Heimat - Sevastos P. Sampsounis - E-Book

Heimat E-Book

Sevastos P. Sampsounis

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Beschreibung

Was wäre, wenn Sie ihre Augen schließen und versuchen sich ihre Heimat vorzustellen. Was würden Sie sehen? Das Haus ihrer Kindheit? Ihre Familie? Eine Landschaft? Oder erinnern Sie sich vielmehr an ganz bestimmte Gerüche, an Farben, an den Geschmack ihres Lieblingskuchens? Autorinnen und Autoren, die selbst auf der ganzen Welt verteilt beheimatet sind, erzählen von der eigenen Herkunft und den Traditionen. Von den traumatischen Geschehnisse einer Flucht und von der schmerzhafte Sehnsucht, die einen fern der Heimat überfällt. Von den Gründen, warum ein Mensch überhaupt seine Heimat verlassen soll und auf der Suche nach eine Neue geht. Von den positiven, aber auch von verheerenden Konsequenzen. Und von das krankhafte Heimatverständnis – von den Grenzen in der Landkarten, in den Herzen – die dazu führen böses zu denken, böse zu handeln. Kommen Sie mit auf die Reise durch das Land des Selbstwertes. Überqueren Sie den Charakter-Fluss, ersteigen Sie die Berge der Denkweise, erkunden Sie das Meer des Weltbildes und fliegen Sie hoch über die Ideologie hinaus. Sehen Sie, schmecken Sie, riechen Sie, durch die ausgewählten Rezepten und entscheiden Sie selbst, was Heimat für Sie persönlich bedeutet oder bedeuten kann. Willkommen in der Heimat. Version Alpha.

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Heimat - version alpha

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2016 © Größenwahn Verlag Frankfurt am Mainwww.groessenwahn-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. ISBN: 978-3-95771-090-1 e-book eISBN: 978-3-95771-091-8

Sevastos P.Sampsounis (Hrsg.)

HEIMAT

version alpha

Erzählungen,Geheimnisse undRezepte

an allen die sich fragen »Was ist Heimat?«

IMPRESSUM

Heimatversion alpha

Herausgeber

Sevastos P. Sampsounis

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia und Lucida Calligraphy

Covergestaltung / Illustrationen

Marti O´Sigma

Coverbild

Marti O´Sigma

Lektorat

Elisabeth Hanuschkin, Melanie Winter, August-Paul Sonnemann

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Juli 2016

ISBN: 978-3-95771-090-1

e-book eISBN: 978-3-95771-091-8

INHALT

Kolonie der Etiketten

Vorwort: Elisabeth Hanuschkin / Sevastos P. Sampsounis

Meine Heimat: Elsa Pitellos

Eine Fremde Landschaft

Mit einem Ayran-Becher: Mirijam Günter

Ami-Weib: Petra Mitchell

Meine Dolly: Behjat Mehdizadeh

Stammbaum

Heimadresse: Safiye Can

Picknick auf dem Hauptfriedhof: Monika Carbe

Der Tod im Schlachthaus: Thomas Pregel

Die Weihnacht des Obdachlosen: Niki Eideneier

Sweet Applebeach South: Susanne Konrad

Vor der Flucht / Nach der Flucht

Berhinschwarz: Tamara Labas-Primorac

Der blaue Stuhl: Dietlind Köhncke

Die Interviews: Elena Chouzouri

Adja: Kristina Edel

Heimwehäquator

Happy End: Anna Kabana

Das Heimweh ist zollfrei: Andreas Arnakis

Ankunft in Toronto: Panos Ioannidis

Die Geschichte von Yoani Pereira: Peter Nathschläger

Kulturhalbinsel

Die Deutschen essen kein Brot: Agapi Mkrtchian

Milch in Papier: Stefano Polis

Das Ausländerfest: Reha Horn

Oma Christine: Edit Engelmann

aus dem migrationshintergrund weinrebe: Katharina Eismann

Tyrannei der Intoleranz

Der Teppich: Angela Schmidt-Bernhardt

Black-eyed: Jana Walther

Die Pol(l)en fliegen im Frühling: Michalis Patentalis

Das weiße Schiff: Caritas Führer

Meer der Heimfindung

Der erste Schritt: Lea Obermüller

Ein Leben mit zwei Personalausweisen: Sevastos P. Sampsounis

No milk today: Brigitte Münch

Im Zauberland »Almanya«: Hidir Karademir

Heim@Herz-Bucht

wenn der zimt spricht: Tibor Schneider

Verstreute Fäden: Todora Radeva

Das Flamenco-Konzert: Carsten Nagels

Worte und Parole: Venera Tirreno

Nachwortstadt

Die Grundrechte: Grundgesetz für die BRD

irgendwo // nirgendwo: Pamela Granderath

Rezeptregister

Biographische Inseln

Alpha Vorwort

Was wäre, wenn Sie ihre Augen schließen und versuchen, sich ihre Heimat vorzustellen. Was würden Sie sehen? Das Haus ihrer Kindheit? Ihre Familie? Eine Landschaft? Oder erinnern Sie sich vielmehr an ganz bestimmte Gerüche, an Farben, an den Geschmack ihres Lieblingskuchens? Gäbe es zwei Menschen, die bei diesem Versuch das gleiche hören, sehen oder schmecken würden?

Auch die Autorinnen und Autoren dieser Anthologie, die selbst auf der ganzen Welt verteilt beheimatet sind, widmen sich dem Thema Heimat auf ganz unterschiedliche Weise. Sie erzählen von der eigenen Herkunft, dem Zusammenhalt und den Traditionen. Von den traumatischen Geschehnissen einer Flucht und von der schmerzhaften Sehnsucht, die einen fern der Heimat überfällt. Von den Gründen, warum ein Mensch überhaupt seine Heimat verlassen muss und auf der Suche nach einer neuen geht. Von den positiven, aber auch von verheerenden Konsequenzen.

