Helles Land - Mary E. Garner - E-Book
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Helles Land E-Book

Mary E. Garner

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Beschreibung

Clay ist eine Hohe Hüterin der Bäume in einer Welt, in der zwei Sonnen unbarmherzig niederbrennen. Sie allein kennt den Standort der geheimnisvollen Lichteiche, die das gesamte Land des Waldes beschützt. Doch nun droht dem Heiligen Baum höchste Gefahr - das Refugium und somit das Leben aller Bewohner steht auf dem Spiel. Ein skrupelloser Feind scheut vor keinem Verbrechen zurück. Und so müssen Clay und ihre Gefährten alles riskieren, um den Baum und ihr Land zu retten. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungHinweisProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. KapitelEpilogPass auf dich auf: Triggerthema »Folter«Ein fettes Dankeschön

Über dieses Buch

Clay ist eine Hohe Hüterin der Bäume in einer Welt, in der zwei Sonnen unbarmherzig niederbrennen. Sie allein kennt den Standort der geheimnisvollen Lichteiche, die das gesamte Land des Waldes beschützt. Doch nun droht dem Heiligen Baum höchste Gefahr – das Refugium und somit das Leben aller Bewohner steht auf dem Spiel. Ein skrupelloser Feind scheut vor keinem Verbrechen zurück. Und so müssen Clay und ihre Gefährten alles riskieren, um den Baum und ihr Land zu retten. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

Über die Autorin

Mary E. Garner träumte sich schon immer gern in die Welten ihrer Lieblingsbücher. Bevorzugt jene, die in ihrem geliebten England spielen. Ihrer persönlichen Leidenschaft zur großen Insel und deren literarischen Figuren entsprang die Idee zu Das Buch der gelöschten Wörter, in das sie nun auch ihre Leserschaft in entführt.

MARY E. GARNER

HELLESLAND

Die Erwähltedes Heiligen Baumes

ROMAN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Copyright © 2021 by Mary E. Garner

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Friederike Haller, Berlin

Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff unter Verwendung von Motiven von © Adobe Stock: momosama | LiliGraphie | tomertu | quickshooting | MiaStendal | Djero Adlibeshe | Elena Schweitzer

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0987-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für Maggie.

Weil ich manchmal nicht weiß, wohin mit all der Liebe, die ich für dich immer noch in mir trage. Liebe wie ein riesiger, lebendiger Baum. Mit endlosen Wurzeln, die in alle Bereiche meines Lebens reichen. Mit süßen Früchten und verheißungsvollen Samen. Mit flüsterndem Laub, das mir Erinnerungen zuraunt. Und mit einer grünen, sanft im Wind rauschenden Krone, die mich beschützt.

Missing. Missingmissing you.

 

Hinweis: Zu dieser Geschichte gibt es hier eine Triggerwarnung. Wenn es Themen gibt, die dir so ungute Gefühle bereiten, dass die Lesefreude damit auf der Strecke bleibt, schau kurz nach, ob es »dein« Thema ist.

Ich möchte mitreißende, spannende Geschichten erzählen – aber noch viel mehr möchte ich, dass es dir dabei gut geht!

PROLOG

Ich folge dem vertrauten Pfad durch das Refugium, während Blätter auf mich herabregnen, die der zornige Wind von den Zweigen reißt. Ein Sturm, wie wir ihn seit Jahrhunderten nicht erlebt haben, tobt über dem Wald und lässt den Boden erzittern. Je näher ich meinem Ziel komme, desto heftiger wütet die Gewalt.

Hier und da stürzen Bäume mit tosendem Krach zwischen ihre Kameraden. Durch die entstandenen Lücken im Kronendach des Waldes kann ich die Sterne am Himmel glitzern sehen. Morgen früh schon, wenn die zwei Sonnen aufgehen, werden ihre sengenden Strahlen diese Löcher suchen, bis herab zum Boden dringen und langsam verdorren, was dort gerade noch grün und frisch wächst.

Doch vielleicht kann ich noch etwas retten. Durch das größte Opfer, das ich in der Lage bin, mit meinem schwachen, menschlichen Vermögen zu erbringen.

Das grüngoldene Licht, das zwischen den Bäumen herrscht, lässt den Weg vor meinen Augen verschwimmen. Oder sind es die Tränen, die immer wieder in mir aufsteigen?

Ich habe alles versucht, was in meiner Macht steht. Ich habe das Leben aller Menschen, die ich liebe, in Gefahr gebracht.

Nun ist es an der Zeit, mein eigenes in die Waagschale zu werfen.

Schon von Weitem, noch ehe ich ihn sehe, kann ich den Heiligen Baum hören.

Mächtige Äste knarren und ächzen. Zweige peitschen knallend. Die letzte Biegung des schmalen Weges.

Da ist sie. Die Lichteiche.

Gigantisch. Riesig. Wunderschön. Und voller Macht.

Das einzige Lebewesen, das den beiden sengenden Sonnen unserer Welt ohne Hilfe standhalten kann. Jetzt im Dunkeln ist nicht zu erkennen, dass ihr wie nass glänzendes Laub in der Lage ist, die alles niederbrennenden Strahlen zu reflektieren. Und doch würde jeder Mensch mit allen Fasern seines Seins spüren, dass dies ein heiliger Ort ist – selbst diejenigen, die nicht über jene besondere Gabe verfügen, wie ich sie besitze.

Als ich einen weiteren Schritt in die Richtung meiner Baumfreundin tun will, saust ein Ast direkt vor meine Füße und prügelt den Boden so heftig, dass mir Erde ins Gesicht spritzt. Mit angehaltenem Atem friere ich in der Bewegung ein.

Ich soll nicht näher kommen. Das ist mehr als deutlich. Aber wie soll ich dann mein Opfer bringen?

Unsicher stehe ich da und blicke den gewaltigen Stamm hinauf, den zwanzig Frauen und Männer gemeinsam nicht würden umfassen können. Handgroße Blätter mit dem typischen Wellenmuster wirbeln um mein Gesicht wie panische Falter. Einige bleiben in den tiefen Falten stecken, die sich durch die raue Borke ziehen und in die problemlos eines meiner Beine passen würde.

Der Wind zerrt an meinen Haaren und meiner Kleidung. Er wird auch die Worte von meinen Lippen reißen, egal wie laut ich rufe. Also gehe ich in die Knie und lege die Handflächen auf den Boden. Dicht unter der aufgepeitschten Erde fühle ich das raue Holz einer starken Wurzel. Ich schließe die Augen.

Und da ist sie, die Verbindung, die mich so oft beglückt hat. Ich spüre die Frage darin. Ahnungsvoll.

Ja, antworte ich ihr. Ich bin hier. Du hast die Warnung erhalten, die ich dir geschickt habe, nicht wahr? Deswegen der Sturm?

Ihre Frage wird größer. Drängender.

Ich verstehe, dass du wütend bist, aber Helles Land braucht dich, denke ich so deutlich wie möglich. Wir brauchen deinen Nachwuchs. Die Samen in deinen Früchten können unsere Welt retten. Sie können zu neuen Lichteichen heranwachsen und das Land schützen. Nicht nur das Refugium, sondern die ganze Welt, die wir Helles Land nennen. Savannah benötigt den Schutz deiner Art ebenso wie die Türme. Ich bin hier, um dich zu bitten, uns deine Früchte jetzt schon zu schenken.

Die Bilder, die der Baum mir sendet, sind so klar und schmerzlich, dass ihnen gelingt, was alle Schrecken des Sturms nicht vermocht haben: mich bis ins Innerste zu erschüttern. Junge Lichteichen, große, schlanke, starke Bäume. Längst nicht so gewaltig wie dieser Baum vor mir, der ihren Samen hervorgebracht hat. Aber dennoch mächtiger als alle anderen Arten, die wir Menschen kennen. Aufblitzende Klingen aus Diamant. Scharf und erbarmungslos. Hieb um Hieb.

Nein!, versuche ich gegen diese Bilder anzugehen. Nein, das wird nicht wieder geschehen. Ich gebe dir mein Wort. Ich verbürge mich für die Mächtigen der Türme und für die guten Menschen aus Savannah. Niemand wird deine Nachkommen anrühren! Wir brauchen die Samen, wir benötigen deine Hilfe. Jetzt. Es ist keine Zeit zu verlieren, wenn nicht Hunderttausende sterben sollen.

Die schmerzhaften Bilder, dreihundert Jahre alt, aber in diesem Baum so lebendig wie mein Gestern, verblassen. Stattdessen spüre ich erneut die Frage. Sehe kurz mein eigenes Gesicht.

Ich bin hier, um mich selbst als Opfer zu geben. Wenn die alten Geschichten tatsächlich wahr sind und du ein Menschenleben als Siegel für ein Versprechen nimmst, dann bin ich hier, um diese Bindung zu erneuern. So wie es vor langer Zeit vielleicht schon einmal geschehen ist, biete ich mich dir als Sühne für die Verbrechen unserer Art an deiner an. Bitte. Hilf uns.

Die Wurzel unter meinen Händen wird warm. So drängend will die Lichteiche mir etwas sagen. Ich spüre es ganz unmissverständlich.

Ja.

Es ist ein Ja!

Zusammen mit einem mächtigen, kraftvollen Willen.

Aus meiner Kehle löst sich ein Schluchzen. Ich öffne die Augen und sehe hinauf.

