Heimatkinder 12 – Heimatroman - Verena Kersten - E-Book

Heimatkinder 12 – Heimatroman E-Book

Verena Kersten

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Beschreibung

Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Die junge Reiterin sah den Weg hinunter, riss die Augen weit auf und gab ihrem Pferd die Sporen. Dabei jubelte sie: "Mathias, du bist heute doch gekommen!" Sie zog die Zügel des Pferdes so fest an, dass es sich leicht aufbäumte. Doch da war Imma von Herwig schon abgesprungen und landete in den ausgebreiteten Armen Mathias'. Sie küssten sich stürmisch, und der große, drahtige Mathias sagte: "Ja, Imma, ich habe die ganze Woche gebüffelt, um mit meinem Abschlussexamen nicht ins Schleudern zu geraten und das Wochenende mit dir auf dem Birkenhof verbringen zu können. In München hätte ich es vor Sehnsucht nach dir nicht ausgehalten. Mein Glück liegt eben hier im Allgäu. Aber bald werde ich ja für immer bei dir sein können als Tierarzt und als dein Mann."

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Heimatkinder –12–

Zweifaches Glück auf dem Birkenhof

Ein verlassenes Kind findet endlich ein Zuhause

Roman von Verena Kersten

Die junge Reiterin sah den Weg hinunter, riss die Augen weit auf und gab ihrem Pferd die Sporen. Dabei jubelte sie: »Mathias, du bist heute doch gekommen!« Sie zog die Zügel des Pferdes so fest an, dass es sich leicht aufbäumte. Doch da war Imma von Herwig schon abgesprungen und landete in den ausgebreiteten Armen Mathias’. Sie küssten sich stürmisch, und der große, drahtige Mathias sagte: »Ja, Imma, ich habe die ganze Woche gebüffelt, um mit meinem Abschlussexamen nicht ins Schleudern zu geraten und das Wochenende mit dir auf dem Birkenhof verbringen zu können. In München hätte ich es vor Sehnsucht nach dir nicht ausgehalten. Mein Glück liegt eben hier im Allgäu. Aber bald werde ich ja für immer bei dir sein können als Tierarzt und als dein Mann.«

Immas Augen strahlten, sie liebte Mathias Simon sehr. »Ich habe auch eine Überraschung für dich, Mathias«, sagte sie. »Du wirst staunen – unser Tierarzt in Bachhausen stellt dich nach deinem Examen ein. Das hat er mir versprochen.«

Mathias fasste Imma um die Taille und schwenkte sie übermütig im Kreis. Als er sie wieder auf die Füße stellte, strich er ihr zärtlich über die Wangen. »Wie tüchtig du bist mit deinen vierundzwanzig Jahren. Obwohl du dich auf dem Birkenhof so plagen musst, um dir eine Pferdezucht aufzubauen, hast du mir auch noch eine Stelle verschafft.«

»Blanker Egoismus.« Imma lachte, während sie weitergingen und das Pferd hinter ihnen dreinzottelte. »Ich will dich doch bald bei mir haben. Dann erst wird das Leben auf dem Birkenhof so schön sein, wie ich es mir erträume.«

»Aha«, neckte Mathias, »der alte Karl genügt dir nicht mehr.«

»Sag nichts gegen Karl, Mathias. Du weißt, dass ich es ohne ihn hier nicht schaffen würde. Er ist der Treueste der Treuen, Faktotum für alles und mein Vertrauter. Er wird nie vergessen, dass er mich schon als Kind beschützt hat, als wir noch auf dem Gut am Chiemsee waren.« Flüchtig legte sich ein Schatten über Immas Gesicht.

»Bist du noch immer traurig, dass ihr das Gut verloren habt? Durch die Schuld deines Vaters?«, fragte Mathias.

