Henner to go - Annette Biemer - E-Book

Henner to go E-Book

Annette Biemer

0,0

Beschreibung

Henner Henschel, ewiger Junggeselle, führt ein weltfremdes Leben bei seiner Mutter auf dem Dorf. Als diese plötzlich aus dem Leben gerissen wird und ihm gleichzeitig Henners bester Freund Mo die couragierte polnische Pflegekraft Milena vorstellt, wird alles anders. Und zwar ganz plötzlich. Denn Milena ist auf der Flucht. Zusammen begeben sich die beiden in Henners Unimog auf eine wilde Reise Richtung Polen. Dabei begegnen sie einer Menge Zeitgenossen, die es an Skurrilität mit den Sonderlingen in Henners Heimatdorf durchaus aufnehmen können.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 333

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Reimund Benderist im Hauptberuf Förster und lebt mit seiner Frau im mittelhessischen Hohenahr. Er leitet seit Jahren zwei kreative Schreibgruppen in Lich und Wetzlar, mit denen er immer wieder Lesungen zu bestimmten Anlässen und Themen durchführt. Im Mittelpunkt seiner Autorentätigkeit stehen Geschichten mit Humor, Spannung und Regionalbezug.

Annette Biemerlebt mit ihrem Mann im mittelhessischen Wetzlar, wo sie auch die Text- und Kulturwerkstatt ausdrucksSTARK betreibt. Da sie nichts weniger mag als Routine, genießt sie es, mit Künstlern und anderen Kreativen zu arbeiten. Im Laufe der Jahre sind zahlreiche Bücher erschienen. Besonders am Herzen liegen ihr regionale Eigenheiten sowie charmante Charaktere.

Joscha Bender (Illustrationen) ist Diplomkünstler und studierte als Meisterschüler Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Er arbeitet gegenständlich figurativ mit Materialien wie Stein, Bronze und Gips. Seine Arbeiten werden in unterschiedlichen Galerien deutschlandweit gezeigt, sind in Sammlungen vertreten und wurden mit Stipendien ausgezeichnet. Außerdem malt er gerne Illustrationen für seinen Volleyballverein, die nach jedem Sieg in den sozialen Medien veröffentlicht werden.

Die Personen im Roman sowie Henners Heimatdorf und einige Details aus den vorkommenden Orten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit oder Namensgleichheit wäre rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Der gute Bub

Wie alles begann

Mo nimmt die Sache in die Hand

Die Maschinerie läuft an

Polizei im Haus

Alles ist anders

Elses letzter Wille

Das Geheimnis im Keller

Mo gibt Kommandos

Henner muss sich kümmern

Kein gutes Geschäft für den Flachgräber

Die Zeit geht dahin

Die Trauelfeiel

Die Ruhe vor dem Sturm

Henner nimmt sein Leben selbst in die Hand – und

Das Unheil naht

Aufbruchstimmung

Der Westen vom Osten

Sodom und Gomorrha

Einkaufsorgie in Leipzig

Henner macht eine Unterhosenbekanntschaft

Ein Handy muss her

Frankfurt?

Steffen

Planänderung

Am See

Urlaub im Camperland

Henner adoptiert eine Luftmatratze

Henner und die Schwerkraft

Eine Begegnung für die Zukunft

Milena stellt die Weichen

Alles hat ein Ende

Ankunft im Hühnerstall

Spaziergang zur Elbe

Zurück im Hühnerstall

Die Gestrauchelten

Es geht zurück in den Westen

Bo

Zurück in der Heimat

Harte Verhandlungen

Der gute Bub

Der Lattenzaun an der Straße musste ausgebessert werden. Also nahm Henner die Sache in Augenschein. Es half nichts. Eine Reise zum Baumarkt würde unvermeidbar sein. Doch nicht heute. Jetzt hatte er sich erst mal eine Tasse Kaffee verdient – die Tasse Kaffee, die seine Mutter schon zubereitet hatte. Das wusste er, denn wie gewöhnlich hatte sie ihm vor einer Weile aus dem Küchenfenster zugerufen: „Kaffee ist fertig.“ Henner freute sich schon auf das Zischen, das die Warmhaltekanne jedes Mal von sich gab, wenn seine Mutter ihm einschenkte.

Da das Procedere nichts Neues für Henner war, begab er sich gemächlich, den Einkaufszettel für den Baumarkt im Kopf notierend, durch den Hintereingang in die Küche und nahm auf der Eckbank Platz. Ja eine solche gab es noch im Hause Henschel. Noch. Nicht wieder. Denn es handelte sich hier nicht um eine dieser modernen lehnenlosen Exemplare für die junge Wohnung, sondern um ein echtes Teil aus den 70ern. Der Besonderheit dieses Möbelstücks war Henner sich allerdings nicht bewusst. Mutter Henschel wahrscheinlich auch nicht. Die beiden bildeten ein seltsames Paar – oder ein eingespieltes Team, je nachdem, wie man die Sache sehen wollte.

Henner, bereits Anfang vierzig, hatte den Sprung in die Selbständigkeit nie geschafft. Selbständigkeit hieß in seinem Falle nicht Selbständigkeit ins freie Unternehmertum, sondern Selbständigkeit an sich. Als erwachsener Mensch sozusagen. In seiner grundlegenden Bedeutung. Da Henners Vater starb, als der Junge noch klein war und es keine Geschwister gab, war Henners Mutter seine einzige Bezugsperson geworden. Und umgekehrt.

Mutter Henschel hatte nie ernsthaft Ausschau nach einem neuen Mann gehalten. Vielleicht war sie aber auch einfach clever gewesen und hatte im Dorf nur so getan. Fakt allerdings war, dass sie nie einen offiziellen neuen Partner mit nach Hause brachte. Einen Mann hatte sie also nicht an sich gebunden. Bei ihrem Sohn gelang es ihr umso effektiver, enge Bande zu knüpfen. So hatte sie es geschickt verstanden, jegliche Annäherung von Seiten Henners an ein Mädchen im Keim zu ersticken. Und früher oder später war der Punkt gekommen, an dem Henner es erst gar nicht mehr versuchte. Einerseits mag es die fehlende Übung gewesen sein, die ihn irgendwann jeglichen Mut und schließlich jede Illusion verlieren ließ. Andererseits, warum hätte er sich abmühen sollen? Mutter Henschel sorgte sich rundum um alles. Sie bekochte ihn mit Leibgerichten, machte den ganzen Haushalt, kaufte ihm seine Kleidung und hängte ihm morgens die von ihr ausgewählten Stücke raus. Wobei das nicht schwierig war, denn eigentlich trug Henner immer Blaumann. Die Ausnahmen konnte man an zehn Fingern abzählen. Das Bett machte Mutter ihm freilich auch. Sie weckte ihn, wenn es Zeit wurde aufzustehen, und nach einem kurzen oberflächlichen Aufenthalt im Bad, war der Frühstückstisch bereits für ihn gedeckt.

