM), das sich vor Kurzem in National Center for Complementary and Integrative Health (NCCIH) umbenannt hat. Mit dem Begriff »integrativ« versucht man all jene therapeutischen Methoden zu bezeichnen, die mittlerweile so gut untersucht sind, dass sie in den konventionellen Medizinbetrieb integriert werden können, wohingegen »komplementär« meint, dass man in Ergänzung zu konventionellen Methoden auch noch andere, weniger gut bekannte und weniger gut untersuchte heranzieht.

Heute hat das NCCIH ein Budget von ca. 120–150 Millionen Dollar pro Jahr, verfügt über eine große Zahl an Mitarbeitern und vergibt Projektgelder von vielen Millionen für die Erforschung der Komplementär- und Integrativmedizin.

Diese Forschung hat neben anderem auch gezeigt, wie wichtig sogenannte Placeboeffekte sind. Darunter versteht man Effekte, die nicht aufgrund der materiellen Eigenschaften der Behandlung zustande kommen, sondern durch die Bedeutung und die psychologischen Effekte, die beim Patienten erzeugt werden. Placeboeffekte, unkonventionelle Heilungen und Effekte komplementär- und alternativmedizinischer Behandlungen haben eines gemeinsam: Sie gehen vom Patienten aus und werden höchstwahrscheinlich über psychologische Prozesse vermittelt. Während man früher dachte, es handle sich durchwegs um Bagatelleffekte, wissen wir heute, dass diese Wirkungen ernst zu nehmen sind. Mehr als das: Sie lehren uns sehr viel über Heilung und Krankheit im Allgemeinen. Und sie bilden den Keim einer stillen Revolution in der Medizin. Ich habe eine ganze Reihe placebokontrollierter Studien selbst durchgeführt und bis zur Übersättigung solche Untersuchungen gelesen. Man lernt dabei: Placeboeffekte entlarven die Hauptdogmen der modernen Medizin – genauer gesagt der Medizin, die dem pharmakologischen Therapiemodell folgt – als reichlich fragile Konstrukte.

Seit der Entdeckung verschiedener pharmakologisch wirksamer Substanzen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und insbesondere des Penizillins in den 1930er-Jahren haben sich die pharmazeutische Industrie und die Pharmakologie einen nicht mehr wegzudenkenden Platz in unserer Medizin und Gesundheitsversorgung gesichert. Das damit einhergehende Credo ist scheinbar einfach und einleuchtend: Wenn wir einmal den Ursache-Wirkungs-Mechanismus einer Krankheit kennen, können wir die Ursache bekämpfen, indem wir pharmakologisch eingreifen. Der Diabetiker erhält Insulin, das der Körper nicht mehr selbst herstellen kann. Dem Krebskranken geben wir Zytostatika, die die Zellteilung der Krebszellen behindern. Die Migränepatientin erhält Triptane, die Serotonin in den Blutgefäßen verfügbar machen und so die Dynamik der Gefäße verändern. Wer unter einer Lungenentzündung leidet, bekommt Antibiotika, und wer eine starke Entzündung hat, Kortison zur Reduktion der Aktivität der Immunzellen usw.

In vielen und vor allem in akuten Fällen funktioniert dies auch hervorragend. In diversen anderen, vor allem chronischen Fällen von Krankheit funktioniert es oftmals nicht so gut, oder aber die Wirkungen werden mit hohen Kosten erkauft: Die Medikamente sind teuer und die Nebenwirkungen oft erheblich. Nebenwirkungen von Medikamenten sind mittlerweile die dritthäufigste Todesursache in der westlichen Welt.94; 95; 165 Insgesamt scheint die Meinung vorzuherrschen: So ist eben die Entwicklung der modernen Medizin. Wir müssen jetzt einfach so weitermachen. Noch mehr forschen und die kausalen Pfade genauer analysieren, maßgeschneiderte Moleküle basteln, die in diese Pfade und eben nur in diejenigen eingreifen, die für Krankheit verantwortlich sind. Unmengen von Molekülen für Unmengen individueller Krankheitswege, im Endeffekt unterschiedlich für jeden Genotyp, also für jede genetische Ausstattung, mit unterschiedlichen Dosierungen für Menschen verschiedener Stoffwechselmöglichkeiten.