Der gewaltige Baum vor mir schwankt immer heftiger. Nicht der Sturm lässt ihn derart wogen. Es ist der Baum selbst, der den Sturm entfacht. Wie ein riesiger Fisch in einem Becken, der das Wasser darin zum Brodeln bringt.

Seine Äste peitschen und knallen. Weit oben sehe ich die untersten der zwölf großen Früchte wild hin- und herpendeln. Doch sie sind noch nicht reif genug. Sie halten sich fest an ihren Stielen. Mir wird klar, dass es nicht gelingen wird. Sie werden nicht herabstürzen, selbst dann nicht, wenn der Baum es will.

Da verändert sich der Sturm, und ich begreife, dass er noch längst nicht das Höchstmaß seiner Kraft entwickelt hat. Rasch greife ich nach den umherschlagenden Zweigen eines Busches, halte mich fest, um nicht umgeworfen zu werden.

Es kracht.

Ich schaue am Baum hinauf. Sehe, dass etwas geschieht, von dem ich nie geglaubt hätte, dass es möglich ist. Die Lichteiche neigt sich, stärker und stärker.

Und plötzlich begreife ich. Das gefürchtete Opfer muss anders erbracht werden als erwartet.

Wie dumm ich gewesen bin. Hatte mir vorgestellt, wie hölzerne Arme mich in eine weise Umarmung zögen, hin zum viele Fuß dicken Stamm. Hatte dieses Bild vor mir gesehen, wie dicke Rinde innerhalb weniger Wimpernschläge über mich hinwegwachsen würde, mich einschließen in diesem alten, mächtigen Baum, in dem mein Körper fortan wie ein Teil von ihm hausen würde.

Doch es wird anders kommen, wird mir schlagartig bewusst. Und zum ersten Mal, seit ich diesen Weg eingeschlagen habe, beginnt mein Herz in meiner Brust zu flattern wie ein Tausänger in der hohlen Hand.

Die Lichteiche lehnt sich erneut in meine Richtung. Die Erde bebt. Wurzeln reißen sie auf, lassen Sträucher wie Grasbüschel durch die Luft fliegen. Ein ohrenbetäubendes Krachen übertönt das Tosen des Sturms.

Nun ist es also so weit.

Genug des großen Abenteuers. Genug der Worte und der vergeblichen Versuche. Ich weiß, es wird gelingen. Durch mein Opfer wird Helles Land gerettet werden. Und alle, die ich liebe, werden weiterleben.

Kurz schließe ich die Augen.

Mein Leben ist gut gewesen und hat Sinn ergeben. Es gab Liebe darin, und ich habe einer großen Sache gedient. Im Grunde habe ich alles erlebt, was ein Mensch sich wünschen kann.

Der Gedanke hinterlässt einen feinen Schmerz in der Herzgegend. Ich will es nicht, nein, wirklich nicht, erst recht nicht jetzt, in den letzten Augenblicken. Dennoch taucht sein Gesicht hinter meinen geschlossenen Lidern auf. Er sieht mich an mit diesem spöttischen Blick. Seine dunklen Augen, die in mich hineinschauen.

Ich reiße meine eigenen wieder auf.

Nein, das jetzt nicht. Bitte kein Bedauern in den letzten Atemzügen.

Es ist zu spät.

Alle Gedanken versuche ich aus meinem Kopf zu verbannen und hefte meinen Blick unverwandt in die schwankende Krone der Lichteiche.

Die Augen zu schließen würde mir feige vorkommen im Angesicht des Opfers, das sie bringen wird. Also blicke ich hinauf. Und breite die Arme aus.

In ihrem Schutz, an ihrem Stamm hat all dies begonnen …

1. KAPITEL

Der süße Klang des ersten, hellen Tons aus der Kehle eines Tausängers ließ mich erwachen. Ich schlug die Augen auf und sah das orange gefiederte Tier auf der äußersten Zweigspitze eines benachbarten Astes sitzen, keine zehn Meter von mir entfernt. Der winzige Kerl hätte in meine geschlossene Hand gepasst, doch seine Stimme durchdrang den Wald auf Meilen.

Der Vogel sang eine komplette Strophe, sträubte dann sein Kopfgefieder und fiel in den Refrain des Morgenliedes.

Still lag ich da, die Wange auf das weiche Moos gebettet, das den meterdicken Ast bedeckte, auf dem ich ruhte, und lauschte ihm, wie er die Schönheit des erwachenden Tages pries.

Bei dieser Vogelart singen die Männchen am Morgen und die Weibchen am Abend. Die weniger auffällig in Grün, aber ebenso harmonisch gefärbte Partnerin dieses hübschen Gesellen musste irgendwo in der Nähe sein, doch ich wagte nicht, den Kopf zu heben und nach ihr zu schauen, aus Angst, den Sänger aufzustören.

Ein kristallblauer Schmetterling flatterte vorbei, ließ sich auf der Flechte dicht neben meinem Kopf nieder und schien an dem Gesang ebenfalls Gefallen zu finden.

Auf den Refrain folgte die zweite, dann auch die dritte Strophe. Bis der kleine Vogel sich schließlich zufrieden zeigte, die Flügel spreizte und geschwind wie eine Hornisse zwischen den Ästen hindurch davonsauste. Ein jadegrüner, winziger Schatten folgte ihm surrend.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht setzte ich mich auf und strich mir das im Schlaf zerzauste, schulterlange Haar aus dem Gesicht. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen den warmen Stamm hinter mir und genoss die Kraft, die ich dort spürte. Meine Fingerspitzen suchten in Moos und harmlosen Flechten eine kleine Lücke und betasteten vorsichtig die darunter liegende meterdicke Rinde.

»Ich hätte mir denken können, dass sich in deinen Ästen auch ein Tausänger niederlässt«, sagte ich leise. »Bei dir fühlen sich auch die zerbrechlichsten Geschöpfe sicher und beschützt.«

Direkt über mir raschelten ein paar Blätter. Andere hätten an einen Lufthauch geglaubt. Aber ich wusste, dass es ihre Antwort war, und spürte tiefes Glück darüber in mir vibrieren.

Ich war froh, dass ich mich gestern durchgesetzt hatte und hergekommen war.

Nach Sonnenaufgang hatte mich plötzlich diese innere Unruhe ergriffen, die ich oftmals verspürte, wenn ich meine Freundin lange nicht besucht hatte. So intensiv jedoch hatte ich das zittrige Drängen noch nie empfunden. Es war, als ob ich über die vielen Meilen hinweg die Stimme des Laubes, das leise Knacken der Äste vernommen hätte. Ich hatte mich ein wenig schwindlig gefühlt, wie sacht bewegt in einem heraufziehenden Wind. Als sei ich selbst eine große, starke Pflanze, die Unheil nahen spürte.

Ob meine Nervosität tatsächlich dem Hilferuf meiner Baumfreundin entsprungen war oder meinen eigenen schmerzvollen Erinnerungen, die mich zu diesem besonderen Datum überfallen hatten, konnte ich nicht sagen. Ich hatte nur gewusst: Ich musste hierher!

Parrett und Camille hatten mich sofort verstanden und begriffen, was in mir vorging, jetzt, da der Tag des schrecklichen Vorfalls sich zum dritten Mal jährte. Und so hatten sie mir den Rücken gestärkt, als unser Dorfmeister und höchster Schirmer Aruncus Einspruch gegen meinen Aufbruch erhob.

»Schirmerin Claymaris aus Farndorf«, hatte er mich sehr offiziell angesprochen und damit seine Stellung als Refugiumsmeister über der meinen betont. »Morgen kommt die Delegation aus den Türmen hierher, das weißt du genau. Als die Erwählte des Heiligen Baumes musst du anwesend sein. Die Experten der Wissenschaften werden alles über die Lichteiche wissen wollen.«

»Da bin ich mir nicht sicher«, wandte ich ein. »Wären sie interessiert, hätten sie doch schon vor Wochen auf meinen Bericht über deren Blüte reagiert. Man sollte doch meinen, dass es auch in den Türmen von Belang sei, wenn der wichtigste Baum unserer Welt nach fast dreihundert Jahren endlich wieder Nachkommen erzeugt. Aber außer einer faden Eingangsbestätigung aus Highhaven kam nichts zurück. Rein gar nichts.«

Ich hatte Aruncus angefunkelt, als sei die enttäuschende Reaktion der Türmer seine Schuld, und er war meinem Blick ausgewichen. Seine düster umwölkte Stirn hatte trotzdem sein Missfallen ausgedrückt. Weil er anlässlich seiner Ernennung zum Refugiumsmeister vor Jahren einen Besuch in den Türmen hatte machen dürfen, hielt er sich für die uneingeschränkte Autorität in deren Belangen. Dass ich den Hohen Rat in den Türmen und sogar die oberste Herrscherfamilie zu kritisieren wagte, hatte ihn vielleicht deswegen besonders geärgert, weil er so klug war, den wahren Kern meiner Worte zu erfassen. Und er hatte meinen Einwurf übergangen.

»Warum also dieser einsame Ausflug ins Dickicht?«, hatte er stattdessen wissen wollen.

