Herbstfeuer - Robert Ullmann - E-Book

Herbstfeuer E-Book

Robert Ullmann

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Beschreibung

Armut und Elend auf der einen, Wohlstand und Luxus auf der anderen Seite des Flusses, der die Industriestadt Ersthafen teilt. Fest entschlossen an der Front einer Arbeiterrevolution das Schicksal der Nation zu ändern, führt Timmrin das eigene an die Seite eines Mannes düstern Mannes, getrieben von undurchsichtigen Rachemotiven. Als sich die Ereignisse überschlagen, beginnt eine wilde Flucht und ein gnadenloser, blutiger Überlebenskampf.

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Seitenzahl: 379

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Robert Ullmann

Herbstfeuer

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

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Die Nacht war kalt, aber nicht klar - der Nebel so dicht, dass man glaubte ihn schneiden zu können. Die Gassen waren menschenleer, nicht ein Schritt zu hören auf dem Pflasterstein, da schlug die Glocke. Ihr Klang hallte durch die Straßen und Viertel der Stadt. Ein Pochen an der Tür; ein zweites; ein drittes; dann Schweigen. Plötzlich pochte es wieder: einmal, zweimal, dann noch dreimalmal, schnell aufeinander folgend. Schließlich öffnete sich die Tür.„Wer?“, zischte es. „Feuer im Mondlicht“, antwortete die tiefe Stimme eines jungen Mannes. „Kommt“, lautete rasch die Antwort. Zwei Männer traten herein, in dicke Wolljacken gehüllt. Die Tür wurde zugeschlagen, Licht entzündet. Die Leute in der Taverne blickten in die fahlen Gesichter der beiden Ankömmlinge, die man im Schein der Laterne sehen konnte. Sie sahen erschöpft aus, doch blickten sie entschlossen und in den Augen des einen, sein Name war Timmrin, loderte ein Feuer, das ihn geradezu verzehrte.„Es ist ruhig, aber dunkel. Der Mond scheint nur schwach. Niemand an der Brücke“, sagte er leisen Tones.Alle schwiegen. Es waren vielleicht dreißig Männer in dem engen Gastraum versammelt. Einige trugen lange Messer im Gürtel, andere hielten Knüppel in Händen, die meisten eine nicht entzündete Fackel. Wieder nahm Timmrin das Wort: „Brawek und Jarell sind unterwegs zu Toreks Männern. Wir sollen aufbrechen, wenn die Glocke schlägt. Wir treffen uns am Brunnen.“„Dann los“, gab ihm sein Gegenüber zur Antwort – ein kleiner Mann in schmutzigem Schurwollmantel. Er hatte einen leichten Buckel, eine Halbglatze und trug einen langen Stab in der Rechten. Er mochte die fünfzig schon überschritten haben und auch ein Großteil seiner Mitstreiter schien die Blüte ihrer Jugend bereits hinter sich gelassen zu haben. Nicht wenige waren von kleinem Wuchs. Einer hinkte und wieder einer hatte nur noch eine Hand, die den Griff eines kurzen Entersäbels umschloss. Knarzend öffnete sich die Tür und der Bucklige mit dem langen Stock in der Rechten, der Laterne in der Linken, trat als erster hinaus auf die Straße. Der Nebel war nicht mehr so dicht als vorher, die Kälte biss umso stärker. Die Männer entzündeten ihre Fackeln, einige zogen Kapuzen über den Kopf oder setzten ihre Hüte auf. Timmrin grub sein Gesicht tief in seinen Schal und hielt seine Fackel nach oben. Sie überquerten eine breite Straße, bogen in eine kleinere Gasse ab, flankiert von schäbigen Häusern ohne ein Fenster zur Straße hin. Als sie das Ende der Gasse erreicht hatten, wandten sie sich um und gingen durch das bronzene Tor. Sie kamen auf einen großen Platz, umgeben von hohen Fachwerkhäusern.Jetzt waren sie nur noch wenige Schritte entfernt vom großen Ghor, dem Fluss, der die Stadt Ersthafen teilte. In seiner Mitte war eine Insel, die durch mächtige Rundbogenbrücken mit beiden Ufern verbunden war. Auf der Insel stand eine Wehranlage - die Feste Dukor, die Kaserne der Stadt, wo sie die jungen Männer hinbrachten, bevor sie sie als Rekruten an die Kriegsfront schickten. Von dort kehrten sie meist nicht wieder.Die Männer verlangsamten ihren Schritt und blieben schließlich stehen. An einem Brunnen in der Mitte des Platzes saß ein in einen weiten Mantel gehüllter Mann und wartete. Als er die Gruppe gewahrte, erhob er sich, zog seine unter dem Mantel verborgene Laterne hervor und trat auf sie zu. In der anderen Hand trug er eine Helmbarte - die Lanze eines Nachtwächters. Die Männer empfingen ihn wortlos. „Niemand auf der Brücke, wie´s scheint“, brach er das Schweigen. „Torek wird gleich hier sein.“„Und die anderen Nachtwächter?“, erkundigte sich Timmrin leise.„Telgor ist eingeweiht, wie ihr wisst. Die anderen beiden schlafen - Dämmerpilze im Weinbrand.“„Gut. Und die Jungs aus den Gruben…?“„…Werden bald hier sein.“Sie warteten eine kurze Weile. Bald darauf kamen andere Männer durch eine kleine Gasse auf den großen Platz hinaus. Es waren ihrer etwa fünfzig. „Das sind Toreks Männer“, flüstere Timmrin zu dem alten Buckligen. Die Männer stießen leise hinzu, einige begrüßten sich mit gedämpfter Stimme.„Wo bleiben die Jungs aus dem Grubenviertel?“, zischte der Alte halb zu sich selbst. Einen Augenblick später tauchten weitere Männer, etwa drei Dutzend, lautlos hinter einer Hausecke auf. „Da kommen sie ja, die halben Portionen“, raunte ein hoch gewachsener Kerl. „Kann nicht jeder ein Schmied sein und breit wie zwei“, gab einer der Ankömmlinge zurück.„Torek?“, der alte Bucklige drehte sich suchend um.„Ich bin hier!“, erwiderte eine leise, rauchige Stimme. „Es sind alle gekommen, auf die man zählen kann.“ „Diese paar?“, empörte sich der Bucklige.„Es wird reichen müssen“, entgegnete Torek. „Wir legen das Feuer und geben Fersengeld.“ Torek bekam nur ein missmutiges Knurren zur Antwort.„Jetzt im Sturm!“, flüstere Timmrin ungeduldig. „Wir haben nur diese Chance!“ Da klemmte sich der Alte langsam seinen Stab zwischen die Achsel, hob seine Laterne so hoch er konnte und schritt eilends voran. Die anderen folgten ihm. Bald waren die jüngeren, die schnelleren an der Spitze und erreichten die Brücke. Als sie das Tor der Festung am Ende des Brückenbogens beinahe erreicht hatten, stoppte Timmrin in vollem Lauf und brüllte: „Halt!