Jeder kennt das vom Alkohol: Der eine trinkt ein Glas Wein und ist betrunken, der andere eine ganze Flasche und ist noch munter. Einmal abgesehen davon, dass Alkoholiker Toleranz entwickeln, gibt es vererbte und genetisch verankerte Unterschiede in der Effektivität von Enzymwegen, die Substanzen wie Alkohol und eben Medikamente abbauen oder für eine begrenzte Zeit verfügbar halten. Im Prinzip ist jeder Mensch anders, und die Pharmakologie hat das erkannt. Beim Alkohol wissen wir meist aus Erfahrung, wie viel wir vertragen. Doch wie sieht es mit einem neuen Medikament aus? Hier muss geforscht werden. Man benötigt sogar sehr viel Forschung, um solche Dosierungsfragen sicher beantworten zu können.

Ich bin auf das Thema Homöopathie und Komplementärmedizin durch meine eigenen Erfahrungen gestoßen. In meinem Studienort Freiburg gab es eine Gruppe von Medizinern, die den alten Dr. Gerhard Köhler zu Vorlesungen einlud. Dr. Köhler war seinerzeit ein bekannter homöopathischer Arzt aus der Leipziger Schule, die noch auf Samuel Hahnemann (1755–1843), den Begründer der Homöopathie, zurückgeht. Ich ließ mich mitziehen und war fasziniert davon. Wenn dieses Gedankengebäude und die damit verbundene Erfahrung auch nur ansatzweise richtig sind, dann muss in unserem medizinischen System irgendetwas ziemlich Grundlegendes falsch sein. Das wurde mir schnell klar. Die meisten Rationalisten unserer Tage ziehen bekanntlich die umgekehrte Schlussfolgerung: Weil die Homöopathie all unserem momentanen Wissen so diametral entgegensteht und vielen unserer Glaubenssätze widerspricht, könne sie selbst nur falsch sein.

Ich war an diesem Aspekt interessiert, weil mir schon damals dämmerte, dass man mehr aus Einsichten und Befunden lernt, die unserer Erwartung entgegenlaufen, als aus dem, was sie bestätigt. Außerdem fügte sich die Maxime der Homöopathie, mit möglichst wenig pharmakologischen Eingriffen die Selbstheilung anzuregen, gut in meine eigene grundlegende Einsicht. Als ich dann einmal ein hartnäckiges Problem hatte – eine immer wiederkehrende chronische Kehlkopfentzündung mit Heiserkeit –, probierte ich die Homöopathie selbst aus. Die Effekte waren, gelinde gesagt, sehr verblüffend. Ich habe dann in der Folge verstanden, dass vermutlich fast alle Homöopathen wiederum ihren eigenen Selbstmissverständnissen aufsitzen, wenn sie denken, die Homöopathie ist wie konventionelle Pharmakologie, nur ein bisschen subtiler. Die Homöopathie funktioniert zwar in der Praxis sehr gut, aber höchstwahrscheinlich nicht auf kausalen Wirkungspfaden von derselben Art wie die der Pharmakologie. Vermutlich steckt dahinter nämlich ein noch nicht verstandenes Wirkprinzip. Es gibt also womöglich noch viel weiter greifende Therapieprinzipien, und die Homöopathie ist zwar ein sehr gutes, aber beileibe nicht das einzige Beispiel dafür, wie man Selbstheilungsprozesse steuern und nutzen kann.

Eine wichtige Erkenntnis aus der Beschäftigung mit der Homöopathie lautet, dass die vielleicht heilsamste Handlung von allen die ist, einmal nichts zu tun. Zu Zeiten der Choleraepidemien Ende des 18. und im 19. Jahrhundert verbreitete sich die Homöopathie gerade in ganz Europa. Denn die Patienten in den homöopathischen Krankenhäusern starben fast nie, hingegen war die Todesrate in konventionellen Spitälern sehr hoch. Dies ist anhand historischer Akten hervorragend dokumentiert; an der Tatsache selbst gibt es keinen Zweifel.263 Aber warum war das so? Die Homöopathen meinen, es hinge mit den homöopathischen Arzneien zusammen, die verabreicht wurden. Genauere Analysen zeigen, dass dies vermutlich falsch ist.87 Aber die Homöopathen taten etwas, das die konventionellen Spitäler nicht taten: Sie unterließen zum einen den schwächenden Aderlass, der die ohnedies dehydrierten Patienten noch mehr schwächte. Zum anderen gaben sie den Patienten so viel Wasser, wie sie wollten, während ihre konventionellen Kollegen der Meinung waren, man müsse den dauernden Durchfall sozusagen durch Wasserentzug austrocknen. Damit taten diese genau das Falsche und die Homöopathen genau das Richtige. Sie ließen nämlich den Selbstheilungskräften freien Lauf, gaben dem natürlichen Bedürfnis der Patienten nach Wasser Raum, taten nichts, was noch weiter schwächte, und taten dafür etwas, von dem sie dachten, es hilft: Sie verabreichten eben ihre Kügelchen und außerdem Kampfer, der desinfizierend wirkte. Damit nahmen sie selbst eine therapeutische Haltung des »Wohl-Wollens« ein, und schon war das Wunder vollbracht: eine fast hundertprozentige Überlebensrate. Der eigentliche Trick: nichts zu tun, und dies mit Wohlwollen.