Henner seinerseits kümmerte sich, nach Anweisung, um Arbeiten in Garten und Hof. Aus Sicht seiner Mutter war Henner ein ‚guter Bub‘ und auch bei den anderen Leuten galt er als ein netter, harmloser Mensch, der sich nicht scheute, zu helfen, wenn man ihn darum bat.

Die muttergeprägten Jahre gingen freilich nicht spurlos an Henner vorüber. Er wurde leicht kauzig, was nicht nur die Damenwelt bemerkte. Vor einigen Jahren war er mit dem Auto seiner Mutter in einem unaufmerksamen Augenblick gegen einen Baum geprallt. Dabei hatte er sich eine komplizierte Rückenverletzung zugezogen, die ihn für längere Zeit außer Gefecht setzte. Ein Wendepunkt in seinem Leben. Auf Anraten seiner Mutter bemühte er sich schließlich um Frührente. Tatsächlich wurde seinem Antrag nach langem Procedere stattgegeben. Sehr zum Leidwesen seines Chefs, der eigentlich einen guten Mechaniker alter Schule dringend gebrauchen konnte. Dafür aber sehr zur Freude von Mutter Else, die gar keine Probleme damit hatte, den guten Henner so oft wie möglich zu beschäftigen. Manchmal entließ sie ihn aus seiner Pflicht, wenn er schwarz einen kleinen Job annehmen und jemandem einen Gefallen tun konnte.

Im Laufe der Zeit lernte Henner, sich mit seinem Rückenproblem zu arrangieren. An eine Rückkehr in seinen Beruf war allerdings nicht zu denken.

Was Henner den ganzen Tag wirklich so trieb, wusste eigentlich niemand im Dorf so richtig. Haustiere hatte er nicht. Die machten nur Dreck. Meinte die Mutter. Auch gehörte er keinem Verein an und ein Handy interessierte ihn nicht. Es hielt sich allerdings hartnäckig das Gerücht, dass der halbe Keller voller Metallschrott stand und er im Laufe der Jahre eine beachtliche Fertigkeit im Bau von Kunstwerken erworben hatte. Doch so wirklich dahinter kam niemand, und auch die Fragen, mit denen er regelmäßig gelöchert wurde, führten zu keiner besonderen Erkenntnis.

Engen Kontakt außerhalb des Hauses hatte Henner eigentlich nur mit seinem Freund Mo. Zu ihm fuhr er mit dem Roller und statt Bier gab es nur Alkoholfreies, meist Traubensaft. Henner hatte damals vor seinem Autounfall ein Bier zu viel getrunken. Das war zwar ganze drei Tage zuvor, aber seither war er der Meinung, dass ihm Alkohol und PKWs nur Unglück brachten. Der Roller und der alte Unimog waren schnell und bequem genug, alle Ziele in seinem doch recht eingeschränkten Bewegungsradius zu erreichen. Eines seiner Lieblingsessen war Leberwurstbrot, garniert mit einer kleinen eingelegten Gurke.

Ein ums andere Jahr wurde Henner immer seltsamer. So hatte er bald seinen Ruf als Unikum im Dorf weg. Wirres, blondes Haar bedeckte seinen Kopf und obwohl seine Mutter auf seinem samstäglichen Bad bestand, wirkte er ungepflegt. Wahrscheinlich aber gerade deshalb. Mittlerweile waren neben Ohrenhaaren auch noch Nasenhaare eine Herausforderung. Da die Folgen der gestutzten Ohrenhaare sich als unangenehm erwiesen, beschloss Henner, nicht den gleichen Fehler bei den Nasenhaaren zu machen. Seitdem er sich auf Anraten eines Bekannten nämlich die Ohrenhaare gestutzt hatte, pikten die Stoppel. Man sollte eben nicht immer auf die schlauen Empfehlungen anderer hören. Henner zupfte also. Es trieb ihm zwar die Tränen in die Augen, aber Nasenhaare waren selbst Henner, der meilenweit von zeitgemäßem Körperstyling entfernt war, zu störend.

Henners Lieblingsoutfit war sein Blaumann, den er allerdings in der Latzhosenvariante trug. Er war quasi sein Markenzeichen. Was dem seligen Lagerfeld sein Pferdeschwanz-Schleifchen, das war dem Henner sein Blaumann.

Wie alles begann

Henner starrte seine leere Tasse an. Dann die Warmhaltekanne. Verstohlen tippte er auf den Knopf am Deckel, um den Druck entweichen zu lassen. Pfff machte es und Henner grinste. Dann fiel ihm auf, dass das obligatorische Stück Streuselkuchen fehlte.

„Mutter!“, rief er daher. Und noch einmal: „Mutter!“

Vergebens. Sie musste irgendwo im Haus unterwegs sein. Normalerweise aber pflegte sie sich zu ihm zu setzen und ein Weilchen zu plaudern.

Henner blickte sich suchend um. Kein Kuchen in Sicht.

„Mutter!“ Ein erneuter, vergeblicher Versuch.

Er stand also auf, um Else zu suchen. Die Küchentür führte hinaus in den kleinen, dunklen Flur. Er öffnete alle Türen im Erdgeschoss, eine nach der anderen. Nirgends war seine Mutter zu finden …

Henner kratzte sich, langsam ernsthaft besorgt, am Kopf. Dann seufzte er hilflos und pulte in seinem rechten Ohr. Durch den Hintereingang ging er schließlich hinaus in den Hof. Dabei scheuchte er eine Amsel mit einer Kirsche im Schnabel auf. Sie flog, empört schimpfend, in Richtung Geräteschuppen und setzte sich auf dessen offene Holztür. Henner stutzte. Warum stand die Tür offen? Er hatte doch dort erst vor einer Weile einen Zollstock und eine Wasserwaage geholt. Und die Tür ganz bestimmt geschlossen. Ob sie der Wind aufgerissen hatte?

