Henri Nannen Preis 2014 -  - E-Book

Henri Nannen Preis 2014 E-Book

0,0

Beschreibung

Seit zehn Jahren vergibt der STERN und das Verlagshaus Gruner + Jahr den Henri Nannen Preis. Er ehrt das Andenken des STERN-Gründers Henri Nannen und er ist Auszeichnung für journalistische Arbeiten, die durch exzellente Recherche und exzeptionelle Darstellung dem Leser einen besonderen Einblick in die Welt verschaffen - aufschlussreich, lehrreich, spannend und vergnüglich. Das Buch enthält neben den drei besten Arbeiten in den Kategorien Reportage, Dokumentation, Investigation, Essay und Fotoreportage Beiträge zu den Preisträgern Pressefreiheit und Lebenswerk sowie einen Essay von Christoph Schwennicke.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 344

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Inhalt

Editorial Julia Jäkel

Trauer um Anja Niedringhaus

Heißgelaufen

Ein Essay von Christoph Schwennicke

PREISTRÄGER

Die Gewinner des Henri Nannen Preises 2014

REPORTAGE/EGON ERWIN KISCH-PREIS

Die Liebe seines Lebens

Özlem Gezer

(Der Spiegel, 18. November 2013)

Im Reich des Todes

Michael Obert

(Süddeutsche Zeitung Magazin, 19. Juli 2013/Das Magazin, 27. Juli 2013)

Die Seeschlacht

Henning Sußebach

(Die Zeit, 16. Mai 2013)

DOKUMENTATION

Der Tod kommt aus Deutschland

Amrai Coen, Hauke Friederichs, Wolfgang Uchatius

(Die Zeit, 12. Dezember 2013)

Nennt uns bloß nicht Helden!

Malte Henk

(GEO, 25. Oktober 2013)

Im Stich gelassen

Roland Kirbach

(Die Zeit, 3. Januar 2013)

FOTOGRAFIE

Die Hölle daheim

Sara Naomi Lewkowicz

(stern, 16. Mai 2013)

Im Reich des Todes

Moises Saman

(Süddeutsche Zeitung Magazin, 19. Juli 2013)

Das war hammerhart

Gordon Welters

(Chrismon, 27. Juli 2013)

ESSAY

Die andere Angeklagte

Özlem Topçu

(Die Zeit, 8. August 2013)

Jan Müller hat genug

Wolfgang Uchatius

(Die Zeit, 28. Februar 2013)

Soll ich wählen oder shoppen?

Wolfgang Uchatius

(Die Zeit, 19. September 2013)

INVESTIGATION

Kanzler-Handy im US-Visier?

Jacob Appelbaum, Marcel Rosenbach, Jörg Schindler, Holger Stark

(Spiegel Online, 23. Oktober 2013)

Der unheimliche Freund

Jacob Appelbaum, Nikolaus Blome, Hubert Gude, Ralf Neukirch, René Pfister, Laura Poitras, Marcel Rosenbach, Jörg Schindler, Gregor Peter Schmitz, Holger Stark

(Der Spiegel, 28. Oktober 2013)

Bushido und die Mafia

Nora Gantenbrink, Andreas Mönnich, Uli Rauss,Hannes Roß, Oliver Schröm, Walter Wüllenweber

(stern, 18. April 2013)

Der gerettete Schatz

Markus Krischer, Thomas Röll

(Focus, 4. November 2013)

Die Firma am Waldrand

Kaija Kutter, Kai Schlieter

(Taz, 15. Juni 2013)

PRESSEFREIHEIT

Henri Nannen Preis für besonders engagiertes Eintreten für die Unabhängigkeit der Presse

Laura Poitras: Die Frau, die Edward Snowden half, seine Geheimnisse zu enthüllen

Von Peter Maass

LEBENSWERK

Henri Nannen Preis für ein journalistisches Lebenswerk

Der Brückenbauer: Alfred Grosser

Von Hans-Hermann Klare

BIOGRAFIEN

Die Biografien der Nominierten

Vorjury

Hauptjury

Vorjury – beteiligte Journalistenschulen

Die bisherigen Preisträger

Vor- und Endauswahl der Vorjury

Bildnachweis

Impressum

Liebe Leserinnen und Leser,

wir leben in guten, aufregenden Zeiten für den Journalismus.

Ja, das ist eine gewagte These. Aber tatsächlich waren die vergangenen Wochen und Monate ein Fest – und das nicht nur für mich, die ich schon von Berufs wegen an die Zukunft des Journalismus glaube, sondern für alle, die großartig recherchierte und geschriebene Geschichten mögen.

Beginnen wir, wo in früheren Jahren fast immer nur Hiobsbotschaften für Journalisten herkamen: auf dem Markt, im Netz, bei Facebook. Von dem Unternehmen, das manche schon als Sargträger des Journalismus gesehen haben, hört man plötzlich ganz neue Töne: Im Oktober gab Facebook bekannt, der Traffic zu journalistischen Seiten habe sich im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdreifacht. Im Dezember änderte man dann den Algorithmus, um Nutzern künftig noch mehr Artikel zu zeigen. Und im März warb man Liz Heron vom WALL STREET JOURNAL ab: »News«, hieß es dazu, seien inzwischen so wichtig geworden, dass man hoffe, mithilfe der Journalistin bald noch engere Bande zu Medienhäusern zu knüpfen.

Derweil spricht der GUARDIAN von einem »great VC-backed media blitz of 2014« – so heiß sind die amerikanischen Wagniskapital-Fonds plötzlich auf Journalisten. Fast jede Woche wird irgendwo eine neue Redaktion eröffnet. Sogar BUZZFEED, lange der Inbegriff von allem, was im Netz vermeintlich falsch läuft – Kätzchen klicken statt schlauer Schreibe –, baut eine eigene Investigativ-Redaktion auf. »Alle dachten immer«, erklärt der Gründer von BUZZFEED gegenüber dem ATLANTIC, »das Internet sei nur etwas für kurze Schnipsel und noch kürzere Aufmerksamkeitspannen. Aber das ist schwer zu glauben, wenn wir jetzt sehen, dass Leute auf ihren Telefonen mehr als 25 Minuten beim Lesen einer einzigen Geschichte verbringen.«

So viel zu den Abgesängen der letzten Jahre: die lange Aufmerksamkeitsspanne ist genauso wenig tot wie der Journalismus oder die Investigation. Stattdessen gibt es neue Leser, neue Formate, neues Geld und neue Chancen. Und zwar auch bei uns, in Deutschland – 2013, so raunt es aus der Nannen-Jury, war ein Jahr mit einer beinah unverschämt reichen Lese.