»Ich kann es dir nicht sagen, Aru. Ich weiß nur, dass ich gehen sollte. Der Heilige Baum ruft nach mir, das spüre ich deutlich.«

Damit hatte ich ihn gehabt. Die unter den Schirmeri traditionelle Verehrung des Refugiums und besonders der Lichteiche als ihrem Zentrum ließ nicht zu, dass er solch ein Argument ignorierte. Immerhin war ich die Erwählte des Baumes und somit eine der wenigen Auserkorenen, die den Standort dieses letzten Baumes seiner Art je gekannt hatten. Denn Zentrum des Refugiums zu sein bedeutete nicht, dass die Lichteiche in dessen Mitte stand. Nein, man musste den Weg zu ihr gewiesen bekommen, sonst fand man ihn nicht. Und die Geheimhaltung des Standortes war eine der hölzernen Regeln, die bei uns Schirmeri seit Jahrhunderten galten.

»Nun gut. Aber sei morgen zum Eintreffen der Delegation bei Sonnenuntergang zurück«, hatte Aruncus schließlich gebrummt.

Er nutzte derartige Gelegenheiten gern, um seinen Status als Höchster Schirmer zu demonstrieren. Wahrscheinlich hatte er es nie ganz verwunden, nicht selbst ein Erwählter des Baumes geworden zu sein, dessen Rang zwar niedriger war als der des Refugiumsmeisters, durch die Verbundenheit zur Lichteiche jedoch einzigartig. Die Gemeinschaft bestimmte den Refugiumsmeister, die Ernennung der oder des nächsten Erwählten des Baumes aber oblag der Amtsinhaberin, die ihre Aufgabe an eine würdige Schülerin oder einen würdigen Schüler weitergab. Wenn ich irgendwann sterben würde, träte Camille an meine Stelle als Erwählte und würde ihrerseits eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger bestimmen.

Mein Rang war ein seltenes Privileg, und so hatte ich Aruncus überzeugt und war aufgebrochen, froh, die Geschäftigkeit des Dorfes hinter mir lassen zu können.

Bevor ich den Dorfplatz verließ, hatte Parrett mich an sich gezogen, mich mit einem langen Kuss verabschiedet und mir mit liebevollem Blick noch einmal übers Haar gestrichen. Wie immer, seit wir uns kannten, bot er mir an, mich auf dem nicht ungefährlichen Weg durch den dichten Wald zu begleiten, obwohl er wusste, dass ich auch dieses Mal ablehnen würde.

»Du weißt, dass ich niemanden außer Camille mitnehmen dürfte.« Ich hatte ihm ein Lächeln geschenkt und seinen Kuss erwidert, und er hatte mich noch einmal in seine Arme gezogen, bevor er mich losließ.

»Pass auf dich auf!«

»Mach ich.«

Ich hatte ihm zugewinkt und mich von Camille an den Dorfrand bringen lassen.

»Soll ich nicht doch mit dir kommen?« Mit ihren zwanzig Jahren hatte sie vor ein paar Wochen ihre Ausbildung abgeschlossen und als meine dieser Sache würdige Schülerin die große Ehre erfahren, die Lichteiche kennenzulernen. Nun waren wir wieder zwei, die das große Geheimnis hüteten, und oftmals begleitete sie mich.

»Danke, Camille, aber nein. Beim nächsten Mal nehme ich dich wieder mit, aber heute werden deine Hände hier gebraucht. Ich gehe allein.«

Verständig, jedoch mit der besorgten Miene einer jüngeren Freundin war sie zurückgeblieben, als ich dem schmalen Pfad hinein in den dichten Wald folgte.

Ich hätte wetten können, dass sie ahnte, was mich umtrieb und was ich durch meinen Aufbruch aus meinen Gedanken zu verbannen versucht hatte.

Es waren die immer gleichen Fragen.

Warum war Ivyn an jenem Tag vor drei Jahren ganz allein in den Wald gegangen? Warum hatte er mich nicht geweckt, während ich schlafend auf unserem Bett gelegen und keine Ahnung von diesem endgültigen Abschied gehabt hatte? Warum hatte er nicht sein übliches Sicherungsseil genommen, sondern ausgerechnet nach dem gegriffen, das ich eine Stunde zuvor auf die Bank neben den Eingang unserer Hütte gelegt hatte? Jenes Seil, das verborgen in seinem Kern inzwischen brüchig geworden war und das ich deswegen ausgemustert hatte.

Diese Fragen quälten mich nach all der Zeit immer noch, weil es keine Antworten gab. Ivyn hatte sie mit sich genommen, als er durch die Äste hinabstürzte.

Zwar war inzwischen Parrett in mein Leben getreten, und ich spürte immer öfter, dass in mir dieses gewisse tiefe Gefühl zu wachsen begann. Doch schafften auch seine Zuwendung und Zärtlichkeit es nicht, mich von meiner Grübelei abzubringen.

Deswegen suchte ich das Vergessen. Und das fand ich am ehesten in den Tiefen des Refugiums.

Meine gestrige Wanderung hierher hatte mich den ganzen Tag bis in den Abend hinein gekostet. Obwohl ich die Richtung kannte und den Weg unzählige Male gegangen war, dauerte es jedes Mal seine Zeit, neue Pfade durch das Dickicht zu finden. Der Wald verbarg den Weg zur Eiche geschickt, ließ Laub auf entstehende Pfade rieseln, blitzschnell Moos über Spuren wachsen und bot kaum Anhaltspunkte zur Orientierung. Und so duckte ich mich unter tief herabhängenden Schlangenästen hindurch, schlüpfte durch scheinbar undurchdringliche Gebüsche und durchwatete die morastigen Stellen nahe den Quellen.

Wie immer hatte sich der Marsch gelohnt, denn ich fühlte mich gelassener und wusste nun, dass es der Lichteiche gut ging. Sie war stärker und gesünder denn je. Es war, als wisse sie ganz genau, dass die Zeit kurz bevorstand, zu der es neue Lichteichen geben würde.

Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf. Hoch oben konnte ich zwei der kopfgroßen Früchte erkennen. Wenn die Überlieferungen stimmten, mochten es insgesamt zwölf sein.

Zwölf Früchte. Zwölf Samen. Zwölf neue, wunderbare Lichteichen, die ihre Kraft und ihren Schutz dem Refugium schenken würden.

Vor ein paar Wochen hatte ich zu meinem Entzücken die Blüten entdeckt. Die anderen Schirmeri waren ebenso begeistert gewesen wie ich. Und vom Schirmdorf aus hatte sich die Neuigkeit rasend schnell verbreitet in die anderen etwa dreißig Dörfer des Refugiums.

Die Menschen der Versorgesiedlungen bauten Gemüse und Obst an, zogen Pilze und Gräser und organisierten die gesamte Versorgung des Refugiums. Sie waren das Blut und die Organe unserer großen Gemeinschaft, der Aruncus als Refugiumsmeister vorstand. Unser Schirmdorf hingegen, in dem Beschützerinnen und Beschützer des Waldes und die Erwählte des Heiligen Baumes lebten, war das Herz. Es schlug für uns alle. Und nun hatte es gepocht: Es ist so weit! Nach dreihundert Jahren ist die Zeit gekommen!

Überall hatte es rauschende Feste gegeben, und die alten Sagen waren wieder und wieder erzählt worden. Die Sprösslinge der Lichteiche würden rasend schnell wachsen, so viel schneller als sie selbst, schilderten die Erwachsenen den staunenden Kindern. Innerhalb weniger Wochen würden sie so groß wie viele alte Bäume anderer Arten sein und sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die den Schutz unseres Landes sicherstellte.

Ich selbst konnte mein Glück bis jetzt kaum fassen. Ausgerechnet in meine Lebensspanne als Schirmerin, als Erwählte des Heiligen Baumes, fiel diese wunderbare Zeit, in der neue Lichteichen wachsen würden.

Doch sosehr dies im Refugium auch gefeiert worden war, so wenig schien es die Obersten in Highhaven, der Zentrale der Türme, zu interessieren. Mein Bericht war ignoriert worden. Via Shunter hatten wir die übliche Eingangsbestätigung erhalten. Aber dann nichts weiter.

Inzwischen hatte ich es aufgegeben, auf Interesse aus den Türmen zu hoffen. Da man eine Reise dorthin lediglich den Refugiumsmeistern gestattete, war ich selbst noch nie dort gewesen, doch durch die Hologrammschauen der Delegationen aus den Türmen hatte ich mir ein Bild vom Leben dort gemacht. Und in diese Vorstellung passte es ganz gut, dass für die Obersten, deren weit verzweigte Familie seit vielen Generationen jenem Teil von Helles Land vorstand, und erst recht für die vielen Millionen Menschen in den hohen Gebäuden und auf den Straßen dort, das Refugium wohl nicht mehr als ein fernes sonderbares Sagenland war. Ein ihnen fremder Teil unserer gemeinsamen Welt, in dem wir aus ihnen unerklärlichen Gründen glücklich lebten ohne all den Luxus und die Bequemlichkeiten, die ihnen selbst so wichtig waren und über die wir im Refugium nur neidlos staunen konnten.