“ Einige hielten, einige liefen weiter. Doch bremsten auch sie und blieben stehen, als sie sahen, dass die Tore der Kaserne sich öffneten. Einen Augenblick lang standen sie da wie erstarrt. Eine vorüberziehende Nebelschwarte trübte die Sicht.Und dann sahen sie sie, die Soldaten, blickten in die Gewehrläufe zweier starrer Schützenreihen, die sich hinter dem Tor postiert hatten. Und während bereits die ersten der Festung den Rücken kehrten und davon rannten, andere sich zu Boden warfen und wieder andere noch immer regungslos, dem Tor zugewandt wie gefroren stehen blieben, wurde das Feuer eröffnet. Etwa ein Dutzend waren es, deren Körper getroffen auf dem Brückenpflaster aufschlugen. Jene, die stehen geblieben und nicht getroffen waren, kehrten um und rannten. Die zweite Salve krachte und sie forderte ihren Tribut. Die meisten Flüchtenden hatten bereits den Bogen der Brücke überschritten und waren den Gewehrkugeln der Soldaten entronnen. Timmrin grub seine Fingerspitzen zitternd in die Ritzen im steinernen Pflaster, während er regungslos auf der Brücke lag. Jede Sekunde wurde lang wie ein Menschenleben, in welchem er sich schlagartig nur noch als passiver Zuschauer fühlte. Die dritte Salve krachte. Eine Kugel schlug direkt neben seinem Kopf ein. Kleine Steinsplitter schlugen ihm ins Gesicht. Einen Augenblick lang schien alles wie ein Alptraum – die Fähigkeit, selbst zu handeln, oder etwas zu beeinflussen, ihm abhandengekommen.Dann öffnete er seine Augen und sah in die des alten, buckligen Mannes, der neben ihm lag. Er zwinkerte, doch schien sein Geist nicht mehr bei ihm zu sein. Sein Mund öffnete sich und ein Blutstrom ran hervor, gesellte sich zu all dem Blut auf dem Brückenpflaster.Und dann krachten wieder Schüsse. Aber sie kamen nicht von den Soldaten am Tor, sondern aus der anderen Richtung. Timmrin hörte Schreie, die Schreie seiner Kameraden, die geflohen waren. Als sie verklangen, drang Kampfeslärm an sein Ohr.Man hatte sie abgefangen, in eine Falle gelockt. Die Soldaten mussten sich verschanzt haben in einem der Häuser, um rechtzeitig zuzuschlagen und die Flüchtenden von der anderen Seite der Brücke aus unter Feuer zu nehmen.Wieder schloss Timmrin die Augen und war gewillt, liegen zu bleiben, aufzugeben. Ein Gefühl des Loslassens mischte sich mit der Angst, in die Hände seiner Feinde zu geraten.Dann schoss es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: Verrat! Timmrin ballte die Fäuste, erhob sich und hielt sich an der Brückenmauer fest. Schüsse krachten. Eine Kugel schlug unweit seiner Hand in die Mauer ein. Dann sprang er mit einem gewaltigen Satz auf die Mauer, rollte sich ein Stück zur Seite und stürzte im freien Fall in den Ghor. Die Wasseroberfläche verschloss sich glucksend über ihm, als der Fluss ihn verschlang. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis der Auftrieb einsetzte. Schließlich tauchte er wieder auf, japste nach Luft, sich mit wilden Schlägen über Wasser haltend. Neben ihm sah er einen Gefährten von der Brücke stürzen: ob tot oder noch am Leben, konnte er nicht erkennen. Vereinzelt knallten noch immer Schüsse. Wieder stürzte ein Mann von der Brücke unter einem markerschütternden Schrei ins Wasser. Timmrin wandte sich ab und begann zu schwimmen, mit gleichmäßigen, aber schnellen Bewegungen: so schnell er konnte, soweit er konnte. Die Schreie vom Ufer her ebbten nicht ab, wieder knallten Schüsse. Timmrin beschleunigte seine Bewegungen noch weiter und verlangte seinem Körper alles Erdenkliche ab. Einen Augenblick lang glaubte er sich im warmen Wasser eines Moorweihers.Als Kinder waren sie in einem solchen Gewässer oft um die Wette geschwommen, das von der Sonne heißer Sommertage aufgeheizt war. Und für diesen Moment schien es, als würde er alles hinter sich lassen. Sogar diesem Augenblick würde er entschwinden, diesem eiskalten Spätherbstabend. Und als er sich noch einmal umdrehte, sah er die Brücke nicht mehr. Jetzt wurde ihm schwindlig, ja beinahe schwarz vor Augen. Sein rechter Arm krampfte und es kostete ihn seine letzten Kräfte, sich über Wasser zu halten.In einiger Entfernung konnte Timmrin jetzt plötzlich die Lichter eines großen Hauses sehen. Sie stachen wie Speere durch den dichten Ufernebel und die Silhouette begann langsam den Umriss einer Halbinsel zu zeichnen, auf der das Gebäude stand. Timmrin schwamm darauf zu. Bald hatte er einen kleinen Strandabschnitt erreicht, an dem es keine Kaimauer gab. Seine Glieder bewegten sich mit letzter Kraft, ihn verzweifelt auf der Wasseroberfläche vorwärts tragend, als er plötzlich feststellte, wieder Boden unter der Füßen zu haben.Ungläubig starrte er auf die Wasseroberfläche und wankte langsam in Richtung Ufer. Kaum hatte er das Land erreicht, brach er zusammen, verlor sein Bewusstsein. Nach wenigen Augenblicken wachte er auf, zuckte zusammen. Plötzlich hörte er Stimmen. Unweit entfernt war das Licht einer Laterne zu erkennen. Da legte er seinen Kopf mit dem Gesicht zur Erde und auch seine Handflächen. Er atmete kaum, bewegte sich keinen Deut, hatte seinen Herzschlag bis auf das Nötigste gesenkt. Dann hörte er Schritte kommen und eine Stimme sagen: „Er war hier, hab ihn doch planschen hören.“ „Ich habe gar nichts gehört“, antwortete eine andere Stimme gereizt. „Hier ist nichts.“„Vielleicht weil du taub bist! Lass uns den Strand absuchen“, beharrte der erste. Sie mochten noch drei oder vier Schritte entfernt gewesen sein. Timmrins Herz pochte so fest, dass er meinte, es durchschlüge ihm die Brust. Schließlich sprang er auf, um zu fliehen.„Halt!“, hörte er es brüllen. Als er sich umdrehte, sah er, wie einer der Verfolger - es waren Soldaten - seine Büchse anlegte um zu schießen. Timmrin warf sich noch im Lauf zu Boden. Ein Schuss krachte. Mit aller Kraft riss Timmrin seinen Körper hoch, wollte weiter rennen, blieb aber wie erstarrt stehen, als er in die Mündung des Gewehrlaufes des anderen Soldaten blickte. „Besser du bewegst dich nicht, oder ich schicke dir eine Kugel durch den Wanst, Rebell!