Hemmungen und Dynamit - Nicolas von Passavant - E-Book

Hemmungen und Dynamit E-Book

Nicolas von Passavant

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Beschreibung

«Sowohl meine private als auch meine berufliche Tätigkeit hat immer mit Politik zu tun.» Mani Matter sagte dies in einem Interview im Hinblick auf sein Wirken als Jurist, aber auch als Chansonnier. Der Essay «Hemmungen und Dynamit» des Literaturwissenschaftlers Nicolas von Passavant zeigt, wie sich die Beschäftigung mit politischen Themen durch die verschiedenen Phasen und Bereiche von Matters Leben zog; und wie eng dabei wissenschaftliches und künstlerisches Schaffen verbunden sind.Erstmals werden hier die politischen Schriften Matters eingehend besprochen: darunter drei theoretische Artikel, die – lange vergriffen – im Anhang mit abgedruckt sind. Vor dem Hintergrund der dortigen Überlegungen erläutert der Autor politische Bezüge in den Liedern und beleuchtet deren Konzept: Mani Matter verstand seine Chansons als «Modelle für politische Sachverhalte». Sie sollten nicht belehren, wohl aber zum Nachdenken anregen. Wie der Essay zeigt, tun sie das noch heute.

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Inhalt

Cover

Impressum

Titel

Einleitung

Poetik und Gewaltmotivik

Poetik und Imago allgemein

Motive der Gewalt

Politische Gewalt

Die theoretischen Schriften

Die Habilitationsschrift

Das Cambridge-Notizheft

Politische Artikel

Die Frage nach dem ‹Politischen›

Das Politische in Mani Matters Liedern

«Modelle für politische Sachverhalte»

Kritik und Ironie

Die späten Lieder

Schluss

Quellen

Hans Peter Matter: Drei politische Artikel

Der Mut zum Politisieren (1964)

Der Bürger und die demokratischen Institutionen (1966)

Die Schweiz seit 1945 aus der Sicht der jungen Generation (1971)

Über den Autor

Über das Buch

Nicolas von Passavant

Hemmungen und Dynamit

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur miteinem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Autor und Verlag danken für den Druckkostenbeitrag:

© 2022 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehalten

Nicolas von Passavant

Hemmungen und Dynamit

Über das Politische bei Mani Matter     Mit drei politischen Artikeln von Mani Matter

Einleitung

Viele Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die den gesellschaftlichen Diskurs des Landes in den letzten hundert Jahren maßgeblich mitgeprägt haben, sind über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden. Annemarie Schwarzenbach, Ludwig Hohl und Friedrich Dürrenmatt, Gertrud Leutenegger, Lukas Bärfuss und Dorothee Elmiger: Ihre Texte wurden und werden, zum Teil hauptsächlich, in bundesdeutschen Medien und Verlagen publiziert.

Mit den Liedern Mani Matters verhält es sich anders: Auf Berndeutsch geschrieben und gesungen, sind sie in Deutschland nie bekannt geworden. In der Deutschschweiz aber ist die Popularität des Sängers auch Jahrzehnte nach seinem frühen Unfalltod 1972 ungebrochen: Über nun schon drei Generationen hinweg können Menschen hier nicht selten ganze Strophen seiner Chansons auswendig. Längst haben die Lieder Eingang in den Musikunterricht gefunden, wurden vielfach nachgespielt und adaptiert. Friedrich Kappelers Mani Matter – Warum syt dir so truurig? wurde 2002 zum erfolgreichsten Schweizer Dokumentarfilm überhaupt. Mit einer großen Matter-Ausstellung erzielte das Schweizerische Landesmuseum 2013 einen Besucherjahresrekord.

Der Erfolg verdankt sich der sprachlichen Raffinesse und dem gedanklichen Hintersinn, die in den vordergründig einfachen Chansons stecken. Oft wird auch auf eine gesellschaftskritische Dimension der Lieder verwiesen. War Mani Matter aber ein politischer Dichter? Und wenn ja, in welchem Sinn?