»Es sollte mir egal sein«, murmelte ich mir selbst zu und klopfte wie zur Bestätigung noch einmal mit der flachen Hand an den breiten Stamm. »Das Wichtigste ist, dass es dir gut geht. Mit diesem Wissen kann ich getrost ins Schirmdorf zurückkehren.«

Ich ließ das Seil hinunter, mit dessen Hilfe ich gestern Abend fünfzig Fuß hoch auf diesen bequem breiten Ast geklettert war – meine übliche Schlafstelle, wenn ich den Baum besuchte. Der Weg hierher war so lang und verschlungen, dass er einen ganzen Tag in Anspruch nahm, vom Sonnenaufgang bis zur Dämmerung. Und in der Dunkelheit war es unklug, die Wanderung zurück ins Dorf zu wagen. Dafür lauerten im Dickicht zu viele Gefahren. Mein Schlafast besaß eine Senke, in die genau ein Körper hineinpasste. Schon meine Ausbilderin Hostatis hatte sie genutzt. Wenn ich mich nachts herumdrehte, konnte ich sanft das Streifen von feinen Zweigen spüren, die darüber zu wachen schienen, dass ich nicht zu weit an den Rand geriet.

Fünfzig Fuß, die mich kleines Menschlein beim Hinaufklettern Schweiß gekostet hatten, die jedoch noch nicht einmal das erste Stockwerk dieser Riesin ausmachten.

Wenn ich den Kopf in den Nacken legte und am Stamm der Lichteiche hinaufsah, lagen weit mehr als tausend Fuß vor meinen Augen. Die Baumspitze konnte ich nicht einmal erahnen, da unzählige Äste mir den Blick versperrten.

Das Blätterdach des Waldes wuchs im Einflussbereich der Lichteiche so dicht, dass der momentane Stand der beiden Sonnen nicht deutlich auszumachen war.

Wie gut, dass der kleine Tausänger mich beehrt hatte. So konnte ich auf andere Weise berechnen, wie spät es gerade sein mochte: Er rief nämlich beim Aufgang der ersten Sonne zum ersten Sonnenstand des Tages. So blieben mir etwa vierzehn Sonnenstände bis zur Ankunft der Delegierten. Und da der Weg in Richtung Schirmdorf oft bergab führte, würde ich nicht einmal die komplette Zeit benötigen.

Ich band mein dunkles Haar zurück und erfrischte mich mit etwas Tauwasser, das sich in einer Mulde des Astes gesammelt hatte. Dann schulterte ich Bogen und Köcher, überprüfte den Sitz des Messers an meinem Beingurt und kletterte mühelos am Seil hinab. Achtunddreißig Jahre alt, ja, aber durch das tägliche Training im Wald fit wie eine Zwanzigjährige.

Unten angekommen, löste ich mit geübtem Schwung die Halterung und wickelte das Seil auf. Wie immer ließ ich es in einer Senke zwischen den gewaltigen Wurzeln liegen, bereit für meinen nächsten Besuch, zu dem ich im Schutz des Baumes auf seinen Ästen übernachten würde.

Ich legte meine Hand an den gewaltigen Stamm meiner Freundin, schloss die Augen und sandte ihr meine Gedanken.

Ich danke dir für den Schutz in der letzten Nacht.

Erneut ein leises Blätterrauschen über mir.

Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bringe ich wieder meine Schülerin mit, Camille. Sie brennt schon darauf.

Vor meinem inneren Auge erschien ein Bild, verschwommen nur, aber für mich doch klar zu erkennen: Camille. Wie sie mit leuchtenden Augen am Baum hinaufsieht.

Ich musste lächeln. Doch dann verwischte das Bild, und ein anderes erschien. Ein ebenfalls vertrautes Gesicht, alt, runzelig und in seiner Würde wunderschön. Hostatis, meine eigene Lehrerin und vor mir die Erwählte des Baumes.

Eine zarte Frage.

Nein, Hostatis wird dich nicht mehr besuchen. Es tut mir leid. Sie ist im letzten Winter gestorben. Erinnerst du dich? Ich habe dir davon erzählt.

Der Bereich der Rinde, den meine Handflächen berührten, wurde warm. Mich überkam ein tiefes Gefühl von Liebe und Einsicht in den Kreislauf des Lebens. Ich breitete die Arme aus, lehnte mich an den Stamm und meine Wange an die würzig duftende Borke.

Wie kurz und klein musste meiner Baumfreundin das Leben eines Menschen erscheinen, wo sie selbst mehr als zweitausendsechshundert Jahre alt war? Aus dieser Zeit stammten jedenfalls die ersten schriftlichen Hinweise auf sie. Als unsere Welt noch nicht durch die Gier und Einfalt der Menschen in zwei Teile zerrissen gewesen war.

Noch bevor deine Samen reifen, bin ich zurück. Zusammen mit Camille, ließ ich meine Baumfreundin wissen, ehe ich mich umwandte und sie über den weich federnden Boden verließ.

Im nahen Umkreis der Lichteiche wuchsen keine anderen Bäume, aber kleine Sträucher und Blumen, die sich an das grüngolden leuchtende Dämmerlicht zu ihren Füßen angepasst hatten. Ich kam an rosa blühenden Schlangenranken, blauen Missingyou und blassgelben Heilcamillen vorbei.

Mein Magen knurrte vernehmlich. Ich hatte bei meinem Aufbruch gestern nicht daran gedacht, etwas zu essen mitzunehmen, und auf dem Weg nur eine Handvoll Beeren gefunden. So beschloss ich, zumindest meinen Durst an einer nahe gelegenen Quelle zu stillen. Unsere Welt kannte nur warme Tage, und jetzt am Morgen hing zwischen den Sträuchern und Büschen ein feiner Nebel, der durch die hohe Luftfeuchtigkeit entstand, die unter dem Blätterdach herrschte.

Zu dieser Zeit sehnte ich mich manchmal nach der Jahreswende, wenn die Temperaturen zumindest so weit fielen, dass die drückende Schwüle einer angenehmen Wärme wich. Nichts war gemütlicher als zu einigen wenigen Nächten zum Jahresübertritt die Feuer in unseren Hütten zu entfachen und die kleine Wärmequelle als wohltuend zu empfinden.

Mich an den mannshohen Farnen orientierend, bog ich ab und erreichte die Quelle in kurzer Zeit. Das klare Wasser sprudelte in einer kniehohen Fontäne aus dem Boden und sammelte sich zwischen rund gewaschenen Gesteinsbrocken in einem kleinen Weiher.

Ich wölbte die Hände, schöpfte das Wasser und trank in großen Schlucken. Anschließend spritzte ich mir das kühle Nass ins Gesicht und auf den Hals. Da fiel mein Blick zu Boden, und ich erstarrte.

Im weichen Uferbereich waren deutlich Spuren zu erkennen. Und ich brauchte mich nicht hinzuhocken, um sie genauer zu betrachten. Auch so konnte ich ausmachen, dass es sich um die Pfotenabdrücke eines Totenfraßes handelte. Meine eigenen nackten Füße passten mühelos hinein.

Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass dicht neben den tief in den Uferschlamm gedrückten Krallenspuren eine zweite Fährte verlief. Knapp neben jedem Krallenabdruck ein weiterer.

Das bedeutete, sie waren zu zweit. Ein Paar dieser seltenen Raubtiere hatte hier, genau wie ich, seinen Durst gelöscht. In ihrer Angriffslust und Stärke waren Totenfraße nicht nur sehr gefährlich für alle, denen sie begegneten, sondern auch bemerkenswert klug. Auf weichem Boden, wo ihre Fährte verraten konnte, dass sie zu zweit waren, achteten sie stets darauf, in die Spur des jeweils anderen zu treten, um Beute oder andere Raubtiere zu täuschen.

Noch während ich den Kopf hob und mich angespannt umsah, griff meine Hand nach dem Messer, das im Beingurt steckte. Seine Schneide aus Kristall, wie man sie nur in den Minen Savannahs fand, war gut einen halben Fuß lang und so scharf, dass sie problemlos durch Holz schnitt, wenn ich hoch oben in den Kronen die Lynchflechten von befallenen Bäumen entfernte. Gegen die Fangzähne eines ausgewachsenen Totenfraßes würde sie dennoch jämmerlich wirken.

Pfeil und Bogen, mit denen ich perfekt umzugehen verstand, wären ebenfalls keine große Hilfe in diesem Dickicht. Sollte ich einen der Räuber zu Gesicht bekommen, wäre es bereits zu spät, um einen Pfeil zu spannen.

Mit angehaltenem Atem lauschte ich. Waren die Tiere weitergezogen, oder lauerten sie irgendwo zwischen den Farnen?

Vorsichtig tippte ich mit einer Zehe an den Rand des Abdrucks. Und atmete erleichtert auf. Die Erde war fest und bröckelte, als ich sie berührte. Es musste mindestens zwei Sonnenstände her sein, dass die beiden hier vorbeigezogen waren.

Wieder einmal war ich froh, dass ich mich an Hostatis’ hölzerne Regel hielt, niemals eine Nacht am Boden zu verbringen. Mochte eine Wanderung noch so lang und anstrengend gewesen sein, bevor man sich im Wald zur Ruhe legte, hatte man auf einen Baum zu klettern. Denn so viel war sicher: Dorthin konnten einem die kraftvollen, schweren Tiere nicht folgen.

Wohin die Totenfraße wohl gegangen waren? War dies hier ihr festes Revier?

Während ich mit gespitzten Ohren und geschärften Sinnen erneut die Richtung zum Schirmdorf einschlug, kam mir das erste Mal in den Sinn, als ich einen dieser beeindruckenden Räuber gesehen hatte.

