Herr Müller, die verrückte Katze und Gott (eBook) - Ewald Arenz - E-Book

Herr Müller, die verrückte Katze und Gott (eBook) E-Book

Ewald Arenz

4,8

Beschreibung

Eine göttliche Komödie Die schillernd-bunte Einladung von Erfolgsautor Ewald Arenz zum literarischen Himmel-und-Hölle-Spiel voller Irrwitz: Jehudi, Erzengel mit einer Vorliebe für Gin Tonic und verantwortlich für die Verwaltung der Seelen im Vorhimmel, stellt bei seinem Kontrollgang im unsichtbaren vierzehnten Stockwerk des Spiegel-Hochhauses bestürzt fest, dass eine fehlt. Kurt Müllers Seele ist bei seinem ebenso plötzlichen wie tödlichen Fenstersturz in Nürnberg verloren gegangen, und ihr spurloses Verschwinden droht vor der Zeit den Beginn der Apokalypse auszulösen. In der Not bittet Jehudi seinen Bruder Abaddon um Hilfe – einen gefallenen Engel und Dämonenfürsten, der gerade sein Katapult für flugwillige Pinguine testet. Kurt Müller aber hat sich derweil in Frankreich als Katze reinkarniert und keine Ahnung davon, dass nicht nur die Himmelsmächte nach ihm suchen, sondern zudem die Unterwelt den Höllenhund auf ihn angesetzt hat, um seine Seele und damit die Schöpfung für immer zu zerstören. Wird es Kurts Tochter Helena gelingen, zusammen mit Jehudi und Abaddon die Seele ihres Vaters zu finden und den Jüngsten Tag abzuwenden? Doch da ist auch noch Erzengel Uriel mit ganz anderen Rettungsplänen für das Universum. Und wo ist überhaupt Gott? Eine erfrischend humorvolle, bisweilen heiter-sarkastische Auseinandersetzung mit Sinn und Unsinn des Lebens, Religion, Glauben und Fanatismus, mit der Idee von Reinkarnation, Engeln und Gottesbildern.

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Seitenzahl: 458

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Ewald Arenz

 

Herr Müller, die verrückte Katze und Gott

 

Roman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage Juni 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-698-1

 

Für

Theophilus, Viktoria und Fabricius.

Weil jeder von Euch etwas zu diesem Buch getan hat.

Danke.

 

Inhalt

I – Liber scriptus proferetur

II – Dies irae, dies illa

III – Quantus tremor est futurus

IV – Tuba mirum spargens sonum

V – Solvet saeclum in favilla

VI – Cum resurget creatura

VII – Mihi quoque spem dedisti

Der Autor

 

I – Liber scriptus proferetur

 

Nürnberg

Es war ein ungewöhnlich heiterer Tag im März. Nach einem milden Winter war das Frühjahr recht zeitig gekommen, und die Stadt wurde von einem kräftigen, aber warmen Westwind durchweht, der allen Wintermuff hinauszutreiben schien. Krokusse in den städtischen Gärten. Schwalben in elegantem Flug zwischen den Häusern. Ziemlich viel blauer Himmel und ein paar ausgesprochen nett und leicht aussehende Wolken. Ein vierzehnjähriger Skater, der vergnügt auf dem Treppengeländer der Bahnunterführung nach unten rauschte. Ein Mann zwischen den Schwalben. In den Schaufenstern des Blumengeschäfts Tulpen in allen Farben. Ein sechsjähriges Mädchen, das sich auf dem Heimweg vom Kinderhort selbstvergessen Himmel und Hölle auf den Gehweg gemalt hatte und jetzt von einem Kästchen ins nächste hüpfte. Aus dem offenen Fenster im ersten Stock eines Hauses kam Klaviermusik. Irgendjemand übte, und es hörte sich nicht einmal schlecht an. Ein wunderbarer Tag. Ein Tag, den es in jedem Frühling nur so ein- oder zweimal gibt. Ein Tag, an dem alle heiter sind, an dem alle eine Leichtigkeit spüren, die sie sonst nie haben.

Der Mann zwischen den Schwalben war der Einzige, der dieses Gefühl der Leichtigkeit nicht hatte. Der Mann zwischen den Schwalben war Kurt Müller, ein arbeitsloser Schauspieler Mitte vierzig, der sich gerade eher beunruhigend schwer fühlte. Das lag daran, dass er mit einer Beschleunigung von neun Komma acht Metern pro Sekunde nach unten fiel, was sich jetzt nicht unglaublich schnell anhört, aber bei einem Sturz aus dem vierzehnten Stock eines Hochhauses bis zum Aufprall zu einer ungefähren Geschwindigkeit von 79 Kilometern pro Stunde führt. Müller, der sich jetzt nicht mehr zwischen den Schwalben, sondern schon deutlich tiefer befand, war allerdings nicht sehr gut in Physik und auch nicht in der Verfassung, seine Beschleunigung auszurechnen, denn das Pflaster des Gehweges, auf dem ein sechsjähriges Kind gerade selbstvergessen Himmel und Hölle spielte, kam beängstigend schnell auf ihn zu. Als er an dem Fenster vorbeifiel, hinter dem eine junge Frau gerade Klavier übte, klangen ein, zwei hübsche Töne heraus, die sich durch seine stetig zunehmende Reisegeschwindigkeit allerdings um einen Halbton veränderten, was er jetzt wieder nicht so schön fand.

Das kleine Mädchen kickte den Stein aus dem achten Feld versehentlich in die Hölle und sagte: »Ach, Kacke!«

Es sah sich um, ob jemand es beobachtete, und sprang einfach in den Himmel. Das war eine ausgezeichnete Idee, denn in dieser Zehntelsekunde knallte Kurt Müller mit dem Kopf voraus genau auf den rosa Kreidestrich zwischen Himmel und Hölle und starb.

Für die meisten Leute in der Stadt blieb dieser Frühlingstag trotz der Sirenen und einer weinenden Sechsjährigen, die allerdings von einem Sanitäter mit einer Tüte Gummibären ziemlich schnell getröstet werden konnte, so heiter, wie er es vor dem Sturz Kurt Müllers gewesen war. Aus übergeordneter Sicht war das eine geradezu groteske Ironie des Schicksals, denn mit Müllers Tod begann bedauerlicherweise auch der Untergang des gesamten Universums.