Als ich einmal eine sehr schmerzhafte Ischiasentzündung hatte, die es mir schwermachte zu sitzen und die allen physiotherapeutischen, homöopathischen und konventionellen Interventionen widerstand, ging ich in mich, sagte ein paar Reisen ab und setzte mich trotz der Schmerzen auf mein Meditationskissen. Es gelang mir, mich in eine sehr tiefe Versenkung zu begeben. Währenddessen war es mir, als wäre ein Schalter umgelegt worden, und die Schmerzen waren weg – dauerhaft und sofort. Sie sind seither nie wiedergekommen. Das hat mich gelehrt, wie wichtig das Bewusstsein, die Steuerung des Bewusstseins und das Treffen von Entscheidungen im Genesungsprozess sind.

Dem Ahnherrn der westlichen Medizin, Hippokrates von Kos, wird der Ausspruch zugeschrieben: »Deine Nahrung sei deine Medizin, deine Medizin sei deine Nahrung.« Der Ausspruch kommt zwar so nicht bei Hippokrates vor, aber der Sinn 114, S. 205ff.. Damit hat Hippokrates vor mehr als 2000 Jahren etwas gesehen, das wir uns heute mühsam neu erarbeiten: dass die Ernährung der Boden für die Gesundheit und auch gleichzeitig das Therapeutikum par excellence ist. Heute beginnen große, lang dauernde Kohortenstudien, die Hunderttausende von Patienten über lange Zeiträume beobachten festzustellen, wie wichtig gesunde Ernährung ist und dass ihr Einfluss stärker ist als der Einfluss der wichtigsten uns bekannten Schadstoffe. Warum hat es so lange gedauert, bis sich unsere Wissenschaft diesen Fokus erobert hat? T. Colin Campbell, einer der Nestoren der US-amerikanischen Ernährungsforschung, dessen China-Studie wir später noch genauer beleuchten werden, sagte dazu: »Warum nimmt das Medizinsystem Ernährung nicht ernst? Vier Worte: Geld, Ego, Macht, und Kontrolle«.33, S. 321 Mit der Erkenntnis über Ernährung gewinnt man normalerweise weder Nobelpreise, noch kann man damit viel Geld verdienen.

Aus wissenschaftlichem Interesse und aus kollektiver Profitgier liegt der Schwerpunkt der Forschung derzeit vor allem auf der Aufklärung der genetischen Erkrankungsgrundlagen und auf den möglichen pharmakologischen Interventionen, mit denen diese Grundlagen verändert werden könnten. Man richtet sein Augenmerk auf das schwer Beeinflussbare und übersieht das Einfache und Naheliegende. Alle Gene, bis auf ganz wenige Ausnahmen, benötigen immer die Interaktion mit der Umwelt, um überhaupt zum Ausdruck zu kommen. Und dann bestimmt die Art der Umwelt und der Interaktion, wie genau sie zum Ausdruck kommen. Diese sogenannte Epigenetik – also das, was die Genetik überformt – kommt erst langsam, aber umso eindringlicher ins Blickfeld der Forschung. Für unser Thema äußert sich das so: Wir können unser Erbe nur sehr schwer beeinflussen, aber wir können unsere Umwelt, unser Verhalten und die Umstände bestimmen, unter denen unser Erbe sich ausdrückt. Die Betonung dieses Buches liegt genau auf dem, was wir selbst tun können, vielleicht sogar sollen, um die Bedingungen fürs Gesundbleiben zu schaffen und dem Organismus dabei zu helfen, Gesundheit wiederherzustellen, wo sie temporär verloren gegangen ist.