Ich war zehn oder elf Jahre alt gewesen und lebte damals noch bei meinen Eltern im Westen des Refugiums in dem Versorgdorf, in dem ich aufgewachsen war. Zusammen mit den beiden war ich auf der Suche nach wilden Beeren gewesen, eine der Aufgaben unserer Familie. Da hatte dieses gewaltige Tier plötzlich vor uns auf dem Pfad gestanden, etwa zweihundert Fuß entfernt.

Noch immer erinnerte ich mich deutlich an die tiefgrünen Augen, die uns aus dem glänzend schwarzbraunen Fell angestarrt hatten. Vier lange Beine, die in wahren Pranken endeten, trugen den massigen Körper, unter dessen dichtem Fell sich Muskelberge abzeichneten. Der Kopf erinnerte an die Hyänen Savannahs, die sich manchmal bis in den Wald wagten in der Hoffnung, ein junges Laubhörnchen zu erwischen, wenn sie in ihrem kargen Revier nicht genug Beute fanden. Er saß mit seinen runden Ohren auf einem verhältnismäßig langen Hals, den das Tier, als es uns bemerkte, in die Höhe reckte – wie ich heute wusste, eher eine neugierige denn drohende Haltung.

Ich erinnerte mich, wie mein Vater mich langsam hinter sich geschoben hatte, ein Zittern in den Händen, das mir größere Angst eingejagt hatte als der Beutemacher vor uns. Doch das Tier hatte uns nur einen Moment lang scharf fixiert, bevor es sich umwandte und lautlos im Dickicht verschwunden war.

Wohl um den Schrecken zu vertreiben, hatte meine Mutter auf unserem Heimweg ins Dorf erzählt, dass Totenfraße extrem gefährlich, aber dafür umso treuere Partner seien, die sich ein Leben lang an dieselbe Gefährtin banden. Ob das nicht romantisch sei, hatte sie damals gefragt.

Mein Vater und ich hatten einen Blick getauscht, und ich hatte gekichert.

Ein ganzes Leben beieinander. So wie meine Eltern, die in meinem Heimatdorf immer noch ein harmonisches Miteinander führten.

So wie Ivyn es sich für ihn und mich gewünscht hatte. Bevor er jenen schrecklichen Fehler beging und mit einem brüchigen Seil auf einen hohen Baum geklettert war.

Verflixt, kaum war ich auf dem Heimweg, kehrten sie zurück, diese Schatten der Vergangenheit, vor denen ich gestern in den Wald geflohen war. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, die Gedanken fortzublinzeln. Doch ich kam nicht an gegen die Bilder, die sich mir aufdrängten.

So hob ich den Kopf und suchte im Blätterdach, das die Baumwipfel schützend über dem Refugium verwoben, nach den beiden hellen Punkten, die den Stand der Sonnen verrieten. Ich entdeckte sie zwischen dem feinen Geflecht, das die obersten Zweige zweier Großbuchen über mir aufspannten, und stellte fest, dass bis zur Ankunft der Delegation aus den Türmen im Schirmdorf ausreichend Zeit blieb. Dennoch beschleunigte sich mein Schritt beständig, bis ich schließlich lief. Ich hastete durch den Wald, als sei das Totenfraßpärchen hinter mir her. Als könnte ich meinen Erinnerungen davonlaufen.

2. KAPITEL

Ich kam fast zwei Sonnenstände vor Sonnenuntergang an. Am Dorfrand wartete Camille auf mich.

Obwohl sie so tat, als sei sie mit Sammeln von Kräutern beschäftigt, und jeden anderen damit getäuscht hätte, konnte ich ihr sogar von hinten ansehen, dass ihre Sinne voll und ganz in den Wald gerichtet waren.

Aus dem Dorf drang lautes Stimmengewirr. Dort liefen die Vorbereitungen für die Ankunft der Delegation auf Hochtouren. Aber Camille lauschte in die andere Richtung.

Lautlos schlich ich um sie herum, um sie von der anderen Seite her zu überraschen.

Als ich nur noch zehn Fuß von ihrem gebeugten Rücken entfernt war, sagte sie ruhig: »Wieso bist du gerannt, Clay? Ich kann dein Herz bis hierher schlagen hören.« Sie wandte sich um, und wir lächelten uns an.

»Du bist wirklich gut geworden«, stellte ich nicht ohne Stolz fest.

»Ich hatte die beste Lehrerin«, erwiderte sie mit einem Grinsen.

Sieben Jahre lang war die sanfte, schöne Frau mit dem kurzen schwarzen Haar meine Schülerin gewesen. Und noch hatte ich nicht recht losgelassen und sie in meinem Herzen als eigenständige Schirmerin begriffen. Obwohl sie längst eine der Besten war, die unsere Gemeinschaft vorzuweisen hatte.

Es gab nicht viele, die wie Camille bereits mit dreizehn in die Gilde der Schirmeri aufgenommen wurden. Meist erfolgte die Aufnahme im späten Teenageralter, und die meisten Schirmeri verfügten über besondere Talente, die ihnen bei der Arbeit im Wald hilfreich sein konnten. Camilles außergewöhnliche Gabe lag darin, mit Tieren kommunizieren zu können, und man hatte sie bereits als Mädchen für die Gilde gewonnen, weil sie sich schon damals ähnlich präzise mit jedem Geschöpf verständigte wie ich selbst mit Pflanzen.

Von der ersten Lehrstunde an bewies Camille Fleiß und Gelehrigkeit und war mir in den Jahren trotz des Altersunterschieds eine echte Freundin geworden. Ich hätte ihr jederzeit mein Leben anvertraut.

»Also? Gerannt?«, hakte sie nach.

»Etwa sechs Sonnenstände von hier entfernt habe ich Spuren eines Totenfraßpaares entdeckt«, berichtete ich, als würde das alles erklären, auch wenn es nur die halbe Wahrheit war.

Camilles Augen leuchteten auf. »Hast du sie gesehen?«

»Man könnte meinen, du seist geradezu versessen darauf, einem Pärchen zusammen zu begegnen.«

»Ich wüsste zu gern, ob ich mit ihnen reden kann.«

»Das hast du doch schon vor zwei Jahren bewiesen. Mir zittern jetzt noch die Knie.« Ich rollte mit den Augen.

Doch sie winkte ab. »Das war nur ein Tier. Und außerdem war es noch sehr jung. Kein Wunder, dass es neugierig war und mich kennenlernen wollte. Denk an die Hirsche. Wenn sie allein unterwegs sind, lassen sie sich auf mich ein, aber sobald ich einem Rudel begegne, scheinen sie unsere Bekanntschaft vergessen zu haben. Als stehe ihr Kollektiv über ihren individuellen Erfahrungen.«

»Da hast du es! Also wünsch dir besser nicht, diesen beiden Raubtieren gemeinsam über den Weg zu laufen. Vielleicht wäre es das letzte faszinierende Erlebnis für dich.«

Camille legte den Kopf schief und antwortete: »Ja, wahrscheinlich hast du recht.«

So war sie. Diplomatisch, obwohl sie – darauf hätte ich gewettet – in einer entsprechenden Situation nicht meinem Rat, sondern ihrer Intuition folgen würde. Und genau das machte sie meiner Meinung nach für unsere Schirmgemeinschaft so wertvoll.

Bis heute hielten die meisten von uns an den alten Traditionen und Ritualen unserer Vorfahren fest und huldigten und verehrten die Bäume des Refugiums und besonders die Lichteiche. Ich konnte das durchaus nachvollziehen, denn der Wald beschützte unser Land vor den sengenden Sonnen unserer Welt und verdiente unsere Dankbarkeit und unseren Respekt. Er ernährte und versorgte uns mit allem, was wir brauchten, und das in unmittelbarer Nähe unserer Siedlungen. Vor vielen Generationen hatte es Erkunderi gegeben, die weit ins Unterholz vorgedrungen waren, um Kräutervorkommen zu finden, Bäume und Büsche, die reich Früchte, Nüsse und Samen trugen. Doch schon lange war es nicht mehr vorgekommen, dass es uns an etwas fehlte, und so gab es weite Teile des Refugiums, in die nie jemand einen Fuß gesetzt hatte.

Ich selbst empfand eine tiefe Freundschaft zur Eiche und zu vielen ihrer Verwandten. Aber nur weil ich die Bäume liebte und verstand, bedeutete es nicht, dass ich von ihnen göttliche Wunder erwartete.

Schon lange war ich in dieser Hinsicht darüber hinausgewachsen, was eine normale Schirmerin durch die überlieferte Religion unseres Waldvolkes ausmachte. Seit fünfzehn Jahren erforschte ich, wie es zu der scheinbar telepathischen Verbindung der Lichteiche mit den vielen Bäumen anderer Arten im Refugium und sogar mit den Baumgruppen und vereinzelten Exemplaren in Savannah kam. Auch wenn meine Berichte die Obersten in den Türmen nicht zu interessieren schienen, war es mir wichtig, dass die Menschen, die mir nahestanden, meine Erkenntnisse auf diesem Gebiet zumindest akzeptierten.

Um meinen Ansichten gegenüber offen zu sein, brauchte es einen wachen Verstand und einen unvoreingenommenen Geist. Camille besaß beides. Deswegen hatte ich, als es darum ging, eine Nachfolge zu bestimmen, unter allen Anwärterinnen und Anwärtern damals sie ausgewählt. Und meine Entscheidung keinen einzigen Sonnenstand lang bereut.