„Mutter, bist du da drin?“, rief er und ging mit einem seltsamen Gefühl im Bauch auf den Schuppen zu.

Auf halbem Wege schnurrte ihm die schwarzweiße Katze seiner Nachbarin, der Worre-Net-Mine, um die Beine. Jene hieß so, weil sie beinahe jeden Satz mit ‚worre-net‘, was so viel hieß wie ‚nicht wahr‘, beendete. Henner hörte das leise Klingeln des Glöckchens, das die Katze um den Hals trug. Du armseliges Geschöpf, dachte er. Nie wieder wirst du eine Maus fangen. Die verschrobene Nachbarin hatte die idiotische Idee, ihrem Haustier ein Halsbändchen mit Glöckchen umzubinden, damit es nicht verloren ging. Die Mäuse hielten sich die Bäuche vor Lachen. Einen Augenblick überlegte Henner, ob er nicht der Katze rasch das Halsband abstreifen sollte. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass seine Mutter immer noch verschwunden war.

„Wart nur“, rief er der plötzlich davon jagenden Katze hinterher. „Du kannst dich bald wieder anschleichen und nach Herzenslust Mäuse jagen und Vogelnester plündern. Heute ist nicht alle Tage, wir sehen uns wieder, keine Frage.“

Vorsichtig näherte Henner sich der weit offenstehenden Tür. Er blieb einen Moment stehen, holte tief Luft und betrat den dunklen Schuppen. Das Erste, was er wahrnahm, war ein leises Rascheln in Augenhöhe, welches von einem groben Regalbrett her zu kommen schien. Er drehte den Kopf leicht nach rechts. Aus einem offenen Paket Rosendünger schaute ihm das Köpfchen einer Maus entgegen.

„Wart nur, morgen hat dein Todfeind kein Glöckchen mehr um. Dann beginnt der Countdown für dich“, zischte er ihr zu.

Als hätte sie die Warnung begriffen, stürzte sie sich kopfüber in den Rosendünger.

Gerade als Henner nach dem Paket greifen wollte, um nachzusehen, ob sich die Maus tatsächlich erstickt hatte, stolperte er über einen im Weg stehenden Pflanzkübeluntersetzer. So einen mit Rollen dran. Wenn wieder einmal eine Zimmerpflanze zu üppig gewachsen und der Pflanzkübel zu schwer geworden war, dann brauchte man so einen Schwerlastuntersetzer. Zumindest dann, wenn zwei schweres Schleppen gewohnte Umzugsprofis nicht mehr in der Lage waren, ihn von A nach B zu tragen. Nun aber stand er hier, mitten im Weg.

Henner verlor zügig das Gleichgewicht. Er riss beim Fallen auf den Rasenmäher das Rosendüngerpaket und Mutters Rad mit in die metallischen Abgründe des geräumigen Geräteschuppens. Der ohrenbetäubende Lärm, den er dabei verursachte, ließ sämtliche Hühner in Worre-Net-Mines Hühnerstall gleichzeitig anfangen zu gackern. Der Hahn krähte vor lauter Aufregung zur völligen Unzeit aus Sympathie mit seinem Harem.

Immerhin hatte Henner der Maus das Leben gerettet. Fast hätte er vergessen, weswegen er in den Schuppen gegangen war. Verzweifelt versuchte er, sich aus den ineinander verkeilten Gerätschaften aufzurappeln. Für eine Sekunde dachte er, dass es vielleicht besser wäre, so zu tun als sei nichts geschehen. Noch nicht einmal seinen vermaledeiten Rücken spürte er. Er würde zurück ins Haus gehen, auf seinem Stuhl am Küchentisch Platz nehmen und auf seine Mutter warten. Die war bestimmt nur mal kurz rüber zu der Worre-Net-Mine auf ein Schwätzchen gegangen. Er würde sich einen Moment lang sammeln und dann noch mal ganz von vorne anfangen. Allein der Gedanke war genauso absurd, wie das Chaos, das er in dem mit allerlei unnützem Kram vollgestopften Bretterverschlag von Geräteschuppen angerichtet hatte.

Zu allem Ungemach war ihm bei seinem freien Fall auch noch sein rechter Gummiclog abhandengekommen. Er tastete halb blind vom Rosendüngerstaub nach ihm auf dem verstaubten Boden herum, als er plötzlich etwas Warmes, Fleischiges berührte. Entsetzt zog er seine Hand zurück.

„Mutter, bist du das? Was machst du denn hier? Suchst du was?“, fragte Henner bestürzt und mit belegter Stimme in den dunklen Teil des Schuppens hinein. Dort, wo die ganzen Gartengeräte standen oder hingen. Er bekam keine Antwort. Hastig wischte er mit beiden Händen den Staub aus den Augen. Mit viel Mühe und noch größerem Gepolter gelang es ihm, auf die Beine zu kommen. An seinem rechten Fuß spürte er die Kälte des nackten Estrichbodens. Er humpelte zurück zum Eingang und tastete nach dem Lichtschalter. Das hätte er gleich tun sollen.

Oder besser nicht. Denn das Bild, welches er jetzt zu sehen bekam, würde ihm für den Rest seines Lebens im Gedächtnis haften bleiben. Mutter lag auf dem Bauch. Das linke Bein war angewinkelt, am rechten fehlte ihr Hausschuh. Ihre Kittelschürze, die sie praktisch rund um die Uhr über einem Stoffrock trug, war mitsamt Rock hochgerutscht, so dass man sehen konnte, dass sie Nylonkniestrümpfe trug. Ein Teil des Rechenstiels lugte unter ihrem Körper hervor. Aus ihrem Rücken ragte die blutbeschmierte spitze Seite der Spitzhacke hervor.

