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Was tun, wenn man nicht mehr weiß, wohin? Rucksack aufsetzen, Tür öffnen und loslaufen. Durch ein wildes aber warmherziges Land: Deutschland. Folgen Sie Florian Wolf auf dem Europäischen Fernwanderweg E1 und dem Nibelungensteig. Ein Weg durch eine fremd-vertraute Heimat. Eine Reise zu sich selbst.
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Über den Autor
Florian Wolf, geboren 1981, ist ein Landei, kommt aber mittlerweile gut in der Stadt zurecht. Da das Schreiben ihn noch nicht reich und berühmt gemacht hat, arbeitet der diplomierte Fitnessökonom und Master of Arts in Sportsmanagement als Verkäufer bei Globetrotter.
In seiner Freizeit treibt er Sport, geht Wandern, liest viel und ja, hin und wieder schreibt er auch etwas.
Über das Buch
Wo gehöre ich hin? Wie ist Leben gemeint?
Diese zwei Fragen treiben Florian fort aus seinem bisherigen Leben. Job gekündigt, alte unnütze Sehnsüchte begraben, offen für neue Träume beginnt er seine Wanderung durch Deutschland. Entlang des Europäischen Fernwanderwegs E1 begibt er sich auf die Suche nach einer Heimat, um darin sich selbst zu finden.
Selten ist der, welcher die Reise beginnt immer noch derselbe, wenn er sie beendet – und das ist gut so. Ein Buch ist, wie auch der Weg selbst, solch eine Reise. Also schreiten wir los, begleiten wir Florian auf einer heiteren, zynischen und oft nachdenklichen Wanderung in der verloren geglaubten Heimat.
Leben ist eine Reise, die heimwärts führt.
(Herman Melville)
Ein Wort vorweg
Warum wohin?
Der Odenwald
Nach Steinklingen
Nach Unterhof
Der Kraichgau
Nach Bruchsal
Machtkampf mit dem Schweinehund
Der Schwarzwald
Nach Dobel
Zur Wegscheide
Zuflucht ist zu
Zur Spitzberghütte
Auf die Doldenbühler Höhe
Drumherum und drüber hinweg
Zum Hierabrunnen
Zur Schurhammerhütte
Der Hegau
Zur Buchberghütte
Der Stofflerhof
Der Bodensee
Nach Konstanz
Zurück in den Alltag
Zwischenspiel
So etwas wie Gedichte
Teil 2 – Alte Heimat
Im Land des Drachentöters
Nibelungenland
Zur Gralsburg
Danksagung
Bestandsaufnahme – eine abstrakte Betrachtung meiner Situation
Es gibt diese zwei Fragen, die mich beschäftigen und keine Antwort will mir einfallen. Diese zwei Fragen sind sowohl Grund für die Orientierungslosigkeit, die mir durch den Tag folgt, als auch eine Art Triebfeder meiner Handlungen.
Wo gehöre ich hin?
Wie ist Leben gemeint?
Je mehr ich über beide nach grüble, desto mehr Fragen ergeben sich daraus – aber eine Antwort? – Die habe ich noch nicht gefunden. Irgendwie ahne ich, dass beide Fragen miteinander verknüpft sind. Wenn ich nur herausfinden könnte, wie sie zusammenhängen, wäre ich vielleicht schon einen Schritt weiter. Muss man nicht wissen, woher man kommt, um erkennen zu können, wohin man gehen will?
Entwurzelt bin ich, habe ich mich. Es ist einfach passiert. Dort, wo ich war, fühlte ich mich nicht mehr zuhause, dort, wo ich hinging, waren nur Stationen einer Reise, die sich irgendwo im Nichts verirrt hat. Freundschaften blieben zurück, Träume gingen verloren, Pläne von einer Zukunft wurden durch den Augenblick ad absurdum geführt. Begegnungen, Erlebnisse, Erfahrungen werfen ein enthüllendes Licht auf unser menschliches Streben und offenbaren die Schatten, die in seinen Widersprüchen lauern. Welchen Wert hat Status, welchen dieses Streben nach Reichtum, Macht und Ruhm? Ist das Glück? Wie kommt es dann, dass diesem Streben stets die Tragödie auf dem Fuße folgt?