Einige schaffen es, sei es über Generationen hinweg, oder durch Neugierde und Offenheit bezüglich der neuen Umgebung, in der »Ferne« langsam Wurzeln zu schlagen und eine »neue Heimat« für sich zu erschließen. Andere schaffen diesen Schritt nicht und leben weiterhin in der Fremde. Als Fremde.

Und dann gibt es noch von einem »krankhaften« Heimatverständnis zu berichten und von den Grenzen – in der Landkarten, in den Herzen – die dazu führen, dass Menschen aus einem anderen Kulturkreis, einer anderen Religion, die sich der Norm ihrer Umgebung nicht angepasst haben, als abnormal und krank diffamiert werden. Sie werden als Fremdkörper abgestempelt, als Flecken betrachtet. Als Folge werden Reinigungsmethoden zur Beseitigung verwendet.

Doch die Autorinnen und Autoren des Größenwahn Verlags sind hier vertreten, weil sie mit ihren Werken auch die elementarste Form von Heimatgefühl beherrschen: die Heimat in sich selbst. Denn wer seine Heimat nicht an einen bestimmten Ort, ein bestimmtes Haus oder an andere Personen gebunden, sondern in sich sich überall heimisch fühlen.

Kommen Sie mit auf die Reise durch das Land des Selbstwertes. Überqueren Sie den Charakter-Fluss, ersteigen Sie die Berge der Denkweise, erkunden Sie das Meer des Weltbildes und fliegen Sie hoch über die Ideologie. Freie Geister führen Sie sicher durch diese Buchseiten der Möglichkeiten.

Um verstanden zu werden und andere zu verstehen. Über die herkömmlichen Grenzen der Sprachen und Kulturen hinaus – auf ne, Seine. Seien Sie neugierig auf Unserer Heimat. Sehen Sie, schmecken Sie, riechen Sie, die ausgewählten Rezep deutet oder bedeuten kann.

Willkommen in der Heimat. Version Alpha.

Elisabeth Hanuschkin / Sevastos P. Sampsounis selbst entdeckt hat, trägt seine Heimat im Herzen mit sich und kann der Suche nach einer alten-neuen-zukünftigen Heimat. Meine, Dei-

ten und entscheiden Sie selbst, was Heimat für Sie persönlich be-

Januar 2016 / April 2016

Elsa Pitellos

Meine Heimat

Ich bin überall und nirgendwo zuhause. Ich kenne keine Grenzen, nur weite Landschaften und die runde Erde. Ich verstehe nicht, warum ein Land hier anfängt und da aufhört. Ich sehe nur, dass die Menschen überall die gleichen Sehnsüchte haben und keine Grenze der Welt sie ihnen erfüllen kann.

Ich bin in Frankreich geboren, habe die meiste Zeit in Deutschland gelebt und meine Mutter ist Griechin. Meine Großeltern väterlicherseits kommen aus Schlesien – heute liegt das in Polen – und deren Vorfahren waren russische Flüchtlinge. Meine Großeltern mütterlicherseits sind in Ägypten aufgewachsen und meine Ururgroßmutter kam aus Libyen. Hatte ich schon erwähnt, dass ich mich wiederum in Irland pudelwohl fühle? Und das Haus am See in Kanada, wo ich mal Urlaub gemacht habe, könnte auch mein zuhause sein.

Ich kenne keine Grenzen und gehe nur nach meinem Gefühl. Kann ich an einem Ort aufatmen, mich ihm völlig hingeben, bin ich angekommen. Weist mich ein Ort jedoch zurück – unterdrückt mein zartes Wesen – leide ich und krieche in mein Gedankenschneckenhaus. Dort kann ich immer sein. Und Reisegedanken habe ich öfter. Am liebsten auf einen großen Felsen am Meer, wo mich ein bengalischer Tiger besucht, um mich zu beschützen. Die aufregendste Reise sind aber meine Träume. Jede Nacht bin ich woanders, selten ist der Boden spürbar, manchmal bin ich mit dem Flugzeug unterwegs, jenseits irgendwelcher Grenzen. Mein größter Traum ist es, einmal ins Weltall zu fliegen, ohne all den Aufteilungsschnickschnack auf der Erde.

Ich möchte lernen, die Welt als Ganzes zu sehen, nicht in zerlegte Felder. Ich möchte Menschen kennenlernen, nicht Bürger eines Landes. Ich möchte Landschaften sehen, nicht Schilder und Fahnen. Ich möchte all die Vorurteile über Bord werfen und endlich frei atmen können. Ich möchte all die Schubladen verbrennen, in die man Menschen steckt und nie wieder rauslässt. Ich möchte jedem mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen, unabhängig von Beruf, Alter, Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung und Neigung, Krankheit, Ernährungsform und Herkunft. (Falls ich hier noch einen Aspekt vergessen haben sollte, bitte ich dies zu entschuldigen und mir umgehend das fehlende Diskriminierungsmerkmal mitzuteilen, damit ich es mit in die Liste aufnehme.)

Ich liebe das Leben, ich liebe die Welt, und meine liebsten Menschen und geheimnisvollen Orte sind meine Heimat – in Gedanken wie in der Realität.

Mirijam Günter

Mit einem Ayran-Becher

Wenn man die Realität ein paar Tage ignoriert hat, dann kommt einem die Welt da draußen, wenn man sie das erste Mal wieder betritt, völlig unwirklich vor. Ich war wie ein Eremit, der von einem einsamen Berg nach fünfzig Jahren heruntersteigt und merkt, dass die Probleme, über die er all die Jahre nachgedacht hatte, sich von selbst erledigt hatten. Gab es eine Möglichkeit, die Realität für immer zu verlassen, ohne sich umzubringen oder Drogen zu schlucken?

