Heimische Exoten - Mareike Milde - E-Book

Heimische Exoten E-Book

Mareike Milde

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Beschreibung

Sie tauchen in Parks und in den Städten auf, bevölkern mehr oder weniger plötzlich Teiche und Wälder – Tiere, die aus Zufall, Nachlässigkeit oder mit guten Absichten in unseren Breiten in die freie Wildbahn gelangen und heimisch werden, eingewandert oder ausgesetzt. Rund 1000 Spezies bereichern oder beeinträchtigen nach Expertenmeinung mittlerweile unsere mitteleuropäische Flora und Fauna. Mareike Milde hat sich nach 22 von ihnen auf die Suche begeben, hat ihre neuen Habitate besucht und sich von Experten vor Ort alles Wissenswerte zeigen und erzählen lassen. Ihre in jahrelanger Recherche entstandenen, äußerst lesenswerten Reportagen sind eine ebenso spannende wie anschauliche Erkundungsreise auf der Fährte von Waschbär, Sittich, Nilgans & Co. und ein Plädoyer für einen gelassenen und zugewandten Umgang mit ihnen.

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Mareike Milde

Heimische Exoten

22 Geschichten von Tieren, die zu uns kamen Meine Reise durch unsere neue Tierwelt

für Annabelle

Inhalt

Vorwort

Begrifflichkeiten

Ausgebüxt und eingestiegen:Die unverfrorenen Waschbären aus Kassel

Die Gefahrenfracht aus der Latrine:Wie sich der Waschbärenspulwurm seine Wirte sucht

Die Pendel-Flamingos aus dem Münsterland

Auf der Suche nach dem Gelben Drachenwels in Niederbayern

Auf der Pirsch nach dem Hirsch in Schaffhausen:Das Sikawild

Südamerikanische Laufvögel auf rapsgelben Äckern:Die Nandus von der Wakenitzniederung

Einmal Asien und retour:Die umtriebige Wollhandkrabbe aus Rendsburg

Halb Ratte, halb Biber und eigentlich ein Riesenmeerschwein:Die Nutria

Quer durch die Tiefsee nach Bremerhaven:Der trojanische Siegeszug des Aal-Schwimmblasenwurms

Pechschwarz gewedelt und dann serviert:Die Schwarzmundgrundel

Kurzsprint ins Verderben:Die verschwundenen Mufflons aus der Göhrde

Ein halbes Jahrhundert unter falscher Flagge:Die Spanische Wegschnecke, die gar keine ist

Auf den Spuren der verschwundenen Kängurus von Burg Stargard

Die Krabbelinvasion von Rheinstetten oder:Der Kalikokrebs

Der rotglühende Klimaflüchtling aus dem Süden:Die Feuerlibelle

In Berlin wird Wohnraum nicht nur über Wasser knapp:Der Rote Amerikanische Sumpfkrebs

Das tropische Alpenaquarium oder:Von Buntbarsch, Antennenwels, Platy und einem Berliner Bekannten in Kärnten

Von der Sylter Royal ohne adeligen Stammbaum

Der Erfolgszug des Indischen Halsbandsittichs und dessen farbenfrohe Besetzung des Rheingürtels

Bier mit Schuss:Ein Abend mit der Rosskastanien-Miniermotte

Von gefährlichen Euroasiaten und akzeptierten Nordamerikanern:Die invasiven Burunduks und die harmlosen Chipmunks

Unter Heeresschutz: Die Wölfe vom Schloss Allentsteig

Epilog

Experten, Literatur und Referenzen

Danksagung

Vorwort

Das Thema dieses Buches kam zu mir wie ein Flamingo auf die Kuhweide: sehr unerwartet. Ich nahm gerade eine Auszeit vom Job, um mich selbst mit all meinen Werten und Gewohnheiten einmal grundlegend zu hinterfragen. Alle paar Jahre räume ich mir diesen Luxus des Innehaltens ein. Die Auszeit hilft mir, klar zu sehen, wo ich stehe, ob ich überhaupt noch »gut stehe« und wenn nicht, welche Dinge angepasst werden können. Diesmal wollte ich die Zeit nutzen, um zu schreiben. In meinem bisherigen Alltag hatte ich dafür keine Zeit und würde sie mir auch niemals nehmen. Nun also endlich: ein Buch.

Ein Buch sollte es werden auch über die bunten Papageien auf der Düsseldorfer Königsallee. Schon oft hatte ich diese beobachtet, wie sie als bunte Farbkleckse munter zwitschernd auf den Platanen der Kö sitzen. Schon oft habe ich mich über sie amüsiert und genauso oft über die teils echauffierten Anwohner und Ladenbesitzer, die ihre teuren Mäntel vor dem drohenden Schmodder von oben beschützen wollten und sich lautstark und medial wirksam über diese Schweinerei mokierten. Als Marketingexpertin war es mir unverständlich, dass dieses Thema nicht vielmehr für die Stadt genutzt wird. Ich recherchierte ein bisschen und stellte schnell fest: Exotische Tiere gibt es überall. Teils unbemerkt von der Öffentlichkeit, teils geliebt und verhätschelt, teils verhasst und gemieden.

Und noch eine verblüffende Erkenntnis machte ich: Egal, wo ich in meinem Umfeld von meiner Buchidee erzählte – jeder, wirklich jeder war interessiert und konnte etwas zu diesem Thema beitragen. Das bestärkte mich zusätzlich in meinem Bestreben darüber zu schreiben. So reiste ich zu den Nandus nach Mecklenburg-Vorpommern oder den Flamingos nach Münster und sprach vor Ort mit Rangern, Naturschutzbehörden, Biologen und Wissenschaftlern, Bürgerbewegungen und Anwohnern. Die Tiere in meinen Geschichten entwickelten ein Eigenleben und mutierten zu meinen stillen Stars.