Hans Peter Matter, so der bürgerliche Name, war politisch äußerst interessiert und kundig: Als promovierter Jurist und als Beamter der Stadt Bern war er mit der Geschichte der Staatslehre und dem politischen System der Schweiz sehr gut vertraut. Er war Mitglied, zeitweise auch Präsident der Kleinpartei Junges Bern. Dort hat er in Kampagnen und Wahlkämpfen mitgearbeitet. Matter hat die ersten Statuten des progressiven Schriftstellerbündnisses Gruppe Olten verfasst und auch in seinen Tagebüchern (publiziert 1974 als Sudelhefte) findet sich eine Vielzahl politischer Überlegungen.

Im Unterschied zu vielen deutschen Liedermachern seiner Generation sucht man in seinen Liedern allerdings vergeblich nach politischen Parolen: Er glaube nicht, sagte Matter im Interview, dass Musiker viel erreichten, wenn sie «ihr ‹Engagement› mit dem Holzhammer zum Ausdruck bringen».1 Wohl aber seien manche seiner Chansons als «Modelle für politische Sachverhalte»2 zu verstehen.

Der folgende Essay geht der Frage nach, was es damit auf sich hat: Worin besteht das ‹Politische› dieser Lieder, wenn sie direkte politische Aussagen generell eher meiden? Was ist unter den ‹Modellen› zu verstehen, von denen Matter spricht? In welcher Verbindung stehen sie mit seiner theoretischen Auseinandersetzung? Inwiefern reagieren sie auf politische Diskussionen seiner Zeit?

Trotz seiner Bekanntheit ist Matters Werk nicht oft Gegenstand theoretischer Überlegungen geworden; und die Arbeiten, die es gibt, gehen auf Fragen des Politischen oft eher im Vorbeigehen ein. Das verwundert insofern, als nicht nur die entsprechenden Passagen aus den Tagebüchern seit Jahrzehnten zugänglich sind. Auch mehrere politische Artikel, die Matter zu Lebzeiten veröffentlichte, sind zumindest in Universitätsbibliotheken noch zu finden. Um sie leichter greifbar zu machen, werden sie im Anschluss an diesen Essay neu abgedruckt.

In den vergangenen Jahren ist auch weiteres reiches Material dazugekommen: Aus dem schriftlichen Nachlass Matters, seit 2007 im Schweizerischen Literaturarchiv zugänglich, erschien 2011 das Cambridge-Notizheft. Es enthält Aufzeichnungen von Matters einjährigem Englandaufenthalt 1967/1968, in denen er sich eingehend mit den politischen Diskussionen dieser Jahre beschäftigt. In Cambridge hatte er an seiner Habilitationsschrift gearbeitet, die mit der pluralistischen Staatstheorie ebenfalls einem politischen Thema gewidmet ist. Zu Lebzeiten unveröffentlicht, liegt sie seit 2012 in einer sorgfältigen Edition durch den Rechtswissenschaftler Benjamin Schindler vor.

Der folgende Essay beleuchtet erstmals diese Gesamtheit der politischen Schriften, um zu eruieren, in welchem Verhältnis sie zu den Liedern stehen. Er geht im ersten seiner drei Teile von den Chansons aus, insbesondere dem dort häufig wiederkehrenden Thema der Gewalt. Unabhängig davon, ob im Ton lustig oder nachdenklich, ob in ihrer Struktur erzählerisch oder eher assoziativ: Oft kommt es in Matters Chansons zu Handgreiflichkeiten und Beleidigungen, zu Mord und Totschlag sowie zu teils auch explizit politischer Gewalt.

Gewalt ist in Matters Liedern dabei selten bezugslos. Oft funktionieren Übergriffe, Aggressionen und Tumulte als Kristallisationspunkt komplexer Themen und Konflikte. Und immer wieder stellt sich die Frage: In wessen Namen wird solche Gewalt ausgeübt? Wer glaubt sich in der Ausübung von Gewalt wodurch legitimiert?

Mit dieser Frage nach der Legitimation von Gewalt befindet man sich mitten in Matters theoretischen Überlegungen. Diesen gehe ich im zweiten Teil des Essays zuerst anhand von Matters Habilitationsschrift nach, aus der viel von seinem Verständnis von Staat und Gesellschaft zu erfahren ist. Dass diese theoretische Auseinandersetzung nicht losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Ereignissen stattfand, zeigen das Cambridge-Notizheft und die politischen Artikel Matters. Hieran wird deutlich, wie er auf gesellschaftliche Konflikte seiner Zeit reagierte und sich sein politisches Denken entwickelte.