Ich kaufte mir einen Ayran und setzte mich auf die Treppenstufen des Dönerladens. Ein paar Meter entfernt standen zwei Jugendliche. Einer war ein etwas dunkelhäutiger schwarzhaariger Ausländer, der andere Afrikaner. Ob Afrikaner alle Weißen als Europäer bezeichneten? Ich betrachtete sie neugierig, sie sahen ganz gut aus, die beiden. Das fiel den Jungen natürlich auf, und sie lachten zu mir herüber. Ich konnte mich nicht so recht entscheiden, wer von beiden besser aussah. Ich schaute noch mal kurz zu ihnen hinüber. Eigentlich war ich für so was viel zu schüchtern. Bei dem Thema Jungen war ich eine Null. Bisher hatte Jessica das für mich erledigt. Die hatte immer zwei Jungen angesprochen, einen für sich und einen für mich.

»Hallo! Wer bist du denn?«, fragte mich der gut aussehende Schwarzhaarige.

Er sprach normales Deutsch, sogar ohne dieses berühmte ey lan. Ich hatte diesen Typen nie gesehen. In unserer Schule hatte die Parole gegolten, sich nicht mit Ausländern abzugeben. Mit Ausländern meinte man aber keine Holländer oder Schweden, sondern Türken oder Araber. Obwohl Russen auch nicht sonderlich beliebt waren. Man sollte sich nicht von ihnen ansprechen lassen, hieß es. Angeblich wollten die immer nur Stress. Oder Sex. Einige Mädchen aus meiner Klasse, erzählten immer, dass man als Mädchen für die eh nur eine Nutte war. Nur zum Ficken gut.

Ich sagte nichts.

»Warum gibst du uns keine Antwort?«, fragte der Afrikaner.

Ich schwieg.

»Wahrscheinlich ist sie was Besseres«, vermutete sein Kumpel. Ich war zu schüchtern, aber das konnte ich ja schlecht sagen.

»Ich muss sowieso los. Hab eh keinen Bock auf Mädchen, die sich für was Besseres halten. Das habe ich nötig wie trocken Brot.« Der bestaussehende Afrikaner, den ich je in meinem Leben gesehen hatte, ging wegen meiner Schüchternheit. Super, Nicki, dachte ich.

»Darf ich mich neben dich setzen?«, versuchte es sein Kumpel.

»Nein!« Heute schlug ich alle in die Flucht. Was war nur mit mir los? Vielleicht war ich depressiv. Ich hätte den Beipackzettel nicht wegschmeißen sollen. Vielleicht hatte mir der Arzt ja sogar ein Mittel gegen Doofheit aufgeschrieben.

»Oh, du kannst ja sprechen. Warum darf ich mich nicht neben dich setzen? Weil ich Ausländer bin?« Er sah mich belustigt an.

»Weil sich niemand neben mich setzen darf.«

»Ich will nur mit dir reden. Wirklich. Ich will dich nicht ins Bett kriegen. Jetzt guckst du so erstaunt. Meinst du, ich wüsste nicht, was über uns erzählt wird? Aber ich bin nicht so.«

»Natürlich nicht.«

Ich dachte an die Weiber in meiner Klasse, ihre Horrorgeschichten, die sie über Ausländer erzählten. Erst machen sie einen betrunken, dann vergewaltigen sie einen. Dann holen sie ihre drei Brüder und sieben Onkel und zünden dir deine Villa an. Wegen der Ehre. Jessica war die Einzige gewesen, die dagegen etwas sagte. Schon allein das machte sie zum Außenseiter. Was dachte ich? Ich hatte keine Meinung, wie so oft halt. Ich kannte keine Ausländer. Man hatte nichts miteinander zu tun. Jeder blieb unter sich. Vielleicht gab es deswegen diese Vorurteile. Man kannte sich einfach nicht, selbst wenn man ein Klassenzimmer miteinander teilte. Daran sollte ich vielleicht mal was ändern. Ich konnte mich mit diesem gut aussehenden Typen ja mal unterhalten. Wenn er mir wirklich an die Wäsche wollte, bekam er was auf die Fresse. Außerdem hatte ich ja keine Villa.

»Hi, sorry, das ist nichts gegen dich. Ich bin gerade nicht gut drauf. Wirklich.«

»Was ist? Hast du Probleme?« Er sah nicht so aus, als wenn ihn das interessieren würde.

»Das könnte man so ausdrücken.«

Er lachte, allerdings nicht freundlich, sondern verbittert. Seine Augen waren die traurigsten Augen, die ich je gesehen hatte. Ich schaue immer bei fremden Menschen als Erstes auf die Augen. Es gibt die traurig treuen Augen, die strahlend zuversichtlichen, die verzweifelt trotzigen und die explodierend freudigen Augen. Diese Augen haben all die Menschen, auf die Verlass ist. Alle anderen schauen anders, von diesen Leuten sollte man sich fernhalten. Jessica hatte explodierend freudige Augen gehabt, Rainer hatte trotzig treue Augen. Er hielt sich halt nie an meine Regeln. Er war eine Mischung, in seiner ganzen Person. Dieser Typ, der vor mir stand und verbittert lachte, dessen Augen konnten mich nicht belügen.

»Was hast du denn für Probleme? Schlechte Noten? Ärger mit den Eltern? Stress mit der besten Freundin?« Er klang komplett abgenervt.

»Nein, solche Probleme hatte ich nie.«

»Was kann denn ein Mensch wie du für Probleme haben? Was kann dir schon groß passieren? Also, was ist los? Willst du länger in die Disco, und deine Mama gibt keine Erlaubnis dafür? Oder mehr Taschengeld? Kauft dir dein Vater vielleicht nicht die Jeans, die alle in deiner Klasse haben, und du bist jetzt mega-out? Was für ein sagenhaft großes Problem kann jemand wie du haben?«

Was war los mit ihm, hatte ich ihm was getan? Er fragte doch mich, keiner zwang ihn. Wenn ihn das nervte, sollte er aufhören, Fragen zu stellen. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht, sah zu ihm hoch.