 

Das Universum merkte relativ wenig davon, dass es auf seinen Untergang zutaumelte. Weltuntergänge sind ja sozusagen das täglich Brot des Universums. Schwarze Löcher verschlucken ganze Sonnensysteme und machen sich nichts daraus, an ihren Rändern selbst die Zeit so zu verbiegen, dass sie stillsteht. Ständig explodieren Sterne und werfen todbringende Strahlung so rücksichtslos im gesamten Weltall herum, als ob es kein Morgen gäbe. Das stimmt bei so einer Supernova zwar tatsächlich für die umgebenden Planeten, aber universal betrachtet bleibt es immerhin noch eine Sauerei. Und auf der Erde eröffnet ein weiterer Starbucks, und Ehepaare trennen sich. Obwohl das meist nicht unmittelbar zusammenhängt, ist es doch auffällig, dass in Städten, in denen es Starbucks gibt, auch die Scheidungsrate steigt. Abgesehen davon fanden an diesem Tag all die übrigen kleinen Weltuntergänge statt, an die man sich so gewöhnt hat, dass sie mehr eine Art katas­trophales Hintergrundrauschen des Alltags bilden. Man würde es fast vermissen, wenn es mal nicht da wäre: Hunger­katastrophen in Afrika und ethnische Kriege in Afrika und Amerika und Glaubenskriege in Afrika und Amerika und Asien und ganz normale Kriege in Afrika und Amerika und Asien und Europa. Übrigens alles Kontinente, auf denen es auch Starbucks gibt. Interessanterweise fand in der Antarktis gerade kein Krieg statt. Aber da wird auch wenig Kaffee getrunken.

Kurt Müllers persönlichem Weltuntergang war ein kleiner Streit mit seiner Exfrau vorangegangen. Es hatte sich darum gehandelt, für welche Wahlfächer sich ihre gemeinsame Tochter Helena in der zehnten Klasse entscheiden sollte. Kurt war eher für Schultheater oder Schlagzeug, also die musisch-humanistische Richtung gewesen, Andrea eher für Wirtschaft. Helena selbst war gar nicht da, hatte sich aber eigentlich längst für die wirtschaftswissenschaftliche Richtung entschieden und daher keine Ahnung, dass es deswegen einen Streit zwischen ihren Eltern gab. Kurt hatte Andrea vorgeworfen, wieder mal kein Verständnis für die feineren Dinge des Lebens zu haben und immer alles aufs Praktische reduzieren zu wollen. Andrea hatte Kurt vorgeworfen, wieder mal die Augen vor den Realitäten des Lebens zu verschließen und immer nur seine eigenen Ideen in Helena verwirklicht sehen zu wollen. Das Thema des Streits war, um es vorsichtig auszudrücken, nicht ganz neu. Schon vor ihrer Heirat hatte Andrea Zweifel daran geäußert, dass man es als Schauspieler mit dem Namen Müller in Deutschland zu Berühmtheit, geschweige denn zu Geld bringen könne. Kurt seinerseits hatte An­drea schon damals darauf hingewiesen, dass ein Job als Statistikerin in der Stadtverwaltung wenig geeignet war, Wale zu retten, was Andrea mal als ihre Bestimmung gesehen hatte. Das hatte dann beinahe dazu geführt, dass die Hochzeit abgesagt wurde, aber Andrea war damals schon schwanger gewesen, und deshalb, obwohl sie es beide irgendwie spießbürgerlich fanden, wollten sie dann doch heiraten. Es war zu aller Überraschung eine insgesamt recht heitere Ehe geworden, die allerdings letztlich daran scheiterte, dass Kurt dazu neigte, bei seinen wenigen Engagements die Proben mit jungen Kolleginnen intensiver zu gestalten, als es für die Verkörperung der Rolle notwendig gewesen wäre. So hatte sich Andrea irgendwann von Kurt getrennt. Ihre Streitkultur allerdings hatten sie auch über die Scheidung gerettet.

»Ist ja gut! Ist ja gut!«, hatte Andrea gerufen und dabei ihre Arme in die Luft geworfen. »Dann eben musisch. Bitte! Können wir jetzt was trinken?«

Kurt, der nach dem hitzigen Hin und Her des Wortwechsels etwas überrascht gewesen war, dass Andrea einlenkte, hatte seinerseits gelächelt und gesagt: »Ja klar. Aber meinetwegen … also, wenn du ehrlich denkst, dass es für Helena besser ist … ich nehme ein Bier.«

Andrea hatte lachen müssen, sich umgedreht und war in die Küche gegangen. Kurt war erleichtert gewesen. Was für ein schöner Tag heute war – was für ein Unsinn, ihn mit Streiten zu vergeuden. Eine Frühlingsbrise hatte die Vorhänge gebauscht. Er war lächelnd hingegangen, um den Anblick der sonnenhellen Stadt von hier oben zu genießen, war auf das Skateboard seiner Tochter getreten und vollkommen verblüfft aus dem Fenster gefallen. Schade um das Bier, dachte er noch.

 

Antarktika

Ein Flugzeug zog nahezu lautlos über den makellos blauen Himmel. Eine halbe Million Pinguine hörte das trotzdem, seufzte und sah nach oben. Gemeinsam verfolgten sie die Flugbahn mit immer stärker zurückgeneigten Köpfen, bis sie mit einem ungeheuren Rauschen alle gleichzeitig nach hinten umfielen.

»Haha!«, machte Abaddon bitter. »Sehr witzig.«

Die Pinguine rappelten sich schuldbewusst auf. Als sie diese kleine Slapsticknummer das erste Mal probierten, hatte Abaddon fast einen Tag lang gelacht. Das war 1928 gewesen, und die Geschichte war unter den Pinguinen von Generation zu Generation weitergegeben worden, also hatten sie es immer wieder probiert, aber den Erfolg des ersten Males nie wiederholen können. Abaddon hatte noch ein- oder zweimal gelächelt; das letzte Mal irgendwann in den Fünfzigern, aber seitdem nie wieder, obwohl jetzt sogar drei- oder viermal im Jahr ein Flugzeug über Antarktika hinwegflog. Schade. Es wäre schön gewesen, wenn Abaddon gelacht hätte. Es hätte einen milden Winter bedeutet, weil Abaddon dann in der Nähe geblieben wäre.

Abaddon aber barg das Gesicht in den Händen. Pinguine! Er beobachtete sie nun seit drei oder vier Millionen Jahren, und sie hatten ihn in der Zeit ein einziges Mal zum Lachen gebracht. Dabei konnte er sich noch sehr gut an die Terrorvögel erinnern. Die waren wirklich lustig gewesen. Dreihundertfünfzig Kilogramm schwer und mit Schnäbeln wie Äxte. Ja. Da war noch was los gewesen auf Antarktika. Wenn die Antilopen jagten – was für ein Hauptspaß. Aber der letzte Terrorvogel … warte, wann war das gewesen? Ach ja. Vor achtzehn Millionen Jahren. Abaddon setzte sich erschöpft auf einen Eisbrocken und starrte blicklos auf die Pinguine, die sich jetzt zu Tausenden ins Wasser warfen. Der Eisbrocken begann durch seine Körperwärme sachte zu schmelzen. Das lauwarme Schmelzwasser umspülte seine Füße wie Langeweile, Einsamkeit und vollkommene Verzweiflung sein Hirn. Was tat er da eigentlich? Bildete sich ein, dass es früher lustig gewesen sei. Es hatte doch gar keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Er hatte es immer gewusst. Antarktika war die Hölle. Auch wenn alle namhaften Fachleute etwas anderes behaupteten. Und es war gerade mal März. Der Winter hier fing eben erst an. Er freute sich schon auf die achtzig Grad unter null. Doch. Antarktika war die Hölle.