Die Top-Geschichte, die auch in den hier abgedruckten Texten eine große Rolle spielt, war natürlich die von Edward Snowden. Und das klingt ja auch wirklich wie der Plot aus einem Jason-Bourne-Film: Ein 29-jähriger Systemadministrator stößt bei seiner Arbeit auf Dokumente, die belegen, dass fast jede auf der Welt getane Äußerung – jede E-Mail, jedes Telefonat, jede SMS, jede Internetsuche, sogar die Briefpost – von Geheimdiensten erfasst und ausgewertet wird. Die Frau, die Snowden das geglaubt hat und die der Sache als Erste nachgegangen ist, heißt Laura Poitras. »Sie ist der Kern dieser Geschichte«, erklärte ihr Journalistenkollege Glenn Greenwald dem NEW YORK TIMES MAGAZINE, »und trotzdem weiß keiner etwas über sie.«

Inzwischen weiß man, dass Poitras so etwas wie der Idealtyp der zeitgenössischen Journalistin ist: gebildet, meinungsstark, mutig – und vielseitig kreativ. Sie war Köchin in guten Restaurants, hat Sozialwissenschaften und politische Theorie studiert, eine Kunstschule besucht und Dokumentarfilme gedreht, von denen einer sogar für den Oscar nominiert war. »My Country, My Country« handelt vom Leben eines Arztes in Bagdad im Jahr 2006 – und damit von einem besetzten, dem Bürgerkrieg überlassenen Land. Ein heikles Thema für eine Journalistin, die aus dem Land der Besetzer kommt.

Dass man sich mit solchen Reportagen nicht nur Freunde macht, erlebte Poitras danach am Flughafen: Bei jeder Reise, insgesamt über 40 Mal, wurde sie von bewaffneten Polizisten abgeführt und verhört, man kopierte ihre Papiere, beschlagnahmte ihren Computer und ihr Telefon. Gründe dafür nannte man ihr nicht, auch ein Anwalt wurde ihr verweigert. Kein Wunder, dass sie nach dieser Behandlung genau das besitzt, was Whistleblower wie Snowden sich von ihren journalistischen Partnern wünschen: Wissen über das Verstecken und Verschlüsseln von Daten – und eine klare Haltung zum amerikanischen Staat und dessen Sicherheitsorganen.

Damit wäre die alte Frage beantwortet, ob Journalisten eigentlich immer objektiv bleiben müssen. Natürlich nicht. Wer als Mensch herausgefordert wird, darf auch als solcher Haltung zeigen. Das haben so leidenschaftliche Journalisten wie Henri Nannen immer getan und leidenschaftliche Reporter wie Egon Erwin Kisch sowieso. Heute tut das auch Laura Poitras, die der Pressefreiheit damit einen unschätzbaren Dienst erweist.

Meiner Erfahrung nach spüren übrigens auch Leser genau, ob Journalisten mit Leidenschaft bei der Sache sind. Ich selbst finde es eine Wonne, in einem Essay in der SÜDDEUTSCHEN über die Reaktionen auf die Snowden-Enthüllungen das Wort »Orwellness« zu entdecken – das ist Leidenschaft für Sprache. Ich finde es unglaublich, wenn der KÖLNER STADTANZEIGER enthüllt, dass katholische Kliniken Vergewaltigungsopfer nicht behandeln, weil sie keine »Pille danach« verschreiben möchten. Das hat so große Empörung erzeugt, dass am Ende sogar die deutschen Bischöfe einlenken mussten. Genauso bewundere ich die leidenschaftliche Geduld, die einen Reporter der ZEIT dazu bringt, viele Monate um das Vertrauen von Polizisten zu werben, die an den Ermittlungen um die NSU-Morde beteiligt waren – bis einer zugibt, die Polizei habe den Täter Uwe Böhnhardt damals wider besseres Wissen laufen lassen. Nicht zuletzt bewundere ich den Mut, mit dem die Kollegen vom STERN den Umtrieben des Rappers und Bambi-Preisträgers Bushido gefolgt sind – wobei sie es sich nicht nur mit einem gewalttätigen Berliner Mafia-Clan, sondern, fast genauso gefährlich, auch mit mehreren Berliner Top-Anwälten verscherzt haben.

Aber das sind nur einige von vielen Beispielen. Sie zeigen, welcher Journalismus heute gemacht wird – brillanter nämlich, der sich vor dem aus früheren Zeiten alles andere als verstecken muss.

Der Henri Nannen Preis wurde in der Vergangenheit immer wieder kritisiert. Auch aus so kuriosen Gründen wie dem, dass es Leute gibt, die sich für seine Verleihung gut anziehen. Dazu fällt mir nur das ein: Vor diesen Texten sollte man den Hut ziehen – dafür muss man aber erst mal einen aufhaben.

Liebe Journalisten – Hut ab!

Julia JäkelVorstandsvorsitzende der Gruner + Jahr AG

 

»Wenn ich es nicht fotografiere,wird es nicht bekannt.«

Anja Niedringhaus (1965 – 2014)

Wir trauern um die Fotoreporterin Anja Niedringhaus, die 2010 Mitglied der Jury des Henri Nannen Preises war. Die Trägerin des Pulitzer-Preises wurde am 4. April im Osten Afghanistans ermordet.

Die Organisation »Reporter ohne Grenzen« zählte 71 hauptberufliche Journalisten, die im Jahr 2013 getötet wurden. Bis zum Redaktionsschluss dieses Buches kamen 2014 bereits acht Reporter in Ausübung ihres Berufes ums Leben.

Die Einreichungen zum Henri Nannen Preis zeigen Jahr für Jahr, dass Qualitätsjournalismus im deutschsprachigen Raum kein rares Relikt guter alter Zeit ist. Vorjuroren und Juroren haben alle Mühe, aus der Vielzahl der guten und sehr guten Arbeiten die allerbesten auszuwählen, die als herausragend für eine Auszeichnung infrage kommen.

Doch ist diese eindrucksvolle Zunahme der Quantität von Qualität ein repräsentativer Trend der Printmedien, oder gibt es daneben etwa auch andere, die weniger beglückend sind? Der Chefredakteur von CICERO sieht Anlass für einen selbstkritischen Blick auf die eigene Branche.

Christoph Schwennicke, geboren 1966 in Bonn, ist Chefredakteur von CICERO und Mitglied der Jury des Henri Nannen Preises 2014

 

Christoph Schwennicke

HEISSGELAUFEN

Im Prozess gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff ging es um dessen etwaiges Fehlverhalten als Ministerpräsident von Niedersachsen. Es ging aber auch um etwaiges Fehlverhalten der Medien. Wenn Wulff nach einem langen und gründlichen Prozess freigesprochen wurde für Korruptionsvorwürfe, die ihn in einem beispiellosen Schauprozess der Medien vorher das höchste Amt im Staat gekostet haben, dann können die Medien nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Denn die Frage lautet: Ist der Freispruch für Wulff ein Schuldspruch für die Medien? Ist das rechte Maß noch gewahrt, wenn Politiker oder Personen des öffentlichen Lebens wegen einer Verfehlung ins Visier geraten? Stehen Ton und Takt noch im Verhältnis zur Sache, um die es geht? War Horst Köhler, noch ein zur Strecke gebrachter Bundespräsident, wirklich ein »Horst Lübke« und deshalb untragbar im Amt des Bundespräsidenten? Musste man seinem Nachfolger Christian Wulff auch noch den Anspruch auf den Ehrensold absprechen? Darf Bischof Tebartz-van Elst keinen Kaffee auf der Piazza trinken, wenn er in Rom auf seine Audienz beim Papst wartet? War Rainer Brüderles dämlicher Ausfall an der Bar wirklich diese Aufregung wert? Was sagt es über unsere Branche, wenn Uli Hoeneß Würstchen an die hungrige Meute vor seinem Haus verfüttert?