“, der Soldat hatte den Hahn gespannt, legte den Finger an den Abzug. „Na los, Herkommen! Wird´s ba---“, er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Der Soldat zuckte plötzlich wie vom Blitz getroffen zusammen, kippte vorn über und stürzte regungslos zu Boden. Aus seinem Rücken ragte ein langes Messer. Erschrocken riss der andere Soldat sein Gewehr herum und blickte nach dem Angreifer, der blitzschnell von hinten auf ihn zu raste.Mit der rechten Hand nach dem Verschluss seines Gewehrs greifend, versuchte der Schütze zunächst, nachzuladen, doch ihm blieb keine Zeit. Im letzten Augenblick fasste er es am Schaft, um schreiend mit dem Gewehrkolben zuzuschlagen. Als der Schlag erfolgte, war sein Gegner schon zu nah, als dass er ihn hätte niederstrecken können. Der Heranstürmende blockte den Hieb mit den Armen, packte das Gewehr und riss es mit einem Ruck dem Soldaten aus den Händen. Im nächsten Augenblick rammte er ihm den Lauf zwischen die Rippen, dass dieser nach Luft ringend zusammenbrach. Timmrin war mit wenigen Schritten bei dem Angreifer und erkannte sofort die hoch gewachsene Gestalt mit dunklem, zerzausten Haar, dessen silberne Strähnen im Mondlicht glänzten. „Torek!“, entfuhr es ihm. Doch kaum konnte der Gefährte antworten, waren wieder Stimmen zu hören, dann Schreie: „Dort! Dort drüben!“Torek wandte sich von ihm ab und nahm das Gewehr, das er noch immer in Händen hielt, wie eine Keule mit dem Kolben nach oben. Dann wandte er seinen Kopf noch einmal, ein letztes Mal zu Timmrin und brüllte aus vollen Lungen: „Lauf! LAUF!“ Einen Augenblick später rannte Timmrin, so schnell ihn seine Beine trugen. Er hörte einen Schrei, gefolgt von einem Schuss. Dann konnte er wieder die Rufe der Verfolger vernehmen.Wie er sie verfluchte, diese Soldaten und ihre Gewehre! Doch obwohl er glaubte, sicher jeden Augenblick tot umzufallen und wie ein lebloser Sack auf dem Boden aufzuschlagen, obgleich er überzeugt war, dass seine brennenden, keuchenden Lungen ihm jeden Augenblick den Dienst versagen würden, rannte er. Und er rannte so lange, bis er keine Rufe mehr hörte, keine Verfolger. Schließlich sank er an einer Hauswand auf den Pflasterstein nieder, um in einen Schlaf zu fallen, der so tief war, dass wer ihn sah, hätte glauben müssen, er wäre tot.

-2-

Als Timmrin schließlich erwachte, dämmerte es bereits. Er schlotterte am ganzen Leib. Seine Zähne begannen zu klappern. Sogleich entledigte er sich seines Obergewandes. Hätte er länger dagelegen, wäre er wohl im Schlaf erfroren. Wollte er diesem Schicksal entgehen, so musste er laufen, sich bewegen. Als er sich aufrichtete, musste er laut husten. Seine Brust schmerzte, seine Augen brannten. Sein entkräfteter Körper sehnte sich nur nach einem: Ruhe! Aber er konnte sie ihm nicht gewähren. Timmrin begann langsam zu gehen, sah sich um, doch er wusste nicht, wo er sich genau befand.Schließlich konnte er ein Schild an einem Haus erkennen. Er wusste nicht, was darauf stand, weil er nicht richtig lesen konnte. Jedoch konnte er sich denken, dass es sich um eine Taverne handeln musste. In den Bettler- und Arbeitervierteln waren solche Schilder aus Holz, dieses aber war ein feiner Kupferstich. Das Händlerviertel war das einzige Viertel diesseits des Ghor, das sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen konnte. Dort vermutete er sich.Die Wohlhabenden, die Reichen und die Aristokraten wohnten auf der anderen Seite des Flusses, im ersten Bezirk. Timmrin war versucht an die Tür zu klopfen, doch erstens würde die Gaststube um diese Uhrzeit nicht geöffnet haben und zweitens lief er Gefahr, sich Menschen zu zeigen, so nass wie er war. Vielleicht konnte man Rückschlüsse darauf ziehen, dass er den Aufständischen angehörte, welche die Festung angegriffen hatten.Andererseits, wer konnte zu diesem Zeitpunkt bereits wissen, was sich heute an der Dukorbrücke zugetragen hatte?Er entschied sich dennoch, weiter zu gehen. Trottend setzte er einen Fuß vor den anderen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Tag vollends erwachte.Leise Schritte auf dem Pflaster rissen Timmrin aus seinen Gedanken. Am Ende der Gasse, in der er sich befand, konnte er Gestalten erkennen, die allerhand schweres Zeug zu tragen hatten – offensichtlich aber keine Soldaten.Er lehnte sich gegen eine Hauswand, verhielt sich still und ließ seinen Blick scharf über die herannahende Gruppe gleiten. Sie trugen allerhand große Netzte: Es mussten Fischer sein, die frühmorgens mit dem Bot zum Fang hinaus fuhren. Sie waren nur noch wenige Schritte entfernt, als Timmrin mit einem Satz auf die Mitte der Straße sprang. Die Schlaftrunkenen erschraken sichtlich. Einer wich mehrere Schritte zurück, riss seine Pfeife aus dem Mund und rief: „Donnerwetter! Was wollt Ihr denn?“„Ich…ich bin in den Ghor gestoßen worden“ stammelte Timmrin hervor.„Was?“, der Fischer mit der Pfeife, es war ein älterer Mann mit einem dichten, grauen Bart, ließ seine Netzte zu Boden fallen und musterte den Fremden.„In Ghor reingefallen!“, mischte sich ein jüngerer ein, der ein wenig zurückgeblieben wirkte. „Reingefallen in Ghor! Hihihi, bin auch schon mal reingefallen!“„Ruhe, Vater redet jetzt!“, unterbrach ihn der Alte schroff. „Soll mich der Frogger holen! Wer hat dich in den Fluss gestoßen?“„Es waren Männer…Männer, die…das Ufer entlang rannten, als ob sie verfolgt würden“, stotterte Timmrin. „Ich hörte auch Schüsse. Ich blieb erschrocken stehen, wusste ja nicht, was los war. Dann plötzlich rempelte mich einer von ihnen im vollen Lauf an. Ich verlor das Gleichgewicht und stürzte in den Fluss!“ „Du wurdest also angerempelt. Dann bist du in den Fluss gefallen, schön. Dann mach doch, dass du ins Warme kommst, oder willst du dir den Tod holen?“, die Mine des Fischers formte sich zu einer verständnislosen Grimasse. Sein Sohn sah zu ihm herüber und versuchte seine Gesichtszüge grotesk nachzuahmen.„Nun“, gab Timmrin zur Antwort, „die Sache ist die: Ich komme aus dem Grubenviertel und ich habe kein richtiges zuhause. Es ist schwierig genug, bei dieser Kälte draußen zu überleben, doch wenn man so nass wie ein Fisch ist, wird’s unmöglich.“Der alte Fischer lachte kurz, aber beherzt. „Nun gut, scheinst mir ja heute wirklich kein Glück gehabt zu haben. Aber was zum Henker treibst du denn hier unten am Ghor und nicht in den Gruben, hä? Vor allem nachts.