Im Anschluss suchte ich Kontakt zu Verlagen und sprach bei einigen vor. Alle waren begeistert. Keiner wollte verlegen. Es sei zu politisch, zu riskant, aber vor allen Dingen zu regional. Ein Verleger allerdings war Feuer und Flamme für das Thema, und ein paar Wochen später hielt ich meinen ersten Buchvertrag in den Händen. Nun lag eine Mammutaufgabe vor mir, doch ich hatte Verlagsluft geschnuppert und wollte diese neue große Herausforderung unbedingt meistern. Die Uhr tickte, denn bis zur die Abgabe des Manuskripts blieben nur fünf Monate. Sicher eine übliche Zeit für eine Bucherstellung; für mich als Erstlingsautorin eines Sachbuches, noch dazu ohne biologische Vorkenntnisse, recht knapp bemessen. Ich kaufte mir eine riesige Karte der Schweiz, Österreichs und Deutschlands, hängte sie hinter meinen Schreibtisch und pikste überall dort, wo »exotische« Tiere vorkamen, eine Fahne hinein. Und überall dort, wo eine Fahne steckte, begann ich nach Fachexperten zu suchen, die mir vor Ort weiterhelfen konnten und wollten. Letzteres erwies sich als die eigentliche Schwierigkeit.

Der Anfang war holprig. Biologen und Wissenschaftler im Allgemeinen sind eine in sich geschlossene, homogene Gemeinschaft. Es ist schwer, von außen hineinzukommen, besonders wenn man nicht vom Fach ist. Viele antworteten gar nicht auf meine Anfragen. Viele lehnten ab, teils höflich, teils weniger höflich. Wieder andere sagten, über solch ein Thema könnte man nicht unterhaltsam und gleichzeitig fachlich versiert schreiben. Einige rieten mir, nicht so direkte Fragen zu stellen. Andere baten mich, direkte Fragen zu stellen. Einige wiesen mich auf sehr sensible Themen hin, die nicht zu veröffentlichen seien, da die Thematik in der Öffentlichkeit nicht richtig eingeordnet werden könne. Ein Experte riet mir gar, einen Liebesroman zu schreiben – dazu bräuchte man kein Biologiestudium.

Es war zu spät. Mein Interesse war entfacht, ich blieb hartnäckig. Wo es ging, versuchte ich Kontakte herzustellen, und wo es nicht ging, tauchte ich in regelmäßigen Abständen immer wieder auf. Was einst als schöne, unterhaltsame Idee für ein Buch begann, war längst schon sehr viel mehr.

Ich las kiloweise Fachbücher, rief Behörden an, besorgte mir Dissertationen und Publikationen zu speziellen Tierthemen, erkundigte mich beim Naturschutzbund, WWF, BUND, bei Thünen-Instituten und beim Alfred-Wegener-Institut, erstellte meterlange Fragebögen, besuchte geführte Wanderungen in Naturschutzgebieten und studierte alle möglichen Länder- und EU-Listen zu gebietsfremden Arten. Mitunter bereiteten mir das Studium und die Auswertung der vielen gegensätzlichen Aussagen Kopfschmerzen. Mir wurde klar, dass ich für dieses Buch keine »Invasivliste« der Tierarten abarbeiten wollte, bevor ich ihnen überhaupt begegnet war. Ich war einfach gespannt, was an Neobiota flächendeckend zu finden ist und welche Geschichten es zu erzählen gibt, ohne dabei Vorurteile zu haben. Ich wollte die betroffenen Menschen sprechen und ihre Meinungen erfragen und mein Wissen nicht mehr nur aus der Fachliteratur beziehen. Ich beschloss, die Listen beiseitezulegen und unsere neue Tierwelt auf meine Weise kennenzulernen. Immer wieder hatte ich auch Glück und traf auf Experten, die sehr aufgeschlossen für meine Idee waren und mir ihre Hilfe für das Buchprojekt zusicherten – am Anfang nur vereinzelt, mit der Zeit aber immer öfters.

Plötzlich war es gerade diese »Fachblase«, die mir bei der weiteren Recherche half, denn sobald ich einmal einen Fuß in der Tür hatte, wurde ich von einem Experten zum anderen weiterempfohlen. Und das ermöglichte mir den Zugang zu neuen Themen, von deren Existenz ich bislang noch gar nichts wusste. Zum Schluss kamen sogar Fachexperten zu mir und boten an, ihre Ergebnisse über bestimmte Tiere mit mir zu teilen, um dieser Spezies eine Plattform zu geben. Ein erster Schritt war getan. Jetzt wollte ich die Tiere endlich sehen.