Wenn das Leben einem Weg gleicht, so führte mich dieser an eine Kreuzung ohne Wegweiser, und obwohl in der Ferne die Versprechungen um die Wette leuchteten, drängte sich mir keiner dieser Wege auf. Es war vielmehr eine Art Ekel, der mich vom Weitergehen abhielt. Aber eine Alternative schien es nicht zu geben, oder doch? Einfach ausbrechen? Vielleicht hat man unterwegs die richtige Abzweigung verpasst, war so beschäftigt mit dem Vorwärtskommen, mitgerissen von der Menge, so in seinem Tunnelblick gefangen, dass man den unscheinbaren Pfad, diese mögliche Alternative zum vorgegebenen (vorgeschriebenen?) Weg einfach übersehen hat.
Und dann diese Menschen, überall diese Menschen. Laufen einander hinterher, ohne dass jemand weiß, wohin sie eigentlich laufen. Nur immer der großen Leuchtreklame von einem besseren Leben hinterher. Konsum und Besitz versprechen Glück. „Kauf mich und sei anders, sei besser als dein Nächster,“ klingt ihr Lockruf und wir folgen – der Rattenfänger spielt seine Melodie. Wie laut es ist in diesem Menschengewühl, jeder will gehört werden. Wie anstrengend es ist voranzukommen mit all den Ellenbogen in den Rippen. Noch unmöglicher scheint es, stehenzubleiben oder gar umzukehren.
Ich steckte da mittendrin, ließ mich mitreißen. Besser werden, um besser zu sein – Profilierungssucht. Doch dann siehst du in die Gesichter deiner Mitmenschen, siehst ihre gehetzten Mienen, du trampelst über die Körper der Ausgebrannten und Auf-der-Strecke-gebliebenen und fragst dich zum ersten Mal: Warum das alles? Schließlich streift dein Blick ein Spiegelbild – dein Spiegelbild - und du erstarrst… alles um dich herum scheint zu erstarren. Für einen Augenblick bleibt deine Welt stehen, denn du siehst, was du geworden bist, was du noch werden wirst – Kollaps – Frontalcrash mit der Realität. Das sollst du sein? Dieser gierige, gehetzte Widerling, der in allem was er tut, seinen Mitmenschen gefallen will, ihnen folgt, sich ihnen anpasst, aber bei einer passenden Gelegenheit nicht davor zurückschrecken würde, ihnen den Ellenbogen oder besser gleich ein Messer in die Rippen zu hauen? Man ist zu einem Arschloch geworden wie alle anderen, zu etwas, was man stets vermeiden wollte.
Dieser Augenblick der Stille, in dem alles um einen herumstehen geblieben ist, verstreicht schnell, der Strom reißt einen bereits weiter, doch nichts ist mehr, wie es mal war. Man kann sich nicht mehr einreihen in dieses Heer der Materialisten und Konsumzombies. Stehenbleiben? Umdrehen? Es ist so schwer der Kraft der Gemeinschaft zu entkommen und so hat es mich an diese Kreuzung gespült. Hier ist es möglich, stehen zu bleiben, denn der Strom teilt sich, jeder folgt der Leuchtreklame, die ihm den besten Status verspricht. Am Rand dieser Kreuzung stehe ich also und beschließe irgendwie zurückzukehren, um den alternativen Pfad zu finden – es muss ihn geben… es muss…
Gerüstet mit einer ideologischen Machete und einer Menge Wut und Trauer im Bauch schlage ich mich querfeldein durchs Unterholz. Der Weg, den ich mein Leben lang verfolgt hatte, war letztendlich nichts anderes als ein Fließband, auf dem Menschen durch die Fabrik Gesellschaft zu linientreuen Konsumenten gemacht werden. Jetzt war ich ausgebrochen, habe mich abgewandt von meinem früheren Ich, von diesem ganzen irrsinnigen Streben. Alles, was ich gewesen bin, war eine Illusion, ein Maskenball, auf dem man sich mit Erfolg und Glück schmückt und zur Musik der anderen tanzt. Das hier, dieser Quergang war aufregend, jeder Schritt eine neue Herausforderung, kein vollkaskoversichertes Leben mehr, in dem ein Staat, eine Wirtschaft oder eine Gesellschaft meine Schritte lenken – alles neu, alles aufregend. Leben. Endlich Leben.