Es läuft etwas schief. Es läuft etwas heiß. Die Medien stehen unter existenziellem ökonomischen Druck, der sie dazu verleitet, traditionelle Tabus fallen zu lassen. In Großbritannien hatte eine Boulevardzeitung auf der Jagd nach exklusiven Storys Mobiltelefone von Politikern und Royals systematisch angezapft. Das Presserecht wird jetzt deshalb dort verschärft. So wie über ein Jahr lang Christian Wulff steht in Großbritannien jetzt Rebecca Brooks vor Gericht. Im Prozess gegen die einstige NEWS OF THE WORLD-Chefin mit der feuerroten Mähne kommen ungeheuerliche Details eines Abhörskandals an den Tag. Brooks Auftritte im Londoner Gerichtssaal Old Bailey geben eine Ahnung davon, mit welcher Skrupellosigkeit diese Frau Leute gehetzt oder gehypt hat.

Der Blick nach Großbritannien lässt ermessen, was gesellschaftlich auf uns zukommt. Die Bilder des gehetzten Limburger Bischofs in Rom erinnerten an den Fall Kelly. David Kelly war ein britischer Biowaffenexperte und vor zehn Jahren vermuteter Kronzeuge für eine BBC-Geschichte, wonach die Blair-Regierung ein Irak-Dossier wahrheitswidrig aufgemotzt hatte. Der Wissenschaftler sah sich einem enormen Druck durch die Boulevardpresse ausgesetzt. Drei Wochen später lag er tot auf einem Acker. Selbstmord. Nach der Ermordung eines 13-jährigen Mädchen in Großbritannien wurden die Ermittlungen der Behörden massiv behindert. Boulevardjournalisten hörten die Mailbox des Opfers und die Telefone der Eltern ab.

Sind wir so weit davon entfernt? Haben wir, wenn wir ehrlich sind, nicht leise Furcht vor der Meldung, dass sich Sebastian Edathy eines Morgens etwas angetan haben könnte? Susanne Gaschke, die gescheiterte Oberbürgermeisterin von Kiel, hat nach ihrem Skandal und Sturz ganz offen von Selbstmord-Überlegungen gesprochen.

Die Klage ist nicht neu. Der bärbeißige Karl Kraus, selbst kein Kind von Traurigkeit, hat die »Preßköter« zu seiner Zeit schon beschimpft, aber seine Zeit war ein Idyll verglichen mit heute.

Die Erbarmungslosigkeit hat zugenommen, die Vorverurteilung auch. Es geht bei diesem Befund nicht darum, Fehler von Spitzenpolitikern oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu rechtfertigen oder zu verharmlosen. Es geht um die Verhältnismäßigkeit der medialen Mittel, die in der Berichterstattung angewandt werden.

Und um Ursachenforschung: Wo liegen die Gründe für diesen heißgelaufenen Journalismus, diese Hatz ohne Erbarmen? Hier fünf Punkte als Angebot.

1.

Der rasende Takt der Online-Medien gibt Richtung und Tempo vor. Heraus kommt Hochfrequenz-Journalismus, der keine Zeit mehr zum Nachdenken lässt. Es geht zu wie an der Schießbude: Jeder darf mal draufhalten. Es zählen die Clicks, sie müssen generiert werden auf Teufel komm raus. Das verleitet dazu, einen zunehmend härteren, schärferen Ton anzuschlagen. Denn das Grelle klickt, die grelle Meinung klickt. Recherche und Fakten stören. Online wird nur harte Meinung konsumiert, auf den gut geklickten Online-Kanälen sind die Kollegen mehr damit beschäftigt, die klickenden Buzz-Wörter in den Überschriften unterzubringen, als Informationen und Belege für Behauptungen herbeizuschaffen. Der Online-Kommentator stiert bei jedem Artikel hinterher auf die Klickkurve in Echtzeit wie der Flipperspieler auf den erhofften Highscore.

2.

Der Tonfall ist in Netzartikeln ein anderer, weil die Leserkommentare den Ton verändern. Die anonymen Horden, die offenbar den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, als Schmutz und Unflat unter den Online-Stücken zu verbreiten, haben eine Rückkoppelungswirkung auf den Ton der Artikel selbst. Nicht auf den des eben gelesenen, aber unbewusst auf den nächsten des Autors.

Bei Oskar Lafontaine und anderen begnadeten Rednern kann man das Phänomen beobachten, wie sie sich an der Resonanz ihrer Rede berauschen und in diesem Rausch oft hinforttragen lassen zu Formulierungen, die sie im nüchternen Zustand nicht wählen würden. Die anonymen Kommentatoren sind das Auditorium des Online-Autors, und so wie Lafontaine eine tobende Menge bei einem Parteitag über jede Grenze zieht, so besteht diese Gefahr auch beim Online-Feedback. Der Begriff Feedback bedeutet ursprünglich, dass sich ein angeschlagener Ton und sein Widerhall so lange aufschaukeln, bis nur noch ein verzerrter Fiepton aus den Boxen kommt. Dieser Fiepton setzt die unmittelbare Rückkoppelung voraus. Das ist im Online-Journalismus ebenso der Fall wie beim Rockkonzert.

Weil Print und Online immer mehr amalgamieren, schlägt dieser rüdere Ton auch auf den Printjournalismus durch. Versierte Autoren, die für beide Kanäle schreiben, haben sich zwei Tonarten zugelegt, den etwas feineren Kammerton für Print, den rüderen für Online. Aber das Rüde von Online durchfettet zunehmend auch Print. Der Ton wird allgemein unflätiger.

3.

Banal, aber wichtig: Die Personalisierung eines Skandals ist einfacher als die oft komplexe Sache selbst. Die Lust, sich mit den Details zu beschäftigen, hat bei Journalisten und Lesern abgenommen. Worin soll auch der Reiz liegen, mit viel Mühe einen komplizierten Sachverhalt zu recherchieren und zu erklären, wenn sich herausstellt, dass die harschen Kommentare eher goutiert werden? Viel Arbeit, wenig Aufmerksamkeit? Diese Erfahrung konditioniert.

4.