Begleiten Sie mich nun, liebe Leser, auf eine Reise durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Unternehmen Sie mit mir lange Zugfahrten, sitzen Sie in dunklen Schreibnächten in Hotellobbys an meiner Seite, stapfen Sie zusammen mit mir über ausgedehnte Testgelände und lassen Sie uns – zu jeder Wetterlage – an interessanten Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen und Tieren teilhaben. Ich berichte Ihnen von meinem Versuch, alle Reisen mit Leichtgepäck (nur ein Rucksack!) zu bewerkstelligen, und teile mit Ihnen die Erkenntnis, dass man dabei sehr, sehr schnell falsch packen kann. Ich klettere mit Ihnen über matschige Wanderwege, kauere mit Ihnen und vier Dutzend Aalen in einem wackeligen Fischerboot, vermisse Stechmücken an einem schwülheißen Tag auf einem Donaualtarm und robbe unter den amüsierten Blicken einiger Spaziergänger durch einen warmen Bachlauf in Kärnten. Gemeinsam fahren wir bis an die norddeutsche Grenze zu Dänemark und besuchen das Münsteraner Land an der westlichen Grenze zu den Niederlanden. Wir reisen zum Botanischen Garten in Genf und bewegen uns durch die Kaiserstadt Wien. Doch beginnen wir da, wo einst alles für mich begann. Lassen Sie mich Sie mitnehmen in meine Heimat: die europäische Hauptstadt der Waschbären.

Begrifflichkeiten

Bevor es losgeht, komme ich nicht umhin, mit Ihnen ein paar höchst formelle Begrifflichkeiten abzustimmen. Denn diese Begrifflichkeiten sind zwar üblich, werden aber in der Fachwelt keineswegs einheitlich verwendet.

Fangen wir mit den grundlegenden Begriffen an: Gebietsfremd sind all die Tiere, die nach dem Jahr 1492 in einem Gebiet ansässig geworden sind, obwohl sie eigentlich ihre Heimat woanders haben. Das gilt nur für Tiere, die durch den Menschen eingebracht wurden, sei es absichtlich oder unabsichtlich. Beispielsweise Tiere, die der Mensch ausgewildert hat, um die Pelzversorgung sicherzustellen, lange bevor die Thermojacke erfunden wurde, aber auch Insekten, die mittels Gepäck in einem Überlandflug in ein anderes Land reisen. Die magische Jahreszahl 1492 markiert den Grenzwert in der Biologie, weil Kolumbus damals Amerika eroberte und somit der zarte Ursprung für die Globalisierung gelegt wurde. Ab diesem Moment war es möglich, fremde Arten und Pflanzen von der Alten in die Neue Welt und umgekehrt zu überführen. Zu Beginn geschah das langsamer, dann jedoch immer reger. Dass diese Grenze von Menschen gesetzt wurde, erklärt auch, warum wir in diesem Buch teilweise von nichtheimischen Arten sprechen können, obwohl diese bereits zigtausende Jahre zuvor in unseren Gebieten ansässig waren. Das betrifft zum Beispiel den Kastanienbaum, der vor der Eiszeit bei uns heimisch war, durch die Kälte verdrängt wurde und anschließend auf anderem Wege wieder zurück in unsere Gebiete gelangte.

Das gleiche Prinzip gilt für die einheimischen Tierarten: Was schon vor 1492 hier lebte, kreuchte und fleuchte, gilt als heimisch. Alle Lebewesen, die vor 1492 durch den Menschen in einen neuen Lebensraum kamen, bezeichnet man als Archäobiotika. Die Tierarten, die selbstständig durch Wanderungen oder Lebensraumverlagerungen hierherkommen, egal, ob vor 1492 oder danach, gelten von Beginn an als heimische Tierart.

Hat sich eine gebietsfremde Tierart einmal etabliert, – man spricht in der Regel von drei Generationen eigenständiger Fortpflanzung oder einem durchgehenden Lebensraum von mehr als 25 Jahren, – und kann sich diese Art hier ohne menschliche Unterstützung halten, so zählen diese Tiere zu den Neobiota. Da der gleiche Begriff für Pflanzen und Pilze gilt, spaltete man diesen noch einmal auf: tierische Neobiota werden als Neozoen betitelt, Pflanzen als Neophyten, Pilze und Sporen sind Neomyceten. Bei allen unterscheidet man auch nochmal unter »nicht invasiv«, »potenziell invasiv« und »invasiv«.

Kommen gebietsfremde Tierarten in unser Land, passiert oft nichts. Viele Organismen sterben sofort oder nach einiger Zeit, weil der Lebensraum mitsamt den klimatischen Bedingungen oder der benötigten Nahrung hier auf Dauer nicht zum Überleben reicht. Manche können sich für einen begrenzten Zeitraum halten und sind dann als sogenannte »unbeständige gebietsfremde Arten« vorzufinden.

Aber manchmal vermehren sie sich auch gut und schaffen es, sich in der neuen Umgebung bestens zu akklimatisieren. Dann spricht man von »etablierten gebietsfremden Arten«.

Sollte von diesen Gefahr drohen, hiesige Arten zu verdrängen, indem sie ihnen aufgrund körperlicher Überlegenheit die Nahrung wegnehmen oder Krankheitserreger mit einschleppen, gegen die die einheimischen Arten nicht gewappnet sind, oder, wenn sie sich ungehindert vermehren können, da sie keine natürlichen Fressfeinde haben, dann landen diese gebietsfremden Arten auf der Liste der potenziell unerwünschten Arten. Bestätigt sich die Bedrohung gegenüber der heimischen Fauna und Flora, rutschen sie auf die Black List und werden als invasiv bezeichnet. In diesem Fall darf man gegen sie Maßnahmen ergreifen, die gegenüber der heimischen Tierwelt nicht erlaubt sind: Einige invasive Wildtiere dürfen auch ohne Schonzeit geschossen werden, bis hin zum Versuch der Totalausrottung. Invasive Fischarten müssen getötet werden und dürfen keinesfalls wieder zurück in die Gewässer gelassen werden, wenn sie einmal ins Netz gegangen sind.