 

Collioure, Südfrankreich

Es hatte noch ein paar Tage lang geregnet, und als jetzt die Märzensonne schon kräftig, aber nicht zu heiß auf das kleine Städtchen schien, war es, als gäbe es in den winzigen Gärtchen hinter den Häusern in den engen Gassen eine langsame, lautlose Explosion der Fruchtbarkeit. Der Frühling war da, und all die Knospen, die gestern noch im Regen getrieft hatten, waren aufgesprungen und leuchteten in den frischesten Farben fast wie aus sich heraus. Auch das Licht war anders. Die müde, immer ein bisschen staubige, nur manchmal von Dunst oder Regen ausgewaschene Atmosphäre des Winters war fort, als hätte man ein Tuch von der Stadt gezogen. Was dazu führte, dass die Kater und Katzen in den Straßen sofort in einen kollektiven Wahnsinn verfielen. Die Katzen schienen alle auf einmal rollig geworden zu sein, rieben sich an den glatt geschliffenen Prellsteinen der Häuser, an den Stämmen der ergrünenden Platanen und an Autoreifen. Die Kater streiften schreiend über die Mauern und Dächer der Stadt, kämpften fauchend miteinander, rannten, verfolgt von anderen Katern, die Hafenmole entlang; immer auf Hetzjagd, um der erste Kater bei einer willigen Katze zu sein. An diesen Märztagen wurde in den Katzenkreisen des beschaulichen Hafenstädtchens gefickt, gerammelt und gehobelt, dass es eine Freude war. So nimmt es nicht wunder, dass Chou-Chou, die schmale, dreifarbige Katze unbestimmter Rasse der schon etwas älteren Madame Pétain es kaum aus dem Garten geschafft hatte, bevor sie von einem sehr kräftigen, beige-grauen Kater kurz nach dem Tor abgepasst und selbst für Katzenverhältnisse recht ordentlich hergenommen wurde. Madame Pétain, die eben mit einer Tüte Muscheln vom Fischmarkt kam, sah die beiden, machte einen erfolglosen Versuch, den Kater zu verjagen, und seufzte dann tief, aber doch auch ein wenig verständnisvoll, als sie die Haustür aufschloss und Chou-Chou etwas zerzaust, aber zufrieden in die Wohnung huschte. Immerhin würden es schöne Kätzchen werden, dachte Madame Pétain ergeben; es war ein recht attraktiver Kater gewesen. Chou-Chou rieb sich an Madame Pétains Beinen und bekam ein paar Tropfen Sahne auf ein Tellerchen getropft. Schnurrend leckte sie sie auf und rollte sich dann auf dem Boden in einem Sonnenfleck zusammen, während im fernen Deutschland gerade ein Notarzt den Sanitätern abwinkte, die erleichtert aufstanden, um sich eine Zigarette anzuzünden, und den Tod feststellte. Leben vergeht, Leben entsteht.

 

Hamburg 1

»Nein«, erklärte Jehudi angestrengt am Rande seiner Geduld, was an und für sich schon bemerkenswert war, denn er hatte wirklich eine Engelsgeduld, »so funktioniert das nicht. Ich habe es euch doch schon tausend Mal gezeigt. Pass auf: Du musst am Ende der Seite einen negativen Übertrag machen, sonst steht auf der anderen plötzlich ein Plus. Verstehst du? Du überspringst immer eine Seite und dann …« Seine Stimme versickerte angesichts des absolut verständnislosen Ausdrucks in Johns Gesicht. Jehudi seufzte. Er hasste die Freitage. Immer nur er.

»John«, sagte er mit mühsam unterdrückter Wut, »ich habe das auf dem Einführungsseminar neulich erklärt. Ich hab’s euch auf Schaubildern gezeigt. Ich hab’s euch vorgemacht. Wir haben’s geübt und geübt und geübt. Wieso verstehst du es nicht? Bist du vielleicht …«

Er verschluckte den Rest der rhetorischen Frage, ob John dumm sei.

Johns Augen füllten sich langsam mit Tränen. Jehudi wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Wieso musste er an den Freitagen Dienst haben? So etwas passierte an Dienstagen sicher nie. Er sah aus dem Fenster auf die Hafen-City hinunter. Wenn das Wetter schön und sehr windig war, konnte man von hier, aus dem vierzehnten Stock des ehemaligen SPIEGEL-Hochhauses, manchmal beobachten, wie der gegenüberliegende Turm der Petrikirche ganz sacht schwankte. Das beruhigte Jehudi normalerweise. Leider regnete es heute, und es war außerdem diesig und windstill. Hamburg sah an diesem Märzmorgen unfassbar trist aus.

»Es ist so schwierig«, beschwerte sich John leise, aber aufsässig, »ich verstehe es nicht. Wieso muss ich die Seite überspringen? Früher haben wir einfach nur aufgeschrieben, wer gestorben ist, und dann war doch sowieso klar, dass er tot ist. Was dann mit ihm geschieht, hat die Aufnahmeabteilung gemacht. Wieso muss ich jetzt auch noch gegenrechnen?«

Jehudi hätte gerne laut geschrien. Richtig laut. Aber wenn er wütend wurde, dann war immer gleich der Teufel los. Er atmete tief ein und aus, wie sie es ihnen in der Supervision erklärt hatten. Es war manchmal nicht einfach, ein Erzengel zu sein.

»Pass auf, John«, setzte Jehudi ein weiteres Mal an, aber sein linkes Augenlid zuckte jetzt ein bisschen. Das hatte er früher nie gehabt, und er konnte es nicht leiden. Er mochte auch die Träume nach solchen Freitagen nicht. Träume, in denen er Leute wie John einfach an einer langen, silbernen Leine langsam ins Fegefeuer hinunterließ und dabei Tonic Water trank. Den Tonic-Water-Teil verstand er überhaupt nicht, aber er wollte auch niemanden danach fragen. Was in Gottes Namen sollte Tonic Water für ein Traumsymbol sein?

»Jehudi?«, fragte John schüchtern. Jehudi riss sich zusammen. Er war abgeschweift. Von draußen tönte das mächtige Horn eines Überseefrachters durch den Regen. Das beruhigte Jehudi. Es erinnerte ihn auch nach all den Jahren immer noch an die Posaunen von Jericho. Okay. In Ordnung. Er versuchte sich vorzustellen, wie man einem fast völlig geistlosen Regenwurm die komplexe Finanzmathematik der Buchführung erklären könnte, und beugte sich dann über Johns Schultern, während er mit seinem schlanken Finger auf eine Zeile am unteren Ende einer Exceltabelle deutete, die auf dem Bildschirm friedlich leuchtete.