»Ich denke kaum, dass dich das interessiert.«

»Du täuschst dich, mich interessiert es brennend, was eine Wohlstandsgöre wie du für schlimme Probleme haben könnte. Musst du immer einkaufen gehen? Auf deinen kleinen Bruder aufpassen? Den Müll rausbringen? Oder, ganz schlimm, dein Zimmer selber aufräumen?«

Was sollte das? Wollte er mich verarschen?

»Ich habe keinen kleinen Bruder. Die anderen Sachen, die du aufgezählt hast, sind für mich kein Problem.«

»Also, was hast du für Sorgen, es interessiert mich wirklich?« Das klang jetzt nicht mehr genervt, sondern aggressiv.

»Wieso willst du das unbedingt wissen?«

Er lachte verächtlich.

»Weil ich immer wieder fasziniert davon bin, was die Leute hier für Sorgen haben. Was sie als Problem ansehen. Drei Viertel der Menschheit würden sich über deine Sorgen totlachen. Denk mal drüber nach, falls du denken kannst. Zähl mal deine Privilegien auf. Du hast ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, du kannst zur Schule gehen, du kannst hier jede Religion ausüben, die du für richtig hältst, du darfst für oder gegen das System sein, als Frau darfst du eine Ausbildung machen und deine eigene Meinung frei äußern. Alles, was du hast, haben Millionen von Menschen nicht. Egal, was du für Sorgen hast, drei Viertel der Menschheit würden diese Sorgen nicht verstehen können, sie würden darüber lachen. Weil es Wohlstandssorgen sind. Du kannst kein wirkliches Problem haben, verstehst du?«

Na, wenn er das doch alles so genau wusste, warum stellte er dann überhaupt Fragen?

»Bist du Politiker?«

»Nee, aber ich würde gerne Politik studieren. Geht aber nicht. Also, was ist? Was hast du für ein Problem, denk an die drei Viertel der Menschheit und sag mir dein lachhaftes Problem.«

Jetzt stand er mit verschränkten Armen da, sein Gesichtsausdruck war entschlossen, er wartete darauf, dass ich ihm recht gab. Nur seine Augen blieben traurig.

»Also, ich kann mir nicht denken, dass drei Viertel der Menschheit über meine Sorgen lachen würden«, sagte ich mit fester Stimme und sah in seine Augen.

Jetzt war er verdattert. Passte wohl nicht in sein Weltbild. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hosentasche.

»Darf ich mich vielleicht jetzt neben dich setzen?«, sagte er ruhiger.

»Von mir aus.« Ich rutschte ein wenig zur Seite.

Er bot mir eine Zigarette an, eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und rauchten.

»Erzählst du mir, was dich bedrückt?«

Ich konnte aus dem Augenwinkel heraus seine traurigen Augen sehen. Ich brauchte ein Foto von ihm. Das würde gut in mein Zimmer passen.

»Erzählst du es mir, bitte?«, flüsterte er fast.

Wieso sollte ich das tun, einem wildfremden Menschen von Jessica erzählen? Wieso sollte ich das tun? Einem Menschen, den ich heute das erste Mal gesehen hatte und den ich wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Wenn man eine Sache oft erzählte, war sie irgendwann wahr. Ich wollte nicht, dass wahr wurde, was geschehen war.

 

›Kalte Ayransuppe‹

Zutaten:

1 l gekühlter Ayran, 5 Scheiben trockenes Bauernbrot in kleine Würfel geschnitten, 2 Tassen feingeschnittene Kräuter (Basilikum, Koriander, Minze, Zitronenmelisse, Petersilie, Rucola, Brunnenkresse), 5 Knoblauchzehen in feine Blättchen geschnitten, 2 Frühlingszwiebeln in feine Ringe geschnitten, frisch gemahlener Pfeffer, 2 EL Zitronensaft, 1 EL Zitronenabrieb.

Zubereitung:

In einer große Suppenschüssel Brotwürfel, Kräuter, Knoblauch, Frühlingszwiebel und Zitronenabrieb mischen. Aryan zufügen, mit Pfeffer und Zitronensaft abschmecken, umrühren und im Kühlschrank ca. 10 Minuten ziehen lassen. Schüssel mit Suppenkelle am Tisch stellen und kalt servieren.

Tipp:

Ayran und Brot beinhalten Salz. Aus diesem Grund ist das Rezept ohne Salzangaben aufgeführt.

Petra Mitchell

Ami-Weib

Das Thermometer zeigte über 30 Grad – ein heißer Sommertag im Juni 1947. Im Hinterhof eines Hauses in fränkischem Baustil war meine Mutter damit beschäftigt Wäsche aufzuhängen, als ich mich ankündigte. Meine Großmutter, die gerade ein Betttuch auf dem Waschbrett hin und her walkte, kam ihr schnell zu Hilfe. Mein Großvater holte sein Fahrrad, welches wie durch ein Wunder den Krieg überlebt hatte, aus dem Bretterschuppen und trat in die Pedale. Sein Weg führte ihn zu Friedhofswärter Hiller, der als einziger in der Gegend über ein Telefon verfügte. Wenig später kam das herbeigerufene Taxi, ein schwarzer Mercedes mit dem typischen Dieselgetuckere, den holprigen Weg heruntergefahren und Mama war mit mir unterwegs zum Krankenhaus.