 

Was geschieht, wenn wir das, was wir bislang als das Wichtigste angesehen haben – das aktive, kausale Eingreifen in einen Krankheitsprozess –, einmal in den Hintergrund stellen und das, von dem wir dachten, es sei nebensächlich – die Selbstheilungskräfte des Organismus – ins Zentrum? Was sehen wir, wenn wir nicht auf die feinen Details der kausalen Analyse blicken, sondern auf das große Bild des Gesamtzusammenhangs? Welche Einsichten können wir gewinnen, wenn wir uns nicht den vorrangig diskutierten Themen der Medizin und der Wissenschaft zuwenden, die derzeit so »sexy« sind – wie etwa der Nanotechnologie, der Neurowissenschaft, der Genetik –, sondern den Themen, die von den Großen und Mächtigen in Politik und Wissenschaft eher belächelt werden? Fragen, die sich aus der komplementärmedizinischen Erfahrung ergeben, aus der Placeboforschung, aus der Ernährungsforschung oder aus dem Bereich der Meditationsforschung? Wenn wir den Blick verändern und auf das schauen, was wir bislang nicht beachtet haben? Vielleicht, so meine Vermutung, müssen wir sogar den gesamten Denkrahmen ändern. Warum und wie das geht, sehen wir im nächsten Kapitel.

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3. Wir sehen nur, was wir kennen – die Bedeutung von Voraussetzungen

Wir sehen meistens nur, was wir kennen und erwarten. Es gibt ein berühmtes kleines Video, das ich gerne zeige, um diese Behauptung zu illustrieren.108 Es stammt von der Arbeitsgruppe »Kognitive Psychologie« an der Harvard University.278 Weil Sie hier ein Buch vor sich liegen haben und keinen Bildschirm, kann ich das Video hier nur erklären und Sie ermuntern, es sich selbst anzuschauen (Der unsichtbare Gorilla auf youtube). Nur wird dann leider der Effekt weg sein. Ich habe das Experiment oft mit verschiedenem Publikum ausprobiert. Daher müssen Sie mir jetzt bitte einfach glauben, dass das, was ich jetzt sage, stimmt.

Auf diesem kurzen, knapp zweiminütigen Video spielen auf sehr engem Raum in einem Treppenhaus zwei kleine Gruppen von je drei Studenten mit einem Ball. Eine Mannschaft trägt weiße Trikots, die anderen drei haben schwarze Hemden an. Jede Gruppe hat einen Basketball. Den passen die Spieler über den Boden oder über die Luft einem Mitglied ihrer eigenen Gruppe zu. Weil der Raum so eng ist, laufen sie natürlich durcheinander, und es ist nicht ganz einfach zu sehen, was geschieht. Wenn man nun dieses Video ansieht, ohne dass man auf irgendetwas Spezielles achtet, dann sieht man, wie ein weiterer Akteur auftritt. Es ist jemand, der ein schwarzes Gorilla-Kostüm trägt. Er stellt sich mitten ins Bild, trommelt sich auf die Brust, wie Gorillas das halt so machen, und geht dann langsam und ohne Hektik nach links aus dem Bild. Währenddessen spielen die anderen weiter und laufen um den Gorilla herum.

Wenn man nun dieses Video präsentiert und dazu verkündet, es handle sich um eine relativ schwierige Aufmerksamkeitstestung – die Aufgabe sei, die Anzahl der Ballpässe nur der weißen Mannschaft zu zählen –, dann geschieht fast immer Folgendes: Das Publikum starrt wie gebannt auf die weißen Spieler und zählt. Dabei wird der ganz offensichtlich auftretende Gorilla von fast allen Betrachtern übersehen. Eine Ausnahme bilden misstrauische Leute, wie Kandidaten einer Psychotherapieausbildung, die immer das Schlimmste und nie das, was man ansagt, erwarten. Die sehen den Gorilla, weil sie implizit ihre Aufmerksamkeit anders einstellen. Warum ist das so? Unsere Aufmerksamkeit wird durch die Vorgabe »Zählen Sie die Pässe der weißen Mannschaft« so fokussiert, dass sie alles andere ignoriert. Wir übersehen dann buchstäblich das, was vor unseren Augen liegt. Jetzt können Sie das Experiment natürlich nicht mehr selbst machen. Aber Sie können das Video herunterladen und es Ihren Freunden und Freundinnen zeigen. Wenn Sie die Anleitung beachten, werden Sie merken, dass der Gorilla tatsächlich sehr häufig übersehen wird.