»Wie geht es mit den Vorbereitungen voran?«, erkundigte ich mich, während wir unsere Schritte ins Dorf lenkten.

Camilles Miene verdüsterte sich. »Ausgerechnet heute Morgen erreichte uns ein beunruhigender Bericht: Elixdorf meldet den Verlust eines großen Teils des Kichererbsenvorrats aus einer der Scheunen.«

»O nein«, stöhnte ich. »Falls es Hirsche waren, sollten wir sofort dorthin gehen und ihren Spuren folgen. Du könntest mit den Tieren sprechen, um sie zur Einsicht zu bewegen.«

Camille machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es waren sicher keine Hirsche. Es sei denn, die können neuerdings Sandflügler bedienen.«

Ich stutzte. »Es waren Savannah Dweller?« Elixdorf lag nahe der Grenze zu unserem Nachbarland, und nur dessen Einwohner verfügten über derartige Fahrzeuge.

Camille nickte. »Die Spuren deuten darauf hin.«

»Dann war es wahrscheinlich eine kleine Plünderhorde, die sich selbst die Vorratsschränke füllen will«, vermutete ich. »Würde ja passen. Die Gemüselager von Elixdorf liegen so nah am Waldrand, dass sie sich für so ein Vorhaben geradezu anbieten. Vielleicht sollte unser Volk doch mal darüber nachdenken, irgendwelche Sicherungsmaßnahmen zu verwenden, wie sie es in Savannah überall tun.« Ich seufzte. »Was sagt Aruncus?«

»Er schäumt vor Wut.« Camille hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Du kennst ja seine Reden über die engstirnigen, egozentrischen Sturköpfe Savannahs. Und dass man nichts anderes erwarten kann, weil sie es nie geschafft haben, zu einer Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Kein Oberhaupt, das für sie alle spricht. Jeder ist sich selbst der Nächste. Und so weiter.«

Ja, diese Reden unseres Refugiumsmeisters kannte ich zur Genüge. Aber leider hatte er in dieser Hinsicht tatsächlich recht.

Zwischen dem das Refugium umgebenden Savannah und uns gab es seit dreißig Jahren ein Abkommen, das solche Überfälle, die jahrhundertelang an der Tagesordnung gewesen waren, verbot. Aber da die Savannah Dweller keine richtige Gemeinschaft bildeten, in der einer für den anderen einstand und in der jeder dem anderen Rechenschaft abzulegen hatte, kam es hin und wieder zu solchen Übertretungen.

»Was wollen wir also tun?«, erkundigte ich mich.

Camille zuckte mit den Schultern. »Das werden wir wohl erst überlegen können, wenn die Delegation wieder abgereist ist. Wir sollten den Rat zusammenkommen lassen.«

Wir erreichten die ersten Hütten des Dorfes. Sie sahen alle sehr ähnlich aus: runde Bauten aus Lehm und Stroh mit Dächern aus Rohrgras. Die schützten vor den besonders zu dieser Jahreszeit mit seiner hohen Luftfeuchtigkeit auftretenden Tauregen und boten Privatsphäre.

Hier am äußeren Ring begegneten uns nur wenige Dorfbewohner, die uns zunickten oder die Hand zum Gruß hoben. Die meisten waren bestimmt in der Dorfmitte beschäftigt und halfen bei den letzten Vorbereitungen für den Delegationsbesuch. In unserem sonst so routinierten Leben stachen die zwölf Tage des Besuchs aus den Türmen jedes Jahr farbenfroh und laut heraus. Jede und jeder gab sein Bestes, um diese Tage zu den schönsten des Jahres zu machen.

Auch aus den anderen Dörfern des Refugiums waren Abgeordnete, Weise und Lehrende zu Besuch gekommen und tauschten Neuigkeiten aus. Auf diese Weise vermischte sich für ein paar Tage im Jahr das Leben aller, die im großen Wald lebten.

»Armer Aruncus«, rutschte es mir heraus. Denn unser Refugiumsmeister entwickelte stets einen besonderen Ehrgeiz, wenn es darum ging, die Gäste aus den fernen Türmen angemessen zu empfangen. Wahrscheinlich verglich er unser schlichtes Leben mit dem Luxus, der Pracht und den Bequemlichkeiten, die er damals in den Türmen gesehen und erlebt hatte und von denen er nicht müde wurde zu erzählen. Aruncus’ Schilderungen zufolge sollte es in jeder Behausung beispielsweise eine eigene Wasserquelle geben, was mir unvorstellbar erschien, ganz zu schweigen davon, dass der private Raum, der jedem Türmer zur Verfügung stand, offenbar mehrere Zimmer umfasste. Unsere Hütten bestanden jeweils nur aus einer Kammer, die wir mit Tüchern unterteilten, wenn wir etwa zum Waschen an der Schüssel Privatsphäre wünschten. Für unterschiedliche Tätigkeiten wie Essen, Schlafen oder Kochen unterschiedliche Räume zu verwenden kam mir absurd vor. Vielleicht musste man es mit eigenen Augen gesehen haben, um es zu begreifen.

Ich schüttelte den Kopf und wandte mich wieder an Camille. »Ausgerechnet jetzt so ein Überfall. Wenigstens ist für die Versorgung während der Delegationswoche bereits gesorgt, sodass nicht zu befürchten steht, dass unsere Gäste hungern müssen.«

Camille grinste. »Davon sind wir weit entfernt. Iris und Penstemon haben Tonnen von fantastisch riechenden Gerichten im Langhaus aufgebaut. Es sieht aus wie ein Kunstwerk. Ich glaube, Iris ist schrecklich aufgeregt. Aber sie will es nicht zugeben.«

Iris war seit zwei Jahren Camilles Partnerin, keine Schirmerin wie wir, sondern eine Versorgerin, die mit allem, was ihr essbar erschien, herumexperimentierte und unsere Gemeinschaft beständig mit neuen ungeahnt schmackhaften Kreationen überraschte. Der Hauptversorger unseres Dorfes, der griesgrämige Harzus, hatte ihrem unbestreitbaren Talent in diesem Jahr Rechnung getragen und ihr und ihrem besten Freund Penstemon zum ersten Mal die Verantwortung für die Mahlzeiten während der Delegations-Feierlichkeiten übertragen. Eine Ehre, der Iris seit Wochen und Jahreszwölfteln gerecht zu werden versuchte, indem sie Tag und Nacht kochte, backte, trocknete, mixte, arrangierte und probierte.

»Komm, ich zeig es dir.« Camille fasste mich an der Hand und zog mich mit sich über die schmalen Pfade aus festgetretenem Erdreich, die sich zwischen den Hütten des Dorfes hindurchwanden. Schließlich erreichten wir den Dorfplatz, eine große, freie Fläche ohne Baum oder Gesträuch. Dennoch wölbte sich weit über uns das Kronendach der das Dorf umgebenden Bäume, die ihre überlangen Äste wie Tausende feiner Finger miteinander verwoben hatten. Sie schenkten uns den Schatten, ohne den wir den zerstörerischen Sonnenstrahlen schutzlos ausgeliefert gewesen wären.

Ich erhaschte einen Blick auf die runde Tribüne, auf der bereits zwölf Stühle im Kreis aufgestellt waren. In ihrer Mitte lag eine handbreitdicke, weiche Matte aus Pflanzenfasern von etwa sechs Fuß Durchmesser. Für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass jemand aus dem Delegationsteam das Reisen per Shunter nicht gut verkraftete und seine Beine nach der Ankunft kurzfristig den Dienst versagen würden. Das hatte es schon gegeben.

Überall wuselten Menschen herum, schmückten den Platz mit Kränzen aus getrocknetem Fallobst und Reisigflechtwerk. Eine Gruppe Kinder übte unter der strengen Leitung ihres Lehrers eine Melodie auf der Stockpfeife. Und etliche Personen hasteten mit Kissen, Matten, Decken und dergleichen hin und her, um den für die Gäste hergerichteten Unterkünften den letzten Schliff zu geben.

Auch im großen Speisehaus des Dorfes herrschte rege Betriebsamkeit. Sämtliche verfügbaren Versorgeri eilten durcheinander, und was für einen Außenstehenden wie ein einziges Chaos anmuten mochte, folgte, wie ich wusste, einer präzisen Choreographie. Alle kannten ihre jeweilige Aufgabe. Jeder Handgriff saß.

Mittendrin stand Iris wie ein Fels und dirigierte die zwei Dutzend Hilfskräfte, die mit Tellern, Schüsseln und Karaffen hantierten.

Camille hielt inne und betrachtete ihre Partnerin mit bewunderndem Blick. Meiner Meinung nach waren die beiden noch ebenso ineinander verliebt wie vor zwei Jahren, als Iris als neue Versorgerin in unser Dorf gekommen war.

»Mach ein bisschen die Augen auf, Holly. Die gelben Früchte kommen dort drüben hin«, ermahnte sie soeben eine junge Helferin, die sofort mit hochrotem Kopf in die andere Richtung abbog.

Da bemerkte Iris uns und kam herüber. Sie hatte ihre kirschholzroten Haare in einen langen Zopf geflochten, der ihr bis auf den Oberschenkel reichte, und ihre farngrünen Augen blitzten vor Energie und Freude über die große Aufgabe.