»Ach Gott na … a Madla! A nu!«, entfuhr es meinem Großvater im breitesten fränkischen Dialekt. Er meinte mich – stramme 51 cm in Länge, 3500 g auf der Waage. In meiner Geburtsurkunde stand:

Geburtsdatum: 4. Juni 1947; Name des Kindes: Petra Anna; Name der Mutter: Helene Weigand, Beruf: Laborantin; Name des Vaters: Peter Fontano (U.S. Soldat – Aufenthalt unbekannt)

Vom ersten Tag an war ich ein Problem. Ich war nämlich illegitim – das Kind eines amerikanischen Besatzungssoldaten. In den Augen der Leute ein Bastard des Feindes. Meine Mutter Helene zählte fast 22 Lenze als ich mich ankündigte. Von meinem Vater Peter gab es leider kein Lebenszeichen. Mein erstes Bett war ein Weidenkorb. Mein Großvater hatte aus der Brauerei Bretter von Bierfässern mitgebracht und eine ansehnliche Schaukel gezaubert, auf der der Babykorb montiert war. Bald darauf gesellte sich ein Kinderwagen dazu, der mit Lucky Strike-Zigaretten bezahlt wurde. Der Club-Manager hatte sie spendiert und obwohl mein Großvater eine Heidenangst hatte, damit erwischt zu werden, riskierte er doch einen Besuch auf dem Schwarzmarkt. Schnell hatten die Zigaretten einen Abnehmer gefunden und ich kam in den Genuss einer täglichen Spazierfahrt.

Wochentags spielte sich alles in der Küche ab. Dort stand ein großer eiserner Herd auf kunstvoll geschwungenen, gusseisernen Beinen. Er wurde mit Holz oder Briketts beheizt. An der Vorderseite hatte er eine große Klappe, die die Bratröhre verschloss, unmittelbar daneben konnte man ein Türchen öffnen und die Holzscheite oder Briketts hineinschieben. Oben auf der Herdplatte befanden sich runde Öffnungen, die mit Ringen zugedeckt waren. Wenn man die Ringe herausnahm, konnte man das Feuer von oben sehen. Je nachdem welche Topfgröße gerade benutzt wurde, wurden die Ringe dann herausgenommen und der Topf daraufgesetzt. Auf der linken Seite war ein Wasserfass eingelassen, so dass ständig heißes Wasser vorhanden war. Ein dickes Ofenrohr, welches einmal im Jahr mit Bronzefarbe gestrichen wurde, mündete in den Schornstein.

Im Küchentisch befand sich unter der Platte eine Ausziehvorrichtung, die zwei Emailleschüsseln zum Vorschein brachte. Hier wurde nach dem Essen der Abwasch erledigt. Das Wasser mussten wir vom Brunnen im Hof holen. Da es keinen Kühlschrank gab, wurden die Lebensmittel in einem Speiseschrank aufbewahrt, der zur Hauswand hin offen und mit einem Fliegengitter versehen war. Vorräte gab es sowieso kaum, da fast alles täglich nach Verfügbarkeit beschafft werden mussten Die Lebensmittel waren rationiert, so wurden einer vierköpfigen Familie wöchentlich Essensmarken für z.B. 250 Gramm Butter und 500 Gramm Rindfleisch zugeteilt.

Ich war gerade ein Jahr alt und bereits kräftig auf den Beinen, als ich das erste Mal unangenehm auffiel. Es war Sonntag, der Tag an dem im Wohnzimmer am großen Tisch gegessen wurde. An diesem Sonntag hatte Großmutter Rindfleischsuppe mit Nudeln auf dem Speiseplan. Den Nudelteig hatte sie tags zuvor bereits zubereitet und über Nacht wie auf der Wäscheleine zum Trocknen aufgehängt. Jetzt wurde er nur noch mit einem Metallrädchen in feine Streifen geschnitten. Während Großmutter mit den Nudeln beschäftigt war, entschloss ich mich, meinen Teil zum sonntäglichen Ritual beizutragen und schaffte es, die Tür zum Speiseschrank zu öffnen. Mein Hund Putzi fand dies ebenfalls aufregend, waren es doch ganz spannende Gerüche, die ihn in den siebten Hundehimmel hoben. Ich muss mich dann entschlossen haben, das bisschen Fleisch Putzi anzubieten und somit gab es an diesem Sonntag »blinde«, also fleischlose Suppe. Zu allem Unglück stellte Mama ein paar Tage später fest, dass ich wahrscheinlich das rohe Fleisch fair zwischen Putzi und mir geteilt hatte, da unser Hausarzt eine Mundfäule diagnostizierte.

Mein Großvater hatte die Geduld eines Engels. Nichts war vor mir sicher, aber egal was ich anstellte, Opa brachte es in Ordnung. Schon sehr früh machte er meine Mutter darauf aufmerksam, dass ich wohl besser ein Junge geworden wäre. Er tat auch das Seine dazu, denn jeden Sonntagvormittag setzte er mich in meinen Lucky Strike-Kinderwagen, der inzwischen zum Sportsitzer umfunktioniert worden war, und wir gingen zusammen zum Fußballplatz.

Als ich vier Jahre alt war und kräftig mit Großvaters langen Schritten mithalten konnte, erlebte ich sehr spannende Spaziergänge, denn der Weg zum Sportplatz führte uns unmittelbar an der amerikanischen Kaserne vorbei. Opa wettete mit mir, dass er mehr Zigarettenstummel finden würde als ich. Das regte natürlich meinen Ehrgeiz an. Ich rannte an dem mit Stacheldraht gekrönten Zaun entlang und sammelte eifrig jeden Stummel auf. Die Wachposten, die am Zaun entlang patrouillierten, flippten ihre Zigaretten durch den Maschendraht auf den Schotterweg. Komisch, Großvater fand nie welche und ich freute mich immer über meine Beute. Am Nachmittag beobachtete ich, wie er genüsslich den Tabak in eine kleine Blechdose kratzte, neue Zigarettenpapierchen herausholte und mit geschickten Fingern eine Zigarette nach der anderen drehte. Das Dumme war nur – ich konnte mich von diesem Hobby nicht mehr trennen – es sollte viele Jahre dauern, bis ich mich beherrschen konnte, keine Zigarettenkippen mehr vom Straßenrand aufzuheben.