Der dritte und letzte Teil des Essays kehrt zu den Liedtexten zurück. Anhand einer nochmals etwas detaillierteren Lektüre zeigt sich, in welch engem Bezug die wissenschaftlichen und die künstlerischen Arbeiten Matters stehen: Man erkennt Hintergründe der Lieder in seinen wissenschaftlichen Überlegungen und seiner Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Debatten. Und man kann nachvollziehen, wie sich der Gestus der Lieder teils parallel zur Entwicklung im politischen Denken verändert.

All das (darüber resümiert das Nachwort) bedeutet nicht, dass man die Chansons zwingend besser versteht, wenn man sie im Zusammenhang historischer und wissenschaftlicher Debatten hört. Mit Blick auf seine theoretischen Überlegungen wird indessen gerade dies klarer: Weshalb es Mani Matter wichtig war, Lieder zu schreiben, die ohne bestimmtes theoretisches Wissen und ohne ideologische Annahmen funktionieren.

Zu formalen Aspekten: Matters Werk verdient Beachtung über Dialektgrenzen hinaus. Zitaten aus den Liedern sind deshalb in den Fußnoten Übersetzungen hinzugefügt. Sie versuchen gar nicht erst, den Wortwitz der Originale nachzuahmen: Die Übersetzungen sollen nur bei Bedarf helfen, den Inhalt der Texte zu verstehen (und die sprachliche Raffinesse am Original nachzuvollziehen).

Die Zitate aus Matters Werken sind mit Kürzeln (Siglen) ausgewiesen. Diese finden sich in den Quellenangaben im Anhang aufgelöst. Verweise auf die im Band nachgedruckten Artikel werden in eckigen Klammern ergänzt. Matters Liedtexte zitiere ich nach den drei veröffentlichten Liederbüchern (LB); nicht wundern darf man sich über die dort durchgehende Kleinschreibung. Auch bei den im Anschluss an den Essay nachgedruckten Artikeln Matters wird die ursprüngliche Rechtschreibung beibehalten. Den Erscheinungsort der Aufnahmen weise ich nicht immer aus: Eine Angabe fällt gewöhnlich weg, wenn sie zu Lebzeiten auf EPs veröffentlicht wurden; gesammelt auf der Doppel-LP I han es Zündhölzli azündt (1973). Erfolgte die Erstaufnahme dagegen live oder durch andere Musiker, ist sie vermerkt.

Endnoten

1Im Gespräch mit dem Bieler Tagblatt (19. 3. 1971, unpaginiert).

2So Matter im Interview mit der Zeitschrift Femina (22. 9. 1972, S. 64).

Poetik und Gewaltmotivik

Mani Matter hat schon als Schüler in den 50er-Jahren gedichtet und frühe Chansons und Theatertexte an Pfadfinderabenden aufgeführt.3 Ab der zweiten Hälfte der 60er-Jahre wurden seine Lieder einem breiteren Publikum bekannt: 1966 erschien die erste seiner insgesamt vier EPs. Ab dem Jahr darauf trat er auch live auf; zuerst als Mitglied der Formation Berner Troubadours, ab 1971 dann mit eigenem abendfüllendem Programm.4

Sowohl die Platten als auch die Auftritte charakterisiert ein reger Wechsel von Themen und Stimmungslagen.5 Manche Lieder funktionieren als humoristisch-absurde Alltagsminiaturen: Ein Kunde erblickt in den sich reflektierenden Spiegeln eines Friseurladens seinen Kopf vervielfacht und ergreift vor Schreck die Flucht. Einer soll bei einer Behörde vorstellig werden, verirrt sich aber in den dortigen Gängen und geht verschollen.6 Andere Stücke bestehen aus aberwitzigen Kleinerzählungen: Ein Inuk spielt so laut Cembalo, dass ihn ein Eisbär hört und frisst. Die Aufführung des Wilhelm Tell in einem Provinzlokal endet anstelle der Gründung der Eidgenossenschaft in einer Saalschlacht.7