»Es heißt doppelte Buchführung«, sagte er sehr langsam und deutlich, »weil wir beides erfassen: Abgänge und Zugänge. Du gibst also nicht nur ein, wenn einer stirbt, sondern auch, wo er dann hingeht, verstehst du? Und weil die anderen das genauso machen, also die in der HH-Abteilung; weil die eben auch nicht nur aufschreiben, ob einer in den Himmel oder in die Hölle kommt, sondern auch, wann er gestorben ist, müssen wir das am Ende des Geschäftsjahres nicht erst mühsam …«

John unterbrach ihn. »Aber wenn einer in den Himmel geht, dann muss er doch vorher gestorben sein«, wandte er mit dieser besserwisserischen Jammerstimme ein, die Jehudi besonders aufregte, »wieso muss ich dann in dieser blöden Tabelle eingeben, dass …«

Jetzt reichte es. Jetzt reichte es wirklich. Jehudi konnte gar nichts dagegen machen.

»Nein!«, schrie er, und nun schwankte der Turm der Petrikirche auf einmal doch, und die Glocken klangen leise mit. »Nein, du mittelalterlicher Volltrottel! Es reicht nicht! Weil es Sonderfälle gibt wie Elia oder so! Weil manche Menschen direkt aus dem Leben in den Himmel auffahren und vorher nicht sterben, du blöder, bescheuerter, brezdämlicher Bauer!«

Seine Stimme dröhnte wie ein bronzener Gong durch den vierzehnten Stock. Die Arbeit in der Abteilung war vollkommen zum Erliegen gekommen, und alle sahen scheu zu Jehudi herüber. Jehudi richtete sich auf und holte tief Luft. Wow. Das hatte gutgetan. Das hatte sich richtig gut angefühlt. Er nahm John bei den Schultern und setzte ihn vor sein Pult. Dann aktivierte er den Bildschirm, der ehrfürchtig in den Ruhezustand gegangen war, scrollte zurück und knallte dem vollkommen eingeschüchterten John die Tastatur fast auf die breiten Hände.

»Du machst es jetzt genau so, wie ich es erklärt habe«, befahl er, und in seiner Stimme klang immer noch etwas Bronze durch. Dabei klopfte er mit seinem Finger auf die Spalte, an der John eben gearbeitet hatte, als ein winziges Detail, das jemand anderes als ein Erzengel vielleicht übersehen hätte, seine Aufmerksamkeit erregte.

»Was ist das?«, fragte er sanft und deutete auf ein Feld, in dem friedlich das Fehlerzeichen leuchtete, das auf einen Zirkelbezug hinwies.

»Ich dachte …«, stotterte John, »ist das nicht so ein Ornament? Wie wir’s früher im Kloster immer in die Bücher gemalt haben? Bloß in modern und so?«

Jehudi antwortete nicht. In einer für menschliche Augen nicht wahrnehmbaren Geschwindigkeit sah er die Exceltabelle durch, in der alles Werden und Vergehen der Menschheit verzeichnet wurde. Er sah auf die Uhr der Georgskirche. Es war fünf vor zwölf. 174.829 Geburten von heute Nacht um null Uhr bis jetzt. Er sah auf die Seelentabelle. 174.829 Seelen verkörpert. 72.388 Todesfälle seit Mitternacht. Er musste sich mit dem Erzengelpasswort in die HH-Abteilung einloggen, weil die Dateien dank John immer noch nicht zusammengeführt waren. 72.387 Eingänge. Er musste kein zweites Mal hinsehen. Er war sehr gut in Zahlen. Und anders als John dachte Jehudi nicht langsam. Jehudi dachte mit einer Geschwindigkeit, die nicht sehr viel unter der eines Computers lag, und er dachte wesentlich komplexer.

»Das«, sagte er mit schwankender Stimme, als er sich aufrichtete, »ist nicht gut.«

John sah verängstigt zu ihm auf.

»Habe ich einen Fehler gemacht?«, fragte er entsetzt.

Jehudi sah ihn an.

»Das hoffe ich nicht«, antwortete er, und die absolute Ehrlichkeit und das kaum hörbare Mitleid in seiner Stimme machten John so Angst, dass er sofort aufs Klo musste.

Jehudi wirkte, als sähe er ihm nach, aber eigentlich sah er gerade gar nichts, sondern rechnete und dachte und versuchte in Höchstgeschwindigkeit, alle, aber wirklich alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Es half aber nichts. Er musste die Fakten akzeptieren: Eine Seele fehlte. Selten hatte Jehudi sich stärker gewünscht, von Herzen fluchen zu können.

Von der Petrikirche schlug es leise zwölf Uhr. Irgendwie hörte es sich ein wenig final an.

 

Nürnberg

Von der Johanniskirche klangen die Töne der Trauerglocke über den Friedhof. Es hatte eben aufgehört zu regnen, aber von den noch recht kahl dastehenden Bäumen tropfte es nach, und es war wieder kalt geworden. Ein typischer Regentag im März eben. Trist. Unfreundlich. Eisig. Ganz so, als trauerte der Himmel mit, dachte Helena Müller, als sie neben ihrer Mutter hinter den vier Männern herging, die den Sarg ihres Vaters auf der Schulter trugen. Sie wusste eigentlich nicht genau, was sie fühlte. Es war ein bisschen so wie die Betäubung beim Zahnarzt: Man wusste, da wurde gebohrt und geschabt und es müsste schrecklich wehtun, aber man spürte nichts davon. Eigentlich ein Betrug.

Papa ist tot, versuchte sie zu denken, doch es waren nur Worte, die keine richtige Bedeutung hatten. Sie sah hinüber zu ihrer Mutter. Die hatte in der Kirche leise geweint, was Helena peinlich gewesen war, wofür sie sich aber dann gleich wieder geschämt hatte. Es war doch in Ordnung zu weinen. Aber sie selber konnte es irgendwie nicht.

Papa ist tot.

Es hörte sich immer noch falsch an.

Sie waren an der Grablege angekommen und hielten an. Die Männer setzten den Sarg auf die Bretter, die über die Grube gelegt waren, und traten zurück. Der Pfarrer stand daneben und wartete, bis alle sich um das Grab versammelt hatten. Der Friedhof war so eng mit Gräbern belegt, dass eigentlich nicht viel Platz war und die Trauernden zwischen all den anderen Grabsteinen herumstanden. Helena hatte in der Kirche schon gestaunt, wie viele Leute da waren, von denen sie die meisten gar nicht kannte. Gut, Papa war ja Schauspieler – war ja Schauspieler gewesen, bemühte sie sich zu denken – es gab wahrscheinlich eine Reihe von Kollegen und Freunden, die ihn vielleicht noch von früher und von Engagements in anderen Städten kannten. Übrigens standen nicht alle, bemerkte sie. Ein sehr großer, schlanker Mann hatte sich einfach auf einen Grabstein gesetzt. Er sah dort ein bisschen aus wie ein trauernder Engel, dachte Helena, sehr schön und unendlich verloren, und auf einmal schossen ihr doch die Tränen in die Augen, während der Pfarrer mit seiner kurzen Ansprache begann.