Henner nahm fassungslos die rechte Hand vor den Mund und sprach hinein: „Mensch Mutter, was machst du denn für Sachen!“

Er blieb noch eine Weile wie angewurzelt stehen. Vermied aber den Anblick seiner gepfählten Mutter. Die ersten Selbstvorwürfe schlichen sich heran. War es seine Schuld, weil er wieder einmal vergessen hatte, endlich alles an seinen vorbestimmten Platz zu stellen oder zu hängen? Mutter erteilte ihm an manchen Tagen derart viele Einzelaufträge, dass er oft hinten und vorne nicht wusste, wo er anfangen sollte. Da konnte es schon mal vorkommen, dass am Ende eines arbeitsreichen Tages nicht alles ordentlich aufgeräumt war. Henner spürte, wie er sich innerlich versuchte rauszureden. Dass er die Spitzhacke längst hätte besser an der Holzwand befestigen müssen, wurde ihm klar, als sein Blick auf die beiden tief heruntergebogenen 100er Nägel fiel, an denen sie gehangen hatte. Er warf einen allerletzten Blick auf die Spitze in Mutters Rücken. Das Ganze hier war eindeutig zu viel für ihn. Ohne nachzuschauen, ob seine Mutter noch lebte, stolperte er Hals über Kopf aus dem Schuppen. Draußen im Hof schnippte er den übrig gebliebenen Clog von den Füßen. Am Hintereingang des Haues angelangt, stieg er in seine braunen Halbschuhe, die auf der Fußmatte standen. Mit ein paar raschen Schritten war er in der Scheune, wo sein Roller stand. Die Vespa sprang wie immer sofort an. Er rollte langsam aus dem Hof auf die Straße. Dort beschleunigte er und fuhr, so schnell er konnte, zu seinem Kumpel Mo. Der war der Einzige, der ihm in dieser vertrackten Situation helfen konnte. Unterwegs beim Backhaus rief ihm der Alte Fritz, der gemütlich auf der von der Sparkasse gestifteten Holzbank an seiner Pfeife zog, nach: „Na Henner, hast es ja mächtig eilig heute. Musst noch schnell was für Mutter besorgen?“

Henner schoss an ihm vorbei, ohne zu antworten. Zum Glück, oder nein, eigentlich wie immer, war sonst keine Menschenseele zu sehen. Die Jungen waren Gott weiß wo, vielleicht in Wetzlar, Gießen oder Frankfurt. Die Alten hockten den ganzen Tag vor ihren Flachbildschirmen und schauten sich gebannt irgendwelche Endlosserien an.

Henner fuhr am Rathaus und gegenüber am noch geschlossenen Döner-Grill vorbei, weiter nach oben in die Mehlrichstraße. Nach ein paar hundert Metern bog er auf den gepflasterten Hof von Mos KfZ-Werkstatt der besonderen Art ein. Vor der Tür standen keine Autos. Beide großen Aluminiumrolltore waren geschlossen. Nur aus der ehemaligen Waschküche drangen Geräusche. Henner atmete tief durch. Mo war zu Hause und, so wie es aussah, auch keiner der üblichen Verdächtigen bei ihm. Als er den Motor der Vespa abstellte, merkte er, dass seine Hände zitterten. Mit wackligen Knien stieg er vom Roller und ging zur graublauen Eingangstür, deren obere Hälfte aus geriffeltem Glas bestand und mit einem Vorhang vor ungebetenen Blicken schützte.

Mo würde ihn nicht im Stich lassen. Er hatte ihm bislang immer geholfen, wenn es etwas zu reparieren gab. Egal, um was es gerade ging. Den Ausdruck ‚geht nicht‘ gab es in Mos Sprachgebrauch nicht. Egal, ob es um die kaputte Brotmaschine, die platten Reifen der beiden Schubkarren oder den in die Jahre gekommenen Unimog, der immer mal wieder unerklärliche Macken hatte, ging. Zugegeben, das mit seiner Mutter war wahrscheinlich nicht mit einer normalen Reparatur getan. Aber eine ‚Inspektion‘ würde Mo auf jeden Fall vornehmen.

Henner betrat, ohne anzuklopfen, die Waschküche. Wie fast immer stolperte er in den völlig überhitzten Raum, weil er die Stufe vergaß zu nehmen. Die vertraute Heavy-Metal-Musik empfing ihn genauso, wie der unvermeidliche Zigarettenrauch, der gefährlich wabernd unter der niedrigen Decke hing.

„Mann Henner, wie siehst du denn aus? Ist euer Haus eingestürzt? Hast dich gerade noch aus den Trümmern befreien können?“, begrüßte ihn Mo. Er saß wie immer auf einem Barhocker an einer Stehtheke aus dunklem Holz. Vor ihm stand die Flasche Licher neben einem leeren bauchigen Schnapsglas.

„Schlimmer“, antwortete Henner und erst jetzt fiel ihm auf, dass Mo nicht alleine an der Theke saß. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals eine Frau in Mos Küche gesehen hatte. Und noch dazu eine so hübsche.

„Hallo, ich heiße Milena“, sagte sie mit einer freundlichen Stimme und hielt ihm eine erstaunlich kräftige Hand hin.

Henner ergriff sie so vorsichtig, als wäre sie aus Porzellan, das nicht auf den Boden fallen durfte. Er spürte ihren kräftigen Händedruck, während sie ihn scheinbar amüsiert anlächelte. Immer weiter hätte er ihre Hand schütteln können, wenn Mo nicht gerufen hätte: „So, jetzt ist mal gut hier mit dem Ringelpiez mit Anfassen!“

Mos raue Seite, die zu seinem kantigem Aussehen passte, kam zum Vorschein. Mo war wie Henner ein eingefleischter Blaumannträger. Seiner war allerdings grau, mit einem nicht leserlichen, verwaschenen Firmenzeichen auf der Brust. Er blickte im Wechsel aus seinen verstaubten, riesigen 80er-Jahre-Brillengläsern zu Henner und Milena.

„Äh, ich hab Milena davon abhalten können, allein nach Polen zu trampen. Da kommt sie nämlich her und da will sie wieder hin. Ich hab gerade eine Probefahrt mit einem Kangoo Richtung Gießen gemacht. Und ob du es glaubst oder nicht, da steht sie kurz nach dem Kreisel, vor der Autobahnauffahrt mit einem riesigen Koffer und trampt. Das macht doch heute kein Mensch mehr, hab ich ihr gesagt. Da hat sie ihren Koffer in den Kangoo gepackt und ist erst mal mit zu mir zur weiteren Beratung der Lage gekommen. Stimmt doch, oder?“, fragte Mo Milena.

„Ja, stimmt so, ist kleines Problem, aber ich glaube, dein Freund hat großes Problem. Stimmt doch, oder?“

Sie kam hinter der Theke hervor, schüttelte ihre lockigen dunklen Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen, nahm ein veröltes Handtuch von einem Haken neben dem Eingang und klopfte Henner damit den Rosendünger vom Blaumann.