Wir sehen also nur, was wir kennen und erwarten. Das liegt daran, dass wir uns in unserer Evolution als Organismen in einer komplexen Umwelt möglichst rasch, energiesparend und sicher bewegen lernen mussten: Wir mussten Nahrung finden, uns vor Feinden schützen und möglichst lange leben – zumindest so lange, bis wir unsere Gene an unsere Nachkommen weitergegeben und ihr Heranwachsen bis zu dem Punkt begleitet hatten, an dem sie für sich selbst sorgen konnten. So ist auch unser gesamter Wahrnehmungs- und Denkapparat aufgebaut. Anders als es viele populäre Beschreibungen darstellen, ist unser Wahrnehmungsapparat kein Fotoapparat oder Mikrofon, die ein getreues optisches oder akustisches Abbild unserer Umgebung entwerfen, und unser Gedächtnis ist keine Computerfestplatte, auf der Daten in immer der gleichen Weise aufgezeichnet und nach Bedarf abrufbar sind. Unsere Wahrnehmung und unser Gedächtnis sind konstruktiv. Das heißt, sie bauen aktiv ein Bild der Umwelt auf, wenn wir wahrnehmen, und ebenso, wenn wir uns erinnern, und zwar nur jener Aspekte, die für uns wirklich relevant sind.116 Unsere Aufmerksamkeit spielt dabei eine zentrale Rolle.

Technische Systeme, zum Beispiel ein LCD-Fernseher, bauen Bilder punktweise auf. Wenn nun jedes der 60 Bilder, die pro Sekunde auf dem Bildschirm erscheinen, komplett neu kodiert werden müsste, dann nähme das eine Menge Speicherplatz ein. Was macht der findige Programmierer und Ingenieur? Er kodiert das Bild einmal und dann immer nur noch das, was sich verändert. Das spart Platz und geht viel schneller. Wo hat er die Idee her? Aus seinem eigenen Kopf. Denn so ähnlich funktioniert unser Gehirn. Wir rufen ständig aus dem Gedächtnis das ab, was wir vernünftigerweise erwarten können, und bauen uns so ein Bild der Welt auf – nicht die wahrgenommene, sondern die erinnerte und konstruierte. Wenn es Winter ist, erwarten wir kühle oder kalte Temperaturen. Das spart Zeit, denn wir müssen uns nicht jeden Tag erneut überlegen, welche Art von Kleidung heute wohl zu tragen sei. Menschen mit Alzheimer-Demenz etwa, bei denen zunächst das Kurzzeitgedächtnis und dann auch ältere Gedächtnisinhalte langsam, aber sicher zugrunde gehen, haben genau dieses Problem. Sie können kein beständiges Bild der Welt und ihrer eigenen jüngeren Vergangenheit in ihrem Bewusstsein halten. Darum kann es leicht passieren, dass ein Mensch mit Alzheimer-Demenz an einem strahlend schönen Wintertag, an dem die Sonne bei Minustemperaturen scheint, leicht bekleidet ins Freie geht und dann sehr friert. Er hat nur die Sonne gesehen und vergessen, dass es derzeit Winter ist.

Unser Gedächtnis hat also ein Durchschnittsbild der Welt abgespeichert, die wir anzutreffen erwarten, und unsere Wahrnehmung gleicht diese Erwartung mit der Wirklichkeit ab. Wie bei vielen unserer technischen Systeme wird nur das, was mit dieser Erwartung nicht übereinstimmt, registriert und verarbeitet. Das ist zeit- und energiesparend und kann im entscheidenden Moment von Vorteil sein.

Stellen Sie sich vor, Sie sind der Wächter einer Gruppe von Primaten oder Urmenschen, die am Rande des Waldes im Gras sitzen und Nüsse knacken, die gerade hier unter einem Baum liegen. Sie müssen aufpassen, dass die Gruppe ungestört bleibt. Dafür kriegen Sie dann auch ein paar Nüsse ab. Vor Ihnen liegt eine weite Savannenlandschaft mit hohem Gras. Der Wind zeichnet eine sachte Wellenbewegung über das Gras. Diese ist von einer bestimmten Regelmäßigkeit. Wenn Sie nun auf einen anschleichenden Räuber – sagen wir einen Löwen – achten müssen, was ist die effektivste Art der Wahrnehmung? Ihr Gehirn wird natürlich nicht jeden einzelnen Grashalm, jede Position der Gräser in der Wellenbewegung des Windes immer von Neuem fotografisch verorten. Das würde viel zu lange dauern. Vielmehr wird aus der Wahrnehmung eine Gesamtsituation konstruiert und im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert. Diese Gesamtsituation wird immer wieder jeweils neu mit der aktuellen Wahrnehmung abgeglichen. Wenn nun die erwartete Regelmäßigkeit der Bewegung irgendwo unterbrochen wird (eben weil der Löwe durchs Gras schleicht und dadurch die Gräser plötzlich anders schwingen), dann werden Sie nur diese Unregelmäßigkeit sehen. Und gleichzeitig mit dieser Unregelmäßigkeit »sehen« Sie den Räuber. Ihr ganzer Organismus nimmt ihn wahr, Sie stürmen auf und schreien, sodass Ihre Gruppe sich über die sicheren Baumkronen in den Wald flüchten kann.