Egal, welche Richtung man einschlägt, nie ist die Welt durchgehend rosarot. Ich hatte mein Mehr an Freiheit gewonnen, doch wusste ich sie nicht richtig einzuschätzen. Was war sie wert? Was konnte ich mit ihr anfangen? Hieraus resultierte auch meine Entwurzelung. Alles, was vorher war, hatte seine Bedeutung verloren, eine neue Bedeutung war noch nicht gefunden. Wo gehörte ich nun hin? Was war mein Platz in diesem Leben? Wo war meine Heimat? Die Freiheit den eigenen Weg zu gestalten hat zudem auch Schattenseiten – es ist eine einsame, mühsame Angelegenheit. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich fragt: Warum das alles? Ist es diese Anstrengung wert, das Leben? Ist es nicht egal, wie man gelebt hat, wenn am Ende ohnehin der Sensenmann auf uns alle wartet? Hier begann meine Sinnkrise.
Manchmal, wenn man die Orientierung verloren hat, ist es hilfreich dorthin zurückzukehren, von wo man ursprünglich kam. Dort diese beiden Fragen
Wo gehöre ich hin oder, einfacher, was ist Heimat?
Wie ist Leben gemeint?
aufgreifen und sie bei jedem Schritt prüfen, sie zum Kompass machen, so konnte der Plan lauten. So dahin grübelnd schlüpfte ich durch eine dichte Hecke und da war es: Lindenfels. Ich war zurückgekehrt, doch war ich heimgekehrt? Wohl kaum. Zwar bin ich hier geboren worden und aufgewachsen, aber hier enden? Nein, vielmehr sollte hier erst meine Reise beginnen, auf der Suche nach Antworten, auf der Suche nach einer Alternative.
Etwas konkreter: Der E1
Lindenfels also, diese Kleinstadt am Rande des Odenwaldes, die doch nicht mehr als ein Dorf ist. Ein Ort, der eine Historie hat und eine Seele. Während er heute immer noch von dieser Historie lebt, siecht seine Seele langsam dahin. Ob es gut war, dass die Einwanderung großer Supermarktketten an der Sturheit, aber auch an der Kurzsichtigkeit der Lindenfelser Kleinbürger scheiterten, lässt sich diskutieren. Vielleicht konnte dadurch die Seele des Orts, mit seiner Fachwerkhaus-und-Burgruinen-Idylle kurzfristig gerettet werden, wirtschaftlich aber stirbt er. Junge Menschen ziehen fort, gelockt von der Leuchtreklame der Großstadt, ältere sind frustriert, weil sie es nicht getan haben. Ein Geschäft nach dem anderen schließt, nun zuletzt auch das Krankenhaus. Es ist die sich überall wiederholende Tragödie des Ländlichen. Wie die Meister des Kapitalismus sagen: Either you grow or you go! Wachse oder verschwinde – und so verschwinden Orte wie Lindenfels in der Bedeutungslosigkeit.
Auch ich wollte irgendwann einfach nur weg. In Lindenfels leben heißt in der Depression zu leben und in der Vergangenheit. Da es in solchen Orten keine Zukunft gibt, verhängt man zwangsläufig im Gestern. Jedes Mal, wenn ich zurückkomme, werde ich melancholisch, denke an schöne Kindertage, an eine nicht immer so schöne Jugendzeit und an den Wunsch einfach nur wegzukommen. Hals über Kopf ging ich fort, folgte dem Strom – der würde schon wissen, wo es hingeht – wusste er nicht. Nun bin ich zurück im Haus meiner Eltern, sitze in meinem alten Zimmer und starre die Wand an. Wie soll ich es diesmal angehen? Wie will ich dieses Mal gehen? Langsam muss ich dabei sein.