“„Ich wollte meine Angel ins Wasser werfen, ich hatte Hunger, ich dachte ich könnte---“Timmrins Worte wurden von einem mehrstimmigen Gelächter unterbrochen.„Angeln im Kanal!“, der Fischer beugte sich vor Lachen nach vorn, biss fest auf seine Pfeife und stammelte amüsiert: „Hast du viele Fische gefangen?“, wieder lachten alle, bis auf der Dümmliche, der offensichtlich nicht ganz begriff, worüber sich die anderen derart amüsierten. „Junge, du bist hier draußen wahrlich nicht sicher. Meinem Sohn hier würde ich mehr Verstand zugestehen als dir. Lurz, du bringst ihn nachhause zu uns und kümmerst dich drum, dass er es warm hat, bis wir heute Nachmittag wieder kommen. Hast du das begriffen?“Der Dumme sah ihn mit weiten Augen an. „Bringe ihn zu uns heim! Dann machen ich ihm warm!“„Du bringst ihn nur heim und sagst Mutter, sie soll dafür sorgen, dass er trocken wird. Er kann sich bis heute Abend aufwärmen“, der Fischer klopfte seinem Sohn auf die Schulter, hob das Netz auf und schritt unbeirrt weiter, die anderen musterten Timmrin noch eine kurze Weile. Einer fuhr ihn an: „Hast verdammtes Glück gehabt! Mach ja keine langen Finger zuhause beim alten Peat, sonst werfen wir dich morgen als Köder aus! In Stücken!“ Dann trottete er den anderen nach. „Komm, wir gehen wieder heim, wo warm ist“, hörte Timmrin den Dummen hinter sich sagen und folgte ihm ohne zu zögern.Timmrin hatte in den letzten Minuten mehr Lügen erzählt, als in seinem ganzen Leben zuvor. Er blickte den Fischern noch einmal nach, dann folgte er Lurz weiter in dessen Heim.Nach wenigen Minuten fand sich Timmrin in einer kleinen verkümmerten Wohnung im zweiten Geschoss eines uralten Hauses wieder. Im Vergleich zu seiner Arbeiterbaracke, die er sich mit einigen Leuten teilen musste, wirkte es auf ihn sehr gemütlich. Eine kleine, betagte Frau brachte ihm einige Decken und ein altes, schmutziges Lammfell. Sie gebot ihm, sich auszuziehen und auf der Küchenbank lang zu machen, während sie seine Kleider trocknen würde. Timmrin wiedersprach mit keiner Silbe und während er sich zudeckte und er die alte Dame noch auf sich einreden hörte, spürte er, wie seine Augenlieder schwerer wurden. Nach wenigen Augenblicken war er eingeschlafen. Timmrin erwachte erst Stunden später vom Geräusch knarrender Türen und vernahm laute Männerstimmen. Das erste, was er sah, als er die Augen öffnete, war Lurz, der schweigend wippend auf einem Stuhl dicht neben ihm saß und auf den Boden starrte. Dann erblickte er zwei der Fischer. Wieder hatte der Alte eine qualmende Pfeife im Mund, deren Geruch so furchtbar war, dass Timmrin beinahe erbrach. Er hustete vom Rauch und setzte sich aufrecht hin. „Wie…wie spät ist´s?“.„Weit nach Mittag!“, du musst ja ziemlich erschöpft gewesen sein, was?“, der alte Fischer trat an ihn heran. „Hehe, die Pfeife scheint dir nicht zu taugen, was? Ist Klee drin und Sumpfdisteln. Solltest das Zeug erst riechen, wenn ich Dämmerpilze dazu mische.“„Ich…danke Euch, ich danke Euch sehr!“, rang Timmrin verlegen nach Worten.„Von deinem Dank kann ich mir nichts kaufen“, gab der Alte in hartem Tonfall von sich. „Haben heute schon wieder dürftigen Fang gemacht! Außerdem danke lieber meiner Frau hier. Ich hoffe deine Kleidung ist halbwegs trocken geworden, denn ich muss dich jetzt fort jagen. Meine Familie und ich sind hungrig und wir haben genug Mäuler zu stopfen!“„Nun lass ihn doch wenigstens eine Schale Suppe mitessen“, hörte Timmrin die Alte klagen. „Er ist ja völlig ohne Kraft. So kannst du ihn doch nicht wegschicken!“„Hab schon Schlimmeres getan“, gab der Fischer schroff zur Antwort. „Aber wenn du drauf bestehst…“„Ja, ich bestehe darauf!“„Dann habe ich sowieso keine Wahl“, entgegnete der Alte. „Würde mir die heiße Suppe lieber in die Ohren gießen, als deine Launen zu ertragen, wenn´s nicht nach deinem Willen geht.“ Dann wandte er sich wieder Timmrin zu: „Du kannst bleiben und ein paar Löffel Suppe bekommen. Aber dann siehst du zu, dass du Land gewinnst!“„Ich danke dir“, entgegnete Timmrin leise. Die Frau legte seine Anziehsachen auf den Tisch. „Sie sind nicht trocken, aber auch nicht mehr ganz so nass“, auffällig drehte sie sich weg.Timmrin, dessen Unterleib noch zugedeckt war, decke sich zögerlich ab und griff nach seinen Klamotten, um seine Scham zu bedecken. Hastig zog er seine Hose an, dann das Hemd. Die Kleidung war feucht, seine Wolljacke noch triefend nass. Den Schaal hatte er im Fluss verloren. Hastig knöpfte er die Tasche der Jacke auf und ja: Seine zwei Thamen waren immer noch darin. Das war alles Geld, das er bei sich hatte. Die Dame des Hauses stellte einen heiß dampfenden Topf mit Fischsuppe auf den Tisch und verteilte kleine Holzschälchen. Behutsam begann sie mit der Kelle die Suppe zu schöpfen: Zwei halbvolle Kellen für jede Schüssel, danach war kaum noch Suppe im Topf. Timmrin bekam einen hölzernen Löffel und begann langsam zu essen. Die Suppe war brühend heiß, aber das machte ihm nichts aus.„Wer heiß trinken kann, kann auch schweigen, sagt man“, der alte Fischer blickte Timmrin ernst ins Gesicht. „Schweigen?“, fragte Timmrin. „Nehmen wir an, du wurdest nicht in den Ghor gerempelt. Vielleicht hast du ja was ausgefressen…Wir haben heute erfahren, dass es einen Überfall auf die Kaserne gab.“Timmrin erschrak innerlich. Die alte Frau blickte ihn verstört an.„Sei es drum“, fuhr der Fischer fort. „Wir sind dir jedenfalls nie begegnet, weder ich, noch meine Söhne, noch meine Frau. Hast du das begriffen?“„Ja.“„Gut. Dann lass uns essen.“Als sie gegessen hatten, stand Timmrin auf, zog einen Thamen heraus und legte sich die nasse Jacke über die Schulter. Er wendete ihn einmal, legte ihn dann auf den Tisch und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich wollt, es wäre mehr. Ich danke euch.“Der Fischer sah ihn anerkennungsvoll an, griff langsam nach dem Geldstück und schabte es vom Tisch. Timmrin wandte sich um und ging hinaus. Er fand sich wieder in der Kälte eines frühen Spätherbstabends. Bald würde es dämmern und zu allem Überfluss fiel leichter Graupel. Timmrin entschied sich, dass Händlerviertel zu verlassen und trottete davon in Richtung Arbeiterviertel.