Bislang führte jedes Land seine eigenen Listen gebietsfremder Tierarten; im Zuge der EU-Formierung wurde eine übergreifende Liste mit unerwünschten Tierarten erstellt. Die erste dieser Art wurde 2016 herausgebracht und umfasst 37 Pflanzen- und Tierarten. Solch eine Liste zu erheben, sie dauerhaft zu analysieren und immer auf dem neuesten Stand zu halten, ist in der heutigen Welt mit der unglaublichen Vielzahl an Tierimporten und -exporten unmöglich. Zu Beginn der Buchrecherche lebten schätzungsweise 1000 Archäobiotika und Neobiota allein in Deutschland, wovon ca. 230 Arten den Status als Neozoen haben. Die Dunkelziffer, vor allen Dingen in der Insekten- und Einzellerwelt, wird um ein Vielfaches höher geschätzt. Wenn dieses Buch auf den Markt kommt, wird sich die Schätzzahl mit Sicherheit weiter verändert haben. Diese Listen geben einen Anhaltspunkt, gelten aber als unbeständig.

Mitunter kommt es vor, dass eine Tierart auf der Liste landet, die lediglich in einem einzigen EU-Land lebt und als unerwünscht gilt, wie zum Beispiel der Chinesische Muntjak in Großbritannien. Sie merken schon: Was passiert mit dem Chinesischen Muntjak, wenn Großbritannien aus der EU ausgetreten ist (abgesehen vom dem, was mit dem Land passiert)? Verschwindet er von der Liste, weil sein Wildvorkommen in der restlichen EU überhaupt nicht existent ist? Oder bleibt er für den Fall als Platzhalter, wenn er doch einmal bei uns auftauchen sollte? Vielleicht taucht er aber auf und bedrängt andere Tierarten hier gar nicht. Mitunter passieren Missgeschicke, weil es einfach ein Sisyphusunterfangen ist, all diese Tierarten zu erfassen, zu klassifizieren und geeignete Managementprogramme dafür zu entwickeln.

Ausgebüxt und eingestiegen:

Die unverfrorenen Waschbären aus Kassel

Kassel, meine Heimat. Hier komme ich her, hier bin ich aufgewachsen. Dass es nicht zum üblichen Prozedere eines Eigenheimbaus gehört, vor dem Einzug eine Fachfirma mit der Aufrüstung gegen tierische Eindringlinge zu beauftragen, lernte ich erst mit meinem Umzug nach Hamburg. (Wobei es in der Hansestadt ohnehin eher unüblich ist, eigene Häuser zu bauen, aber das ist eine andere Geschichte.)

In dieser Geschichte geht es um die Waschbären, die seit Jahrzehnten zum Kasseler Stadtbild gehören. Überlegungen, die possierlichen Raubtiere in das Stadtwappen zu integrieren, gibt es. Auch befassen sich immer wieder Künstler – nicht nur zur fünfjährigen Weltkunstausstellung documenta – mit den cleveren Bärchen.

Mit einer enormen Bevölkerungsdichte von 60 bis 140 Tieren pro Quadratkilometer ist Kassel die unangefochtene Waschbärenhauptstadt Europas. Doch nicht alle Kasseler freuen sich über diesen Superlativ, zumindest nicht die aus Wilhelmshöhe, dem Vorderen Westen, Kirchditmold und Harleshausen, denn hier sind die kleinen Racker am stärksten vertreten: auf den baumstarken Grundstücken, gesäumt von breiten Straßenzügen rund um die Hessenschanze oder im verwunschenen Bergpark Wilhelmshöhe mit dem stattlichen Herkules, der märchenhaften Löwenburg und den unzähligen Schlupfwinkeln. Hier, wo weite Waldflächen mit ihren malerischen Wasserläufen nahtlos an die Stadt anschließen und an schönen Tagen viele Ausflugsfreudige anziehen, die nach ihrem Aufenthalt die Mülleimer prallvoll mit Köstlichkeiten hinterlassen.

Mehr als zwei Drittel der Kasseler Waschbären leben dauerhaft in der Stadt, davon ca. 45 Prozent in Häusern und Gebäuden, bevorzugt auf Dachböden, in Zwischendächern, unter Giebeln und in erkalteten Schornsteinen.

Und sollte es sich nicht um Waschbärenmütter handeln, die in der zweimonatigen Aufzuchtzeit mit ihren 20 bis 30 Jungen des Nachts lautstark fangen spielen, bekommen das die menschlichen Hausbewohner oft erst mit, wenn das Pipi schon durch die Decke tropft. Und das ist schlecht, denn: Leiden die Tiere an dem bei den Kasseler Waschbären sehr verbreiteten Spulwurm, ist dieser gleich mit eingezogen und eine Komplettsanierung für mehrere Tausend Euro unumgänglich. Dem lästigen Spulwurm widmen wir uns übrigens im nächsten Kapitel.

Ohnehin ist es dann längst zu spät: Dieser Ort ist bereits gebrandmarkt, als Top-Übernachtungsherberge im Lonely Planet der pelzigen Einwanderer. Sie haben ihn unwiderruflich markiert, Sanierung hin oder her.