»Nein, traurig bin ich deshalb nicht mehr«, sagte Imma, »manchmal stimmt es mich nur etwas wehmütig. Das wird allen Menschen so gehen, die den Platz ihrer Kindheit und Jugend verloren haben. Ich möchte auch nicht, dass du meinen Vater so beschuldigst. Ja, er war leichtfertig und hat sich um das Gut kaum noch gekümmert, aber das kam nur daher, dass er Mutters Tod nicht verwinden konnte.«

»Aber du hast es schwer mit deinem Vater, Imma. Die meiste Zeit ist er bei deiner Tante und deinem Onkel auf Gut Bodenwerder im Taunus. Er ist ein Eigenbrötler geworden, der auch nicht mehr mit zupacken will trotz seiner erst sechzig Jahre. Du bekommst das doch auch immer wieder zu spüren, wie lebensuntüchtig er ist, sobald er dich besucht.«

»Ja, das stimmt«, gab Imma zu, »aber ich liebe ihn trotzdem. Übrigens wird er in den nächsten Tagen kommen. Vielleicht ist er schon unterwegs, und ihr könnt euch noch sehen.«

»Wahrscheinlich nicht, Imma, ich muss morgen früh schon nach München zurück, hoffe aber, das ganze nächste Wochenende bei dir verbringen zu können. Dann werde ich ja deinen Vater sehen.« Mathias lachte. »Und wieder mitkriegen, wie sich der gute alte Karl mit ihm anlegt.«

Auch Imma lachte. »Ja, das passiert jedes Mal. Karl provoziert meinen Vater ordentlich, weil er ihm Gutsherrenmanieren vorwirft. Ich will aber über meinen Vater nicht lästern. Immerhin hat er mir mit dem, was nach dem Verkauf des Gutes noch blieb, ermöglicht, mir den Birkenhof zu kaufen. Aber schau, da steht Karl vor dem Haus. Er hat schon entdeckt, mit wem ich komme, und er freut sich mit mir.«

Wirklich begrüßte Karl den angehenden Tierarzt sehr herzlich. Am Abend saß er mit dem jungen Paar bei einer Flasche Wein im Wohnzimmer, als seien sie eine kleine Familie.

Es war schon spät, als Imma und Mathias unter einem sternenklaren Himmel zur Koppel gingen. Dort schmiegte sich die junge Frau in die Arme des geliebten Mannes, als sie sagte: »Meine Pferde – unsere Pferde, Mathias, fühlen sich hier so wohl, und bald werden wir das erste Fohlen haben. Wir schaffen das gemeinsam, hier ein Gestüt aufzubauen.«

Mathias kannte Immas Leidenschaft, und sie hatte ihn damit schon angesteckt. Auch er freute sich über jeden Fortschritt, den sie im Birkenhof verbuchen konnte.

Sie verbrachten noch wunderschöne Stunden, und der Abschied am nächsten Morgen fiel ihnen nicht schwer. Sie freuten sich schon auf das nächste Wochenende.

*

Zur selben Zeit saß Immas Vater Eugen von Herwig im Zug. Er war aus dem Taunus von dem Gut seiner Verwandten gekommen, in München umgestiegen und langweilte sich jetzt auf der Fahrt nach Bachhausen.

Umso erfreuter war er, als ein junger Mann ins Abteil kam. Er setzte eine Tragetasche ab, in dem ein kleines Mädchen saß. Es hatte ein volles Gesicht, rote Wangen, eine Stupsnase und große schwarze Augen.

Eugen von Herwig verstand nicht viel von kleinen Kindern, aber das weiße Strickjäckchen und die weiße Mütze mit dem dicken Ponpon obendrauf kamen ihm für diese Jahreszeit doch etwas zu warm vor.

Der junge Mann war groß, sehr leger gekleidet, schlank, und er hatte volles braunes Haar und graue Augen. Er wirkte verstört.

Das fiel Eugen von Herwig nicht sonderlich auf, weil seine Blicke immer wieder von dem niedlichen Kind abgezogen wurden. Schließlich fragte er: »Ist es nicht schwer für einen Mann, mit einem so kleinen Kind zu reisen?«

»Sie ist ja so brav«, sagte er stockend.