Jehudi hörte kaum zu, sondern las gedankenverloren die Inschrift des Grabsteines, auf den er sich gesetzt hatte. Ah, Feuerbach. Er hätte gelächelt, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Ausgerechnet, dachte er, ausgerechnet er. Er konnte sich gut an Feuerbach erinnern. War ja auch erst hundertvierzig Jahre her. Wie verblüfft der gewesen war. Er hatte noch ein paar Jahre nach seinem Tod versucht, seine eigene Existenz wegzudiskutieren, aber schließlich hatte auch ihn die normative Kraft des Faktischen eingeholt. Unsterbliche Seele und so. Jehudi mochte es, wenn Atheisten starben. Das war immer wie Kindergeburtstag. Überraschte Augen. Aaaah! Ooooh! Enttäuscht dagegen waren meistens die Freichristen. Das war auch wie Kinder­geburtstag, aber mit den falschen Geschenken: Äh, wieso sitze ich jetzt nicht zur Rechten Gottes? Hallo? Niemand war so gläubig wie ich etc. pp. Solche Seelen gingen Jehudi auf die Nerven.

Was uns zum Hauptproblem zurückbringt, dachte er, fast erschrocken darüber, wie weit er gedanklich abgeschweift war. Er beobachtete, wie der Pfarrer den Segen sprach und der Sarg hinabgelassen wurde. Er beobachtete Kurt Müllers Witwe und seine Tochter, wie sie mit dem Schäufelchen Erde in die Grube warfen und dabei keine Ahnung davon hatten, dass sie die beiden waren, die zum allerersten Mal in der Geschichte der Menschheit wirklich Grund zum Trauern hatten, denn aller Wahrscheinlichkeit nach war es Kurt Müller, der in die nur noch sehr kurze Geschichte des Universums als derjenige eingehen würde, der wirklich und unwiderruflich und endgültig und total tot war.

Es begann zu schneien. Helena sah nach oben, und die Flocken schmolzen auf ihren Wangen und vermischten sich mit den Tränen. Andrea zog ihren Mantel enger zusammen und fasste nach der Hand ihrer Tochter. Jehudi sah deprimiert zu, wie der Schnee immer dichter auf die Trauernden fiel, und war sich der Tatsache nicht bewusst, dass das Nürnberger Wetter sich lediglich Mühe gab, die Gefühlslage des einzigen anwesenden Erzengels widerzuspiegeln, dabei aber kläglich versagte. Denn für eine Eins-zu-eins-Wiedergabe von Jehudis gegenwärtiger Stimmung hätte es –273,15 Grad Celsius haben müssen. Das ist der absolute Nullpunkt, und auch der Nürnberger Verkehr wäre dann vermutlich zum Erliegen gekommen, denn bei dieser Temperatur haben auch Atome und Elektronen keine Lust mehr, sich zu bewegen. Interessanterweise war der absolute Nullpunkt genau das, was Jehudi seit drei Tagen erwartete, was aber noch immer nicht eingetreten war, und er wusste noch nicht genau, warum.

 

Die Trauergemeinde begann sich zu zerstreuen. Der Schnee dämpfte die Geräusche, und dann standen nur noch Andrea und Helena beim Grab, zwei schmale schwarze Gestalten im Flockenwirbel. ­Jehudi wartete geduldig. Schließlich wandten auch die beiden sich zum Gehen. Als sie bei Jehudi vorbeikamen, nickte er ihnen höflich, aber ­verschlossen zu und war überrascht, als Helena plötzlich stehen blieb und ihn forschend ansah: »Woher kennen Sie meinen Vater?«, fragte sie unvermittelt und mit klarer Stimme, in der noch sehr viel Kindliches lag.

»Von früher«, sagte Jehudi, was auch stimmte. Er kannte alle von früher, wenn auch die meisten nur so flüchtig wie Kurt Müller. »Mein Beileid«, sagte er dann und meinte es tödlich ernst, als er die Hand ausstreckte. Sie tat ihm wirklich leid. Nicht mehr zwar, als er sich selbst, aber auch nicht weniger. Schließlich war er ein Erzengel, und Menschen lagen ihm schon aus beruflichen Gründen am Herzen. Helena nahm die angebotene Hand und zuckte zusammen. Es prickelte so, dass sie diesen Händedruck nicht vergessen würde, das war ihr sofort klar. Plötzlich wirklich interessiert und sehr erstaunt sah sie Jehudi ins Gesicht.

»Danke«, sagte sie dann leise, und jetzt war es, als ob die ganze Trauer in ihr losbräche, die wie eingefroren gewesen war, und sie begann, hemmungslos zu weinen. Jehudi ließ ihre Hand los, Andrea legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie fort. Sie verschwanden im Schneetreiben, das sich allmählich zu einem veritablen Schneesturm entwickelte. Das war nicht schlecht, denn so sah niemand, wie Jehudi endlich von Feuerbach aufstand, zum offenen Grab hinüberging und mit einer kleinen Kopfbewegung den Sarg dazu ermunterte, aus der Grube und zu ihm zu schweben und sich dann sanft zu öffnen. Jehudi sah dem Leichnam Kurt Müllers ins Gesicht. Er berührte den Toten mit einem Finger und murmelte etwas. Nichts geschah. Jehudi hätte sich auch sehr gewundert. Er hatte schon mehrfach Tote wieder zum Leben erweckt; das war ab und zu nötig, wenn John in der Buchhaltung wieder mal einen kleineren Fehler gemacht hatte, aber dazu brauchte es nun einmal eine Seele, die normalerweise in der Nähe herumlungerte und sich über den unzeitigen Heimruf beschwerte. Doch das war ja genau das Problem. Kurt Müller war einerseits völlig nach göttlicher Vorsehung abgetreten. Auf die Sekunde genau. Aber seine Seele fehlte. Und das war seit Anbeginn nicht vorgekommen.

Jehudi ließ den Sarg sich wieder schließen und mit einer nachlässigen Bewegung seiner Hand in die Grube krachen. Von den Rändern stürzte Erde nach.

Tja, dachte er, während er über den Friedhof schritt und der Schnee rechts und links zur Seite wich und sich auf den Grabsteinen türmte, das war’s dann wohl. Das ist das Ende der Welt. Am Tor angekommen stieg er geistesabwesend in einer feurigen Lohe in die Stratosphäre auf, und unten knallte das Auto des jungen, vielversprechenden Rappers Stefan, der die Lohe aus dem Seitenfenster ungläubig verfolgt hatte, frontal in die Straßenbahn, und Stefan schnaufte überrascht und zum letzten Mal. Völlig nach Plan und der kosmischen Ordnung entsprechend, die irgendwie immer noch funktionierte, was Jehudi immer noch nicht verstand.