Manche Lieder reflektieren eher abstrakt: Beruht die bunte Traumwelt von Reklamen auf der Annahme, dass das Leben eigentlich trist und leer ist? Ein anderes Stück formuliert eingängig: Jenen, denen es gut geht, ginge es besser, ginge es auch jenen besser, denen es weniger gut geht.8 Wiederum andere Chansons entwerfen groteske Szenarien: Eines erzählt von einem Geiger, der im Krieg sein Instrument und alle seine Gliedmaßen verloren hat. Sein Spiel findet nur noch virtuell statt, als Abfolge nicht mehr möglicher Gesten. Ein wiederum anderes reiht traumartig-surreale Szenerien aneinander: Eine Straßenbahn fährt zum Himmel, ein Polizist legt ein Ei, ein Stier entspringt einer Bratpfanne.9 Verbunden werden diese Bilder nur durch ein rhetorisches Spiel.10

All diese Lieder haben gewisse Ähnlichkeiten: Sie drehen sich meistens um alltägliche Themen und haben oft einen surrealen, manchmal auch düsteren Touch.11 Ihre Form und Tonlage ist aber ganz unterschiedlich: mal der witzigen Beobachtung, dann des freien Fabulierens, mal der nüchternen Überlegung, dann der melancholisch-grotesken Fantasie. Dass sie trotz ihrer Verschiedenheit allesamt als Mani-Matter-Lieder zu erkennen sind, hat neben dem Inhaltlichen auch mit sprachlichen Eigenschaften und der Art zu tun, wie sie vorgetragen wurden.

Poetik und Imago allgemein

Sprachlich liegt der Wiedererkennungswert von Mani Matters Liedern in einer ganz bestimmten, dichterisch höchst raffinierten Verwendung des Dialekts. Berndeutsche Mundartlyrik war bis dahin traditionell eher heimattümelnd-idyllisch. Die Wärme, die man mit dem Klang des Berner Dialekts verbindet, verschwindet bei Matter nicht prinzipiell. Wie andere progressive Schweizer Dialektdichtungen seiner Zeit meiden seine Texte aber antiquierte Ausdrücke. Sie bewegen sich nahe an der alltäglichen Umgangssprache.

In diesem lockeren und schnörkellosen Ton ist bei Matter auch Raum für Neologismen und Fachbegriffe, die oft Material für witzige Wendungen und Reime abgeben.12 Sprachlich betreibt Matter die Reduktion auf kürzestmögliche Formulierungen, in denen ein enormes Sprachgefühl und ein großer Sinn für Lakonik zum Ausdruck kommen. In ihrer Knappheit verschränken sich Eingängigkeit und Vieldeutigkeit: Gerade weil man sie sich aufgrund ihrer Einprägsamkeit wieder und wieder durch den Kopf gehen lassen kann, fallen einem immer wieder neue Dinge auf.

Mit dem anheimelnden Klang des Dialekts korrespondiert die Wärme von Matters sonorer Stimme und der Ton seiner akustischen Gitarre. Sie machen den Matter-Sound ganz maßgeblich aus. Die Modulation von Stimme und Gitarrenspiel stützt zugleich den ganz unterschiedlichen Gestus der Stücke: Mal zeigt sich Matter schalkisch, singt schnell, zupft die Saiten flink. Dann intoniert er die Worte, höflich-konziliant oder versonnen, ruhiger, gibt dem Volumen von Stimme und Instrument Raum. Seine Stimme erreicht recht tiefe Tonlagen, in denen die Texte lakonisch-düstere Pointen setzen können. In einer leicht brüchigen Heiserkeit in höheren Tonlagen dagegen klingt sie empfindsam, manchmal auch offen ratlos.13

Zu Sprachstil und Klang der Lieder kommt Matters Auftreten: Hochgradig wiedererkennbar, nach Art des schon frühen Vorbilds Georges Brassens, spielt und singt er bei spärlicher Bühnenausstattung in Hemd und teils Jackett. Anders als manche Liedermacher und Singer-Songwriter seiner Zeit gibt er sich weder betont hemdsärmelig noch dandyhaft-extravagant: Man kann sich vorstellen, dass Matter im juristischen Berufsalltag ähnliche, vielleicht teils dieselben Kleider trug wie auf der Bühne; förmlich, aber nicht allzu zugeknöpft. Im Bürojackett hängt noch eine Note von Existenzialismus und Zigarettenrauch aus einem Kellerlokal der Pariser Rive Gauche.