Als ich das erste Mal von hier floh, geschah alles zu schnell. Über die Station Augsburg ging es nach München. Das Landei in der Stadt – es hätte gut gehen können… Doch der Idealist und Anarchist, der ich nun mal bin, in einem Job der Autorität fordert und das Buckeln vor dem Vorgesetzten, das konnte nicht gut gehen. Dienstleistung in der Freizeitbranche, klang verlockend, doch Leistung steht vor Dienst und wenn gedient wird, dann nur dem schnöden Mammon. Menschen, denen ich per Definition meines Jobs helfen sollte, zu bescheißen lag mir nicht. Magenkrämpfe und eine sich zunehmend verschlechternde Gesundheit waren die Folge. Eines Morgens stand ich auf, blickte in den Spiegel und fand mich alsbald auf der zuvor beschriebenen Kreuzung wieder. Vor mir nichts als Schwärze und hinter mir der verrottete Rest von Traumleichen, die nie wirklich leben durften.
Ausbrechen, quergehen.
Der Job war ebenso schnell gekündigt wie die Wohnung, alle Brücken waren verbrannt und die Ferne wartete. Weiter weg als Australien geht kaum, also ging es dorthin. Ein Jahr als Vagabund folgte. Gehen lassen, getrieben werden vom Lauf der Dinge, jeden Tag eine neue Welt, in der Zeit keine Rolle spielt. Der Versuch sich in die australische Gesellschaft einzugliedern scheiterte trotzdem. Die Arbeitswelt ist überall in „zivilisierten“ Ländern gleich und der Australier als Mensch mir zu oberflächlich. Tiefe fand ich nur in der Natur und der Begegnung mit mir selbst, ich wurde immer mehr zum Einzelgänger. Obwohl ich die Zeit sehr genossen habe, dieser Ausbruch in die Ferne genau das war, was ich brauchte, war ich froh, als das Jahr und damit mein Visum zu Ende ging. Australien war eine überragende Erfahrung, aber eine Heimat, der Platz für mich auf dieser Welt, das war es nicht.
Nach dem Jahr in der Ferne war die Welt noch immer die gleiche geblieben. Zurück in den Alltag muss ich, aber muss der Alltag immer der gleiche sein? Da sitzen und die verlorenen Gedanken wieder aufsammeln, die Gedanken an eine vergangene Reise und eine Suche nach einem anderen Alltag, um darin nach einer Antwort zu fahnden und nichts zu finden. Da sitzen und erkennen, dass man ein Jahr aber keinen Schritt weitergekommen ist. So sitzt sie da, die Bitterkeit, sitzt wie immer alleine und frisst die Hülle Mensch um sich.
Wenn die Antwort nicht in der Ferne liegt, vielleicht liegt sie dann in der Nähe. So kam ich zurück nach Lindenfels, wo ich immer noch sitze und die Wand anstarre. Wegmüssen, weiter suchen, aber wie? Etwas anderes habe ich noch gar nicht erwähnt, warum weiß ich nicht, vielleicht weil wir nicht gerne über unsere Ängste sprechen. Wir sind in einer Gesellschaft der Stärke groß geworden und Angst zeigen heißt Schwäche zeigen. Aber da ist etwas, das mich erschauern lässt, eine tief sitzende Furcht ist sie meine Routinephobie. Ich habe fürchterliche Angst vor dem Alltag, vor der Routine des alle Tage, alles gleich. Jeden Morgen aufstehen zu müssen und zu wissen, dass der neue Tag nur eine Kopie der vergangenen wird. Highlights setzt nur das Fernsehprogramm, ansonsten ist Stillstand. Langeweile in der Endlosschleife, um irgendwann aus diesem Dornröschenschlaf zu erwachen und zu merken, dass das Leben vorüber ist, dann in Panik zu verfallen und sich einen Porsche zu kaufen, bei dieser Aussicht läuft mir der Angstschweiß die Stirn herunter. Es muss doch eine Möglichkeit geben, das Leben anders zu gestalten. So wird meine Suche nach der Heimat und dem Sinn auch und vor allem eine Suche nach einem anderen Alltag, denn genau in diesem vermute ich meine Heimat.