Henner stand da, als wären seine Beine mit zwei langen Eisenstangen in den grün gestrichenen Estrichboden geschraubt worden.

„Ach so, stimmt ja, hätte ich fast vergessen“, bemerkte Mo und kratzte an seinen Bartstoppeln herum. Er fischte eine Marlboro aus der Packung, die neben einer noch geschlossenen Dose mit Erdnüssen lag, und steckte sie mit einem Plastikfeuerzeug an. „Also, was hast du da eben mit ‚schlimmer‘ gemeint?“

Milena hatte ihre Säuberungsaktion mittlerweile beendet und saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem der Barhocker an der Theke.

„Äh, Mo, kannst du mal gleich nach meiner Mutter sehen? Ich glaube, der geht’s nicht so gut“, antwortete Henner, der immer noch mit der linken Hand krampfhaft den Türgriff festhielt.

„Wie meinst du das?“

„Ich glaube, sie ist in eine Spitzhacke gefallen.“ Henner blickte betreten unter sich.

„Was?“, schrie Mo. „Und das sagst du mir erst jetzt? Wo liegt sie?“

„Im Schuppen.“

„Du bleibst hier bei Milena, bis ich wieder da bin“, befahl Mo.

Milena erhob sich von ihrem Barhocker, ging zu dem Regal über der Spüle, auf dem eine ganze Batterie Flaschen mit Schnaps stand, griff aber nach einer halbvollen Flasche Absinth.

„Ah, genau das Richtige jetzt für uns beide.“ Sie nahm zwei Schnapsgläser, die auf der Spüle standen, und goss sie randvoll mit der milchig-grünlichen Flüssigkeit. Sie nahm eines davon in die Hand: „Komm, ist gut gegen schlechte Gedanken.“

Henner, der im Angesicht der Ausnahmesituation, in der er sich befand, für einen Augenblick in Versuchung geriet, hielt die Hand über das andere randvolle Schnapsglas, das Milena ihm nun entgegenhielt.

„Lass mal, für mich nicht, bitte“, bat er. Er löste sich aus seiner Starre, ging zum Kühlschrank und holte eine Flasche Traubensaft heraus. Den hielt Mo immer für ihn parat.

„Okay, dann auf dich und dein großes Problem“, sagte Milena und stürzte den Absinth mit zurückgeworfenem Kopf hinunter.

Für einen Moment glaubte Henner, sie würde nach hinten umkippen. Er sah, wie sich ihre Haare auf den nackten Armen schlagartig aufstellten. Sie zog die Schulter hoch und schüttelte ihre Lockenmähne.

„Puh, ich glaube, ich kann nicht mehr sehen“, lachte sie kehlig und hielt sich mit einer Hand an der Theke fest.

Henner grinste verhalten mit, während er einen Schluck aus der Flasche Traubensaft trank.

„Komm, setz dich zu mir. Erzähl mir, wenn du willst, was mit deiner Mama ist. Ich kann gut zuhören“, sagte Milena und versuchte mit einem großen Schluck Bier, den teuflischen Geschmack aus ihrer Kehle zu spülen.

Henner sah ihr dabei zu.

„Ah, ich glaube, Hals brennt, muss kurz löschen“, röchelte sie und gab ihm mit einer Hand ein Zeichen, dass er sich setzen sollte.

Er trank seine Flasche mit dem dunklen Saft leer, stellte sie auf die Spüle und setzte sich endlich auf den Barhocker, der auf der anderen Seite der Theke stand. Obwohl er die Frau, die in seinem Alter zu sein schien, erst seit ein paar Minuten kannte, fühlte er sich wohl in ihrer Gegenwart. Ihre zupackende, hilfsbereite Art gefiel ihm. Bevor er ihr berichtete, was mit seiner Mutter geschehen war, lächelte er sie das erste Mal schüchtern an. Sie lächelte mit leicht glasigem Blick in den Augen zurück.

Mo nimmt die Sache in die Hand

Mos Kangoo zum Probefahren machte seinem Namen alle Ehre. Er hüpfte. Da musste er wohl nochmal nachjustieren, ging es ihm durch den Kopf. Doch dann kamen seine Gedanken wieder zum Ziel seiner Fahrt zurück. 'Meiner Mutter geht es nicht so gut', hatte Henner gesagt. Und: 'Ich glaube, sie ist in die Spitzhacke gefallen.' Was sollte denn dieser Blödsinn nun schon wieder? Mo war einfach losgefahren vor lauter Schreck, aber nun, wo er im Auto saß, kam er zu dem Schluss, dass das Geschwätz seines Freundes eigentlich keinen Sinn ergeben konnte. Warum hatte Henner nicht die 112 gewählt, sondern war zu ihm gefahren? Hielt er ihn etwa für einen Mediziner? So nach dem Motto: Wer Autos reparieren kann, der kriegt auch kaputte Mütter wieder hin? Und warum war er nicht bei der Mutter geblieben, wenn sie verletzt war? So etwas wie unterlassene Hilfeleistung ging ihm durch den Sinn. Ach! Mo schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, die Zweifel würden herausrieseln. Erst mal nachschauen, dann weiter überlegen.

Ein letzter Hopser des Kangoo und schon landete Mo zielsicher vor Henners Haus. Drinnen war Mo bislang nur selten gewesen, während die Sache umgekehrt ganz anders aussah. Henner seinerseits war regelmäßig bei ihm. Das lag daran, dass bei ihm in der Waschküche quasi ständig Highlife war. Die üblichen Verdächtigen des Dorfes trafen sich hier, um ihr Bier zu trinken und zu qualmen. Und wenn die nicht da waren, war irgendwas anderes los. Eigentlich konnte Mo nie weg. Seine Stammbesucher wären äußerst irritiert, würden sie vor verschlossener Tür stehen. Das ging gar nicht.

Was hatte Henner gesagt? ‚Sie liegt im Schuppen.‘ Mo fragte sich, was sie da wollte. Mit raschen Schritten näherte er sich dem Geräteschuppen. Er bemerkte, dass die Holztür offen stand und das Licht an war.

„Else“, rief er, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten.

Das war nicht gut. Gar nicht gut war das! Eigentlich sollte er sich beeilen, wenn jemand Hilfe brauchte, aber ganz plötzlich wurde Mo flau im Magen.