Eine ähnliche Spannung prägt auch Matters Schnauzbart. Über ihn hat er in einem Interview mit Franz Hohler gesprochen: Einen Schnauz habe schon sein Großvater getragen, Oberbetriebschef der Schweizerischen Bundesbahn. Im Unterschied zu diesem frisiere er ihn aber nicht streng.14 Auch hierin also liegt eine gewisse Dialektik zwischen Ordentlichkeit und Eigensinn. (Beim Gesichtsausdruck spielen überdies Matters markante Augenbrauen eine Rolle: Sie geben dem Gesicht als Ganzem seine Prägnanz und verstärken die unterschiedlichen Mienen. Leicht gesenkt, betonen sie eine nachdenkliche oder scharfsinnig-kritische Haltung, gehoben, unterstreichen sie die Witzigkeit des Vortrags oder geben einer einfühlsamen Arglosigkeit des Blicks Ausdruck.)

Saß man Anfang der 70er-Jahre in einem Soloprogramm, wusste man gewöhnlich auch schon das eine oder andere über ihn: aus Artikeln, Radiobeiträgen und Interviews, manches erfuhr man auch in den Conférencen zwischen den Liedern. So war zu lesen, dass Matter seine Lieder zuerst bei Pfadfinderabenden gespielt und dort auch den Spitznamen ‹Mani› bekommen hatte. Man mochte ungefähr über seine politischen Aktivitäten im Jungen Bern und seine Arbeit als juristischer Beamter im Bild sein. Es war bekannt, dass Matter verheiratet und Vater dreier Kinder war. Ebenfalls konnte man ihn in Bezug auf die Auftritte und die Freundschaften mit den Berner Troubadours ungefähr in einen künstlerischen Zusammenhang einordnen.15

Auch das Wissen um solche biografischen Aspekte kann die Art und Weise mitprägen, wie man Matters Lieder hörte und hört.16 Denn mit diesen unterschiedlichen Seiten seiner Person lassen sich die verschiedenen Themen und Tonlagen der Lieder in Verbindung bringen: Die Gewissenhaftigkeit seiner Haltung und die lakonische Knappheit seiner Formulierungen lassen an den Juristen denken, das Spitzbübische und der Gemeinsinn an den ehemaligen Pfadfinder. Eine Mischung aus höflicher Zurückhaltung und hintersinniger Ironie spiegelt Habitusformen des Berner Mittelstands. Wärme und moralische Konsequenz lassen an den Familienvater denken, Ehrlichkeit und Umsicht an den Freund, die schnelle und scharfe Auffassungsgabe an den Akademiker und den politischen Strategen.

Dieses Erscheinungsbild ist weder ganz fix abgezirkelt noch müssen die Assoziationen dem realhistorischen Hans Peter Matter eins zu eins entsprechen: Das Publikum setzt sich eine Art Imago ‹Mani Matter› aus jenen Teilen seiner Persönlichkeit zusammen, die der Sänger öffentlich von sich zeigte.17 Eine solche Imago kann eine ähnliche Doppelfunktion erfüllen wie die Verwendung des Dialekts, die Modulation der Stimme und das Konzept des Auftritts: Einerseits gibt sie der Vielgestaltigkeit der Lieder Ausdruck, der Verschiedenheit der Themen und Stimmungslagen. Andererseits zeigt sie zugleich ihre charakteristische Einheit an: Die Lieder sind Teile eines Werks, so wie die verschiedenen Eigenschaften ein und derselben Person zugehören.

Natürlich ist diese Imago nicht am Reißbrett entstanden: Matter arbeitete auch mit dem Zufälligen seines Aussehens und seiner Biografie, und dies teils vermutlich auch unwillkürlich. Bewusst hielt Matter aber manches zurück: Viele der frühen Chansons, vornehmlich Liebeslieder, spielte er vor größerem Publikum nicht mehr. Sie entsprachen seinem dortigen künstlerischen Selbstverständnis nur noch bedingt.18 Bei den Auftritten mit den Berner Troubadours sprach er zwischen den Liedern kaum. Im eigenen Programm gab es dann längere Conférencen.19 Hier wie in Interviews zeigte er sich offen, erzählte auch Biografisches. Schwierige Erfahrungen der Jugend sparte Matter aber aus. Sie waren für das Funktionieren der Auftritte nicht wesentlich, hätten eine ihm vielleicht auch unangenehme Nähe hergestellt.20