Die Fachkompetenz der Journalisten nimmt ab. Als originell gilt der fluffige Schreiber, der zu allem und jedem eine scharfe Meinung hat. Ohne jetzt den guten alten Zeiten nachzuweinen: Es hatte schon seinen guten Grund, dass Kollegen in den Redaktionen sich über einen längeren Zeitraum in ein Sachthema einarbeiten und zunächst die nachrichtliche Berichterstattung übernehmen sollten, bevor sie Kommentare zu diesem Fachthema schreiben durften. Erst wissen, dann meinen war ein hochgehaltenes Prinzip, das sich inzwischen nur mehr bei Zeitungen wie der FAZ und der SZ gehalten hat. Ansonsten ist ein unseliger Trend zu beobachten, wonach Wissen eher schadet, einem schmissigen Urteil nur im Wege steht. Leider hat sich diese Abkehr vom Kompetenzprinzip hin zum (ahnungslosen) Autorenprinzip sogar beim vormals akribischen, detailversessenen SPIEGEL durchgesetzt. Zu dessen großem Schaden.

5.

Die Existenznot einer Branche verleitet dazu, bisher eingehaltene Grenzen zu überschreiten. Der bezahlte Journalismus hechelt in bisweilen erbarmungswürdiger Weise zwei wegbrechenden Märkten hinterher: einem schwindenden Anzeigenmarkt und einem schwindenden Lesermarkt. Das hat einerseits zur Folge, dass Anzeigenkunden zunehmend dreister sich das sogenannte redaktionelle Umfeld nach Wunsch maßschneidern lassen. Das führt aber vor allem dazu, dass die Berichterstattung zu einem Wunschkonzert geworden ist. Es gilt das Maoam-Prinzip. Gleich der Werbung eines Kaubonbon-Herstellers rufen die Blattmacher ihren Lesern es so zu wie der Schiedsrichter den Massen im Stadion. »Wollt ihr Elfmeterschießen?« – »Nein!« – »Wollt ihr Verlängerung?« – »Nein!« – »Was wollt ihr dann?« – »Maoam!!!« brüllt das Stadion. Und die Leserschaft, die sich nicht gleich nicht in politikfreiem Eskapismus nach Art der LANDLUST ergeht, möchte Politik als »Brot und Spiele«. Sie möchten blutige Unterhaltung wie seinerzeit im römischen Circus Maximus. Erst werden Opfer ausgeguckt, in die Manege getrieben, dann die Löwen losgelassen.

Der Prozess gegen Christian Wulff vor dem Landgericht Hannover ist zu Ende gegangen. Der Erkenntnisprozess der Medien hat, wenn überhaupt, erst begonnen.

Preisträger

Der stern und Gruner + Jahr gratuliert den Gewinnern des Henri Nannen Preises 2014

Özlem Gezer

Reportage/Egon Erwin Kisch-Preis

Malte Henk

Dokumentation

Moises Saman

Fotografie

Wolfgang Uchatius

Essay

Jacob Appelbaum, Nikolaus Blome, Hubert Gude, Ralf Neukirch, René Pfister, Laura Poitras, Marcel Rosenbach, Jörg Schindler, Gregor Peter Schmitz, Holger Stark

Investigation

Özlem Gezer

DIE LIEBE SEINES LEBENS

Jahrzehntelang hütete Cornelius Gurlitt in seiner Münchner Wohnung einen Kunstschatz, den sein Vater, ein Kunsthändler, unter zweifelhaften Umständen in der Nazi-Zeit zusammengetragen hatte. Nun spricht er zum ersten Mal

Das Schlafkleid von Cornelius Gurlitt hatte noch nie jemand gesehen, bis zu jenem Tag, im Februar 2012, als das Schloss durchbrach und sie hineinmarschierten, die Fremden, wie er sie nennt, die Zollfahnder und Beamten der Augsburger Staatsanwaltschaft.

Seine Wohnung war seine Welt. Aber nun waren die Fremden da, und sie waren viele, vielleicht 30 – und sie blieben. Vier Tage lang wickelten sie sein Leben in Tücher, verpackten es in Pappkartons und trugen es fort, eins nach dem anderen, insgesamt weit über tausend Kunstwerke.

Währenddessen sollte Cornelius Gurlitt sich in die Ecke setzen und leise sein. Also schwieg Gurlitt und sah, wie sie ihm den Liebermann von der Wand nahmen, die »Reiter am Strand«, die seit Jahrzehnten dort hingen. Den Chagall aus dem verriegelten Holzschrank, die »Klavierspielerin« aus der Diele. Sie ließen nichts zurück. Auch nicht den kleinen Koffer mit seinen Lieblingsbildern, der Papiersammlung, die Gurlitt Abend für Abend ausgepackt hatte, um sie anzusehen, manchmal auch öfter, jahrzehntelang. Jetzt waren sie weg, und Gurlitt war allein.

Die Einzige, die noch kam, war eine Frau vom psychologischen Beratungsdienst, geschickt von den Fremden. Als »grausam« und »furchtbar« beschreibt er diesen Besuch, bei dem eine Fremde mit Gurlitt über seine Gefühle sprechen sollte. Er wolle sich jetzt nicht umbringen, versicherte er ihr, sie solle wieder gehen.

Seit jenem Tag ist Cornelius Gurlitt allein in seiner kahlen Wohnung, in dem Wohnhaus mit weißem Anstrich, in jener Stadt, die er sein Gefängnis nennt, München. Und seit das Magazin FOCUS vor zwei Wochen die Beschlagnahmung enthüllte, versammelt sich unten vor seiner Haustür die Weltpresse. Tritt er vor die Tür, beginnt das Blitzgewitter, als wäre er ein Kriegsverbrecher. Ständig klopfen Fremde an seiner Haustür, stecken Briefe durch den Schlitz.

Die Werke sind ein sensationeller Kunstschatz, Bilder von Marc Chagall, Max Beckmann, Franz Marc, Pablo Picasso und Henri Matisse. Die rätselhafte Sammlung stammt aus dem Erbe seines Vaters Hildebrand Gurlitt, 1956 verstorben, Kunstkritiker, Museumsdirektor, Händler, einer der Männer, die in Deutschland die Kunst der Moderne etabliert hatten und die nach 1933 Geschäfte mit den Nazis machten. Es geht auch darum, ob Hildebrand Gurlitt Unrecht tat, um die Bilder zu bekommen. Wie viele dem Sohn zustehen, wissen zurzeit weder Staatsanwaltschaft und Wissenschaftler noch die Politik, und auch Cornelius Gurlitt weiß es nicht, der nur wegwill von diesem Ort, an dem er der Gejagte ist.

So viele Bilder, so viele Rätsel. Raubkunst? »Entartete Kunst«? Wem gehören die Bilder? Wie kamen sie in die Wohnung in Schwabing? Und wie geht man um mit allem: mit den Erben, die sie für sich reklamieren? Mit dem Unrecht, das damals geschah? Und mit dem Unrecht, das womöglich heute ihm geschieht, Cornelius Gurlitt, dem Erben einer Sammlung mit zweifelhafter Herkunft?