Als sie Camille an sich zog und die beiden sich küssten, stellte ich nicht zum ersten Mal fest, dass das junge Paar unterschiedlicher nicht hätte sein können. Iris war groß, kräftig und temperamentvoll, sodass die kleine Camille, die ihre Energie still in sich bewahrte, neben ihr besonders zart und ruhig wirkte.

Trotzdem oder vielleicht gerade wegen ihrer Andersartigkeit war es zwischen den beiden von Anfang an die große Liebe gewesen. Eine, der ich durchaus zutraute, ein ganzes Leben zu halten.

Da war er wieder, dieser Gedanke.

Rasch wandte ich mich ab und betrachtete die vielfältigen Speisen, die die Versorgeri auf der ausladenden Tafel in der Mitte des Langhauses kunstvoll nach Farben drapiert hatten, sodass ihr Verlauf wie der Anblick eines Regenbogens schien.

Mein leerer Magen begann bei diesem Anblick zu knurren, und das Wasser lief mir im Mund zusammen.

»Das sieht fantastisch aus, Iris! Ihr habt wahre Wunder vollbracht! Ich glaube, ein solches Festessen hatten wir noch nie, jedenfalls nicht, solange ich bei der Delegationsfeier dabei bin«, lobte ich sie.

Camilles Liebste war selbstbewusst, aber nicht so sehr, dass sie über ein solches Kompliment einer hochstehenden Schirmerin nicht errötet wäre.

»Meinst du wirklich? Ja, es sieht ganz passabel aus, wie?«

»Passabel?«, wiederholte Camille. »Du hast die letzten Jahreszwölftel nur geschuftet für diese eine Woche. Und du hast etwas Grandioses geschaffen!«

»Ach, na ja«, murmelte Iris, nun tatsächlich verlegen. »Wenn ich Penstemon nicht hätte, wäre es nicht halb so vielfältig geworden.«

»Wo ist er denn?«

»Da drüben«, sie deutete in die Richtung eines zweiten, kleineren Tisches, auf der sich Kanne an Krug reihte. »Er koordiniert die Getränke. Es gibt viele frische Säfte aus Früchten, Gras und Gemüse. Wir können erst jetzt damit beginnen, sie zuzubereiten, damit sie nachher genau das richtige Aroma haben.«

Die beiden machten Anstalten, zu ihrem Freund hinüberzugehen.

»Ich werde mich frisch machen und umziehen«, sagte ich. »Wir sehen uns später.«

Sie winkten mir zu, und während die beiden Hand in Hand durch das Langhaus zu Penstemon hinübergingen, schlüpfte ich hinaus und huschte um die Ecke des Gebäudes, das aus Stroh und Lehm zu einem festen Haus gebaut war. Hinter den äußersten Hütten umrundete ich das Dorf und kam schließlich bei meinem eigenen Zuhause an. Unserem Zuhause, korrigierte ich mich im Geiste schnell.

Früher war es jahrelang die Hütte gewesen, die Ivyn und ich miteinander geteilt hatten. Nach seinem Tod hatte ich allein hier gelebt und in den wenigen letzten Wochen offenbar noch nicht vollends begriffen, dass sich das wieder geändert hatte.

Ich teilte den Vorhang aus Rohrgras und trat ein. Das große Bett war ordentlich hinterlassen, und ich konnte sehen, dass in dem mit einer Strohmatte abgeteilten Waschbereich eine Karaffe mit frischem Wasser wartete. Mitten auf dem Tisch stand ein schlanker, aus gebranntem Ton gefertigter Becher mit einer einzelnen Blume darin.

Ich hängte Köcher und Bogen an den Haken neben dem Eingang und trat näher.

Die Claymaris schimmerte so strahlend weiß, dass sie zu leuchten schien. Ihre drei Blüten, am oberen Ende des graziösen Stiels gleichmäßig angeordnet, durchzogen feinste bläulich glimmende Adern und verströmten einen feinen, süßen Duft. Sanft legte ich eine Fingerspitze an diese schöne Erscheinung und empfand durch diese Berührung unbändige Freude.

Es war die Blume, nach der meine Eltern mich benannt hatten. Clay.

»Du bist zurück«, hörte ich eine Stimme hinter mir und spürte schon den Arm, der sich um meine Taille schlang. »Da wird Aru aber erleichtert sein. Ich glaube, er hat heute Nacht kein Auge zugetan aus Angst, er könne den Delegierten bei ihrer Ankunft nicht die Erwählte des Heiligen Baumes präsentieren.«

Ich wandte mich um und blickte in Parretts blaue Augen, in denen sich seine Freude über unser Wiedersehen und das herzliche Willkommen spiegelten, das er mir jedes Mal bereitete, wenn ich länger als sechs Sonnenstände im Wald unterwegs gewesen war.

Er küsste mich, und ich schlang die Arme um seinen Nacken, ließ meine Hände in sein Haar gleiten, erwiderte den Kuss. Unsere Liebkosungen und Berührungen fühlten sich immer noch neu an, nach den wenigen Wochen, die wir erst ein Paar waren.

»Du zerstörst meine Frisur«, murmelte er, während er mein Gesicht mit kleinen Küssen bedeckte.

»Eitler Kerl«, neckte ich ihn und griff noch tiefer hinein.

»Mmmh«, machte er und zog mich eng an sich. »Wie viel Zeit haben wir noch?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nicht genug.«

Er nahm ein wenig Abstand und betrachtete mich genau. »Alles in Ordnung mit dir? Wie geht es der Lichteiche?«

»Alles bestens. Ich habe mich grundlos gesorgt.«

Sein prüfender Blick brannte eine Spur in mich hinein. Ein feiner Schmerz. Weil mir klar wurde, dass er mit seiner Frage nicht allein den Baum gemeint hatte. Ich löste mich aus seiner Umarmung und wandte mich zum Tisch.

»Du weißt doch, dass wir keine Pflanzen pflücken dürfen, die nicht zur Nahrung oder als Heilmittel benötigt werden.« Ich drehte mich zurück zu ihm. »Nach drei Jahren im Refugium solltest du das jedenfalls wissen.«

Parrett verzog das Gesicht. »Nun sei nicht so streng mit deinem alten Türmer. Einmal im Jahr werde ich dir doch wohl eine kleine Freude machen dürfen, oder? In den Türmen ist es üblich, dass Paare sich zum Jahrestag ihres Kennenlernens eine Blume schenken. Und welche hätte besser gepasst als eine Claymaris? Ich musste Camille mit einem Buch bestechen, damit sie mir von ihrem morgendlichen Gang ins Dickicht eine mitbringt.«

Mit einem Schlag überrollte mich eine Welle schlechten Gewissens. Es stimmte. Übermorgen würde sich nicht nur das Ereignis jähren, das mir damals das Herz zerrissen hatte, nein, genau heute war auch das Datum, an dem Parrett und ich uns vor drei Jahren das erste Mal begegnet waren. Als nämlich er selbst, der gut aussehende Archivar, mit der Delegation aus den Türmen das Dorf besucht hatte.

Da unsere Partnerschaft noch so jung war, war mir bisher nicht bewusst gewesen, wie nah diese beiden Ereignisse zusammenlagen, nur ein paar Tage voneinander getrennt.

Mein Gewissen biss mich schmerzhaft, denn auf meiner frühmorgendlichen Wanderung durch den Wald hatte ich keinen Gedanken an diesen Jahrestag verschwendet. Im Gegenteil, statt die Gegenwart zu feiern, hatte ich wieder einmal viel zu viel mit der Vergangenheit gerungen.

»Oh, tut mir leid, Parrett!« Ich schmiegte mich erneut an ihn und spürte die Wärme seiner Brust. »Wahrscheinlich klinge ich wie eine alte Lehrerin.«

»Schon gut, meine Blume, schon gut. Ich weiß ja«, murmelte er in mein Haar, während er mir über den Rücken strich.

In seiner Berührung lag so viel Zärtlichkeit und Beruhigung, dass ich mir mit einem Mal vollkommen dumm vorkam, gestern einfach davongelaufen zu sein. Anscheinend hatten die wenigen Wochen als Paar nicht ausgereicht, um mich begreifen zu lassen, dass mein Halt und mein Trost nun hier lag. Genau hier, bei ihm.

Wie undankbar kam ich mir plötzlich vor.

»Weißt du, was?« Parrett nahm meine Hand und lächelte mich aufmunternd an. »Wir gehen hinüber ins Versorghaus und schauen mal, ob noch was vom Zenitessen übrig ist. Was hältst du davon?«

Ich hob den Kopf und erwiderte sein Lächeln. »Klingt wunderbar.«

3. KAPITEL

Zwei Sonnenstände später hatte sich das ganze Dorf samt den Gästen aus den anderen Siedlungen um die Tribüne versammelt. Gut vierhundert Menschen standen im Kreis und warteten auf den Moment, in dem die Delegation erscheinen würde.

Hinter jedem der ein Dutzend Stühle dort oben hatte sich eine junge Versorgerin oder ein junger Versorger postiert. In den Händen hielten sie jeweils einen Becher mit dem Willkommenstrunk, eine Mischung aus Gemüse- und Fruchtsaft, die den Körpern der Ankommenden nach der Anstrengung der Shunterreise Vitamine und frische Energie liefern würde.