Mein Lieblingsspiel war »Kutscher auf dem Wagen«. Dazu befestigte ich an den kunstvoll gedrechselten Esszimmerstühlen an beiden Seiten ein Seil als Zügel, hievte ein Kissen auf den Tisch, der als Kutschbock diente und mit den Füßen auf das Sitzpolster gestemmt, trieb ich mit einem lauten »Hüh« meine Pferde an. Wenn die Pferde aber nicht so richtig laufen wollten, trieb ich sie noch lauter an, ließ die Zügel klatschen und hüpfte auf dem Kutschbock auf und ab.

Mein Großvater war zu dieser Zeit schon sehr krank, denn seine Kriegsverletzung schwächte ihn mehr und mehr. Seine Warnungen, meine Lautstärke zu mindern, waren wohl in meinem Geschwindigkeitsrausch untergegangen, denn erst als er von seinem Krankenbett aufsprang, wurde mir bewusst, dass Ärger im Anmarsch war. Ich ließ die Zügel los, hüpfte von meinem Kutschbock, der Stuhl krachte auf die Holzdielen und ich rannte in Panik aus dem Haus. So hatte ich meinen Großvater noch nie erlebt. Deshalb brachte ich auch noch einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen uns, so dass ich im Kartoffelacker landete.

Ich hetzte über die Kartoffelpflanzen, von einer Furche zur anderen, bis ich plötzlich ein komisches Gefühl an den Füßen verspürte. Angst packte mich, als ich feststellte, dass nur noch ein Fuß beschuht war. Meine neuen Sandalen, die meine Mutter mühevoll erstanden hatte, waren nur noch ein halbes Paar. Sie rief mir zu, ich solle sofort aus dem Kartoffelacker herauskommen, aber ich stand da wie angewurzelt. Schließlich setzte sie mir nach und es gab kein Entrinnen mehr. Zum Glück tauchte die andere Sandale nach intensivem Suchen wieder auf, so dass ich sie noch lange tragen konnte, denn im nächsten Jahr wurde das Flechtwerk an der Schuhspitze einfach abgeschnitten, was meine Zehen nach vorne rutschten ließ, und somit waren die Schuhe noch einen Sommer lang gut.

Irgendwann fiel mir auf, dass bei uns etwas anders war als bei anderen Familien. Zum einen wunderte ich mich oft darüber, dass mich Leute sehr intensiv betrachteten oder im Metzgerladen getuschelt wurde, wenn mich meine Mutter zum Einkaufen schickte. Im Sommer gab es immer etliche Feste und als beim Feuerwehrfest Sackhüpfen auf dem Programm stand, da war ich etwas ratlos, denn plötzlich wurde mir bewusst, dass ich keinen Vater hatte, der mit mir Sackhüpfen konnte. Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Als meine Mutter am Abend an mein Bett kam, um mir gute Nacht zu sagen und mir meine Lieblingsgeschichte »Die Häschenschule« vorlas, fragte ich sie einfach: »Warum habe ich keinen Vater, der mit mir Sackhüpfen kann?« Mama argumentierte ich hätte doch meinen Großvater, aber ich war mit dieser Antwort nicht zufrieden, denn ich hatte festgestellt, dass Väter jünger waren als Opas und mein Großvater an dem Tag nicht einmal zum Feuerwehrfest hatte kommen können, weil es ihm sehr schlecht ging. Bestimmt, meinte sie, würde ich eines Tages, genau wie alle anderen Kinder, auch einen Papa haben. Wohl um weitere Fragen meinerseits zu vermeiden, verabschiedete sich schnell für den Abend, um ins Kino zu gehen. Da war ich richtig erleichtert, denn ich stellte mir vor, dass sie vielleicht dort einen Papa für mich finden könnte.

Gerne hätte ich Spielkameraden gehabt, aber aus irgendwelchen Gründen wollte Mama keine Kinder aus der Nachbarschaft zu uns nachhause einladen. Sie erzählte mir von einem schönen Kindergarten, wo es viele Spielsachen und andere Kinder meines Alters gäbe. Kurz danach setzte sie ihren Vorschlag schon in die Tat um, nahm mich bei der Hand und ging mit mir zum evangelischen Kindergarten in der Stadt. Es war ein Gebäude aus großen Sandsteinquartern, mit hohen grünen Holzfensterläden und einem riesigen braunen Holztor. Das Tor war noch unterteilt – als Eingang diente eine kleinere Tür. An der Hauswand war eine kupferne Glocke angebracht.

Als meine Mutter die Glocke betätigte, hatte ich bereits eine Gänsehaut. Was würde mich hinter diesen Mauern erwarten und was wenn Mama mich nicht wieder abholt – wie würde ich dann nach Hause finden? Am liebsten wäre ich weggerannt, die Spielkameraden waren plötzlich nicht mehr wichtig.

Die Tür ging auf und ich sah eine Figur in einem schwarzen Kleid, welches ihr vom Kopf bis zu den Füßen reichte. Unter der Kopfbedeckung lugte ein bleiches Gesicht mit kalten, hellblauen Augen hervor. Erschrocken begann ich zu schreien und krallte mich an meiner Mutter fest. Auf keinen Fall würde ich hier bleiben. Es gelang ihr mit Mühe, sich aus meiner Umklammerung zu lösen, das bleiche Gesicht mit den blauen Augen nahm mich an der Hand und brachte mich in einen Raum mit anderen Kindern. An diesem Tag spürte ich das erste Mal die Panik, allein gelassen zu werden. Nach zwei Stunden hatte ich den ganzen Kindergarten in Aufruhr gebracht und die Schwestern waren wohl heilfroh, als meine Mutter mich wieder abholte. Danach wurde nie wieder das Wort Kindergarten erwähnt.

Zu meinem fünften Geburtstag bekam ich ein Fahrrad geschenkt. Nach dem ersten Sturz auf einem Waldweg war ich unschlagbar. Ich radelte jeden Tag auf den kleinen Wegen in der Nachbarschaft und freute mich immer, wenn es etwas zu besorgen gab. Dann klemmte ich den Einkaufskorb auf den Gepäckständer und fuhr los.