Er hat mit seinen Bildern gesprochen, sie waren seine Freunde, jene treuen Begleiter, die es im echten Leben nicht gab. Er betrachtete es als seine Lebensaufgabe, den Schatz seines Vaters zu hüten, im Laufe der Jahrzehnte ist ihm dabei die Wirklichkeit verlorengegangen.

Vergangenen Dienstag sitzt Cornelius Gurlitt im Mutter-Kind-Abteil eines ICE. Seit der Enthüllung hat er nun das zweite Mal seine Wohnung verlassen, das erste Mal ging er einkaufen und wurde von Fotografen abgeschossen. Zehn Tage lang verbrachte er in seinem nahezu dunklen Wohnzimmer und tat nichts. Er konnte kaum schlafen, sagt er, und wenn doch, überfielen ihn die Albträume. Manchmal schaltete er das Radio ein und wieder aus. Das Einzige, das sie ihm gelassen hatten, war das zerbrochene Türschloss.

Gurlitt ist auf dem Weg zu seinem Arzt in einer süddeutschen Kleinstadt. Er trinkt Tee aus einer Kaffeetasse, manchmal streicht er sich über sein weiß gewordenes Haar. Drei Tage lang ist er unterwegs, eine traurige Fahrt.

Er sagt: »Ich bin doch nicht Boris Becker, was wollen diese Menschen nur von mir? Ich bin doch etwas ganz Stilles. Ich habe doch nur mit meinen Bildern leben wollen. Warum fotografieren die mich für diese Zeitungen, in denen sonst nur Halbweltgestalten abgelichtet werden?«

Gurlitt versteht nicht, warum sich die Menschen so für das interessieren, was er sein Privateigentum nennt. Er spricht von den Geboten aus der Bibel: Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht lügen. Du sollst nicht das Eigentum deines Nächsten begehren. Sein Gesicht ist blass. Seine blauen Augen tränen, er wischt seine Nase mit einem Stofftaschentuch, das er in seiner rechten Manteltasche trägt.

»Ich hatte einfach nicht mit ihnen gerechnet«, sagt er und meint die Fremden. Ein bisschen sei er selbst schuld an diesem »fatalen Unglück«, dem Abschied vom Erbe seines Vaters. Er hätte es schützen müssen, sagt er, wie sein Vater es getan habe, gegen das Feuer der Nazis, gegen die Bomben, gegen die Russen, gegen die Amerikaner. Für Cornelius Gurlitt war sein Vater ein Held, und er selbst ist jetzt der Versager.

Er war sein Leben lang Sohn und Erbe. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Vermächtnis des Vaters zu bewahren. Er sagt, er habe nie darüber nachgedacht, dass in seiner 100 Quadratmeter großen Wohnung Kunst gelagert gewesen sei, die ihm vielleicht gar nicht vollständig gehörte und die vielleicht helfen könnte, ein wenig von dem wiedergutzumachen, was der Nationalsozialismus angerichtet hatte.

»Wenn ich woanders gelebt hätte, wäre das alles einfach nie passiert.« Irgendwo, weit weg von der Schweizer Grenze, wo 2010 in einem Zug die Zollfahnder auf ihn aufmerksam wurden. Weg von den Münchnern, denen er noch nie wirklich traute. Schuld an dieser Misere sei die Mutter. Sie habe damals nach dem Tod des Vaters nach Schwabing ziehen wollen. Sie träumte von der Boheme, von wohlhabenden Menschen, die nicht nach dem Geld der anderen schauen. Cornelius war damals 27, ein junger Mann, der ungern Entscheidungen traf, kein Macher, ganz anders als sein Vater. Einer, der nicht gern führt, sondern geführt werden will. Er vertraute seiner Mutter. Sie kauften zwei Wohnungen am Artur-Kutscher-Platz. Heute, 53 Jahre später, sagt Cornelius Gurlitt: »Sie hatte unrecht.«

Für ihn ist München »allen Unheils Ursprung«. »Hier wurde die Bewegung gegründet«, sagt er. Er sagt diesen Satz immer wieder, seine zittrige Stimme wird laut, wenn er das sagt. Er hebt den rechten Zeigefinger, mit der anderen Hand hält er sich an dem Tisch des ICE fest und zieht die Augenbrauen hoch. Gurlitt redet über die Entstehung der NSDAP im Jahr 1920. Über die Rede Adolf Hitlers im Festsaal des Münchner Hofbräuhauses, in der er das Programm der NSDAP verkündete. Für Gurlitt scheint das Unheil seitdem die Stadt nie wieder verlassen zu haben.

Cornelius Gurlitt wirkt eingesperrt in einer anderen Zeit. Ein Mann, der aufgehört hat fernzusehen, als das Zweite Deutsche Fernsehen kam, der »neue Sender« mit den Mainzelmännchen. Der seine Hotelzimmer per Brief bucht, geschrieben auf Schreibmaschine, unterschrieben mit Füller, Monate vorher, mit der Bitte um ein Taxi, das ihn dann abholt. Seine Welt ist langsam und still.

Er wundert sich über Telefone, die die Nummer des Anrufers anzeigen. Er weiß, dass man im Internet etwas suchen kann, aber er hat es noch nie gemacht. Er hat mit seinen Bildern gelebt. Ihm fehlt der Austausch mit Menschen. Seine Lebenserfahrungen sammelte er in Büchern.

Er berichtet von der Kafka-Erzählung »In der Strafkolonie«. Es ist die Geschichte eines Forschungsreisenden, dem auf einer entlegenen Insel vorgeführt wird, wie Verurteilte, die ihr Vergehen nicht kennen, gefoltert und getötet werden. Das Leerräumen seiner Wohnung sei ähnlich tragisch gewesen.

Der ICE fährt über die Stadtgrenze von München. »Jetzt ist ein wenig Stille«, sagt er. »Endlich.« Die vergangenen zehn Tage sind ihm nicht gut bekommen. Gurlitt wird Ende Dezember 81, eigentlich hat er immer davon geträumt, 90 Jahre alt zu werden. »Es gibt Leute, die mit 97 noch Bergsteiger sind, aber ich werde nicht so alt«, sagt er. »Die hätten doch warten können mit den Bildern, bis ich tot bin.«

Er versteht nicht, was die Menschen von ihm wollen. Die Bilder seien doch bei der Staatsanwaltschaft, da müsse man hin, wenn man die Werke sehen oder etwas über sie erfahren wolle. Er wisse viel über ihre Entstehungsgeschichten, aber das will er für sich behalten. Wie eine Liebschaft, die behütet werden muss. »Und mehr als meine Bilder habe ich nichts geliebt in meinem Leben.«

Fragt man ihn, ob er mal in einen Menschen verliebt gewesen sei, dann kichert er: »Ach, nein.«

Gurlitt hat viele Abschiede in seinem Leben hinter sich, den Tod des Vaters bei einem Autounfall, den Tod seiner Mutter, den Krebs seiner Schwester. »Der schmerzvollste war der Abschied von meinen Bildern«, sagt er. »Hoffentlich klärt sich alles schnell, und ich bekomme endlich meine Bilder zurück.« Auch diesen Satz sagt er oft in diesen drei Tagen.