-3-

Timmrin starrte in seinen Krug und atmete die heißen Dämpfe ein, die daraus aufstiegen. Er hatte seinen letzten Thamen hergegeben für einen Krug heißes Wasser mit Brandwein. Die Mischung war stark. Er wollte trinken, hustete aber vorher vom heißen Alkoholdunst und setzte den Krug wieder ab. Es war warm in der Taverne zu „Aller Herren“. Bei dem Wort Herren schien es sich wohl um einen schlechten Witz zu handeln, oder um eine sarkastische Aufwertung. Die Gäste hier sahen schäbiger aus und die Einrichtung war noch heruntergekommener als in den wenigen Gasthäusern im Arbeiterviertel, in denen Timmrin schon gewesen war.Er wollte schneller trinken, damit der Inhalt des Kruges nicht kalt würde, hielt aber nach einem kräftigen Schluck wieder inne. Wenn er nicht trank, würde man ihn früher oder später hinauswerfen und Geld hatte er keines mehr. Anschreiben ließen die Wirte hier nicht, schon gar nicht von Leuten wie ihm. Dieses Getränk musste also noch eine Weile vorreichen, denn jede Minute im Warmen, in der Timmrins Kleider weiter trocknen konnten, war für ihn von unbezahlbarem Wert. Er wärmte seine Hände am Tonkrug und blickte in den Raum.Die Pinte war gefüllt. All die armen Teufel aus den Fabriken, zu denen er eigentlich auch gehörte, vertranken ihre Tageslöhne. Unter ihnen waren auch Frauen.Die Arbeit der einfachen Fabrikarbeiter begann um 6 Uhr morgens und endete um 7 Uhr abends, wenn es keine Sonderschichten gab. Es war Samstag, der Tag, an dem viele ihren halben Wochenlohn in einem der schäbigen Trinkhäuser der Stadt verprassten. Timmrin hatte seine Anstellung vor zwei Wochen verloren. Er war dazwischen gegangen, als einer der Schichtführer einen Arbeiter mit einer lehren Schnapsflasche niedergeschlagen und dessen Gesicht in die Glasscherben am Boden gepresst hatte. Man hatte von dem jungen Mann abgelassen, der eigentlich ein Knabe von etwa vierzehn Jahren war. Timmrin aber hatte eine Tracht Prügel erhalten, die er heute, zwei Wochen später, noch deutlich in den Knochen spürte. Er selbst war schon 23 und eigentlich hatte er Glück, in der Fabrik eine „kriegserforderliche Arbeit“ zu verrichten. Die meisten jungen Männer in seinem Alter mussten an die Front und nur die wenigsten waren inzwischen noch naiv genug, diesen Dienst als eine Ehre zu betrachten. Jetzt, wo er seine Arbeit verloren hatte, würde es ihn auch bald treffen. Vielleicht würde er aber auch zeitnah an einem Galgen enden. Er wusste nicht, für welche Möglichkeit er sich entscheiden würde, hätte er die Wahl.Es war nicht unüblich, dass die Arbeiter in den Fabriken beschimpft, oft auch geschlagen wurden. Aber in letzter Zeit waren die Willkür und die Strafmaßnahmen brutaler geworden. Den Leuten ihrerseits blieb keine andere Wahl: entweder die Front, der Hunger, der Bergbau oder die Fabrik. Die letzten beiden Optionen blieben sich gleich. Am besten unter den einfachen Leuten ging es in diesen Tagen jenen, die einen ertragreichen Hof hatten, als Knechte und Erntehelfer dort arbeiteten oder das Fischereirecht besaßen. Freilich konfiszierte der Staat große Mengen der Ernte. Doch Nahrung wurde gebraucht, im Land, wie auch an der Front. Die Alten, die Kranken, die Krüppel, die Geistesschwachen, sie alle hatten in den Städten das gleiche Los zu tragen. Sie mussten in den Fabriken schuften.Und diejenigen, denen die Werke gehörten? Man hörte oder sah kaum etwas von ihnen. Hier in Ersthafen lebten sie im ersten Bezirk auf der anderen Seite des Ghor. Der Zutritt war nur Soldaten und „Ehrenbürgern“ der Stadt gewährt – Ehrenbürgern, die das Leben von gut dreiviertel der Stadtbevölkerung zu einer Tortur machten, die manche das Leben kostete. Die Arbeitsunfälle hatten sich gehäuft, die Löhne waren erneut gesunken, die Arbeitsbedingungen noch unerträglicher geworden. Aber warum? Timmrin und viele andere kannten die Antwort: Es war der Krieg, ein Krieg, der schon seit mehr als zwölf Jahren den Kontinent in Atem hielt. Waffen wurden gebraucht, Munition, Kleidung und Stiefel für die Soldaten. Doch obgleich er die Geißel vieler war, schien niemand wirklich etwas zu unternehmen, diesen Krieg zu beenden - im Gegenteil. Einige gingen freiwillig an die Front, weil es für sie attraktiver schien als die Arbeit in den Fabriken. Andere wussten, dass sie, wenn sie lebend zurückkehrten, wenngleich als Krüppel, wenigstens geringe Abfindungen erhalten würden. Freilich reichten diese nicht zum Leben, aber die sonst so kaltherzigen Aristokraten und Kapitalisten waren zumindest dann gewillt, einen Thamen in eine Bettelschale zu werfen, wenn ein Veteran dahinter saß - ein Soldat, der dazu beigetragen hatte, den Krieg weiterzuführen, dem sie Reichtum und Wohlstand verdankten.Veteranen war es gestattet, sich im ersten Bezirk aufzuhalten und auch dort zu betteln. Was neben den entstellten oder im Geiste gebrochenen Kriegsheimkehrern die Alten, die Väter und Großväter, die Mütter und Großmütter oder die jungen Knaben und Mädchen betraf, die oftmals bereits von Kind auf in den Fabriken schufteten: Sie alle hassten den Krieg mehr als alles andere. Doch wer würde etwas unternehmen, der Hochkönig? Die Könige, die seine engen Berater waren und denen es an Besitz, Land und Investitionen nicht mangelte? Das Parlament, dessen Abgeordnete bestochen waren von den Besitzern der Fabriken und denen, die Patente auf Waffen besaßen, die zu tausenden hergestellt wurden?Nein, wenn jemand etwas bewegen würde, dann das einfache Volk. Und so kam es, dass sich mutige Männer versammelt hatten, um die Kaserne von Ersthafen niederzubrennen. Sie wollten ein Zeichen setzten, zeigen, dass sie es nicht länger hinnahmen, dass dieser Krieg das Leben so vieler zerstörte, die Ressourcen des Landes verschlang und es seiner Söhne beraubte – der Söhne Tamhalls. Die Wachen überrumpeln, die Fenster einschlagen, die Fackeln hindurch werfen und sich so schnell als möglich aus dem Staub machen - so der Plan.Freilich war es fraglich, ob die Kaserne überhaupt Feuer gefangen hätte. Die Rekruten in der Festung hätten sich in Sicherheit