Daher rief er noch einmal: „Else“, wieder ohne eine Antwort zu erhalten.

Also holte er tief Luft und machte einen entschlossenen Schritt in den Schuppen. Sein erster Blick fiel auf das Chaos am Boden. Ein Blumenuntersetzer mit Rollen, eingepudert in etwas, was wohl Dünger war, lag in der Ecke. Das mit dem Dünger schloss Mo daraus, dass die Verpackung ebenfalls auf dem Boden lag. Leider fiel bereits Mos zweiter Blick auf ein bestrumpftes Bein und sein dritter auf eine Kittelschürze, aus der eine metallische Spitze heraus lugte. Erschrocken stolperte Mo einen Schritt rückwärts und wäre beinahe ebenfalls dem Blumenuntersetzer zum Opfer gefallen. Er hielt sich die Hand vor den Mund. Dann zwinkerte er zweimal, in der Hoffnung, dass die schreckliche Szenerie, die sich ihm bot, verschwunden wäre, wenn er die Augen öffnete. Aber vergebens. Noch immer die Hand vor dem Mund, trat er einen Schritt nach vorn. Ganz vorsichtig, als hätte er Angst vor dem, was er gleich sehen würde, beugte er sich zu ihr hinunter. Ihr Kopf war leicht zur Seite gedreht, so dass er ihr Gesicht sehen konnte. Für einen Augenblick war er verblüfft. Ihr Gesichtsausdruck war völlig entspannt. War es in den alten Edgar-Wallace-Krimis nicht immer so, dass die Toten noch Stunden nach ihrem Ableben einen verzerrten, entsetzten Gesichtsausdruck hatten? Mo schüttelte sich und hätte sich am liebsten selbst einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben. Über was dachte er hier eigentlich nach? Hatte er sie noch alle? Er musste etwas tun, nicht glotzen und sinnieren. Was tat man denn in einer solchen Situation? Erste Hilfe leisten? Sein letzter Kurs lag Ewigkeiten zurück. Für einen Moment fragte sich Mo, wie das mit der stabilen Seitenlage ging, aber mit Spitzhacke … Also als Erstes sollte er schauen, ob die Frau noch lebte.

„Else?“ Er nuschelte es mehr, als dass er es rief.

Ganz vorsichtig trat er mit der Fußspitze gegen ihr Bein. Keine Reaktion. Er sollte ihren Puls fühlen, aber irgendwie traute er sich nicht, die Mutter seines Freundes anzufassen. Da fiel es ihm ein: Ein kleiner Taschenspiegel musste her. Aber natürlich besaß er so etwas nicht. Vielleicht war einer im Bad?

Endlich kam Bewegung in Mo. Er rannte Richtung Haus und riss die Hintertür auf, die nie abgeschlossen war. Ach nein, er durfte doch keine Zeit verlieren! Hektisch klopfte er seine Taschen ab. Das durfte doch nicht wahr sein! Er hatte sein Handy vergessen! Wie ein kopfloses Huhn rannte er Richtung Straße. Er musste Hilfe holen. Auf der Straße war niemand zu sehen. Aber drinnen im Haus musste doch ein Telefon sein! Wieder machte er kehrt und rannte zurück ins Haus, wo er sich erst mal hektisch in der Küche umsah. Nirgendwo stand ein Apparat und auch ein mobiles Teil lag nirgendwo herum. Er musste eben im Flur daran vorbei gelaufen sein. Gerade wollte er umkehren, da fiel ihm ein: Gab es etwa einen Grund, warum sein Freund nicht den Notarzt gerufen hatte? Für einen Moment stutzte er. Den aufkeimenden Verdacht verwarf er sofort wieder. Er schüttelte den Kopf. Nein. Und stutzte wieder. Trotzdem: Er musste erst nachfragen. Mist, wenn er jetzt wieder zurückfuhr, würde er Zeit verlieren. Und schlimmer noch: Was wäre, wenn ihn jemand beim Wegfahren beobachtete? Am Ende würde er in Verdacht geraten, mit dem Tod von Else etwas zu tun zu haben. Nein, das ging nicht. Er musste dieses blöde Telefon finden und Henner anrufen. Doch Henner hatte kein Handy. Wozu auch? Mo musste also bei sich zu Hause anrufen.

Die Ladestation stand tatsächlich im Flur, aber ohne Mobilteil. Endlich wurde Mo fündig und fand dieses auf der Toilette. Einen Moment stutze er, wollte sich dann aber lieber nicht vorstellen, wie Else auf der Toilette telefonierte. Vielleicht hatte sie es aber auch einfach beim Putzen in der Hand gehabt, hier abgelegt und vergessen. Oh nein, was für wirre Gedanken sich in seinem Kopf breitmachten! Er griff nach dem Telefon. Glücklicherweise war es aufgeladen. Dreimal vertippte er sich, bevor er endlich seine eigene Nummer richtig eingegeben hatte und es klingelte.

Mo seufzte. Er war ja gar nicht zu Hause. Wer also sollte jetzt eigentlich ran gehen? Henner wahrscheinlich nicht. Der ging noch nicht mal an sein eigenes Festnetztelefon! Mo ließ es klingeln. Zehn mal. Dann legte er auf und versuchte es erneut. Er musste es mit Telefonterror versuchen. Mo wusste, dass er sein Telefon in der Waschküche hatte liegen lassen, was bedeutete, dass Henner es hören musste. Er ließ es erneut durchklingeln. Wieder vergeblich. Nochmals wählte er. Irgendwann musste es seinem Freund doch dämmern …

In der Tat. Es meldete sich jemand.

„Jaha hallo hallo“, lallte eine Stimme. Eine weibliche Stimme. Milena. Auch das noch! Die hatte er ja ganz vergessen.

„Hier ist Mo.“

„Mo ist nicht da. Ruf später wieder an.“ Klick. Aufgelegt.

Verdammt.

Ein weiterer Versuch. Diesmal überrumpelte er Milena, indem er schnell sagte: „Gib mir Henner.“

„Henner?“

„Ja, der Henner, der gerade bei dir ist.“

Es gab einen Knall. Scheinbar hatte sie das Telefon fallen gelassen.

„Hallo Milena, bist du noch da?“

Sie antwortete ihm nicht, aber er hörte sie im Hintergrund sagen: „Hennerchen. Das ist für dihihich. Aber ich weiß nicht, wer das ist. Spricht so undeutlich.“

Was sollte das denn heißen? Es war doch wohl eher so, dass sie undeutlich hörte. Aber wenigstens ging das Gespräch in eine gute Richtung.