Der Mensch muss davon ausgehen, dass die Waschbären von nun an immer und immer wieder versuchen werden, ihr einmal erobertes Heim neu zu beleben. Die räuberischen Bären haben diebischen Spaß daran, verschlossene Schlupfwinkel und verriegelte Durchgänge erneut zu knacken. Das gelingt zum einen mit Gewalt – ihre Vorderfüßchen sind kräftig und geschickt –, zum anderen verschaffen sie sich mit List und Wagemut Zugang über steile Häuserkanten und rutschige Dächer. Geduldig kratzen sie sich durch verschlossene Mauerwerke, mitunter monatelang, heben Ziegel an, legen diese nach dem Durchschlüpfen fachgerecht auf ihre alte Position zurück, bauen Höhlen im kuscheligen Dämmmaterial und richten sich ihre Toiletten, sogenannte Latrinen, ein. Oft gibt eine spähende Vorhut der ganzen Bande Bescheid, wenn alles hergerichtet ist. Diese folgt in Scharen und kommt meist lautlos über Nacht. Über die Jahre haben sie sich die Mechanismen einmal geknackter Abwehrsysteme gemerkt. Dieses Wissen können sie jederzeit abrufen und bauen unaufhörlich darauf auf. Sie sind hochintelligent und treiben die Waschbär-Abwehrfirmen vor sich her. Diese sind angehalten, immer komplexere Abwehrsysteme zu entwickeln, um die Tiere dem Menschen vom Leib zu halten.

Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?

Die Waschbären waren nicht immer da. Eigentlich ist ihre Heimat Nordamerika, wo sie bereits von den nordamerikanischen Ureinwohnern, den Algonkin, als Aroncon (dt.: ›der mit seinen Händen reibt, schrubbt und kratzt‹) verehrt wurden. Es existieren Sagen der Ureinwohner über die Waschbären, deren besondere Augenmaskierung die Algonkin sogar für ihre Gesichtsbemalung übernahmen. Aus dem Namen Aroncon entstand schließlich das englische racoon, welches hierzulande als »Waschbär« übersetzt wurde. Mittlerweile ist weitläufig bekannt, dass das »Waschen« der Beute nichts mit einem Säuberungsvorgang zu tun hat. Die Reinlichkeit ihrer Nahrung ist den Waschbären sogar herzlich egal. Der Vorgang wird lediglich von in Gefangenschaft lebenden Bären ausgeführt, um das Tasten und Erfühlen von Krebsen, Fischen oder Pflanzen in fließenden Gewässern zu imitieren.

Um 1900 wurden die ersten Waschbären nach Deutschland gebracht. In Zuchtfarmen fristeten sie ein schnödes Dasein, bevor ihr dichter Pelz die Hälse feiner Damen schmücken sollte. Schnell büxten einige der cleveren Wesen aus – zuerst in Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, später auch in Berlin. Hier kam es übrigens auch zum bekanntesten Zwischenfall der deutschen Waschbärengeschichte: In einer lauen Sommernacht 2017 alarmierten besorgte Anwohner ob eines ohrenbetäubenden Knalls mit begleitendem Lichtblitz die Feuerwehr. Man fürchtete eine Bombendetonation. Wie sich jedoch herausstellte, handelte es sich um einen zweifachen Kurzschluss des Heizkraftwerks Reuter West der Firma Vattenfall, der durch einen in den mehrfach gesicherten Hochspannungsbereich eingestiegenen Waschbären verursacht worden war, welcher genüsslich an einem 110-Kilovolt-Transformator geknabbert hatte.

Notiz am Rande: Dem Waschbären geht es gut, der Strommulti rätselt weiterhin, wie der Einbruch gelingen konnte.

Übrigens ist das Mysterium des spurlosen Einbruchs gar nicht so ungewöhnlich, wie ein anderer Fall beweist: Im Mai 2019 verschaffte sich ein unerschrockenes Pelzbärchen über Nacht Zugang zum Waschbärengehege des Heidelberger Zoos und beschloss fortan, mit seinen gefangenen Kollegen in Eintracht zu leben. Immerhin gibt es dort regelmäßig Essen und für eine so liebenswerte Pflege durch die Betreuer passte sich der Neubewohner sogar in seinem Tages- und Nachtrhythmus an die Zoo-Öffnungszeiten an. Da es aufgrund geltendem EU-Recht dem Zoo untersagt ist, ein invasives Tier in die Freiheit zu entlassen, bleibt »Fred«, wie ihn die Heidelberger nennen, fortan genau dort, wo er jetzt bereits ist: in seinem freiwillig gewählten Exil.

Zurück zu unserer Geschichte: Die Invasion hatte ihren Ursprung im Jahr 1934. Wilhelm Sittich Freiherr von Berlepsch war der Hauptverursacher dieser Bewegung, weil er sich mit Nachdruck für eine Einwilderung der pelzigen Kleinbären stark machte, die die deutsche Fauna und Flora bereichern könnten. »Ein Schaden an der heimischen Natur durch die insektenfressenden Tiere ist mehr als unwahrscheinlich«, sagte Berlepsch und setzte sich so über kritische Stimmen wie etwa jene von Heinrich Hagenbeck, Tierparkdirektor von Hagenbecks Tierpark, hinweg. Berlepsch erhielt nach einigem Hin und Her die Genehmigung von der preußischen Landesjagdbehörde. Ob dies alles wirklich unter persönlichem Einsatz des Behördenleiters, Reichsjägermeister und späterer Reichsluftmarschall Hermann Göring, geschah, ist nicht einwandfrei nachzuweisen. Fakt ist, dass auf diesem Wege zwei aus Pelztierfarmen befreite Waschbärenpärchen in der Revierförsterei Asel am Edersee in Hessen ausgesetzt wurden und sich fortan artig vermehrten. In den Kriegswirren ließ die Aufmerksamkeit, die den Bären einst galt, nach, und hier und da sorgten Bombenabwürfe dafür, dass Pelzfarmen neuen Waschbären die Wälder eröffneten – wie im Edersee-nahen Wolfhagen. Die Aufmerksamkeit für die Waschbären nahm dann erst in den 1950er-Jahren wieder zu, als immer mehr wilde Waschbären immer beharrlicher die Nähe zum Menschen suchten, die diese Gesellschaft fortan als Belästigung wahrnahmen.