Die Metzgerei Weidinger war nicht weit von unserem Haus entfernt. Meine Mutter hatte mir einen Einkaufszettel geschrieben und das Geld abgezählt. Ich hatte meine Einkäufe bereits im Korb und war auf dem Rückweg. Kurz vor unserem Gartentor sah ich aus dem Augenwinkel, dass ein anderer Radfahrer ansetzte, mich zu überholen. Es war unsere Hauswirtin Frau Bach, vor der ich Angst hatte, weil sie mich immer sehr böse, ja verächtlich, anblickte. Ich wollte schnell in die Hofeinfahrt einbiegen, musste aber warten, bis sie an mir vorbeizog. Als sie mit mir auf gleicher Höhe war, hörte ich ein Geräusch, welches mich an Großvaters Husten erinnerte. Plötzlich spürte ich etwas Nasses in meinem Gesicht. »Ami-Weib!«, zischte sie, als sie mich überholt hatte. Ich stieg ab und tastete vorsichtig mit der Hand an die nasse Stelle. Als ich sie wegzog, war sie voll mit Schleim, der von meinen Fingern tropfte. Auch meine neue rote, von Oma selbstgestrickte Mütze, hatte etwas abgekommen. Es war so eklig.

Was hatte sie gesagt? »Ami-Weib« – was sollte das heißen? Ich rannte nach Hause und erzählte meiner Mutter, was passiert war. Sie war so wütend, wie ich sie noch nie vorher gesehen hatte. Sie holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr Frau Bach hinterher.

Diese war inzwischen schon auf ihrem Bauernhof angekommen, wo sich dann ein lautstarker Streit zwischen ihr und meiner Mutter abspielte. Man konnte die Stimmen aus einer Entfernung von 200 Metern bis zu unserem Haus hören. Als meine Mutter zurückkam, weinte sie. Kurze Zeit später kam Frau Bach mit ihrer Schwester vor unser Haus, wo der verbale Schlagabtausch weiter ging. Ich hörte zum ersten Mal das Wort »Hure« und wieder den Ausdruck »Ami-Weib«. Es musste etwas Schlimmes sein, aber ich hatte viel zu viel Angst zu fragen, was das alles bedeutete. Ich verschob es auf später, wenn sich alles wieder beruhigt hatte.

Noch am Abend, als ich schon in meinem Bett lag, hörte ich Großmutter und Großvater mit Mama diskutieren. Sie versuchten zwar leise zu sprechen, aber meine Kinderohren konnten doch ein paar Wortfetzen auffangen: »Unschuldiges Kind – aus dem Staub gemacht – Hoffnung aufgegeben – braucht einen Vater.« Ich versuchte das alles einzuordnen und kam dann zu dem Schluss, dass ich wohl das Problem sein musste. Plötzlich fühlte ich mich total schlecht, meine Gedanken rasten – Mama war traurig wegen mir. Irgendwas war mit mir, aber was? Ich war für irgendetwas Schuld – ich grub in meinem Gedächtnis, was es sein könnte. In meinem Kopf hämmerte immer noch dieses Wort »Ami-Weib«. Es musste etwas damit zu tun haben.

 

›Amerikanische Pancakes‹

Zutaten:

3 EL Butter, 400 ml Buttermilch, 2 Eier, 250g Mehl, 1 Prise Salz, 3 TL Backpulver, 50 g Zucker, 1. Pck. Vanillezucker, 2 EL Sonnenblumenöl für die Pfanne, Ahornsirup

Zubereitung:

Die Butter schmelzen und beiseite stellen. Buttermilch und Eier in einer kleinen Schüssel verquirlen. In einer großen Schüssel Mehl, Salz, Backpulver, Zucker und Vanillezucker mischen. Die Eiermasse zu den trockenen Zutaten dazugeben und gut mit einem Rührbesen vermischen. Anschließend die zerlassene Butter unterrühren und den Teig etwa 10 Minuten ruhen lassen. Eine Pfanne mit dem Sonnenblumenöl bestreichen und erhitzen. 2 EL Teig pro Pfannkuchen in die erhitze Pfanne geben und glatt streichen. Wenn sich an der Oberfläche Bläschen bilden, den Teig wenden. Von beiden Seiten goldbraun backen. Pancake auf Teller setzen und mit Ahornsirup servieren.

Tipp:

Wer seine Pancakes gerne in Gesellschaft und aller Ruhe isst, sollte zunächst alle Pancakes backen und den Pfannkuchenstapel entweder im Ofen oder auf einer zugedeckten Platte warmhalten und je nach Geschmack mit Beeren, Früchten, Honig oder Marmelade servieren.

Behjat Mehdizadeh

Meine Dolly

Stell das Gepäck da auf die Treppe, ich packe es dann in den »Kofferraum!«, sagte Baba zu Maman und als ob er mit mir gesprochen hätte, stellte ich Dollys kleinen Koffer auf der obersten Stufe ab.

Vor einigen Monaten verkündete Baba, dass wir in den Sommerferien in die Heimat fahren würden. Seitdem wurde in der Familie nur noch über die Heimat gesprochen, über die Reisevorbereitungen und die Geschenke für die Verwandten.