gebracht, vorher womöglich sogar noch das Feuer gelöscht.Aber es war im Grunde auch gar nicht darum gegangen, dachte Timmrin bei sich. Es war wohl das Ziel, das jeder von ihnen im inneren verfolgte, ein Feuer anderer Art zu entfachen, ein Feuer, das sich über ganz Tamhall ausbreiten sollte: ein Feuer in den Herzen der Menschen. Doch nicht viele würden überhaupt davon erfahren, was sich in jener Nacht zugetragen hatte. Die Soldaten hatten die Rebellen bereits erwartet und zusammengeschossen. Erklärung konnte es dafür nur eine geben: Verrat. Aber wer? Wer hätte dazu fähig sein können? Der Nachtwächter, ging es Timmrin durch den Kopf. Er hatte nicht viel zu gewinnen bei dieser Sache. Er musste sich nicht jeden Tag in eine Fabrik schleppen. Freilich, sein ältester Sohn sei im Krieg gefallen, sagt man. Aber stimmte das? Timmrins Gedanken konnten nicht länger um diese Verdächtigungen kreisen, zu groß war der Schmerz über den Verlust seiner Freunde. Ganz besonders musste er an Torek denken, der sich für ihn geopfert hatte. Er war tot, er musste tot sein. Sie alle mussten tot sein. Wenn es Überlebende gab, waren sie sicher gefangen genommen worden und ihr Schicksal besiegelt.Timmrin ballte eine Faust. Waren sie alle umsonst gestorben? Torek hatte sein Leben gegeben, damit Timmrin fliehen konnte. Das Gewissen des jungen Mannes ließ Gedanken aufkommen, die er bis jetzt verdrängt hatte. Nun fühlte er sich schuldig, weil er Torek nicht zur Seite gestanden hatte, obgleich es nur seinen eigenen Tod bedeutet hätte. Er fühlte sich schuldig, weil die anderen, möglicherweise alle, gestorben waren, er aber lebte.Doch was nützte ihm das jetzt? Wäre er doch nur mit den anderen umgekommen, dachte er. Vielleicht wäre es besser gewesen. Allein hatte Timmrin keine Chance mehr etwas zu bewegen, oder seine Kameraden zu rächen. Er konnte ja noch nicht einmal mehr für sich selbst sorgen. Sollte er die Stadt verlassen, so wie es vor vielen Jahren einige Männer und Frauen getan hatten, um sich als Landstreicher und Waldläufer durchzuschlagen? Auf Landstreicherei stand Gefängnisstrafe und Gefängnis bedeutete in diesen Tagen meist den Tod. Nicht einmal die Bauern hatten reichlich zu essen oder die Ernteknechte, noch weniger die Handwerker. Dienstleister konnten sich meist nur dann über Wasser halten, wenn sie für die Oberschicht arbeiteten. Am wenigsten hatten die niederen Fabrikarbeiter und Bettler. Was blieb da für den im Kerker inhaftierten? Nichts als schmutziges Wasser und Reste!Die „Verlorenen“ finden, irgendwo da draußen, sich ihnen anschießen, überlegte Timmrin. Es waren hauptsächlich Männer und einige Frauen, die vor Jahren die Stadt verlassen hatten, um sich im Dorngebirge zu verstecken. Sie waren heute nicht mehr als eine halbvergessene Legende. Doch ein Mann, der neulich in die Stadt kam, um etwas Salz zu kaufen, hatte für Gerüchte gesorgt.Er habe furchtbar ausgesehen, hatte Timmrin vor kurzem aufgeschnappt. Sein wuchernder, verfilzter Bart und seine langen, halb ergrauten fettigen Haare sollen kaum noch etwas von seinem Gesicht zu erkennen gegeben haben. Barfuß, seine Kleidung zerfetzt und schmutzig, seine Hände vernarbt, so hatte man ihn beschrieben. Auf die Frage nach seiner Herkunft soll er zur Antwort gegeben haben: „Aus den Bergen. Dort bin ich zuhause“.Vielleicht ein verrückter Bettler oder einfach ein verkommener Vagabund? Vielleicht ein Verlorener? Das Dorngebirge war ein Küstengebirge, nicht so hoch wie die Schneeberge im Landesinneren, auch nicht besonders weitläufig. Menschen gab es wenige dort.Ein paar wenige Bergbauern hatten sich in den Tälern niedergelassen, dort wo es Bäche gab. Es war zu felsig für den Ackerbau. Nur Schaf- und Ziegenbauern gab es dort. Neben seiner geringen Urbarkeit existierte ein weiterer Grund, das Dorngebirge zu meiden - Die Bergschrate: graupelzige Wölflinge, die in merkwürdigen Zungen sprachen, die niemand verstand. Vor vielen Jahren soll es Menschen gegeben haben, die ihre Sprache erlernt hatten. Heute sind sie scheu geworden und dennoch können sie sehr gefährlich werden, heißt es vielerorts.Behaarte Menschenähnliche hatte es auch in den Wäldern einmal hunderttausende gegeben. Als große Waldflächen gerodet wurden, um Holz für den Schiffbau zu gewinnen, schwand ihr Lebensraum. Es hatte schon immer Konflikte zwischen Menschen und Wölflingen gegeben, in jener Zeit aber große Kriege. Die Menschen benötigten zu dieser Zeit immer größere Mengen an Holz für den Bau von Städten, als Heizmaterial, später zur Errichtung ihrer Fabriken. Gewehre sollten hergestellt, heute schließlich auch die neuartigen Dampfmaschinen angetrieben werden, die mancherorts den Ackerboden der Großbauern bearbeiteten. Als immer größere Mengen von Bäumen, darunter auch die heiligen Riesenbäume der Waldschrate gefällt wurden, kam es vor fast zwanzig Jahren zum letzten großen Aufstand des Waldvolkes. Die Clans vereinten sich und schwarze, braune, wie rote Wölflinge des Waldes und ihre Mischlinge zogen in den Krieg. Sie verübten mehrere Massaker und machten die Waldstadt Bunthain dem Erdboden gleich. Für die Millitärs Tamhalls aber bedeutete dieser Konflikt keinen wirklichen Krieg, sondern viel mehr eine Gelegenheit, die Effizienz neuer Feuerwaffen an den Tiermenschen zu erproben. Die Schrate hatten den Salven der disziplinierten Schützenreihen nichts entgegenzusetzen und so flohen sie tiefer in die Wälder. Heute leben einige von ihnen in kleinen Reservationen, die sie nicht verlassen dürfen. Das sind meist mittelgroße Waldstücke, die von Wiesen umgeben sind. Außerhalb dieser darf Jagd auf sie gemacht werden, so wie auf gewöhnliche Tiere. Viele schon verhungerten, weil sie nicht genug Wild zu jagen hatten und nicht genug Früchte des Waldes finden konnten in den kleinen Reservationswäldern.Einige heißt es, verließen Tamhall in Richtung Osten, andere seien in die Berge geflohen, zu den grauen Bergschraten.Selten verirren sich Soldaten oder Jäger in die höheren Lagen des kargen Felsengebirges, wo sonst nur Wölfe, Luchse, Bären, Gämse und