Mani Matters Imago trägt so zum Rahmen bei, in dem man die Lieder hört. Dieser Rahmen entwickelte und veränderte sich. Auch manches, was nach Matters Tod erschienen ist, kann man ihr zurechnen: In den Tagebuchaufzeichnungen (später in Auswahl unter dem Titel Sudelhefte veröffentlicht) spielt die Idee ihrer Publikation schon eine Rolle.21 Auch viele weitere Gedichte, Prosa- und Dramenentwürfe Matters, die mittlerweile gedruckt bzw. von anderen eingesungen worden sind, sind von ihm wohl nur wegen des frühen Tods nicht selbst veröffentlicht worden.22

Auch nicht in die Kategorie des bewusst Zurückgehaltenen gehören die wissenschaftlichen und publizistischen Schriften: Sowohl seine Dissertation als auch mehrere politische Artikel veröffentlichte Matter zu Lebzeiten unter bürgerlichem Namen. Teil der Sänger-Imago ‹Mani Matter› sind sie aber trotzdem nur bedingt: Ein ungefähres Wissen um seine Tätigkeiten in der Wissenschaft und als Beamter bestand beim Publikum, eine genauere Kenntnis über die Themen, mit denen er sich dort beschäftigte, aber kaum. Seine theoretischen Gedanken sind jedenfalls nicht nötig, um die Lieder zu verstehen.

Auch nichtkünstlerische Texte Matters können im Hinblick auf seine Chansons aufschlussreich sein: In den Sudelheften zeigt sich eine große Breite an literatur- und geistesgeschichtlichen Lektüren.23 Auch hat er sich über Jahre wieder und wieder mit Fragen der sprachlichen Verknappung beschäftigt.24 Die vordergründige Einfachheit der Lieder war folglich das Ergebnis einer langen Auseinandersetzung mit dichterischen Stilfragen. In ähnlichem Sinn lohnt sich auch ein Blick auf zeitgeschichtliche Umstände und auf Matters politische Überlegungen: Auch sie können zum Verständnis beitragen, auf welcher Grundlage seine Lieder entstanden sind, wie sie ‹gemacht› sind.

Diesen politischen Zusammenhängen möchte ich mich über ein in den Liedern häufig wiederkehrendes Motiv nähern: die Darstellung unterschiedlicher Formen von Konflikten und Gewalt.

Motive der Gewalt

Angesichts der Witzigkeit vieler von Mani Matters Texten und der Konzilianz seines Auftretens bricht in seinen Liedern erstaunlich oft Gewalt aus: Nicht nur das Stück über die Aufführung des Wilhelm Tell endet in Blut und Tumult, nicht nur der grönländische Cembalist stirbt einen frühen Tod: Beleidigungen, Verwüstung und Handgreiflichkeiten spielen in vielen von Matters Stücken eine Rolle; in unterschiedlichsten Zusammenhängen, Größenordnungen und Tonlagen.

In manchen frühen Chansons trägt Gewalt absurde, teils witzige Züge. Auf der ersten EP von 1966 schickt Matter gleich zwei Künstlerfiguren in einen frühen, brutalen Tod: Auf die Geschichte vom ‹Eskimo›, der von einem Eisbären gefressen wird, folgt jene des minnesingenden Katers Ferdinand: Ihn erschlägt der spießige Herr Brändli mit einem Nachttopf. Beides wird fröhlich vorgetragen. Im ersten Lied heißt es schulterzuckend, Kunst sei «geng es risiko».25

Anders als es die heitere Formulierung erwarten lässt, beschäftigte sich Matter sehr ernsthaft mit der Frage einer Künstlerexistenz: Mitte zwanzig schreibt er in den Tagebüchern vom Künstlerleben als einem «Wunschtraum seit langem». Er sehe, «daß das Risiko des Schreibens gut ist, dass das Leben Risiko braucht: ich muß abstoßen, um irgendwo landen zu können.»26 Zugleich ist Matter ein mit solchem Risiko verbundenes Künstlerpathos fremd: Macht sich nicht in gewissem Sinn auch zu einfach, wer sich ganz der Kunst verpflichtet? Wird man damit den Anforderungen des Lebens gerecht? Entsteht so zwingend die bessere Kunst?‍27

Eine schlichte Formel zum Verhältnis von Kunst und Leben ergibt sich in den Tagebüchern aus diesen Fragen nicht. Auch die Lieder weisen sowohl das Künstlerpathos wie eine dazu gegenteilige Moral zurück: Am Ende des Eskimo-Lieds heißt es flapsig-absurd, wer nicht von einem Eisbären gefressen werden wolle, solle sich bloß kein Cembalo kaufen. Und beim erschlagenen Ferdinand kann man sich damit trösten, dass der singende Kater großen Nachwuchs gezeugt hat (der den Finsterling Brändli mit weiteren Liebesliedern drangsalieren mag).28 Auch die Nonsens-Gewaltszenarien der frühen Lieder können jedenfalls aber mit durchaus ernsthaften Überlegungen zusammenhängen.