Wir können solche Reaktionen in Ansätzen auch bei uns selbst noch beobachten: Wir gehen zum Beispiel in der Dämmerung durch den Park und erschrecken, weil wir plötzlich eine Gestalt vor uns zu sehen meinen. Das Erschrecken funktioniert automatisch, noch bevor wir überhaupt gesehen haben, dass hier gar keine Gestalt steht, sondern einfach ein alter Baum oder ein Klettergerüst auf dem Spielplatz. Das ist deswegen so, weil wir niemals alles präzise wahrnehmen können, bevor wir reagieren müssen. Unsere Wahrnehmung analysiert die Umgebung durch bestimmte Filter, die unsere Aufmerksamkeit vorgibt, und spricht auf bestimmte Schlüsselreize an, denen zufolge wir dann unsere Umwelt konstruieren. In dem konkreten Beispiel tragen die Dämmerung, die Einsamkeit des Parks, vielleicht auch eine Zeitungsmeldung über Überfälle dazu bei, dass wir das Aufmerksamkeitsmuster »Achtung auf Gefahr« aktivieren. Und schon »sehen« wir eine Gestalt, wo keine ist. Wäre allerdings wirklich eine Gestalt da gewesen, hätte eine solche Vorgehensweise selbstverständlich große Vorteile. Bis wir nämlich genau geguckt und uns überlegt hätten, ob Gestalt oder Baum, wäre der Angreifer schon über uns gekommen. Also nehmen wir lieber ein paarmal falschen Alarm auf uns; das ist weniger schlimm als ein einziges Versagen, welches uns im Ernstfall das Leben kosten könnte. Genauso funktioniert unsere Wahrnehmung noch immer, weil sie unserer Gattung geholfen hat, zu überleben und sich zu vermehren.

Unsere Aufmerksamkeit sagt also unserer Wahrnehmung, worauf das Augenmerk zu richten ist. Wenn wir, wie im Beispiel mit dem Gorilla-Basketball-Video davon ausgehen, dass hier zwei Mannschaften Ball spielen und wir Pässe der weißen Mannschaft zu zählen haben, richten wir die Aufmerksamkeit darauf und blenden aus, was nichts mit dieser Aufgabe zu tun hat. Wir übersehen dann den Gorilla. Wenn wir nur die Aufgabe haben, das Video anzusehen, richten wir unsere Aufmerksamkeit weiter aus und sehen alles – auch den Gorilla. Was der Versuchsleiter mit der Ansage beim Gorilla-Video macht, ist so eine Art kollektiver Hypnose. Er lenkt die Aufmerksamkeit der Gruppe und manipuliert damit das, was gesehen wird. Obwohl der Gorilla da ist, wird er übersehen.

 

So etwas wie eine Ansage des Versuchsleiters findet auch kollektiv in unserer Gesellschaft statt, und zwar in allen möglichen Bereichen. Es funktioniert auch hier sehr gut, vor allem im Bereich der Gesundheit. Die generelle Suggestion, wie wir Gesundheit und Krankheit zu betrachten haben, bestimmt, was wir tatsächlich sehen – und vor allem, was wir übersehen, obwohl es vor unseren Augen liegt. Was kollektiv die Funktion der Wahrnehmungssteuerung und Aufmerksamkeitslenkung übernimmt, ist das, was Wissenschaftler manchmal »Paradigma« nennen. Ich möchte hier den Begriff »implizite Voraussetzungen« verwenden, in Anlehnung an den britischen Philosophen Robin G. Collingwood (1889–1943), der ihn geprägt hat;43 ausführlicher habe ich darüber in meinem Wissenschaftstheorie-Lehrbuch geschrieben.321