Er ist herzkrank. Wenn er 30 Meter gegangen ist, muss er fünf Minuten lang pausieren. Er hat nicht das starke Herz seines Vaters. Sein Herz lässt ihn nur in Sorge schlafen, bis zum nächsten Termin beim Herrn Doktor.

Der Arzt, dem Cornelius Gurlitt vertraut, praktiziert Hunderte Kilometer entfernt, ein Internist. Ein freundlicher Mann. Er will den Patienten überzeugen, in ein Heim zu gehen. Erzählt Gurlitt von ihm, hat man das Bild eines Chefarztes einer Privatklinik im Kopf. Tatsächlich ist es eine ganz normale Praxis in der Seitenstraße einer Kleinstadt, unscheinbar, »aber mit den besten Geräten Deutschlands«, sagt Gurlitt, um zu rechtfertigen, warum er eine strapaziöse Reise auf sich nimmt, obwohl er zu Hause mit dem Taxi zum Einkaufen fahren muss.

Die Zugfahrt ist für ihn ein wenig wie Urlaub, zweite Klasse, ICE, alle drei Monate, 102 Euro, ohne Sitzplatz-Reservierung, Gurlitt sitzt sonst im Großraum. Er will nicht in die Verlegenheit kommen, anderen Menschen in die Augen zu schauen. An diesem Nachmittag ist kein Platz im Großraum, Gurlitt muss ins Abteil, er wird unruhig. Er sitzt gleich rechts neben der Glastür, damit das Abteil voll aussieht. Neben ihm steht sein Rollkoffer. Eingepackt hat er sein rot-weiß kariertes Schlafhemd, Brot, Aufschnitt und seine Lieblingslimonade. Er braucht das Essen für die Abende im Hotel.

Gurlitt kommt immer pünktlich, das ist ihm wichtig. Er mag keine ungeplanten Dinge. Der Arzttermin ist Donnerstag, aber Gurlitt fährt schon am Dienstag los. Er trägt ein schwarz-weiß kariertes Sakko, es hat drei Knöpfe, die Schultern hängen, er verschwindet darin, er sei früher dicker gewesen. In den Kaufhäusern gibt es nichts mehr nach seinem Geschmack.

Er hofft, dass die Öffentlichkeit bald das Interesse verliert, so lange will er sich in den kalten Wintertagen draußen hinter einem Schal verstecken, den er sich hoch ins Gesicht zieht. Er ahnt, dass das möglicherweise nicht funktioniert, und deswegen hofft er, dass bald etwas anderes Großes passiert. Ein Anschlag vielleicht, Gott bewahre, keine Opfer natürlich, er mag keine Gewalt, keine Siege von Bösen, aber vielleicht verschwindet dann die Meute vor seiner Haustür.

Er versteht nicht, warum die Staatsanwaltschaft so einen Wind macht um eine alte Sache. Die Razzia, der Überfall auf seine Welt, ist ja schon eineinhalb Jahre her. »Jetzt sind die Bilder irgendwo in einem Keller, und ich bin allein. Warum haben sie die Bilder nicht dagelassen und nur immer die abgeholt, die sie prüfen wollen? Dann wäre es jetzt nicht so leer.«

Er erzählt viel von alten Zeiten in diesen drei Tagen. Als er keine Verantwortung tragen, keine Entscheidungen treffen musste. Als sein Vater noch der Herr der Lage war, ein Kämpfer für die Moderne, ein Förderer der Kunst, der aber dann doch Geschäfte mit den Nazis machte, »entartete Kunst« ins Ausland verkaufte und wohl auch geraubte Kunst. Und der einiges davon offenbar für sich behielt.

Cornelius Gurlitt erinnert sich an seine Kindheit in der Alten Rabenstraße in Hamburg, die Alster nur ein paar Meter entfernt. Er erzählt von den Tarnbauten für die Flugabwehrkanonen an der Alster, die Hamburg schützen sollten vor den Bombenangriffen. Er will noch mal nach Hamburg, er möchte seinen Taufschein haben, für sein Privatarchiv. Ein wenig Zugehörigkeit, alte Wurzeln, das ist schön, das braucht der Mensch.

Die Familie ist oft umgezogen, immer dem Vater hinterher. Der habe es nicht leicht gehabt, da er »rassisch nicht einwandfrei war«, aber er habe immer gekämpft und sei sehr schlau gewesen. In Hamburg hatte er seinen Kunsthandel in der Klopstockstraße 35 auf die Mutter eingetragen, er selbst wurde geführt als Angestellter. Später in Dresden habe er das Geschäft gar nicht mehr eintragen lassen, die Kunstwerke zu Hause aufbewahrt und so mit ihnen gehandelt. »Mein Vater wurde oft vertrieben, er ist oft gestürzt, aber er stand immer wieder auf.«

Es war jedes Mal ein Neustart für seinen Sohn Cornelius. Der schüchterne Junge Cornelius, der die Volksschule in Hamburg besuchte, dann das Gymnasium in Dresden, wo er Hitler aus dem Zug winken sah. Nach der Nazi-Zeit kam er auf das Odenwald-Internat. Zwischendurch Aushilfsunterricht von Pfarrern, sein Abitur machte er in Düsseldorf. Cornelius Gurlitt war immer der Neue. Der Letzte, der kam. Der Erste, der ging. Der Fremde, der nie wirklich dazugehörte. Ein Einzelgänger, der nie selbst bestimmen musste, weil es da diesen starken Vater gab, der mit Thomas Mann und Theodor Heuss im Kunstmuseum in Düsseldorf posierte. Der fließend Französisch und English sprach. »Ich spreche nur Englisch, aber langsam«, sagt Gurlitt.

Er wollte seinem Vater gefallen. Nach dem Abitur studierte er Kunstgeschichte an der Kölner Universität. Er hörte auch Vorlesungen der Philosophie und Musiktheorie. Sein Studium brach er ab, wann, weiß er nicht, er erzählt nicht gern davon. Einmal sei er nach Paris gereist, mit seiner Schwester, allein traute er sich nicht.

Cornelius Gurlitt lebte erst bei seinen Eltern. Später bei der Schwester, dann allein mit der Mutter, egal, wo Cornelius lebte, er blieb ein Phantom. Ein höflicher Mensch, aber wenn Techniker vor der Tür standen, um ein Glasfaserkabel zu verlegen, mussten sie kämpfen, um hineinzudürfen. Er habe ja nur seine Bilder schützen wollen vor fremden Blicken.

Schon als Kind spielte er zwischen Liebermann, Beckmann und Chagall, die Bilder zogen mit ihm von Stadt zu Stadt, sie hingen in den Wohnzimmern, in ihren Dielen. Der Vater hat sie alle berührt, er hat sie sortiert und geliebt, sie alle tragen seine Spuren. Über das Bett von Cornelius hängte der Vater das grüne Gesicht von Kirchner. »Hitler mochte keine grünen Gesichter«, sagt Gurlitt. Man habe zu Hause nicht gut über den Führer gesprochen. Sein Vater habe ihn bekämpft, allerdings so verdeckt, dass es niemand merkte, sagt Gurlitt.