»Ach so, das hätte ich beinahe vergessen«, murmelte er hoch oben in der Luft, fegte noch einmal nach unten zum Friedhof, wo Stefans Seele etwas entgeistert neben seinem zerknüllten VW Golf herumstand und zum zweiten Mal an diesem Tage einer feurigen Lohe zusah, diesmal aber mit dem zugehörigen Erzengel.

»Wenn’s dir recht ist«, sprach Jehudi zu Stefan, »dann fürchte dich nicht, und ich nehme dich gleich mit nach Hamburg. Dann musst du nicht nach dem Weg fragen, und vor allem geht dann nicht noch eine Seele verloren.«

Jehudi war der Einzige der sieben Erzengel, der einen Hang zum Sarkasmus hatte. Das kam wahrscheinlich daher, dass er für die Freitage zuständig war.

Er nahm Stefans Seele bei der Astralhand und stieg ein zweites Mal auf, diesmal aber ohne feurige Lohe.

»Der Himmel ist in Hamburg?«, fragte Stefans Seele in totaler Verblüffung, als sie durch den Schneesturm rauschten.

»Ja, na ja«, antwortete Jehudi tief in Gedanken. »Fast. Hamburg hoch eins. Das hat sich in den letzten Jahrhunderten als etwas praktischer erwiesen.«

In Nürnberg brach unterdessen der Verkehr zusammen, obwohl es bloß schneite und der absolute Nullpunkt gar nicht erreicht war. Als Andrea und Helena nach stundenlanger Verspätung endlich zu Hause waren, ging die Heizung nicht, und Helena nahm das nur noch als Bestätigung, dass es ein Scheißtag war.

 

Hamburg

Der Freitag neigte sich dem Ende zu. In Hamburg schneite es nicht, aber es regnete in Strömen. Jehudi saß auf dem Terrassenfloß eines kleinen Cafés in der Deichstraße und sah auf das Nikolaifleet, das bei diesem Wetter unendlich trostlos wirkte. Auch in Hamburg versuchte das Wetter, sich Jehudis Gemütslage anzupassen.

»Entschuldigen Sie«, fragte die Bedienung ihn höflich, »wollen Sie nicht hereinkommen?«

»Was?«, fragte Jehudi geistesabwesend. »Ich nehme einen Latte macchiato, danke.«

Die Bedienung, eine, wie sie glaubte, weltoffene Studentin, war sich nicht ganz klar, wie sie darauf reagieren sollte.

»Aber …«, stotterte sie, »Sie sitzen draußen, und es schüttet wie aus Eimern. Wollen Sie Ihre Latte wirklich da draußen … ich meine, es regnet wirklich arg.«

»Ihren Latte«, korrigierte Jehudi sanft. Der Regen war ihm gar nicht aufgefallen. Kein Regen der Welt traut sich, einen Erzengel nass zu machen. Erzengel sind so eine Art Patek Philippe unter den höheren Wesen. Wasserdicht bis zehn Millionen Kilometer. Und sehr, sehr wertvoll. Deswegen gibt es nur sieben von ihnen.

»Was?«, rief nun ihrerseits die Bedienung. Sie stand immer noch in der Tür zu der kleinen schwimmenden Terrasse auf dem Nikolaifleet. Der Himmel war jetzt fast schwarz, so goss es. Das Rauschen des Regens überdeckte beinahe jedes andere Geräusch, aber die Stimme eines Erzengels bleibt auch auf einem Death-Metal-Konzert zwei Meter vor der Bühne verständlich.

»Der Latte«, wiederholte Jehudi. »Latte ist im Italienischen männlich; deshalb heißt es auch macchiato und nicht macchiata. Klar?«, fragte er liebenswürdig lächelnd. Der Regen hörte abrupt auf.

»Einen Latte macchiato. Draußen. Sehr gerne!«, flüsterte die Bedienung beeindruckt. Auch das Lächeln eines Engels ist Patek Philippe. 24 Karat. Sie verschwand ungewöhnlich rasch im Inneren des Cafés. Jehudi hörte auf zu lächeln. Der Regen setzte wieder ein.

Während er auf seinen Latte macchiato wartete, dachte er nach. Nachdenken ging besser, wenn er nicht im Himmel war. Auch einer der Vorteile, den eine Großstadt im Vergleich zum Paradies hatte. Das Paradies als irdische Filiale des Himmels auf Erden hatte schrecklich unpraktisch gelegen. Und auch, wenn Engel in Sekundenschnelle reisen – es sah einfach nicht so gut aus, wenn man viertausend Kilometer vom Arbeitsplatz entfernt einen Kaffee trank.

Der Latte macchiato erschien, und Jehudi schrak zusammen. Das ging heute schon den ganzen Tag so – er konnte sich nicht auf das Wesentliche konzentrieren! Immer wieder drifteten seine Gedanken ab. Was war los mit ihm? Ach ja. Weltende. Apokalypse. Wie hatte er das nur vergessen können, dachte er sarkastisch und schenkte der Bedienung noch ein Lächeln. Wieder ließ der Regen nach, und die junge Frau hatte plötzlich das Gefühl, als würde sie es doch noch bis nächsten Mittwoch schaffen, ihre Masterarbeit fertig zu schreiben. Jehudi, der ihre Gedanken wie nebenbei mitlas, wandte sich mitleidsvoll ab. Natürlich würde sie es schaffen. Wenn es noch einen nächsten Mittwoch gäbe, was extrem unwahrscheinlich war. Denn spätestens am kommenden Sonntag würde das Universum in einem multidimensionalen Paradoxon lautlos aufhören zu existieren. Okay. Alles klar. Jehudi dachte kurz an Selbstmord, was einem Engel allerdings nicht möglich ist, und gab dann resigniert seinen eigenen Schlüssen nach. Es führte einfach kein Weg daran vorbei, die anderen zu informieren.

Seufzend stand er auf und legte einen Fünfeuroschein auf den Tisch. Die Studentin, die hinter der Theke an ihrem Laptop gesessen hatte, sprang dienstfertig auf, aber Jehudi hatte das Café schon durchquert. Als sie nach draußen auf die Terrasse trat, um abzuräumen, fand sie trotz des massiven Regens den Fünfeuroschein und den Stuhl trocken vor und wunderte sich ein wenig. Aber dann dachte sie an das Lächeln, und zumindest ihr Tag war gerettet.