Natürliche Feinde wie Wölfe oder Luchse gab es damals nicht mehr. Daher durften die bis dahin unter Naturschutz stehenden Tiere 1954 erstmals mit spezieller Jagdlizenz geschossen werden, um dem wilden Treiben Einhalt zu gebieten. Doch der Schuss ging – wie man so schön sagt – nach hinten los. Denn durch sein behändes Eingreifen schoss der Mensch die Bestände in ungeahnte Höhen: Mit steigender Zahl an getöteten Waschbären stieg die Geburtenrate rapide an – cleverer Evolution sei Dank. Lag der Bestand 1956 gerade bei 285 Bären, stieg er in den Siebzigerjahren bereits auf über 20 000 Exemplare. 2005 schätzten Experten die Waschbären-Population schon auf 200 000 bis 400 000 Tiere deutschlandweit.

Noch immer wird der Waschbär gejagt. 2016 wurden trotz Schonfrist ca. 28 000 Tiere erlegt. Allerdings wird der Bestand mit mehr Umsicht dezimiert als in den letzten Jahrzehnten. Mittlerweile haben die Verantwortlichen begriffen, dass die beste Bekämpfung nicht Töten, sondern Prävention heißt. Es gilt, Gebäude gegen eine Eroberung der cleveren Kletterer hinreichend abzusichern und darüber hinaus etwaige Fressquellen in und an den Häusern (wie Komposthaufen und Müllbeutel, die über Nacht an die Straße gelegt werden) auszutrocknen. Aktuell werden Zwangssterilisation oder das Auslegen von Anti-Baby-Pillen diskutiert. Derweil haben sich die Waschbären weit über Mittel- und Ostdeutschland ausgebreitet. Eine Ausrottung ist längst nicht mehr möglich.

Seit dem 13. Juli 2016 steht der Waschbär auf der EU-Liste der invasiven Arten. Das bedeutet, dass er heimische Tierarten gefährdet oder in ihrer Population stören kann. Hin und wieder kommt es tatsächlich vor, dass Waschbären Füchse aus ihren Bauten vertreiben und sich dort selbst einrichten. Oder dass sie Graureiher in ihrer Brutzeit stören, weil deren Eier eine Delikatesse für sie darstellen, für die sie die Nester plündern. So manches Mal haben sie auch schon freilaufende Hunde angefallen, sobald diese zu nah an die Aufzuchtverstecke der Waschbärenmütter herangekommen waren.

Waschbären werden in der Regel nicht zahm. Sie können es aber effektiv vortäuschen: Die jahrelange Nähe zur Zivilisation hat sie zutraulich gemacht und längst haben sie den Menschen als nahrungsspendende Quelle entdeckt. Mittlerweile sind sie Allesfresser. Egal, ob ordinärer Haushaltsmüll, Kompostabfälle, Kartoffeln aus dem Vorgarten oder eben das Dämmmaterial unter den Dachgiebeln: Alles wird verwertet! Und der freudigen Verwüstung sind dabei keine Grenzen gesetzt. Allerdings kamen der Wolf und in einigen Gebieten auch der Luchs zurück, was für die Zukunft eine natürliche Dezimierung der Bestände vermuten lässt.

Aus heutiger Sicht lässt sich sagen: Der Plan von Freiherr von Berlepsch ist voll aufgegangen. Die Waschbären sind aus unserer heutigen Fauna nicht mehr wegzudenken.

Oder wie die vielzitierte Pionierin der deutschen Waschbärforschung, Dr. Walburga Lutz, schon 1981 in ihrer Dissertation schrieb: »Es ist müßig zu fragen, ob die Einbürgerung zu begrüßen oder zu verurteilen war, nachdem nahezu das gesamte Gebiet der Bundesrepublik Deutschland besiedelt ist. Die Einbürgerung selbst ist erfolgreich verlaufen und nicht mehr rückgängig zu machen. Wir sollten deshalb mit dem Waschbären zu leben lernen.«

Die Gefahrenfracht aus der Latrine:

Wie sich der Waschbärenspulwurm seine Wirte sucht

Genauso, wie wir uns an den räuberischen Waschbären in unserem Land gewöhnen sollten, ist es gut damit getan, sich der Gefährdung bewusst zu werden, die er uns im Gepäck mitgebracht hat. Denn wie ich schon erwähnte, gibt es da diese Spulwürmer. Im Darm eines Waschbären können bis zu 200 dieser niedlichen Tierchen vor sich hinleben. Bei einer Länge von bis zu 50 Zentimetern ist da schon einiges los im Bauch. Und während es die Waschbären selbst meist nicht so wirklich tangiert, wird es für andere gefährlich, sobald der Waschbär »austritt«. Und das tut er regelmäßig und gern in seinen hierfür extra eingerichteten Latrinen. Mit dem Waschbärenkot gelangen etwa 10 000 bis 20 000 Spulwurmeier in die Freiheit. Und diese überleben – im Gegensatz zum kompostierbaren Kot – ewig lange, bis sie ihre Chance gekommen sehen, sich in hochinfektiöse Larven zu verwandeln und als solche zu schlüpfen. Das passiert, wenn sie zuvor gefressen werden, zum Beispiel von kleineren Vögeln oder Mäusen, die nun als Zwischenwirt fungieren. Die mickrigen Larven warten in ihren Eiern zunächst noch geduldig ab, bis die Eierschale durch die Magensäure ihrer Fresswirte zersetzt wird. Gut verdaut und frisch freigelegt kriechen sie dann von hier aus quer durch das Gewebe und die Darmwand. Das passiert oft zum Leidwesen ihrer Zwischenwirte, denn die dadurch entstehenden Verletzungen führen zu inneren Blutungen, Störungen des vegetativen Nervensystems mit Ausfall der Sehkraft oder der Gleichgewichtsorgane und können Verhaltensänderungen bis hin zu ihrem Tod zur Folge haben.