Unsere Erwartung bestimmt also im Verein mit unserer Aufmerksamkeit, was genau wir wahrnehmen, und vor allem, was wir aus der Wahrnehmung ausblenden. Wir denken zwar, dass wir die Welt klar wahrnehmen: Wenn wir am Meer sind, ist das so wunderschön beruhigend. Wir hören das Rauschen der Wellen und den wiederkehrenden Rhythmus der Brandung. Aber hören wir auch den tiefen und lauten Infraschall der U-Boot-Motoren, der sich über viele Hundert Kilometer im Wasser ausbreitet und den Walen zur Qual wird? Natürlich nicht, weil wir keinen Infraschall hören können. Wenn wir am Abend auf der Terrasse sitzen, uns in einer lauen Sommernacht an einem Gläschen Wein, einem Gespräch und vielleicht dem leisen Zirpen der Grillen freuen, sagen wir oft: »Wie schön still es am Abend ist; schau mal, wie lautlos die Fledermaus fliegt.« Aber hören wir auch die lauten Ultraschallschreie der Fledermaus, die sie verwendet, um sich zu orientieren und ihre Beute zu orten? Natürlich nicht, denn wir hören keinen Ultraschall. Die Welt erschließt sich uns nur im begrenzten Bereich der Sinneskanäle, die wir besitzen, und nur innerhalb des Spektrums, für das diese Kanäle offen sind. Könnten wir Infraschall hören, wie die Elefanten oder Wale, dann könnten wir deren Warn- oder Klagerufe hören. Könnten wir Ultraschall hören, wie die Fledermäuse, wäre die Nacht für uns ein einziger Radau (und so manches andere auch). Könnten wir ultraviolettes Licht sehen, wie die Bienen, dann hätten wir wohl ein völlig anderes optisches Bild von der Welt. Wären wir für gepulste Mikrowellen sensibel, wir würden vermutlich den allgegenwärtigen Elektrosmog der Mobiltelefone überhaupt nicht aushalten können. Und hätten wir ein Sensorium für radioaktive Strahlung, wer weiß, wie wir die Welt dann empfinden würden?

Wissen Sie, wie viel Prozent unserer Gehirnaktivität darauf gerichtet sind, Signale von außen zu verarbeiten? Schätzen Sie mal! Nein, nicht 30, nicht 20, nicht 10 auch nicht 5 Prozent, sondern ganze 3 Prozent! Der Rest der neuronalen Aktivität des Gehirns dient dazu, jene Rekonstruktionsprozesse der Wirklichkeit vorzunehmen, von denen ich gesprochen habe. Neurowissenschaftler nennen das die »dunkle Energie des Gehirns«.244 Unser sporadischer Kontakt zur Außenwelt überformt lediglich diese kontinuierliche Aktivität zur Rekonstruktion von Wirklichkeit. Das erklärt auch, warum wir den Gorilla übersehen: Unser Gehirn ist gerade mit etwas anderem beschäftigt, nämlich mit dem Zählen der Ballpässe der weißen Mannschaft. Genauso wie im Einzelfall unsere Wahrnehmung gelenkt und begrenzt ist, genauso ist es auch im kollektiven Fall der Wissenschaft.

Diese Begrenzung unserer Wahrnehmung – also letztlich das, was in unserer Welt vorkommen kann und was nicht, was wir als legitimen Gegenstand der Welt betrachten – wird im kollektiven Fall durch die impliziten Voraussetzungen eines »Weltmodells«, eines Paradigmas, vorgegeben. Dieses hat eine doppelte Funktion: Zum einen lenkt es unsere Aufmerksamkeit und sagt uns damit, wo wir hinschauen sollen und wo es sich lohnt zu suchen. Zum anderen blendet es das aus, was vermeintlich unwichtig ist. Das ist, wie fast alles, nützlich und hinderlich zugleich. Es ist nützlich, weil es Ressourcen spart, wenn man nicht überall, sondern nur an bestimmten Stellen nachsieht und wenn man nur nach dem forscht, was einen interessiert. Es ist hinderlich, weil es oft dazu führt, dass man den Gorilla nicht sieht, obwohl er mitten im Bild ist. Ich will das an einer historischen Episode verdeutlichen, die so unglaublich ist, dass ich sie selbst am Anfang nicht geglaubt habe, bis ich es schwarz auf weiß vor mir hatte. Die Episode handelt davon, wie der Herzschlag entdeckt wurde.