andere wilde Tiere leben. Tiefer im Dorngebirge soll es einige Höhlensysteme geben. Vielleicht hatten sich die Verlorenen in einem solchen verschanzt. Aber wie überlebten sie da oben? Von was ernährten sie sich und wie erwehrten sie sich der Schrate? Timmrin begann diese Gedanken zu vertreiben. Es waren Märchen, dachte er. Diese Leute waren alle tot. Ihm wurde klar, dass er sich diese Geschichten zurechtmalte, um der kalten Wirklichkeit zu entfliehen, in die er hineingeboren war. Sein Leben war entbehrungsreich gewesen. Von Kindheit an hatte es nur Arbeiten, Schlafen und sich um seinen jüngeren Bruder Kümmern bedeutet. Sein Vater war im Krieg gefallen. Seine Mutter war krank geworden. Sein kleiner Bruder war ein Krüppel gewesen von Geburt an.Timmrin und sein Onkel Torek hatten versucht, genug zu verdienen, um die beiden zu versorgen. Uranze, Timmrins Mutter, war vor einigen Jahren an Kummer, gebrochenem Herzen, an Krankheit und Hunger gestorben. Und nicht ganz einen Monat war es nun her, da hatte auch sein kleiner Bruder Tammrin für immer seine kleinen, unschuldigen Augen geschlossen. Eine kleine Träne kullerte über Timmrins Wange – und wieder ballten sich ihm die Fäuste! Und wer hatte Schuld? Er wusste es genau. Er kannte ihre luxuriösen Kutschen, in denen sie sich durch die Stadt bringen ließen, wenn sie sich ins Arbeiterviertel wagten, um ihre Werkshallen zu besuchen.Sie waren stets umgeben von Leibwächtern: finstere Männer, bewaffnet mit vierläufigen Pistolen und Faschinenmessern. Timmrin hatte auch von ihren technischen, kostspieligen Entwicklungen gehört: dampfbetriebene Maschinen kolossalen Ausmaßes, welche Pflüge ersetzen sollten, Kutschen ohne Pferde. Luxuriöse Bauwerke gab es im ersten Bezirk: Saunen, Bäder, Bordelle und Räumlichkeiten, in denen sich die Fabrikanten und Aristokraten trafen - zum Rauchen, zum Trinken, um sich geschwollene, hochgestochene Reden anzuhören. Mancherorts, so sagt man, gingen sie auch widernatürlichen Gelüsten nach.Sie mussten vernichtet werden, allesamt! Das war es, was Timmrin sich ersehnte. Sein Hass war beinahe größer geworden als sein Kummer, seine Angst und Verzweiflung.Timmrin trank wieder, diesmal lehrte er den Krug. Der Schankwirt wollte zu ihm herüberkommen, da tat er schnell so, als würde er weitertrinken.Wäre er an die Front gegangen, dachte er. Vielleicht hätte er Kriegsbeute mitgebracht, vielleicht genug um seine Familie zu ernähren. Von frühester Kindheit an hatte Timmrin in der Fabrik gearbeitet, mit seinen kleinen Fingern filigran die Papierpatronen mit Pulver gefüllt. Er war so schnell und gut in dem, was er tat, dass er auch später weiter in der Fabrik arbeiten durfte und nicht an die Front musste.In solchen Fällen zahlten die Fabrikmagnaten geringe Summen an den Staat, um sich Arbeiter, die eigentlich in wehrfähigem Alter und Zustand waren, für die Produktion zu „erkaufen“.Diese Fähigkeit, die beinahe alles war, was er beherrschte oder gelernt hatte, brachte Timmrin jetzt nicht mehr weiter. Was gab es überhaupt noch, an das er sich klammern konnte? Vom Hass allein schien er sich in diesem Augenblick zu ernähren, das wusste er. Doch was würde der ihm nützen? Den Kampf wieder aufnehmen? Wer würde ihm zur Seite stehen? Er wusste ja noch nicht einmal, woher er ein Dach über dem Kopf oder etwas zu essen bekommen sollte.Es gab NICHTS mehr für ihn in dieser kalten, unwirtlichen Welt.Sein Onkel Torek war tot. In die kleine Arbeiterwohnung konnte er nicht zurück. Er teilte sie mit elf anderen. Mehr als die Hälfte von ihnen fehlten jetzt und würden nie wieder zurückkehren. Der Stadtgarde konnte das genügen, um Rückschlüsse zu ziehen. Sicher wurden bereits die Wohnungen hunderter Arbeiter nach Waffen durchwühlt und Verhöre angestellt. Vermutlich wurde der eine oder andere ausgepeitscht, weil er die Ermittlungsarbeiten unzureichend unterstützte oder sich das nicht zur Anzeige bringen geplanter Straftaten nahelegen ließ. Und wenn es Kameraden gab, die überlebt hatten? Vielleicht hatte es außer ihm noch jemand anders geschafft. Aber dies brauchte schon mehr als Glück, dachte Timmrin. Die Wahrscheinlichkeit, einen von ihnen je wieder zu sehen, war mehr als gering. Und wieder überkam ihn tiefe, beißende Trauer.Plötzlich wurde er vom raunenden Gesprächston zweier Männer aus seinen Gedanken gerissen.„Hast du das mitbekommen? Die aus den Gruben und ein paar andere sollen eine Revolte angezettelt haben.“Timmrin hatte sich von all den lauten Stimmen im Wirtshaus nicht aus seinem inneren Monolog ziehen lassen. Doch gerade der verhaltene Flüsterton des Mannes alarmierte ihn.„Das waren die Schüsse oder, letzte Nacht?“, erkundigte sich der Gesprächspartner.„Ja. Man sagt, die Soldaten haben nur wenige Salven gebraucht. Mich wundert nur ganz gehörig, wie sich die Gardisten so schnell formieren konnten. Immerhin haben die Jungs ja noch nicht mal die Kaserne erreicht. Die wurden alle auf der Brücke erledigt, wie´s scheint.“„Nun, das ist glasklar. Die wurden erwartet. Irgendeiner hat gequatscht und die Gardeschweine wussten schon vorher, was gespielt wird.“„Reiß dich mal zusammen“, empörte sich der andere. „Du kannst nicht schwätzen, wie dir das Maul gewachsen ist.“„Wie ich schwätze bleibt sich gleich, solange ich keinen einfältigen Dung von mir gebe, wie du.“Sein gegenüber wollte etwas erwidern, hielt aber inne, weil sich seine Aufmerksamkeit plötzlich auf die Tavernentür richtete. Ein Mann trat herein. Er war sehr hoch gewachsen. Sein schulterlanges Haar war vollständig ergraut. In sein Gesicht hatten sich einige Falten gegraben. Auch Timmrin bemerkte ihn sofort. Er schätzte ihn auf Anfang fünfzig.Der Fremde trug einen langen, grauen Wollumhang mit einer Kapuze, die nach hinten geschlagen war.Unter dem Umhang konnte Timmrin den Griff eines Schwertes hervorragen sehen.Der Alte zog seinen Mantel vor sich zusammen und schritt geradewegs auf den Tisch zu, an dem Timmrin saß. Die übrigen Tische waren voll. Nur Timmrin saß allein an seinem. „Habt Ihr noch Platz für mich?“, erkundigte sich eine raue, gelassene Stimme.