Hildebrand Gurlitt habe nie etwas von Privatpersonen gekauft, alles andere sei für ihn unvorstellbar. Die Bilder kämen aus deutschen Museen oder von Händlern. Der Vater habe mit den Nazis nur kooperiert, weil er die Bilder vor dem Feuer retten wollte. Und dann sagt der Sohn: »Es kann ja sein, dass meinem Vater mal etwas Privates angeboten wurde, aber er hat es sicher nicht genommen. Das wäre ihm übel bekommen.«

Nun steht der anonyme Sohn im Licht der Öffentlichkeit. Es geht um die Aufarbeitung deutscher Geschichte, aber es geht auch um ihn. Er ist der Sohn, der einen Schatz erbte, aber nie der Frage nachging, woher er stammt. Er müsste Verantwortung übernehmen, aber das ist schwierig für jemanden, der keine Verantwortung übernehmen mag. »Die Staatsanwaltschaft«, sagt er, »wird schon prüfen, was ich zurückbekomme. Ich habe noch nie eine Straftat begangen und selbst wenn, wäre das verjährt. Wenn ich schuldig wäre, dann würden die mich doch ins Gefängnis nehmen.«

Er will seine Bilder einfach nur wiederhaben. Aber wann? Und welche werden es sein? Und seine Lieblingsbilder?

Cornelius Gurlitt braucht Freunde, eine Familie und vor allem Anwälte. Aber er kann sich nicht entscheiden: »Ich habe doch noch nie einen gebraucht.«

Er ist auch ein wenig enttäuscht von seiner Schwester Benita, die voriges Jahr an Krebs starb. Sie hat ihn allein gelassen mit der Last. »Sie war zwei Jahre jünger als ich und verheiratet, sie hätte mich überleben müssen.« Er guckt auf seine Hände, die er auf den Tisch stützt. »Dann hätte sie das alles geerbt, und sie wüsste, wie sie das jetzt regelt. Jetzt ist alles so miserabel.«

Er soll so viele Fragen beantworten, auf die er keine Antwort weiß. »Ich hatte nie etwas mit der Anschaffung der Bilder zu tun, nur mit der Rettung.« Er hat seinem Vater schon damals in Dresden geholfen, als sie die Kunstwerke vor den Russen retteten. Die Menschen müssten ihm dankbar sein. »Mein Vater wusste, die Russen kamen immer näher.«

Bei der Fahrgemeinschaft in Dresden habe sein Vater schnell ein Fahrzeug besorgt, gemeinsam luden Vater und Sohn die Bilder ein, die der Vater dann zu einem Bauern im Umland von Dresden brachte, später auf ein Schloss in Süddeutschland. Sein Vater habe überall in Deutschland Bekannte gehabt.

»Die Menschen sehen zwischen diesen Papieren mit Farbe nur Geldscheine – unglücklicherweise«, sagte er.

»Ich bin nicht so mutig wie mein Vater. Er hat für die Kunst gelebt und für sie gekämpft. Der Staatsanwalt muss den Ruf von meinem Vater geraderücken.«

So ist aus dem Leben von Cornelius Gurlitt eine Endlosschleife aus Reue und Zufall geworden. Zufall, dass er derjenige ist, der alles überlebte. Zufall, dass er damals in den Zug stieg mit 9000 Euro in der Tasche und in das Visier der Zollfahnder geriet. Dass er sie erst anlog und dann auf der Toilette bei der Leibesvisitation aufflog. Die Sache mit der Schweiz, sie ärgert ihn sehr, vor mehr als 20 Jahren habe er dort ein Bild verkauft. Das Geld legte er auf ein Schweizer Konto. Der Kunsthändler hatte den Transport übernommen, damit habe er nichts zu tun gehabt. »Ich habe nie illegal und unverzollt etwas über die Schweizer Grenze gebracht«, sagt er.

Er habe nie Einkommen in der Schweiz gehabt, keine Zinsen kassiert. »Sollen sie doch bei der Schweiz anfragen, die werden schon merken, dass ich da nichts habe«, sagt er. Die Deutsche Bahn hätte ihm ja einen Zettel mitgeben können, sagt er. Einen, auf dem steht, dass die Zollfahnder in Zügen auch nach Geld suchen, nicht nur nach Waren, dann wäre er damals nie in diesen Zug gestiegen.

Der ICE fährt in den Hauptbahnhof in Augsburg ein. »Hier in Augsburg sitzt der Staatsanwalt, dem ich alle Unterlagen geschickt habe«, sagt Gurlitt. »Ich verstehe nicht, warum der sich noch nicht bei mir gemeldet hat«, sagt er.

Er hat dem Staatsanwalt ein Bild von dem abgebrannten elterlichen Haus in Dresden geschickt. Er hat alte Zeitungsartikel beigelegt, um die Hetze gegen Hildebrand Gurlitt zu belegen, die zum »Sturz seines Vaters« führte. Cornelius Gurlitt versteht nicht, warum das alles jetzt öffentlich geworden ist. Gerichte und Richter müssen das entscheiden, nur vor denen müsse er sich rechtfertigen. Der Staatsanwalt habe gesagt, irgendwann bekomme er die Anklageschrift, es sei bis heute nichts gekommen, dafür die »Büberei« vor seiner Haustür. »Ich bin kein Mörder, warum jagen die mich?«

In einem Brief ist ihm die Rückgabe einiger Kunstwerke angekündigt worden. Er weiß nicht, welche das sind. Aber er glaubt dem Staatsanwalt nicht. »Ich habe nie etwas vom Staat gewollt.« Nie einen Cent Zuschuss. Von Hartz IV spricht er wie von einer unbekannten Krankheit. Er zahle immer pünktlich seine Grundsteuer. Sonst habe er nichts mit deutschen Behörden zu tun gehabt. Cornelius Gurlitt hat keine Rente, war nie in seinem Leben krankenversichert. Seinen deutschen Pass ließ er immer nur im Konsulat in Salzburg verlängern, seit fast zwei Jahren ist auch der abgelaufen.

Bei seinem letzten Aufenthalt in Österreich, in seinem Haus in Salzburg, wurde er ins Krankenhaus eingeliefert, er konnte nicht mehr laufen, das Herz. Einen Monat lang musste er in der Klinik bleiben, in der eine Alarmsirene anging, wenn er das Bett verließ. »Als ob ich ein Verbrecher wäre«, sagt Cornelius Gurlitt.