Mir fällt ein Buch in die Hände, unscheinbar steht es im Regal, lehnt sich gelangweilt gegen seine Brüder. Als ich es greife, scheint es zu erwachen, es zittert in meiner Hand vor Erregung, erwartungsfroh schaut es mich an und lädt mich ein, es zu lesen. Auf seinem Deckel verrät es mir seinen Namen:
Europäischer Fernwanderweg E1.
Von der Nordsee zum Mittelmeer führt der Europäische Fernwanderweg E1.
So steht es im Geleitwort. Eine interessante Idee. Mit dem Finger zeichne ich auf der Landkarte den Wegverlauf nach. Hoch oben von Kiel bis runter nach Konstanz durchschneidet er Deutschland. Schleswig, die Heide, Sauerland, Westerwald, Taunus, den Odenwald… den Odenwald? Das sehe ich mir genauer an. Tatsächlich, der Weg führt nur wenige Kilometer entfernt an Lindenfels vorbei. Hatte ich nicht geklagt, beim letzten Mal zu schnell aufgebrochen zu sein? Was ist langsamer als Wandern, was natürlicher? Kaum etwas. An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass Wandern kein Neuland für mich ist. Besonders gerne mag ich Fernwanderungen. Klar, auch Tagestouren haben ihren Reiz und bieten Erholung. Aber ich will mich nicht nur erholen, ich will ausbrechen – zumindest für eine Weile. Mit jedem Tag auf einer Fernwanderung entfernt man sich mehr vom Gewohnten und seiner eigenen Rolle darin. An diesem Punkt wird Wandern zur Philosophiefrage. Ich weiß, Wandern klingt langweilig und bieder, aber ist nicht das Gegenteil der Fall, ist es nicht geradezu Anti-Establishment, ein Ausbruch aus der gesellschaftlichen Norm und gesprengte Ketten? Revolution mit den Füßen. Revolution gegen die gewohnte Bequemlichkeit. Für mich Grund genug zum Wandern. Um es in den Worten von Emil Zátopek zu sagen: Vogel fliegt. Fisch schwimmt. Mensch läuft. - und zwar mindestens zwanzig Kilometer am Tag. Dafür ist die Hochleistungsmaschine Mensch gemacht. Wenn es so einfach ist, warum laufen wir dann nicht mehr? Ich schätze, wir haben es verlernt. Gewohnheit und Trägheit sind die Eckpfeiler einer modernen Gesellschaft. Nichts ändern und bitte nichts Neues – ist alles zu unbequem.
Doch Wandern ist nicht nur unbequeme Bewegung, es ist zu allem Überfluss auch Reduzierung. Verglichen mit dem Auto ist es eine Reduzierung in puncto Strecke, Gepäck und Komfort. 30 Kilometer statt 300. 20 Kilogramm Gepäck statt 200. Schmerzen in Schultern, Beinen und Füßen statt nur im Rücken.
In diesem Zusammenhang drängt sich eine weitere Frage auf: Wie wenig brauche ich zum Leben?
Aus dieser Frage und der Reduzierung auf das Kleine und Wenige erwächst eine Erhöhung. Eine Erhöhung des Ich, des Erlebnisses und der Erfahrung. Mensch statt Maschine. Alle Sinne statt Sinnlosigkeit. Entdecken statt übersehen.
Vor der eigenen Haustür starten, von hier aus an das südliche Ende der Bundesrepublik zu laufen liegt so nahe, dass es mir bisher noch gar nicht eingefallen ist. Tür auf und los – so einfach. Raus in eine neue Welt, denn selbst das Bekannte wird neu, wenn wir es aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Ich will Deutschland mit den Augen eines Vagabunden sehen, eines neben der Gesellschaft Stehenden. Und wenn ich genau schaue und eifrig suche, vielleicht finde ich die ein oder andere Antwort, vielleicht ein Stück Heimat, vielleicht etwas wie Sinn oder kurz den anderen Alltag, die Alternative zum genormten Einheitsleben unserer Wohlstandsgesellschaft.