Harvey entdeckt den Herzschlag

Wir wissen es alle aus der Schule: Unser Herz pumpt Blut, denn es ist eine Pumpe (unter anderem, vielleicht ist es auch noch ein Beschleuniger und ein Immunorgan und anderes, was wir noch nicht wissen). Die Begleiterscheinung dieser Funktion ist, dass es rhythmisch schlägt. Dies hören wir als Herzschlag. Das war nicht immer bekannt. »Entdeckt« hat den Herzschlag William Harvey (1578–1657), der Leibarzt des damaligen englischen Königs, etwa um 1623 herum. Vorher war, zumindest in Europa, der Herzschlag als physiologische Funktion unbekannt. Harvey experimentierte, unappetitlich für heutige Gemüter, an lebendigen Tieren. Er schnitt Hunde und andere Tiere auf und sah ein pulsierendes, lebendiges Herz. Daraus folgerte er: Das Herz ist eine Pumpe. Plötzlich machte ein Phänomen Sinn, das er vermutlich so wie andere Zeitgenossen schon öfter wahrgenommen hatte, nämlich dieses merkwürdig rhythmische Rumpeln in der Brust anderer Leute, oder das rhythmische Pulsieren, das man bei sich selbst manchmal wahrnehmen kann, etwa wenn man sich körperlich verausgabt hat. Er folgerte: Das ist der Ton des Herzens, wenn es sich rhythmisch ausdehnt und zusammenzieht, um das Blut durch den Kreislauf zu pumpen. Plötzlich muss es wie Schuppen von seinen Augen gefallen sein. Er erkannte: Der Blutkreislauf ist die Konsequenz eines aktiv schlagenden Herzens, das das Blut durch die Gefäße befördert. Das Herz ist ein Pumporgan!

Das klingt trivial für uns. Als er seine Entdeckung jedoch den europäischen Kollegen verkündete, ging ein Aufschrei durch Europa. Einer der damals führenden Köpfe in der Medizin und Philosophie, der Venezianer Emilio Parisano, spottete über Harvey und sagte allen Ernstes: »[…] dass ein Schlag sei in der Brust, den man hören kann, das können wir freilich weder wahrnehmen, noch können wir uns vorstellen, dass es so sein könnte […] außer Harvey leiht uns vielleicht sein Hörrohr […]. Wie soll in der Brust ein Schlag sein, wie ein Ton? … Dass es laut Harvey einen Schlag gäbe […], sodass aus dem Blut ein Schlag folgt und – darüber hinaus – ein Ton, den können wir Taube freilich nicht hören, und es gibt keinen in Venedig, der ihn hört.«239, p. 107

 

Als ich zum ersten Mal von dieser Geschichte hörte – Marcello Truzzi, der Begründer des Journals Skeptical Inquirer hatte sie auf einem Vortrag erwähnt –, war ich extrem skeptisch. Ich bat ihn um seine Quellen. Er schickte sie mir, aber sie waren unvollständig, unbrauchbar und führten, wie so oft in der Wissenschaft, wenn man tiefer gräbt, ins bibliografische Nirwana. Also musste ich selbst graben. Ich wurde fündig in einem Sammelband, der 1647 in Leiden publiziert worden war. Er enthält die Lehre des William Harvey, und, als Kontrapunkt, die seiner Kritiker (weswegen das Buch so dick ist, denn es waren sehr viele), u.a. auch die von Emilio Parisano, die ich oben zitiert habe.

Wie kann das sein? Wie kann jemand allen Ernstes behaupten, es gäbe keinen Herzschlag? Dies ist ein im wahrsten Sinne des Wortes ein schlagendes Beispiel dafür, wie Paradigmen und implizite Voraussetzungen regelrecht verhindern, dass wir das wahrnehmen, was vor unseren Augen liegt. Warum?

Zur Zeit, als Harvey sich Gedanken über den Blutkreislauf machte und experimentierte, galt noch immer im Wesentlichen die von Aristoteles aufgestellte Lehre, die von seinen Nachfolgern übernommen und verfeinert wurde. Nach ihr war das Herz ein Konvektionserwärmer für das Blut. Dieses steige auf, werde durch das Gehirn gekühlt und sinke dann wieder ab. Blutkreislauf erklärt. Kein Herzschlag nötig.

Wir sehen: Die herrschende Theorie macht bestimmte theoretische Vorgaben. Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf bestimmte Gegebenheiten gelenkt und nicht auf andere. Bestimmte Phänomene – hier der Herzschlag – werden nicht wahrgenommen, eben weil sie nicht ins herrschende Bild passen. Wir sollten vielleicht etwas präziser sein: Sie werden vielleicht wahrgenommen, aber der Wahrnehmung wird keine Bedeutung beigemessen. Darum kommt das Phänomen als wissenschaftliche Tatsache nicht vor und wird nicht beachtet.

Wir sehen an diesem Beispiel auch: Zwischen dem Phänomen (also dem, was man wahrnehmen kann, was für uns in unserer Lebenswelt vorkommt) und einer wissenschaftlichen Tatsache