 

Hamburg 1

Für Jehudi galt das ganz und gar nicht. Als er den vierzehnten Stock des dreizehnstöckigen ehemaligen SPIEGEL-Hochhauses erreicht hatte, der von außen und für menschliche Augen nicht zu sehen war, ging er direkt in den Konferenzraum. Er wurde hier im Himmel in einem seltenen Anflug von Humor »Fegefeuer« genannt, was nur deshalb möglich war, weil es sich tatsächlich um eine Art Fegefeuer handelte, das diesen Raum ringförmig umgab und jede Art von Daten so restlos zu metaphysischer Asche verbrannte, dass »abhörsicher« eine mitleidige Untertreibung gewesen wäre. Jehudi trat durch den Flammenring und war im Inneren. Es sah ein bisschen aus wie im Sozialgericht der Stadt Hamburg, was aber eine technisch bedingte Koinzidenz war, denn grundsätzlich war dieser Raum tatsächlich für ein Gericht, das Jüngste nämlich, vorgesehen gewesen. Das Jüngste Gericht hatte sich aber bisher so verzögert, dass die Ausstattung eben alle hundert Jahre erneuert wurde. Deshalb gab es jetzt am oberen Ende des elliptischen Tisches einen etwas höheren Sessel für Gott den Herrn, rechts daneben einen für seinen Sohn und links eine schlichte Feuerschale auf einem Dreibein, in der die Flamme des Heiligen Geistes brannte, wenn eine Vollversammlung einberufen wurde. Was allerdings seit einigen Tausend Jahren nicht mehr der Fall gewesen war. Jehudi schnipste mit den Fingern, und an den Plätzen der sechs anderen Erzengel erschienen je ein Tellerchen mit Keksen und eine Flasche hochreines Gletscherwasser. Vor seinem Stuhl dagegen erschien eine Schale mit Salzmandeln und ein Gin Tonic. Irgendwie kam es ja nicht mehr darauf an, dachte er, als er zu dem großen erzenen Gong trat und ihn mit dem Knöchel sanft zum Tönen brachte. Er grinste ein wenig. Es war auch ein paar Tausend Jahre her, seit er die anderen an ihren freien Tagen aus dem Schlaf geweckt hatte, und er freute sich auf ihre Gesichter. So fühlt sich das also für Menschen an, dachte er ein wenig erstaunt, dieses Endzeitgefühl, diese Ich-hab-nichts-mehr-zu-verlieren-Einstellung. Und fast noch ein wenig erstaunter stellte er fest, dass er trotz Leuten wie John an seiner englischen Existenz hing.

 

Michael, ˇGibrı-l, Raphael und Uriel, dazu Barachiel und Sealtiel standen um den Konferenztisch, sahen aus wie ein russischer Chor und betrachteten Jehudi schweigend, der an sich hinabsah und feststellte, dass er noch den eleganten grauen Anzug trug, den er für die Beerdigung heute Morgen manifestiert hatte. Der Anzug folgte ergeben dem Blick und verwandelte sich nun ebenfalls in einen orthodoxen, weiß leuchtenden Talar. Jehudi machte eine Handbewegung, die seine Kollegen zum Sitzen einlud. Lautlos fuhren die Stühle zurück, schweigend nahmen alle sieben Erzengel Platz. Das Klappern, als Michael sein Schwert auf den Tisch legte, klang unnatürlich laut.

»Ah, Entschuldigung«, sagte Michael hastig, griff danach, wusste aber nicht genau, wohin damit, und lehnte es schließlich gegen das verchromte Tischbein, das den spröden Bürocharme der Achtzigerjahre verbreitete.

»Also?«, fragte er dann knapp, um seine Autorität wiederherzustellen, an der aber im Chor der Erzengel niemand gezweifelt hatte. Michael war der höchste der Erzengel. Andererseits war er mit Sicherheit nicht der klügste der sieben, aber Gottes Ratschluss war unergründlich und wurde hier oben von niemandem, also wirklich von überhaupt niemandem, infrage gestellt.

»Na ja«, sagte Jehudi, in dem sich eine seltsame Gelassenheit ausbreitete, nahm einen Schluck Gin Tonic und fuhr dann fort: »Die Sache ist die: Uns fehlt eine Seele.«

Was bei menschlichen Besprechungen überraschtes und aufgeregtes Getuschel, Durcheinanderrufen und empörtes Geschrei wäre, das ist in Erzengelkreisen ein intensiv tönendes Schweigen wie das Nachklingen einer ungeheuren Glocke, die eben zum Nachtgebet geläutet hat und jetzt ausgeschwungen ist, in deren Abertonnen Bronze aber noch ein leises Tönen gefangen ist, das nie ganz aufhört.

»Aha«, sagte Gibril dann nach einer ganzen Weile.

Jehudi sah Sealtiel zu, der hektisch an seiner Armbanduhr herumklopfte.

»Sealtiel«, sagte er sanft und deutete auf das Display an der Wand, auf dem sich schrecklich altmodisch vier rote Ziffern auf schwarzem Grund mühsam von Sekunde zu Sekunde neu zusammensetzten, »es ist achtzehn Uhr vierundzwanzig.«

»Darum geht es nicht«, antwortete Sealtiel, »ich will wissen … es ist so, dass da eigentlich stehen müsste …«

»… dass die Apokalypse da ist. Ich weiß«, sagte Jehudi mitleidig zu dem Engel, dessen Aufgabe es seit Anbeginn war, den Zeitpunkt des Jüngsten Gerichts zu verkünden und der jetzt etwas unentspannt wirkte. »Deshalb habe ich euch hierhergebeten. Uriel, was sagst du?«

Uriel war der Erzengel, den Jehudi im Chor am liebsten mochte. So etwas wie die Philosophin unter den himmlischen Wesen, die ja sonst alle eher mittlere Verwaltungstätigkeiten im Reich Gottes wahrnahmen. Botengänge wie ˇGibrı-l, Security wie Michael, Reiseführer wie Raphael … Wenn man es recht betrachtet, dachte Jehudi, passen wir erstaunlich gut in eine von Dienstleistungen geprägte Welt.

Uriel legte ihre ausnehmend schönen Hände auf den Tisch und dachte kurz nach. Gelassen sagte sie dann: »So wie die Erde dem Wald gegeben ist und das Meer seinen Wellen, so können die Bewohner der Erde nur das, was auf Erden ist, verstehen; und nur die Bewohner des Himmels können verstehen, was im Himmel ist. Leider verstehe ich als Bewohner des Himmels gerade nicht, was auf Erden passiert«, fügte sie hinzu. »Uns kann keine Seele fehlen. Gott der Herr hat sie gezählet, dass Ihm auch nicht eine fehlet … Und es gibt keine Welt außerhalb von Gott, da Gott allumfassend ist. Sie kann also nicht weg sein. Sie ist nur woanders.«

Jehudi sah kurz auf seine eigenen Hände, die nicht ganz so schön wie die Uriels waren, aber doch ganz annehmbar. Nicht, dass das noch irgendeine Bedeutung gehabt hätte.