Baba erklärte: »Heimat ist, wo wir herkommen, wo die Urgroßeltern und Großeltern geboren und wo sie zu Hause sind. Maman und ich wurden auch dort geboren, aber später sind wir dann hierher gezogen. Unsere Heimat liegt sehr weit weg, südlich von hier, dort ist es warm und die Menschen sprechen anderes.«

Maman sagte dagegen: »Gott erschafft uns aus der Erde der Heimat, daher sehnen wir uns immer wieder nach ihr und fühlen uns so sehr mit ihr verbunden. Du hast keine Erinnerung an die Heimat, weil du erst zwei Jahre alt warst, als wir hierher kamen. Da ist es wunderschön! Die Sommer sind lang und die engen Gassen duften in der Hitze nach wilden Rosen und der Opiumrauch döst in jedem ihrer Winkel träumerisch vor sich hin. Ach und der Bazar«, schwärmte sie weiter, »wenn du durch den Bazar schlenderst, wecken dich die Düfte der farbprächtigen Gewürze. Dort sind die Nächte kühl und klar und der Himmel ist voller Sterne. Bei Vollmond ist die Nacht so hell, dass man kein Licht an zu machen braucht. Das Essen schmeckt gut und die Menschen sind warmherzig. Übrigens du hast dort viele Cousinen und Cousins, mit denen du spielen kannst.«

Maman beschrieb die Heimat so leidenschaftlich, als ob sie uns ein Märchen von einer anderen Welt erzählte oder gar vom Paradies und dabei konnte ich endlich wieder die Freude in ihren Augen sehen.

Seit einiger Zeit war sie nämlich nicht besonders gut gelaunt gewesen. Immerzu beschwerte sie sich über das kalte Wetter und den vielen Schnee und klagte, dass sie große Sehnsucht nach den Geschwistern und der Familie hätte. Hier sei sie fremd und habe diese kühlen und unnahbaren Menschen satt. Ich habe sie sogar weinen gehört, als sie dachte, sie wäre allein.

Einmal hörte ich meine Eltern in ihrem Schlafzimmer nebenan flüstern. Kurz danach, als das Schnarchen des Vaters allmählich laut wurde, stand Maman auf, kam aus dem Zimmer und schloss leise die Schlafzimmertür. Dann schlich sie in unser Kinderzimmer und schaute nach, ob die Kleinen zugedeckt waren. Ich beobachtete sie heimlich, wie sie in ihrem hauchdünnen weißen Nachthemd durch das Fenster den Vollmond anschaute, und als sie dabei leise ein Gebet sprach und dann den Vorhang zuzog, wünschte ich mir nichts mehr, als dass sie auch nach mir schauen und mir, wenn ich Glück hätte, einen Kuss auf die Stirn geben würde. Aber sie ging weiter in die Küche und beschäftigte sich mit dem noch übriggebliebenen Haushalt und so schlief ich beim Geräusch des klappernden Geschirrs langsam ein.

Während dieses Winters hatte ich unter ihrer Traurigkeit sehr gelitten. Wenn sie morgens bis spät im Bett blieb, und dann, wenn sie endlich mit zerzaustem Haar und dunklen Ringen unter den Augen aus dem Schlafzimmer kam, noch klagte, dass sie die ganze letzte Nacht nicht habe schlafen können und wenn, dann habe sie nur wirres Zeug geträumt. An solchen Tagen, an denen Maman so kraftlos wirkte, ihre Schritte schwer waren und ihre Blicke trüb, summte sie traurig vor sich hin und nahm uns dabei, glaube ich, gar nicht richtig wahr.

Es herrschte eine unheimliche Stille zu Hause, als ob ihre Trauer und Trägheit ansteckend gewesen wären und ich hatte das Gefühl, dass wir Kinder dafür verantwortlich waren. Es störte sie nämlich, wenn wir mal laut spielten.

»Ruhe! Ihr macht mich wahnsinnig! Ich schwöre, ich verlasse Euch, wenn Ihr mir nicht zuhört, wenn Ihr keine braven Kinder seid!«, schrie sie uns einmal voller Ungeduld an.

Ich war sehr erschrocken und hatte auf einmal große Angst, dass sie uns tatsächlich verlassen würde.

Wir spielten weiter und versuchten leiser zu sein. Aber abends im Bett dachte ich immer wieder an das, was Maman gesagt hatte. Meine Angst, dass sie uns tatsächlich verlassen könnte, wurde so groß, dass ich mich entschied, sie auf jeden Fall von ihrem Vorhaben abzuhalten.

Am nächsten Morgen stellte ich mich mit meinen jüngeren Schwestern in einer Reihe auf der Treppe auf, versperrten ihr den Weg und schwörten mit der Hand auf dem Herzen, dass wir nie mehr so laut spielen würden.

Sie lächelte und dabei erstrahlten ihre Augen in Tränen. Das reichte aus, mich zu beruhigen und ich war mir sicher, dass ich sie erst einmal davon abgehalten hatte, uns zu verlassen.

Und jetzt? Jetzt nachdem sie Baba überzeugt hatte, die Verwandten in unserer Heimat zu besuchen, störte es sie auf einmal überhaupt nicht mehr, wenn wir laut spielten; als ob sie ein anderer Mensch geworden wäre.

Sie hatte wieder Lust, morgens früher aufzustehen und sich um uns zu kümmern. Sie zog sich hübsche Sachen an und schminkte sich sogar, kurz bevor Baba nach Hause kam.

»Oh! Maman! Wie schön du bist!«, zwitscherte ich begeistert.

Sie sang während des Kochens fröhliche Lieder und schwang ihre Taille am Herd im Rhythmus der Melodie hin und her. Sie kochte leckere Sachen zum Mittagessen und ich war erleichtert, dass es ihr und mit ihr uns allen wieder gut ging.

Unermüdlich ging sie bei jeder Gelegenheit in die Stadt, kaufte Stoff und nähte für sich und für uns Kleider für die Reise. Sie schleppte Geschenke nach Hause, alles für die unendlich große Verwandtschaft in der Heimat.

Zufällig hörte ich sogar mal einen Streit zwischen meinen Eltern mit an. Dabei versuchte Maman den Vater zu überzeugen, dass er ihr noch mehr Geld für Geschenke geben solle. Da wurde Baba aber sehr wütend und laut:

»Willst du deine Familie besuchen oder sie nur mit Geschenken überhäufen? Wollen wir die ganzen Läden für sie einpacken?«