»Müssen Sie weit fahren?«

»Ja – nein, nicht gar so weit. Wohin fahren Sie?« Diese Frage hörte sich an, als sei sie nur aus Höflichkeit gestellt worden, aber der junge Mann sah Eugen von Herwig forschend an. »Sie sind wohl nicht aus dieser Gegend?«

»Ich lebe im Taunus.« Er wurde gesprächig und erzählte von dem großen Gut, auf dem er sich die meiste Zeit aufhielt.

Dass er damit bei dem Fremden den Eindruck erweckte, ihm gehöre dieses Gut Bodenwerder, lag nicht in seiner Absicht.

»Sind Sie alleinstehend?«, forschte der junge Mann jetzt.

»O nein, ich habe eine Tochter.« Eugen von Herwig berichtete stolz von Imma, ohne davon zu sprechen, dass sie nicht mit ihm zusammenlebte. »Sie liebt Pferde über alles und ist eine glänzende Reiterin.« Er beugte sich vor und strich dem Kind über die Wange. »Meine Imma liebt auch Kinder sehr. Sie wird einmal eine gute Mutter werden.« Er lehnte sich wieder zurück. »Obwohl es mir schwerfällt, daran zu denken, dass meine Tochter bald heiraten und selbst Kinder haben wird. Wenn ich Ihr kleines Mädchen sehe, fühle ich mich in die Vergangenheit versetzt. So lieb und niedlich wie Ihr Töchterchen war meine Imma auch!«

Er lächelte leicht. Nach einer Weile sprach er weiter: »Entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Eugen von Herwig.«

»Ich heiße – Heinz Schmidt«, sagte der junge Mann wieder stockend. Er stand plötzlich auf.

Der Zug hatte gerade an einer kleinen Station gehalten. Der junge Mann lief zur Abteiltür. »Bitte, achten Sie ein paar Minuten auf das Kind, Herr von Herwig. Ich komme gleich wieder. Ich muss nur am Bahnhofskiosk schnell etwas holen.«

Er riss die Tür auf, blieb dann jedoch im Gang stehen, zog einen Zettel und einen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb in aller Hast einige Zeilen. Danach kehrte er wieder zurück und steckte den Zettel in die Tragetasche.

»Jetzt ist es aber zu spät«, sagte Eugen von Herwig ängstlich. »Der Zug hält hier gewiss nicht lange.«

»Ich schaffe es noch.« Das Gesicht des junge Mannes sah jetzt noch bleicher aus. Er rannte aus dem Abteil.

Eugen von Herwig setzte sich neben die Tragetasche mit dem kleinen Mädchen. Er beobachtete durch das Abteilfenster, wie der junge Mann durch die Sperre verschwand.

Der Zug ruckte wieder an.

»Ich habe doch gewusst, dass es zu spät ist.« Eugen von Herwig war sich noch nie hilfloser vorgekommen wie in dieser Minute.

Warum hatte er den jungen Mann nicht zurückgehalten?

Die Kleine begann zu weinen, als spüre sie, dass etwas geschehen war. Eugen von Herwig wusste sich keinen anderen Rat, als sie zu streicheln und immer wieder zu sagen: »Du wirst bald wieder bei deinem Papa sein.«

Dass der Mann der Vater des Kindes war, daran zweifelte Eugen von Herwig nicht. Er war so aufgeregt, dass er gar nicht daran dachte, in die Reisetasche zu sehen, um festzustellen, was auf dem Zettel stand, den der junge Mann hineingesteckt hatte.

Schließlich stand Eugen von Herwig auf. »Bleib schön sitzen, ich bitte dich, sei brav«, redete er auf das Kind ein. »Ich werde den Schaffner rufen. Warum sind wir denn allein im Abteil?« Er ging zur Tür, schaute hinaus.

Auf dem Gang standen zwei junge Leute. Ihnen rief Eugen von Herwig zu: »Bitte, suchen Sie den Schaffner. Er soll sofort in mein Abteil kommen. Bitte, es ist wichtig!«

Kurz darauf betrat der Schaffner das Abteil. Es war ein älterer Mann.