Aber sein gesundheitlicher Zustand hat sich verschlechtert in den letzten Jahren. Weitere Krankenhausaufenthalte, Grauer Star. Gurlitt zahlte die Ärzte immer bar. Im Herbst 2011 lieferte er den »Löwenbändiger« von Max Beckmann beim Kunsthaus Lempertz ein. Der Justitiar sei sehr nett gewesen. Auch mit den Erben sei alles geregelt worden. Das Bild wurde für 725.000 Euro verkauft, Gurlitt erhielt knapp über 400.000, die Erben den Rest.

Eigentlich wollte Gurlitt den Liebermann abgeben, aber er habe ihn nicht abbekommen von der Wand. »Dann habe ich den Beckmann genommen«, sagt er. Der sei »solide« verpackt gewesen. Ein schönes Gemälde, typisch für Beckmann. Ein zentrales Werk, aber Gurlitt brauchte dringend Geld. Schon damals fuhr er immer zum Arzt in der Kleinstadt.

Ein Hotel, ein weißer Bau, drei Stockwerke. Die Rezeption ist unbesetzt. Er steigt immer dort ab, per Telefon an der Rezeption erfährt er seine Zimmernummer, der goldene Schlüsselanhänger hängt an der Tür. Keine Menschen. Ruhe. Im Zimmer Plastikvorhänge mit Tulpen und Gerberas, Neonröhren, an den Wänden hängen Bilder wie aus dem Otto-Katalog. »Sehr sympathisch«, sagt Gurlitt.

Auf kleinen Karten hat er sich die Sätze aufgeschrieben, die er seinem Arzt vorlesen will, um einen guten Eindruck bei ihm zu hinterlassen. Cornelius Gurlitt unterhält sich nicht oft mit Menschen. Am Vorabend des Arztbesuchs schließlich will er um 18 Uhr schlafen, um nachts um zwei schon wieder aufzustehen. Der Termin ist zwar erst um 8.40 Uhr, aber er braucht die Zeit, um sich vorzubereiten. Er hat eine blutende Wunde am Fuß, seit Monaten, er will sich einen neuen Verband umlegen. »Ein Unglück« nennt er die Wunde am Fuß.

Am Morgen bestellt er sich ein Taxi für die 300 Meter zur Praxis. Am Ende steht 3,40 Euro auf dem Taxameter, Gurlitt zahlt 20 Euro, es müsse sich ja lohnen für die Taxifahrer. Der Arzt sagt ihm an diesem Morgen, das Herz sei schwächer als sonst, aber das liege an der Aufregung.

Zurück im Hotelzimmer sitzt er auf seinem Bett. Gurlitt trägt seinen Schlafrock, darüber seinen langen grauen Mantel. Er wirkt erleichtert. Die Nachtlampe brennt.

Cornelius Gurlitt sieht seine Bilder in den Zeitungen. Er ist entsetzt. »Was ist das für ein Staat, der mein Privateigentum zeigt?«, fragt er. Cornelius Gurlitt hat Tränen in den Augen. Er flüstert: »Die müssen zu mir zurück.«

Am nächsten Morgen steht der Vorschlag vom bayerischen Justizminister Winfried Bausback in der Zeitung, dass man auf jeden Fall mit Gurlitt reden müsse. Es tut weh, ihm dabei zuzuschauen, wie er langsam verzweifelt. »Die stellen das alles falsch dar. Ich werde nicht mit denen reden, und freiwillig gebe ich nichts zurück, nein, nein. Der Staatsanwalt hat genug, was mich entlastet.«

Cornelius Gurlitt hofft, dass er die Bilder, die ihm zustehen, bald wieder bekommt. Eins will er dann noch verkaufen, vielleicht den Liebermann, wenn er ihm denn zusteht, wie er es ausdrückt, für die Krankenhauskosten. Der Rest soll wieder zu ihm in die Wohnung. Chagall kommt dann wieder in den Schrank, das Bild mit der Klavierspielerin in die Diele, wo es seine Mutter immer hängen hatte.

»Ich habe die Bilder sehr vermisst, das merke ich jetzt.« Das sei jetzt genug Öffentlichkeit gewesen, für ihn und seine Bilder, und er werde sie keinem Museum der Welt mehr geben. Die hätten genug anderes, was sie ausstellen könnten. »Wenn ich tot bin, können die damit machen, was sie wollen.« Bis dahin will er sie für sich allein. Dann sei endlich wieder ein wenig »Stille«.

Michael Obert

IM REICH DES TODES

Die ganze Welt schaut nach Kairo – zugleich foltern Beduinen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel Tausende afrikanische Migranten, um Lösegeld zu erpressen. Und gleich nebenan machen ahnungslose deutsche Touristen Urlaub. Unterwegs durch eine Region, in der kriminelle Gewalt, Tourismus und Weltpolitik nahe beieinanderliegen

Seine Handgelenke sind seltsam nach innen gekrümmt, die Ärmel seines weißen Wollpullis viel zu lang. Erst als Selomon sich auf den Tisch aufstützt, tauchen die schmutzigen Verbände um seine Hände auf. Mit den Zähnen wickelt er den linken ab, zum Vorschein kommt eine Klaue. Der Großteil seiner Handfläche ist weggerissen. Nur der Daumen und ein halber Zeigefinger sind noch übrig, eine Zange aus Knochen und Haut. »Sie haben mich an Eisenketten an der Decke aufgehängt«, sagt Selomon leise. »Vier Tage lang, an einem Haken wie ein geschlachtetes Tier.«

Wir sitzen in einem kleinen Café am Levinsky-Park, einem verwahrlosten Grünstreifen im Süden von Tel Aviv. Die Szenen vor dem Fenster lassen kaum vermuten, dass wir uns in der israelischen Stadt am Mittelmeer befinden. Die Hautfarbe der meisten Passanten ist schwarz. Die Schriftzüge an den Scheiben der Friseursalons und Restaurants sind nicht in Hebräisch, sondern in der ostafrikanischen Sprache Tigrinya verfasst. Viele Geschäfte hier werden von Eritreern geführt. Ha’ir Hakvusha – »besetzte Stadt« – nennen die Tel Aviver diese Gegend, in der überwiegend afrikanische Einwanderer leben.

»Ich wollte nie nach Israel«, sagt Selomon und legt seinen Handstummel auf den Tisch. »Nicht einmal wenn sie mir einen Privatjet geschickt hätten.« Im Dezember 2011 floh der 28-jährige Informatiker vor der Diktatur in seinem Heimatland Eritrea in den benachbarten Sudan. »Mit meiner Ausbildung hätte ich in Angola, Uganda oder Südafrika gelebt wie ein König.« Doch dann wird er im Ostsudan von lokalen Räuberbanden gekidnappt, die ihn an ein international operierendes Netzwerk von Menschenhändlern verkaufen. Diese verschleppen Selomon über die Grenze nach Ägypten und weiter auf die Sinai-Halbinsel – in ein Foltercamp der hier lebenden Beduinen, arabischer Viehzüchter mit nomadischen Wurzeln. »Das sind keine Menschen«, sagt Selomon; sein verstümmelter Zeigefinger zittert. »Das sind blutrünstige Bestien.«