Diese Beeinträchtigungen betreffen vorwiegend die als Zwischenwirte auserkorenen Tierarten. Größere Tiere oder »falsche« Fressfeinde, auch Fehlwirte genannt, scheiden die Spulwürmer mitunter unbekümmert wieder aus. Während die befallenen Fehlwirte also öfters hinforttraben oder -flattern, bewegen sich die befallenen Zwischenwirte nicht mehr viel. Begegnen Sie so, entkräftet und fluchtunfähig, auch noch einem Waschbären – und wie wir wissen, ist diese Gefahr aufgrund der Waschbärendichte in manchen Gebieten Deutschlands nicht gerade gering – ist ihnen zwar ein erlösendes Ende sicher, für die innewohnenden Larven jedoch beginnt nun das prächtige Leben. Denn erst im Körper des Waschbären können die Waschbärenspulwürmer ihr adultes Stadium erreichen.

Die Larveneier sind übrigens gar nicht zwingend auf einen Zwischenwirt zum Heranwachsen angewiesen. Sie können auch direkt über den Kot in den Organismus der Waschbären gelangen; die gemeinsam genutzten Latrinen sind hierfür die ideale Verbreitungsstelle. (Da sich diese verkürzte Version aber nicht so rasant liest, sei sie hier nur kurz erwähnt.)

Nicht hintanstellen darf man in diesem Kontext die tödliche Gefährdung, die vom Spulwurm auch auf den Menschen ausgehen kann: Eine Ansteckung mit den hochinfektiösen Erregern kann bereits erfolgen, wenn man mit Hand und Schaufel eine Latrine der Waschbären aushebt, die beispielsweise auf dem heimischen Dachboden des Geräteschuppens im Garten angelegt wurde (Waschbärenlatrinen sind immer an erhöhten Stellen zu finden). Wir erinnern uns: Still und heimlich können sie sich dort ausbreiten, während wir des Winters noch im Häuschen kuscheln und keine Ahnung haben, welche Party da in unserem zugefrorenen Garten gefeiert wird.

Mit dem menschlichen Auge lassen sich die Spulwurmeier nicht erkennen. Somit reicht schon die Berührung einer verkoteten Stelle an der Schaufel mit der Hand, die irgendwann – sofern sie nicht sorgsam desinfiziert wurde, vielleicht Stunden später – zum Mund geführt wird. Das passiert schnell und unbeabsichtigt, bei Kindern noch viel häufiger als bei Erwachsenen. Nun wurde der Mensch als Zwischenwirt markiert. Und auch, wenn er nicht im Spulwurmkreislauf der Natur vorgesehen wurde, er also ein Fehlwirt ist, besteht die Gefahr, dass sich die Larven im Menschen festsetzen und durch ihre Wanderung im menschlichen Gewebe Nerven beschädigen und Hirnhautentzündungen auslösen. Die Anzahl der Todesfälle lag in den vergangenen Jahrhunderten bei wenigen zwei Dutzend weltweit, die meisten davon ereigneten sich in den USA. In Deutschland ist ein tödlicher Fall zu verzeichnen. Es ist eine seltene, trotzdem nicht von der Hand zu weisende Gefahr, denn Schätzungen zufolge ist bis zu einem Drittel der hiesigen Waschbären vom Spulwurm befallen. Gegner dieser Theorie beschwichtigen: Der Waschbärenspulwurm ist für Menschen nicht gefährlicher als die Spulwürmer von Katzen oder Hunden – und die Gefahr, sich über Letztere zu infizieren, ist um ein Vielfaches höher, denn mit Katzen oder Hunden leben die Menschen auf engem Raum zusammen.

Darum hier noch eine Warnung an alle, liebe Kinder und liebe erwachsene Leser: Weder Katzenkot noch Waschbärenhinterlassenschaften jemals mit den Händen anfassen! Waschbärenlatrinen sollten nach Möglichkeit von Fachexperten ausgehoben und beseitigt werden. In jedem Fall gilt die Pflicht, hierbei einen Mundschutz zu tragen und Propangas sowie viel Heißwasser zur Beseitigung jeglicher Spuren zu verwenden. Wenn das Wissen um den Spulwurm dabei hilft, die Waschbären nicht mehr durch Fütterungen anzulocken und an die Menschen zu gewöhnen, wäre der Sache vielleicht schon geholfen.