„Ja? Wer ist da?“, hörte er die Stimme seines Freundes. Sie klang misstrauisch und ängstlich.

„Ich bin's. Mo. Komm her.“

„Was ist?“

„Was ist?“, brüllte Mo. „Das fragst du allen Ernstes? Warum hast du nicht den Notarzt gerufen?“

Einen Moment lang war Stille in der Leitung. Doch nicht lange, denn im Hintergrund hörte Mo Milena singen: „Im Wald da sind die Räuber. Hallo hallo, da sind die Räuber.“

Gerade wollte er sagen: „Das heißt halli hallo die Räuber“, konnte sich aber schnell wieder auf die Sache konzentrieren.

„Was ist denn mit Mutter?“

„Mensch Henner, die ist tot. Warum hast du den Notarzt nicht gerufen? Das mache ich jetzt. Hörst du? Ich rufe jetzt den Notarzt.“ Fast hätte er die Worte buchstabiert.

„Ist gut“, meinte Henner nur.

„Komm her.“

„Ist gut“, sagte Henner erneut und legte auf.

Mo stöhnte. Dann fiel ihm etwas ein. Sofort griff er wieder nach dem Telefon. Hoffentlich würde Henner jetzt noch ran gehen. In der Tat musste er es wieder x-mal klingeln lassen, bevor er Erfolg hatte.

„Ja? Wer ist da?“

„Ich nochmal. Du musst mein Handy und Milena mitbringen.“

Das würde gerade noch fehlen, dass die bei ihm zu Hause volltrunken vom Barhocker fiel und sich noch verletzte.

„Aber ich habe nur den Roller“, wandte Henner ein.

„Pack sie hinten drauf oder ihr lauft. Mir egal. Hauptsache ihr kommt her. Und ich rufe in der Zwischenzeit den Notarzt.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte Mo die rote Taste und wählte die 112.

„Das war Mo, er sagt, ich soll kommen und du auch“, sagte Henner zu Milena.

„Warum ich auch? Ist gerade so schön hier“, gluckste Milena zufrieden. Sie schwankte leicht, obwohl sie sich mit einer Hand an der Holztheke festhielt.

„Meine Mutter ist tot.“

„Oh Gott!“, schrie Milena entsetzt und bekreuzigte sich mehrfach: Ihre Bewegungen wirkten fahrig, eher so, als wollte sie eine lästige Stubenfliege verscheuchen.

Henner blickte betreten zu Boden. Er versuchte, sein Gedankenkarussell anzuhalten. Warum sollte Milena mitkommen? Was ging sie seine Mutter an? Vielleicht meinte Mo ja, dass eine Frau zu Hause nach dem Rechten sehen muss, bis alles mit Mutters immer noch unverständlichem Ableben geklärt war. Oder sollte sie vielleicht Mo helfen, Mutter ins Haus zu tragen, weil er glaubte, dass er es nicht alleine fertig brächte? Aber nein, er hatte doch gesagt, er wolle den Notarzt rufen. In Henners Kopf schwirrten die Gedanken umher. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Schnell ließ er sich auf einen Stuhl sinken. Eine ganze Weile starrte er vor sich hin.

Irgendwann griff Milena beherzt seine rechte Hand: „Komm, ich fahre mit dir. Gibt bestimmt viel Arbeit. Kenne mich aus mit toten alten Menschen. Ich mache Haushalt und Pflege und sonst alles, was Angehörige nicht gerne machen.“

Sie zog ihn mit nach draußen. Henner ließ es willenlos geschehen. Ohne etwas zu sagen, setzte er sich auf seinen Roller und als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, hockte sich Milena hinter ihn. Allerdings brauchte sie zwei Versuche, bis sie saß. Sie schlang ihre Arme um seine Hüften und wartete, dass er losfuhr. Henner, der es nicht gewohnt war, von einer Frau berührt zu werden, war heilfroh, dass Milena ihn momentan nicht sehen konnte. Sein Gesicht glühte vor Scham und Erregung gleichzeitig. Der Fahrtwind blies ihm stramm ins Gesicht, weil er vergessen hatte, den Helm aufzusetzen. Und für Milena hatte er sowieso keinen dabei. Es fiel Henner schwer, sich auf das Fahren zu konzentrieren. Den kräftigen Griff von Milenas Händen spürte er wie kleine Stromstöße in seiner Leistengegend. Gleichzeitig stellten sich seine Nackenhaare auf, wenn er voller Angst daran dachte, was ihn zu Hause erwartete. Die Hauptstraße war zum Glück immer noch genauso leer, wie vorhin, als er Mo um Hilfe gerufen hatte. Nur der Alte Fritz saß noch auf seiner Bank und staunte nicht schlecht, als ausgerechnet Henner mit weiblicher Begleitung an ihm vorbeirauschte.

Ein Rettungswagen und ein Notarzt waren bereits eingetroffen, als Henner auf den Hof bog. Mo kam ihm kopfschüttelnd entgegenlaufen.

„Mensch, wo bleibt ihr denn bloß?“, rief er sichtlich geschockt Henner zu. Seine sonst graue Gesichtsfarbe hatte in eine Leichenblässe gewechselt. Er zog hektisch an seiner unvermeidlichen Marlboro und blickte skeptisch zu Milena. Er war nicht sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Sie hatte ihren wüsten Lockenkopf gegen Henners Rücken gelehnt und schien zu schlafen.

„Komm, steigt mal ab und geht erst mal ins Haus. Hier steht ihr momentan nur im Weg herum. Vielleicht kann Milena einen starken Kaffee kochen. Den können wir bestimmt gebrauchen“, meinte Mo und nahm die Hände vom Lenker der Vespa, den er ergriffen hatte.

Mit dem Wort Kaffee verband Henner unwillkürlich seinen Streuselkuchen, auf den er heute leider verzichten musste. Es würde nie wieder so sein wie früher. Nie wieder würde er mit seiner Mutter gemütlich am Küchentisch sitzen. Tränen schossen ihm in die Augen. Er wischte sie mit dem Handrücken weg und versuchte vorsichtig, vom Roller zu steigen. Milena schien die Veränderung in Henners Körperhaltung gespürt zu haben. Sie riss abrupt ihren Oberkörper nach hinten und wäre ums Haar vom Roller gefallen, wenn Mo sie nicht aufgefangen hätte. Er rollte die Augen, verkniff sich allerdings einen strafenden Kommentar. Als sie auf beiden Füßen stand, schüttelte sie kurz ihre Locken, blickte Henner an, der verstohlen in Richtung Schuppen schielte, und schaute dann fragend zu Mo.