Der erste der beiden Sonnenpunkte war bereits aus dem Blätterdach verschwunden. Der zweite stand tief am Horizont. Der Tag war in rasender Geschwindigkeit verstrichen. War ich etwa noch heute Morgen auf dem Ast der Lichteiche erwacht und hatte kurze Zeit später die Spuren der Totenfraße untersucht? Beides schien mir plötzlich unendlich lange her.

Zusammen mit Aruncus und weiteren hochrangigen Schirmeri hatte ich meinen Platz in der ersten Reihe eingenommen. Als auch der zweite Lichtpunkt verschwand und sich die wenigen Lücken im Blätterdach orange färbten, wurde es auf dem Dorfplatz so still, dass das leise Rascheln des Laubes hoch über unseren Köpfen zu hören war.

Wie jedes Jahr nahm ich mir vor, den Moment, in dem es geschah, mit allen Sinnen wahrzunehmen. Wie jedes Jahr gelang es mir nicht.

Ich wurde geblendet vom aufblitzenden weißen Licht. Meine Ohren verschlossen sich für einen, zwei Wimpernschläge wie unter Wasser. Ein Prickeln auf der Haut raste über meinen Körper, als fielen die schwülheißen Temperaturen dieser Jahreszeit mit einem Mal um fünfzehn Grad auf die der anderen Jahreshälfte.

Als ich meine Augen, die ich vor dem hellen Licht instinktiv geschlossen hatte, wieder aufriss, standen sie dort: die zwölf Delegierten aus den Türmen.

Die Gruppe umfasste auch in diesem Jahr sechs Frauen und sechs Männer, allesamt in der farbenfrohen, für uns so ungewöhnlich geschnittenen Kleidung, die keinem praktischen Zweck zu dienen, sondern ausschließlich zu schmücken schien. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass dieses Dutzend Menschen mit ihrer Aufmachung den Farbkreis symbolisierte. In Gelb, Blau und Rot gekleidet, standen sich drei der Gelehrten gegenüber. Zwischen ihnen leuchteten die anderen in Grün, Orange, Lila und wunderschön gefärbten Zwischentönen.

Aber nicht nur ihre Kleidung unterschied unsere Besucher aus den Türmen schon auf den ersten Blick von uns Menschen des Refugiums. Ihre Haut war deutlich blasser als unsere, und ihre Frisuren folgten eher modischen Gesichtspunkten denn zweckmäßigen Aspekten und reichten von den hüftlangen, moosgrünen Haaren eines mittelalten Mannes bis zum kahl geschorenen und mit bunten Mustern verzierten Kopf einer jungen Frau.

Meine Landsleute starrten fasziniert. Ein Murmeln breitete sich in der Menge aus, wandelte sich zu einem mitfühlenden Raunen, als der jüngste unter den Delegierten, vielleicht Mitte zwanzig, in den Knien einknickte und auf die weiche Matte vor sich sank.

Der grauhaarige Mann neben ihm fasste ihn unter den Achseln und half ihm auf. Er war der Einzige, den ich kannte: Ratsherr Toyrin, der Vorsitzende des Verständigungsrates. Nur er besuchte jedes Jahr aufs Neue das Refugium, immer in Begleitung von elf ausgesuchten Delegierten, die diesen Teil der Welt kennenlernen durften. Unter ihnen befanden sich stets Frauen und Männer der Wissenschaften, Technik, Philosophie und der Archive. Es waren die Gebildetsten und Vielversprechendsten, die die Universitäten und Forschungsstationen der Türme zu bieten hatten. Sie repräsentierten das, was diesen weit entfernten Teil unserer Welt in erster Linie ausmachte und worauf seine Bewohner so stolz waren: die Anhäufung von Wissen.

Aruncus trat aus unserem Kreis vor und verneigte sich mit vor der Brust gekreuzten Händen. »Willkommen im Refugium, Delegierte der Türme. Seid gesegnet vom Heiligen Baum. Unser Land ist bereit für euren Besuch!«

»Es ist der Delegation aus den Türmen eine Ehre, im Refugium zu Gast zu sein, Bewohner und Gäste des Schirmdorfs! Wir sind bereit, alles Wissen der Türme mit euch zu teilen«, erwiderte Ratsherr Toyrin mit der gleichen Geste.

»Nehmt den Willkommenstrunk aus unseren Händen entgegen. Stärkt euch, öffnet die Augen und seht.«

Auf dieses Stichwort hin reichten die jungen Versorgeri die Becher in ihren Händen der Frau oder dem Mann vor ihrem Platz. Die Delegierten nahmen den Trunk feierlich entgegen und leerten die Becher in einem Zug. Der junge Mann, der gerade noch geschwankt hatte, holte daraufhin tief Luft. Die Farbe kehrte in seine Wangen zurück, und nun riss er tatsächlich die Augen auf, um sich umzublicken.

»Wir sind gestärkt. Unsere Augen sind weit. Wir sehen. Der Besuch kann beginnen«, beendete Toyrin das sich jährlich wiederholende Begrüßungsritual. Dann ließ er die Hände sinken, sprang ein wenig ungelenk von der Tribüne und umarmte Aruncus lachend. »Endlich wieder hier! Ich konnte es die letzten Tage kaum erwarten!«

Aruncus wirkte angespannt. Obwohl Toyrin selbst nie auf Förmlichkeit pochte, brachte unser Refugiumsmeister dessen Rolle als Vorsitzender des Verständigungsrates großen Respekt entgegen.

»Willkommen, Ratsherr, willkommen!«, erwiderte er.

»Ach, nun lass doch dieses Ratsherrgefrömmel, Aru!«, dröhnte Toyrin. »Schirmerin Claymaris aus Farndorf! Die Erwählte des Baumes! Wie schön, dich wiederzusehen, Clay!« Auch mich zog Toyrin in eine herzliche Umarmung, die ich gern erwiderte, bevor er sich der Reihe nach an die anderen der hohen Schirmeri wandte und seine überschwängliche Geste bei jedem wiederholte.

Noch während die anderen Delegierten mit nach wie vor wackligen Beinen die Tribüne über die Treppe verließen und sogleich von den dafür abgestellten Dörflern herzlich in Empfang genommen wurden, hatte Toyrin seine alten Bekanntschaften bereits erneuert.

»Diesmal sind wir wieder eine bunte Mischung aus allen Wissenschaften der Türme«, erklärte er Aruncus und mir. »Eine Vertreterin des Hauptarchivs ist dabei, die beste Historienwissenschaftlerin der Türme. Aber auch jemand aus der Nahrungsgewinnung, der Philosophengilde, ein junger Vertreter des Verständigungsrates – kluges Köpfchen, könnte mein Nachfolger werden, wer weiß –, eine Ingenieurin aus der Energietechnik und, sage und holografiere, ein echter Crown Shunteringenieur. Sir Osk?« Er gestikulierte zu einem weißblonden Mann in den Fünfzigern hinüber und bedeutete ihm, sich uns anzuschließen.

Aruncus war Toyrins Geste mit dem Blick gefolgt und wirkte plötzlich blass.

An ihn und mich gewandt, erklärte Toyrin mit leiser Stimme: »Sir Osk ist, wie der Titel ja schon sagt, ein Oberster. War immer sehr interessiert an der Delegation. Weil der Nahrungsingenieur wegen plötzlicher Erkrankung ausfiel, hab ich ihn berufen. Echte Ehre, nicht wahr? Ich meine, auch wenn er nicht dem Inneren Zirkel angehört, ist er doch ein Mitglied der Herrscherfamilie. Aber er will davon nichts wissen, gibt sich ganz wie einer von uns.«

In den Türmen hatte sich über die Jahrhunderte das ehemalige System unserer damals noch gemeinsamen Welt verändert. War in den alten Tagen die Herrscherfamilie, auch Oberste genannt, diesen beiden Namen in jeder Hinsicht gerecht geworden, indem sie Entscheidungen für unsere gesamte Welt traf und diese notfalls brachial durchzusetzen vermochte, so übernahmen ihre Mitglieder heute nur noch beratende Funktionen. Zu unserer Zeit leitete und führte die Türme ein von der Bevölkerung gewählter Rat.

Doch auch wenn seit jenen Herrscherzeiten drei Jahrhunderte vergangen waren, so brachten die Einwohner der Türme den Obersten, den Mitgliedern jener altehrwürdigen Familie, immer noch besondere Achtung entgegen.

Und nicht nur sie. Auch hier im Refugium hatte sich eine gewisse Achtung vor der Hohen Familie gehalten, in der sich Wissen, Intelligenz und Durchsetzungsvermögen ballten.

Seit Aruncus anlässlich seiner Ernennung zum Refugiumsmeister die Reise in die Türme unternommen hatte, sprach er mit höchstem Respekt von den Obersten. Auch jetzt wirkte er plötzlich noch angespannter als zuvor, als er dem Mitglied der Herrscherfamilie entgegenblickte.

Toyrin wandte sich dem drahtigen Mann zu, der uns fast erreicht hatte. »Verzeihen Sie, dass ich Sie so plump herbeiwinke, Sir Osk.«

»Sie sind der Leiter der Delegation, Ratsherr Toyrin. Sie dürfen mich winken, wohin Sie wollen«, erklärte der Angesprochene mit einem breiten, sympathischen Lächeln, in das er auch mich einbezog. Als er Aruncus zunickte, erstarrte der geradezu, bevor er sich noch ein wenig mehr aufrichtete.