Die Pendel-Flamingos aus dem Münsterland

Nun zu einem etwas schöneren Thema: Dachte ich bisher an Flamingos, kamen mir dösig im Wasser ausharrende, farbenfrohe Vögel in einer atemberaubend schönen Landschaft wie dem Ngorongoro-Krater in Tansania oder der Walvis Bay in Namibia in den Sinn. Immer umgeben von viel aufregenderen, wilden Tieren, also Büffeln, Elefanten, Gnus, Zebras oder Flusspferden, denen ich schnell meine gesamte Aufmerksamkeit widmen würde. Die Flamingos dagegen erschienen mir viel zu langweilig und farblos. Doch als ich erfuhr, dass die wilden Münsterländer Flamingos keine von Menschen ausgesetzte Population waren, sondern sich aus eigenem Antrieb hier niedergelassen hatten, war mein Interesse geweckt und ich wollte mehr erfahren.

Nun war es zu Beginn meiner Recherche dunkler, nasser November in Deutschland – und somit unmöglich, sie hierzulande anzutreffen. Erst im Frühjahr kehren sie zurück von ihrem Winterquartier, dem Ijssel- und Veluwemeer unweit von Amsterdam. Neben Nordwestdeutschland vielleicht nicht unbedingt der nächste Ort, an dem man diese tropischen Tiere vermuten würde. Doch die durchschnittlich um 0,4 °C höhere Jahrestemperatur und das salzhaltige Brackwasser sorgen dafür, dass er als Winterresidenz attraktiv ist – die Gewässer frieren in der Regel nicht zu, und somit ist die ganzjährige Nahrungsversorgung sichergestellt. Diese Domizile bewohnen die Flamingos nun schon seit mehr als 30 Jahren, und schon allein von daher gilt: Traditionen sind Traditionen und müssen als solche gepflegt werden. Als Zugvögel sind die Flamingos zudem genetisch dazu »verdammt«, Winter- und Sommerdomizile zu wechseln; erinnert ein bisschen an die saisonalen Massenwanderungen deutscher Rentner nach Mallorca oder auf die Kanaren über die Winterzeit …

Doch in den vergangenen Jahren stellte sich heraus, dass nicht mehr die gesamte Kolonie zu unseren Nachbarn fliegt. Ein Exemplar der Rosaflamingos startet zeitgleich mit seinen Kollegen, biegt jedoch kurz vor dem niederländischen Ziel links ab und landet erst wieder in der südfranzösischen Camargue! Ob er dort unten einen Kurschatten hat oder ihm einfach l’art de la vie français, die französische Lebenskunst, besser gefällt, ist nicht bekannt. Verlässlich stößt er im Frühjahr wieder auf seine restliche Familie und verbringt den Sommer wie gewohnt im schönen Münsterland.

Die Flamingos sind zwar schon seit März wieder hier, doch erst jetzt im Mai haben wir die Chance, die ersten geschlüpften Küken beobachten zu können. Also verbringen wir dieses Wochenende bei Freunden in der Nähe und fahren Sonntagfrüh zusammen nach Zwillbrock in Vreden. Hier befindet sich ein 176 Hektar großes Naturschutzgebiet mit dem zungenbrecherischen Namen »Zwillbrocker Venn« – und hier wohnen die Flamingos.

Der Ranger Sebastian Wantia begrüßt uns, gemeinsam mit ihm begeben wir uns auf eine Reise quer durch die Natur; natürlich mit dem Endziel, möglichst viele der Flamingos anzutreffen. Aktuell leben hier schon die Urenkel der ersten Chile- und Kubaflamingos, also dürfen sie sich neben dem Titel »die am nördlichsten brütende Flamingokolonie der Welt« auch über die Zugabe »Neozoen« freuen. Wir erinnern uns: Neozoon ist nur, wer sich bereits drei Generationen in Freiheit fortgepflanzt hat oder seit über 25 Jahren wild in einem neuen Lebensraum wohnt.

Der Ranger führt uns durch Wiesenwege und über Graslandschaften. Es ist früher Mittag, es ist himmlisch still. Wir gehen über den von wunderschönen Bäumen gesäumten Kreuzweg, gleich neben der Barockkirche mit der ältesten Originaleinrichtung des Münster-landes. Die Sonne scheint, sogar die Kinder sind ruhig vor Staunen über die verwunschene Natur und alle sind wir freudig gespannt.

Schon jetzt kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen, warum mich die pastellfarbenen Vögel mit den ellenlangen Beinen früher nie interessierten. Schon bei den einleitenden Ausführungen des Rangers erfahre ich, dass Flamingos wahnsinnig spannende Tiere sind mit vielen tollen Eigenschaften, von denen wir Menschen uns einiges abgucken können.

Da gibt es zum Beispiel die großartige Einrichtung des kolonieeigenen Flamingokindergartens. Sicherlich werden mir einige Eltern zustimmen, die täglich zwischen schlechtem Gewissen und Organisationsgeschick hin- und herjonglieren: Eine Rundum-sorglos-Betreuung für unsere Kinder ist oft ein Wunsch, doch lange nicht Wirklichkeit. In den Flamingokindergarten hingegen kommen alle kleinen Küken – übrigens vorwiegend Einzelkinder – schon ein paar Tage nach dem Schlüpfen und werden ab sofort von einer wechselnden Mannschaft aus ein bis zwei Altvögeln betreut, während die Eltern sich guten Gewissens ihrem »Daily Business« widmen können. Alles ganz selbstverständlich, ohne Kita-Gutschein, schlechtes Gewissen oder abfällige Kommentare aus der erweiterten Flamingogesellschaft: Es gehört zum guten Ton der Flamingokolonie, den Nachwuchs vollumfänglich durch Experten betreuen zu lassen.