»Was ist passiert?«, fragte er.

Eugen von Herwig zeigte auf die Kleine. »Der Vater hat an der letzten Station den Zug verlassen. Viel zu spät, um rechtzeitig wieder einsteigen zu können.«

»So ein Leichtsinn«, schimpfte der Schaffner. »Wie kann ein Mensch ein so kleines Kind allein lassen?«

Eugen von Herwig sah ihn entrüstet an. »Allein war das Kind nicht. Der Vater hat es mir anvertraut. Ja, er sagte: Bitte achten Sie ein paar Minuten auf das Kind, Herr von Herwig.«

Der Schaffner schob seine Schildmütze etwas zurück. »Ach, Sie kennen einander. Dann ist die Sache ja halb so schlimm.«

»Nein, wir kennen einander nicht. Wir haben uns hier im Abteil zum ersten Mal gesehen. Es ist reiner Zufall, dass ich den Namen des Mannes weiß. Er heißt Heinz Schmidt.«

»Da sind wir ja schon ein Stückchen weiter«, meinte der Schaffner. »Ich werde gleich von der nächsten Station aus telefonieren und Bescheid sagen, dass wir das Kind dort lassen. In einer Stunde fährt der nächste Zug durch. Mit dem soll der Vater nachkommen und seinen Sprössling in Empfang nehmen.«

Eugen von Herwig wehrte empört ab. »Wir sollen das Kind auf der nächsten Station zurücklassen? Nein, das tu ich nicht. Ich kann mich doch des Kindes nicht entledigen, als wäre es ein Regenschirm, den jemand im Abteil vergessen hat«

»Sie sind gut.« Der Schaffner schüttelte den Kopf. »Zuerst hätten Sie am liebsten die Notbremse gezogen, und jetzt wollen Sie das Kind nicht hergeben.«

»Davon ist nicht die Rede«, erwiderte Eugen von Herwig ärgerlich. »Ich möchte das Kind nur dem Vater übergeben.«

»Dann müssen Sie auf der nächsten Station aussteigen. In ein paar Minuten ist es so weit.« Der Schaffner verließ das Abteil. »Am besten, Sie machen sich schon fertig. Allzu lange halten wir nämlich nicht«, rief er zurück.

Ratlos strich sich Eugen von Herwig über seinen Bart. In solch einer verzwickten Situation war er noch nie gewesen. Handelte er vielleicht doch falsch, wenn er sich noch weiter um das Kind kümmerte? Aber nein, er konnte nicht ruhigen Gewissens im Zug sitzenbleiben und die Kleine einfach ihrem Schicksal überlassen!

So nahm Eugen von Herwig die Tragetasche und war heilfroh, kein großes Gepäck zu haben. Während er aus dem Zug kletterte, entrüstete er sich innerlich darüber, dass man heutzutage die Kinder so herumschleppte.

Von den Fenstern der Abteile sahen ihm andere Fahrgäste nach. Der große, kräftige Mann mit dem Spitzbart wirkte sehr unbeholfen, als er mit dem Kind in der Tragetasche den Bahnsteig entlangging.

Der Schaffner hatte inzwischen den Vorfall gemeldet. Aus dem kleinen Bahnhofsgebäude kam ein jüngerer Mann. »Ich habe bereits zurückgerufen, aber bei der letzten Station hat sich kein Mensch gemeldet, der den Zug versäumt hat. Niemand dort weiß etwas davon, dass ein Mann nicht mehr zu seinem Kind in den Zug zurück konnte«, sagte er zu Eugen von Herwig.

»Unmöglich!« Der aufgeregte Beschützer der Kleinen musste die Tragetasche absetzen.

»Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass ein Vater seine Tochter nicht wiederhaben will. Herr Schmidt müsste längst alle Hebel in Bewegung gesetzt haben, diesem Zug zu folgen. Vielleicht hat er sich ein Taxi genommen. Den Zug einzuholen, braucht seine Zeit. Sicher kommt er gleich.«

»Aber in der letzten Station hätte dieser Herr Schmidt bestimmt gemeldet, was passiert ist.«

»Er kann sehr überstürzt zum Taxistand gelaufen sein. – Wo soll ich mich mit dem Kind inzwischen aufhalten?«

»Gehen Sie in den Warteraum.«

Das tat Eugen von Herwig. Noch war er fest davon überzeugt, bald dem Vater des kleinen Mädchens gegenüberzustehen.

Doch es fuhr der nächste Zug durch, ohne dass Heinz Schmidt kam, und es hielt vor dem Bahnhof auch kein Taxi, aus dem er stieg.

Das Kind wurde immer unruhiger. Eine Frau versuchte schon geraume Zeit, es zu beschwichtigen. »Es ist doch höchstens ein halbes Jahr alt«, sagte sie.

»Ja, ja, ich glaube, das hat der Vater gesagt.« Eugen von Herwig strich sich über die Stirn. Ihm wurde recht flau.

In was war er da geraten? Jetzt saß er mit einem kleinen Kind auf einem fremden Bahnhof und wusste nicht, was geschehen sollte. Ohne diesen Vorfall wäre er längst in Bachhausen auf dem Birkenhof.

Ein Polizist kam in den Warteraum. Er ließ sich von Eugen von Herwig genau beschreiben, wie Heinz Schmidt ausgesehen hatte und wie es dazu gekommen war, dass das Kind im Zug zurückblieb.

»Sie glauben doch nicht etwa, dass der Mann das Kind ausgesetzt hat?«, fragte der alte Herr nachdenklich.

»Es scheint so. Oder können Sie sich vorstellen, dass ein Mann, der durch einen unglücklichen Umstand von seinem Kind getrennt wurde, nicht überall Alarm schlägt?«

»Ich hätte das getan«, bekannte Eugen von Herwig. Er stand auf. »Ich überlasse das Kind nicht der Polizei. Nein, auf keinen Fall. Ich fahre jetzt weiter nach Bachhausen. Das können Sie mir nicht verwehren.«

»Bei uns im Polizeirevier wüssten wir uns wahrscheinlich noch weniger Rat mit der Kleinen als Sie, Herr von Herwig«, meinte der Polizist, »trotzdem dürfen Sie das Kind nicht einfach mitnehmen.«

»Der Vater hat es mir anvertraut und keinem anderen. Ich bestehe darauf, das Kind mitzunehmen.« Das war der hartnäckige Ton, in dem Eugen von Herwig gern sprach. »Bin ich vielleicht ein Kindesentführer? Ich habe Ihnen meine Papiere gezeigt, notieren Sie sich genau, wohin ich fahre, und dort soll der Vater das Kind abholen.«

Nach langem Hin und Her durfte Eugen von Herwig mit dem Kind weiterreisen, aber ihm war gar nicht wohl zumute. Die Kleine war inzwischen eingeschlafen. Fürsorglich zog Eugen von Herwig sie in der Tragetasche etwas nach vorn, damit sie nicht im Sitzen schlafen musste.

Als er in Bachhausen ausstieg, ging er sehr aufrecht. Hier gab es bestimmt Leute, die ihn kannten.

Er steuerte geradewegs auf eine Telefonzelle zu und rief eine alte Bekannte, Herma Langen, an. Sie war die Frau eines Freundes. Als sie an den Apparat kam, fragte er: »Frau Langen, darf ich Sie um eine große Gefälligkeit bitten? Ich bin hier auf dem Bahnhof in Bachhausen …«

Die ältere Dame unterbrach ihn: »Da wird sich Imma aber freuen, dass Sie sie endlich wieder besuchen. Ich hole Sie natürlich ab.«

Eugen von Herwig kam gar nicht dazu, sich zu bedanken. Seine Gedanken konzentrierten sich ganz auf das Kind, und er hoffte, dass ihm Herma Langen in seiner Ratlosigkeit beistehen werde. Sie war eine resolute und lebenserfahrene Frau.

Eugen von Herwig stand mit dem Kind vor dem Bahnhof.