Solche Überlegungen betreffen im Folgenden nicht nur das Künstlertum, sondern die Frage einer Existenz jenseits bürgerlicher Normen im Allgemeinen, und hier wird der Ton ernster: Das Lied über den Sonderling Dällebach Kari, der aufgrund einer Gesichtsdeformation verspottet wird, zeichnet auf präzise Weise Dynamiken der Fremd- und Selbstmarginalisierung nach. Dällebach Kari reagiert auf den Hohn, indem er selber Witze reißt; so lacht man eher mit ihm als über ihn. Als ihm keine Witze mehr einfallen, kollabiert die Bewältigungsstrategie: Der Verspottete begeht Selbstmord.29

Die Erscheinungsform von Gewalt wird in solchen Liedern differenziert. Sie zeichnen den Charakter kollektiver Zwänge nach: Die Hauptfigur eines anderen Lieds lässt sich ihre ungestalte Nase operieren. Nachdem ihr damit aber auch der sprichwörtliche Lebensinstinkt abhandengekommen ist («dr nase na»),30 läuft sie unter ein Auto. Ein weiteres Chanson erzählt von der Angst, Leute könnten über einen lachen: Weil die Furcht, sich lächerlich zu machen, ihrerseits bizarre Züge annimmt, greift diese Angst immer weiter um sich.31

Den Matter’schen Figuren setzt insbesondere auch bürokratische Anonymität zu: Ähnlich wie bei dem in Är isch vom Amt ufbotte gsi kafkaesk in einem Amtsgebäude Verschollenen verhält es sich im Lied Dr Gloon. Es erzählt von einem Mann, dem der Respekt vor Autoritäten fehlt. Wie Dällebach Kari reißt er untertags Witze, bekommt aber zu spüren, dass an Clowns kein Bedarf mehr ist: Er versinkt in Schrulligkeit und Melancholie und verdingt sich als Steuerbeamter.32

Dies ist nur eine Seite der Figuren des Gewöhnlichen in Matters Liedern. Oft funktionieren sie eher versöhnlich, indem sie an den Tücken des Alltags scheitern: Sie können das Geld nicht wechseln, das sie für den Parkingmeter brauchen, weil sie dafür erst parken müssten. Sie kaufen eine zu teure Brieftasche, sodass ihnen dann Geld fehlt, das sie hineinlegen könnten. Nachdem sie den Zug verpasst haben, studieren sie den Fahrplan – und verpassen dabei die nächste Abfahrt.33 In den Stücken mit Außenseitermotivik verliert das Normale seine Unschuld: Alltagsmenschen treten hier als feindselige Spießer auf, als Vertreter eines Kollektivgeists, der Abweichung und Originalität erstickt.34

In interessanter Weise zeigt das Lied Dr Noah beide Seiten des Gewöhnlichen. Während der biblische Held seine Arche baut, tun ihn die anderen als Spinner ab. Das scheint, wie es im Lied heißt, verständlich. Jede Strophe endet mit den Worten: «und me begryfft dass d’lüt hei gseit: däm ma däm spinnts».35 Noch als Noah die Tür des Schiffs schließt, ‹holeien› sie draußen (johlen dumm). Als die Flut dann steigt, flehen sie kläglich um Einlass. Als sie schließlich verstummen, endet das Lied mit dem Klang einer gezupften hohen Saite: ein Schulterzucken über die Dummheit der Menschen? Oder doch eher ein Fragezeichen, ob die Auslöschungsfantasie nicht etwas weit geht?‍36