„Das fragt man nicht in diesen Vierteln“, entgegnete Timmrin. „Ihr seid nicht von hier, oder? Setzt Euch.“Dieser Mann war gewiss nicht von hier, oder jedenfalls gehörte er nicht in diese Viertel. Timmrin hatte das beinahe gleich erkannt. Er war hier aufgewachsen und wusste es einem anzusehen, ob er diesem Teil der Stadt entstammte. „Was darf es sein?“, der Wirt war an den Tisch herangetreten.„Ein Becher Wein“, gab der Fremde zur Antwort.„Und du?“, wandte der Wirt sich zu Timmrin, der sich weit über seinen Krug gebeugt hatte, um das leere Trinkgefäß zu verbergen.„Also, ich…“, stammelte er. „Du hast nichts mehr im Krug. Bestell oder sieh zu, dass du hier raus kommst! Wir sind hier keine Schlafstube!“Timmrin wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu, weil der Fremde sprach: „Gib ihm auch einen Becher.“Ungläubig starrte der Wirt ihn an, nahm Timmrins lehren Krug und schlurfte zum Tresen. „Also…vielen Dank, mein Herr“, Timmrin blickte verlegen zum Spender.„Na sieh mal einer an. Ich bezahle dir einen Becher Wein und schon bin ich dein Herr“, der Atle lehnte sich in seinem Stuhl zurück.„So…so war das nicht gemeint. Ich wollte höflich sein“, rang Timmrin nach Worten.„Vorher klangst du nicht ganz so höflich“, der Alte lächelte ganz unscheinbar.Sie schwiegen eine kleine Weile, bis Timmrin´s Neugier siegte: „Darf ich fragen, woher ihr kommt?“„Von hier.“„Das möchte ich bezweifeln.“„Wer hat dir eigentlich Manieren beigebracht, willst du mich Lügner nennen?“„Nein.“„Dann überleg vorher, was du sagst!“ „Es ist nur so, Ihr…wirkt nicht wie einer aus diesem Teil der Stadt, auch nicht wirklich wie jemand aus dem ersten Bezirk.“Der Fremde schwieg und nippte bedächtig an seinem Wein. Schließlich antwortete er: „Ich bin im Händlerviertel geboren und ich war der Sohn eines Händlers.“„Verstehe, dass erklärt einiges“, Timmrin hatte sich schon wieder dabei ertappt, aufstachelnd zu werden.„Das erklärt nichts und jetzt trink deinen Wein und frag mir keine Löcher in den Bauch.“Der Fremde wandte seinen Blick in die Gaststube, weil einige Männer aufgestanden waren. Sie sprachen leise miteinander und spähten auffällig zu dem Tisch, an dem Timmrin und der Fremde saßen. Nach einer Weile kamen die drei langsam auf sie zu.„Sir, das sieht nicht gut aus. Die wittern, dass Ihr etwas besser betucht seid. Ich will nicht unhöflich sein aber---“, der Fremde unterbrach Timmrin: „Habe ich nicht gesagt, du sollst deinen Wein trinken?“Kaum hatte er zu Ende geredet, waren die Männer herangekommen. Einer ergriff das Wort: „Also das Schwert da, das Ihr versteckt…nun Ihr wisst vielleicht, dass der Besitz von Edelmetallen verboten ist. Sie sind dem Staat zu übereignen und…nun ja, Ihr müsst euch selbstverständlich keine Sorgen machen. Wir sehen gern über solche Kleinigkeiten hinweg: Aber auch wir müssen von etwas leben, versteht Ihr das?“Der Mann war füllig, groß und breitschultrig. Seine beiden Begleiter weniger. Sein Gesicht hatte harte Kanten, die ein Bart um den Kiefer noch hervorhob.Der Alte erhob sich blitzartig, sodass die anderen unmerklich zusammenzuckten. Als er vor den dreien stand, machte sich bemerkbar, dass er seinen gegenüber in der Größe noch übertrumpfte.„Sieh zu, dass du wegkommst.“Der bärtige Rowdy sah den Fremden plötzlich mit großen, zornigen Augen an. Sein vorher scheinfreundlicher Gesichtsausdruck verfinsterte sich zu einer böswilligen, überlegenen Grimasse.Einen Augenblick standen sie so gegenüber, schweigend.Plötzlich hob der Kerl den Arm, um zuzuschlagen. Was dann geschah, hätte Timmrin nie gedacht: Der Alte riss reflexartig den linken Arm nach oben, blockte den gewaltigen Fausthieb seines Gegenübers mit scheinbarer Leichtigkeit. Fast gleichzeitig schnellte seine rechte Faust nach vorn, während sein Oberkörper eine leichte Drehung beschrieb.Die Faust des Alten traf das Kinn des Angreifers, der, nach hinten geworfen zurücktaumelte, das Gleichgewicht verlor, stürzte und liegen blieb.Blitzschnell griff der Alte mit der rechten hinter seinen Rücken und riss einen langen Dolch hervor. Als hätte er es gewusst, hatte auch einer der Angreifer zeitgleich nach einem Messer gegriffen – zu spät. Als er zustach, griff der Alte schon mit seiner Linken nach dem Handgelenk des Angreifers und stieß ihm seinen Dolch durch den Oberarm. Ein Blutschwall drang aus der Wunde und besudelte ihm Hals und Wange. Der Getroffene stieß einen Schmerzensschrei aus. Als der Alte den Dolch aus der Wunde riss, brach der Verletzte auf die Knie zusammen. Er war kreidebleich und schien nicht mehr ganz bei sich zu sein. Dann krachte sein Rumpf bewusstlos auf die Dielen des Bodens.Der dritte war schnell zurückgewichen und stand mit dem Rücken zum Tresen. Mit einem Satz sprang er am Fremden vorbei in Richtung Tür. Der aber wandte mit einer Handbewegung den Dolch in seiner Hand, sodass er ihn an der Klinge fasste. Dann sauste die Waffe durch die Luft und traf den Flüchtenden in die Kniekehle. Er stürzte noch im Lauf.Kurz darauf war es still im Raum, nur ein Wimmern war zu vernehmen. Der Verwundete versuchte sich aufzurichten, da stand der Alte auch schon hinter ihm. Er bückte sich und riss den Dolch aus der Wunde. Ein gellender Schrei bohrte sich in die Ohren der Zuschauer. Der Kerl kroch auf dem Boden weiter, schleifte sich in Richtung Tür. Der Alte trat vor ihn hin und öffnete sie weit. Mühsam richtete sich der Verletzte auf, schliff sein Bein nach und humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht aus der Taverne.Beinahe alle waren aufgestanden, jeder Blick ruhte jetzt auf dem Fremden. Es war totenstill.Mit langen, schweren Schritten ging der Alte zu seinem Tisch, ergriff sein Glas und trank den Wein in einem Zug leer. Danach zog er seelenruhig fünf Thamen aus einer kleinen Gürteltasche und legte sie, einen nach dem anderen auf den Tisch. Seinen Dolch säuberte er am Hosenbein des noch immer bewusstlosen großen Kerls vom Blute und steckte ihn wieder an seinen Platz. Dann ging er, langsamer als nötig, zum Eingang und verließ die Taverne.