„Kannst du Kaffee kochen? Henner braucht jemanden, der sich um ihn kümmert. Gerade heute ist es besonders wichtig, verstehst du das?“, fragte er sie flüsternd in ihr linkes Ohr.

„Oh, verstehe, Henner braucht so was wie Ersatzmama“, antwortete Milena leise.

Mo nickte fürs Erste zufrieden. „Schaff ihn ins Haus, lenk ihn irgendwie ab, egal mit was. Das wird noch schlimm genug für ihn werden, wenn hier gleich die ganze Maschinerie anläuft.“

Henner hatte von dem kurzen Gespräch der beiden nichts mitbekommen. Er starrte immer noch auf den Notarztwagen, der neben dem Schuppen stand. Er fragte sich, was die da drinnen wohl mit Mutter gerade machten.

„Welche Maschine?“, hörte er nun Milena fragen.

„Erkläre ich dir später, geht jetzt besser mal rein“, sagte Mo schon leicht ungehalten.

„Henner, kommst du? Ich koche uns starken Kaffee. Können wir beide, glaube ich, gut brauchen jetzt“, sagte Milena und nahm ihn schon wieder wie ein kleines Kind bei der Hand.

Henner musste daran denken, wie ihn Mutter früher in der ersten Zeit, als er zur Schule gehen musste, begleitet hatte. Damals hatte sie auch immer seine Hand gehalten. Er wusste, dass sie auf ihn aufpasste, nichts konnte ihm geschehen. Er fühlte sich geborgen und sicher. Henner schluckte heftig und kämpfte wieder gegen die Tränen an, die wie auf Knopfdruck bereitstanden, los zu kullern.

Bevor Henner endlich das Haus hinter Milena betrat, hörte er noch, wie mehrere Autos ankamen und auf der Straße vor dem Haus parkten.

Die Maschinerie läuft an

Die von Mo angekündigte Maschinerie lief an. Wie üblich bei ungeklärten Todesfällen, rückte zunächst die Polizei, kurz darauf die Kripo, die Staatsanwaltschaft und auch der kriminaltechnische Dienst zur möglichen Spurensicherung an, um ein etwaiges Fremdverschulden auszuschließen. Auf Henner würden noch einige unangenehme Fragen zukommen.

Mo versuchte, in dem ganzen Durcheinander den Überblick zu behalten. Mittlerweile hatten natürlich mehrere im Dorf mitbekommen, dass bei Henschels etwas passiert sein musste.

Zwei uniformierte Polizeibeamte sperrten den Hofeingang mit rotweißem Flatterband ab und stellten sich mit vor der Brust verschränkten Armen demonstrativ davor.

Henner fiel im Flur auf, dass er seine Halbschuhe nicht ausgezogen hatte. Obwohl es ihm schwerfiel, ließ er Milenas Hand los, ging zurück bis zum Hauseingang und streifte noch im Flur die ausgetretenen Schuhe aus braunem Lochleder von den Füßen. Mutter hätte es niemals geduldet, dass er mit staubigen Straßenschuhen die Küche betrat. Milena nickte zu seiner Überraschung bestätigend und wartete auf ihn. Er ging vor ihr in die Küche. Alles war so wie immer. Nur, dass aus seiner Kaffeetasse keine Dampfwölkchen mehr stiegen. Henner spürte, wie es schon wieder in seiner Nase anfing zu kribbeln. Wie sollte er bloß diesen Tag überstehen?

Milena hatte mit einem Blick die Situation erfasst. „Mein Vater hat immer zu mir gesagt, kalter Kaffee schmeckt wie eingeschlafener Fuß.“ Ohne Henner zu fragen, wo die Kaffeedose aufbewahrt wurde, öffnete sie mit zielsicherem Griff die Tür des Hängeschranks über der Spüle. Sie holte eine große Blechdose heraus, auf der in verschnörkelter Schrift ‚Kaffee‘ stand. Henner ließ sich erschöpft und gleichzeitig dankbar, dass er jetzt endlich seinen Kaffee bekommen würde, auf seinen Platz auf der Eckbank sinken. Er sah Milena aufmerksam zu, die trotz hohem Alkoholpegel so geschickt in Mutters ehemaliger Küche hantierte, als hätte sie jahrelang hier gelebt. Nach wenigen Minuten hörte er das vertraute, ächzende und blubbernde Geräusch der Kaffeemaschine. Der aromatische Geruch des aufgebrühten Kaffees stieg ihm angenehm in die Nase. Er konnte nicht umhin, er musste einfach Milena ansehen. Wenn auch momentan nur von hinten. Alles an ihr war rund, aber nicht zu rund. Wohl proportioniert und augenscheinlich gut verteilt. Ein wohliger Schauer der Erregung, ein Gefühl, das ihm so fremd war wie die Wüste Negev in Israel, durchlief seinen Körper in mehreren schubartigen Wellen. So langsam fing er an zu begreifen, warum Mo wollte, dass Milena mit zu ihm nach Hause kommen sollte.

Milena nahm Henners kalt gewordene Tasse Kaffee vom Küchentisch, schüttete den Inhalt in die Spüle und stellte sie ab. Dann kam sie mit zwei dampfenden Tassen voll frischem, heißem Kaffee zurück und reichte eine davon Henner. Ihre eigene Tasse stellte sie kurz auf dem Tisch ab und setzte sich ihm gegenüber auf einen der beiden Küchenstühle.

„Alles gut in Ordnung hier. Glaube mir, ist nicht immer so. Ich weiß Bescheid, sehe viel Dreck und schmutziges Geschirr, sehr oft“, versuchte Milena Henner zu beruhigen. „Trink, ist gut und stark. Herz macht vielleicht kleine Hupfer, aber ist nicht schlimm.“

Henner gehorchte, das war er ja gewohnt von seiner Mutter. Der Kaffee war stark, viel stärker als der, den er jemals bei Mutter getrunken hatte, aber er schmeckte sehr gut, gar nicht bitter.