Brutal endet auch Dr Alpeflug. In dem Lied kriegen sich der Pilot eines Kleinflugzeugs und sein einziger Passagier in die Haare. Der hinten schreit, das Benzin gehe bald aus, der vorn gibt zurück, er verstehe im Motorenlärm nichts. Der Hintere brüllt immer verzweifelter, der Vordere bleibt ratlos. Schließlich stürzen sie ab. – Trägt der Passagier durch sein Schreien mit dazu bei, dass der Pilot nicht bemerkt, dass das Benzin ausgeht? Geht es darum, dass sich die beiden zunehmend mehr auf die Reaktion des anderen als auf ihre gemeinsame Lage beziehen? Oder ist die Pointe, dass man auch selber beim Zuhören keine eindeutige Lösung findet?‍37 – Auch in diesem Lied bleiben die Fragen offen.

Andere Chansons konzentrieren sich weiterhin ganz auf komische Aspekte von Gewalt: Einer der sprachspielerischen Höhepunkte von Matters Schaffen ist das Lied über einen Boxkampf. Der erste Satz, lakonisch dumpf gesungen, fasst die ganze Handlung schon zusammen: «zwee boxer im ring / gäh nang uf e gring».38 Die Schilderung des Geschehens gestaltet sich aber dann äußerst dynamisch, indem Matter aus dem Schlagabtausch eine Kaskade witziger Lautmalereien entwickelt.39

Auch Beleidigungen entfalten bei Matter sprachspielerisches Potenzial: In E Löu, e blöde Siech, e Glünggi un e Sürmu beleidigen sich die vier titelgebenden Deppen wechselseitig: Der ‹Glünggi› sagt dem ‹Löu›, er sei ‹e blöde Siech›, worauf der ‹Löu› sich bei dem ‹Sürmu› beklagt, der ‹Glünggi› sei ein ‹Sürmu› etc. Als dann der ‹Löu› bezichtigt wird, er sei ein ‹Löu›, eskaliert die Situation, die vier verprügeln sich gegenseitig.40

All diese Stücke erzählen davon, wie sich unbemerkt schwelende Aggression unversehens Bahn bricht. Bei den Liedern mit Außenseiterthematik hängt die Gewalt mit gesellschaftlichen Schieflagen zusammen, in den witzigen Stücken spielt die Unvernunft der Figuren eine wichtige Rolle. Weder die sozialen Probleme noch die Frage der Unvernunft werden aber nach einer einfachen Formel aufgelöst. In seinem Cambridge-Notizheft kommt Matter zum Schluss, auch eine ganz und gar rationale Lebenshaltung sei letztlich eine Illusion, und zwar eine gefährliche: Zu große Nüchternheit zeitige rein instrumentelles, sinnleeres Denken und Handeln.41

Wer sich als ganz und klar rationales Wesen versteht, versteht sich nicht. Einer der schönsten Sätze aus dem Tagebuch lautet: «‹Erwachsene›, wie wir sie uns als Kinder vorstellen, gibt es nicht. Es gibt nur Erstarrte – im schlechteren Fall – und Kinder.»42 Die Einsicht, dass es die ganz und gar vernünftig-souveränen ‹Erwachsenen› nicht gibt, dass die Unvernunft ihr eigenes Recht hat, legt den Grund für Matters Vorliebe für Literaturen des Absurden.43

Neben dem Spielerischen ist damit auch das Thema der Verunsicherung über das eigene Selbst verbunden: Das Lied Bärnhard Matter über einen historischen Straftäter entwickelt die Fiktion, bei dem titelgebenden Tunichtgut habe es sich um einen direkten Vorfahren des Chansonniers gehandelt. Es erzählt vom kriminellen Werdegang und der Hinrichtung des angeblichen Ahnen und kommt zum Schluss: Auch im Sänger könne dessen böser Geist jederzeit wieder ausbrechen.44 Und nicht nur in ihm, so die schauerromantische Schlusspointe in Richtung des Publikums: «s chunnt uf ds mal en unggle füre / wo dir nüt heit gwüsst dervo».45 Anders als beim sprichwörtlichen Onkel aus Amerika, der einem ein Vermögen hinterlässt, taucht dieser Vorfahre zwar auch unverhofft auf, aber weder erst im Nachhinein noch in der Ferne: Sein Erbe schlummert in einem selbst, ist immer schon Teil von einem.

Dieses Motiv der unwillkürlichen Prägung greift auch das Lied Alls, wo mir id Finger chunnt