Wo alle geradeaus gehen, dort biege ab, soviel habe ich gelernt in meinem bisher kurzen Leben. So komme ich auf den Pfad, dem sonst niemand folgt. Er ist überwuchert und häufig genug rate ich ihn eher, als dass ich ihn sehe. Dies klingt nach einem großen Abenteuer und doch ist es nur Deutschland – Nur?
Hinten fällt die Tür ins Schloss, vorne öffnet sich die Welt. Die bedrückende Kleinstadtenge bleibt heute fern, denn Ferne liegt vor mir – weites Land. Dem Ort, an dem man geboren wurde und aufwuchs, haftet immer ein Gefühl von Heimat an. Und doch ist es nicht mehr der Platz, an dem ich zuhause bin, wird es nie wieder sein. Schon während der ersten Schritte bin ich Fremder in dieser einstigen Heimat. Schon früh auf meiner Wanderung versuche ich für mich zu definieren, was das eigentlich ist, diese Heimat. Ein erster Eintrag in meinem Tagebuch lautet daher auch:
Wanderer sind wir – vom Fernweh getrieben, von der Weite verführt. Heimatlose sind manche von uns, andere tragen die Heimat mit sich, sie ist irgendwo im Herzen und in den Gedanken. Dieser Gedanke allein gibt Geborgenheit.
Meine Heimat waren einmal die sanft geschwungenen Hügel des Odenwaldes, seine Märchenwälder, seine verwunschenen Täler und seine urigen Städte. Die Häuser in Fachwerk gekleidet, eingebettet in Grün und über allem thronte die Schlierburg mit dem Rest ihres trutzigen Gemäuers. Das ist Lindenfels – nie ist dieser Ort so schön wie an einem weit entfernten Fleck. In der Erinnerung. In der Ruhe und dem Sturm des Reisens – als Anker. Doch dort zu sein heißt, dieses Idealbild bröckeln zu sehen, das Tagein-Tagaus des Kleinstadtlebens tötet den Zauber, fortgehen bedeutet den Zauber zu bewahren. Es gibt Bilder, die sollte man im Herzen tragen.
Die Wahrnehmung schärft sich, Gerüche, Farben, Geräusche und Stimmungen – sensibles Näschen, wacher Blick – ein Prickeln läuft über die Haut. Man fühlt. Durch den Odenwald ist es Routine und ist es nicht. Mythen ranken sich um ihn, mit seinen Legenden bin ich wohl vertraut, doch heute ist die Perspektive eine andere, heute bin ich Entdecker.
Woher der Odenwald seinen Namen hat, ist nicht ganz geklärt. Man streitet über diverse Varianten. Leitet er sich ab vom Göttervater Odin? Aber der hieß hier im süddeutschen Raum doch Wotan. Dennoch gibt es sogar eine Gemeinde, die Odenbach, nachweislich abgeleitet vom mittelalterlichen Odinsbach, heißt.
Oder kommt die Bezeichnung dieser Region eher von dem Wort Ode, was nichts anderes als Sage bedeutet? Möglich. Schließlich ist der Sagenwald bekannt dafür, dass Siegfried von Xanten, der Drachentöter aus dem Nibelungenlied, hier sein Ende fand.
An vielen Tagen meiner Jugend hätte ich die Ableitung des Odenwaldes vom Ödenwald für angemessen erachtet.
Der erste Tag ist auch und vor allem eine Wanderung durch meine Erinnerung. Lange war ich fort aus dieser Gegend und dennoch ist sie mir stets vertraut geblieben. Aber wohl zum ersten Mal nehme ich sie als Besucher war. Früher war die Fortbewegung hier weniger Wunsch, als vielmehr Notwendigkeit. Immer schnell. Husch husch, rasch rasch. Ich wollte nichts sehen, wollte nur durch. Hasskappe gegen diese kleine kaputte Welt. An der Oberfläche alles heil. Einfamilienhäuschenidylle und Kleinstadtschrulligkeit. Darunter ein Träumefriedhof. Gescheiterte Existenzen ertrinken im Feierabendbier.