»Leider gibt es bei Gott kein Woanders«, korrigierte er ruhig, »wir wüssten es ja wohl als Erste, wenn dem so wäre. Wie Uriel sagt«, wandte er sich an die anderen, »kann keine Seele fehlen. Gott hat uns alle erschaffen. Jeden Einzelnen. Ob Mineral, Pflanze, Tier, Mensch oder Engel. Wenn da auch nur ein Atom im Ganzen fehlt, ist Gott weder allumfassend noch allwissend noch ist Er Gott. Damit bricht Seine Schöpfung nicht nur auseinander, sie verschwindet einfach in einem lautlosen theologischen Plopp.«

»Wie?«, fragte Michael, der einfach etwas langsamer war, bestürzt. »Kein Jüngstes Gericht? Kein apokalyptischer, endgültiger Krieg? Keine … Ewigkeit?«

Die anderen sechs sahen ihn an. Gibril bewegte kaum merklich das Haupt in einer verneinenden Geste und wiederholte dann vernehmlich: »Plopp!«

Michaels Flammenschwert fiel scheppernd um, und die Flammen begannen sich durch den dunkelblauen Nadelfilz zu fressen.

Uriel machte noch einen Versuch.

»Aber das ist menschliche Logik. Darauf fällt Gott doch nicht herein. Ich meine, genauso wie dieses rabbinische Paradoxon, dass ein allmächtiger Gott ja auch einen so großen Stein schaffen können müsste, dass Er selbst ihn nicht mehr heben kann. Das ist eindimensional. Das ist keine göttliche, multidimensionale Logik. Es muss doch in einer allumfassenden Welt eine Erklärung geben!«

Jehudi spürte, wie sich die Hoffnungen aller anderen Engel auf ihn richteten. Er hob sein Glas und stürzte den Gin Tonic hinunter.

»Nein«, antwortete er dann leise. »Es liegt daran, dass Gott sich in Seiner Allmacht selbst Regeln gegeben hat. Er hat sich selbst gebunden wie beim Versprechen gegenüber Noah. Keine Sintflut mehr. Und da war wenigstens noch ein Schlupfloch, denn die Rede war ja von Sintflut und nicht von Reaktorkatastrophen oder Meteoriten. Aber was die Schöpfung insgesamt angeht – leider nein. Die Regel ist: Es sind alle da oder keiner. Einschließlich des Herrn selber.«

Ein weiteres Glas Gin Tonic erschien, verschwand wieder und machte einer Flasche Gin sowie einer Karaffe mit Tonic Water Platz. Daneben materialisierte sich eine Schale mit Zitronenscheiben aus dem Libanon. Jehudi nahm Platz und goss sich ein.

»Das Einzige, was mich wundert«, sagte er, »ist die Tatsache, dass wir alle noch da sind.«

Ein langes Schweigen folgte, nur von dem leisen Knistern des metaphysischen Feuers untermalt, das sich, vom Flammenschwert ­ausgehend, mittlerweile auf dem gesamten Bodenbelag ausgebreitet hatte und nun an den verchromten Tischbeinen leckte.

»Tja«, sagte Uriel schließlich kühl, »dafür gibt es nur zwei mögliche Erklärungen.«

Alle, einschließlich Jehudi, blickten zu Uriel. Die hob die schöne linke Hand und sagte: »Erstens: Gott ist tot.«

Diesmal entstand kein Erzengelschweigen. Es gab einen kollektiven Aufschrei der Engel, gefolgt von einem ziemlichen Tumult, der hauptsächlich von Michael ausging, der aufgesprungen war, nach seinem Schwert gegriffen hatte und damit dröhnend auf den Tisch hieb. Jehudi fing die Flasche Gin, die durch den Schlag in die Luft geschleudert worden war, geschickt auf. Dann erhob er sich und breitete beschwichtigend die Arme aus. Allmählich kehrte Ruhe ein.

»Ja«, sagte er laut, »ja. Es ist wahr. Wir haben den Herrn seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen. Aber das muss ja noch nicht das Schlimmste bedeuten. Uriel! Was noch?«

Uriel, die einfach sitzen geblieben war, senkte gelassen die linke und hob die rechte Hand.

»Zweitens: Gott ruht, und die Seele befindet sich aus irgendeinem Grund an einem Ort des Universums, der uns verborgen ist. Und wir werden es nie erfahren, wenn der Herr schläft. Das ist ja immerhin schon einmal vorgekommen.«

»Einmal! Direkt nach der Schöpfung!«, gab Sealtiel irritiert zu bedenken.

»Wie kann Er …«

»Was für ein Blödsinn!«

Auch die Rufe der anderen drückten eine gewisse Überraschung aus. Jehudi bedeutete Uriel, sich zu erklären. Sie stand auf und wartete gelassen, bis alle anderen Erzengel sich wieder gesetzt hatten und Michael das Flammenschwert gegen die Wand gelehnt hatte, wo es allerdings sofort wieder umfiel. Da der Boden jetzt aber sowieso schon überall gleichmäßig brannte, war das egal. Es sah gar nicht so schlecht aus, fand Jehudi, wie sie alle so im Feuer saßen. Hatte irgendwie etwas Symbolisches.

»Es ist so«, begann Uriel mit ihrer wohltönenden, dunklen Stimme, »dass alles, was ist, erst ist, wenn es durch den Herrn wahrgenommen wird. Klingt ein bisschen kompliziert, ist aber ungefähr so: Wenn im Wald ein Baum umfällt und wir sind nicht dabei, macht er keinen Krach, weil wir ihn nicht hören können. Menschen würden das für Unsinn halten, da ihre Erfahrung sagt, dass jeder umfallende Baum Krach macht, weil die Luft bewegt wird und so weiter. Menschenlogik«, sagte sie mit einer winzigen Prise Arroganz in der Stimme, und Jehudi fragte sich, ob Gott vielleicht doch tot war, wenn Engel so wütend wie er selbst sein durften, aber er hörte trotzdem weiter zu.

»Kurz gesagt: Wenn Gott etwas nicht erfährt, dann geschieht es nicht.«

Es regte sich sofortiger und vehementer Widerspruch, aber Uriel hob nur die Hand.

»Ich weiß. Ich weiß! Da Gott allwissend und allumfassend ist, kann das nicht sein. Außer«, diesmal hob sie beide Hände in fast beschwörender Gebärde, »außer, wenn Gott tot ist oder ruht. Tot ist Er eher nicht, denn das hätten wir schon erfahren. Und dass Er manchmal ruht, wissen wir noch von damals, aus der Zeit der Schöpfung. So ein Sonntag kann dann ja auch mal ein paar Hundert Jahre dauern. Wann hat denn einer von euch den Herrn zuletzt gesehen?«

Es stellte sich nach kurzer Diskussion heraus, dass Erzengel Gibril um 610 herum als Letzter vom Herrn persönlich einen Auftrag erhalten hatte.

Sealtiel meldete sich sehr höflich, aber etwas beunruhigt zu Wort.

»Für mich wäre das jetzt aber schon von Interesse. Ich meine, ich bin das Gebet … also, ich preise Gott und so, und ich würde schon gerne wissen, ob der Herr ruht und ich dann vielleicht … also, ich meine … wenn Er schläft, muss ich ja vielleicht nicht immer hier sein und …«

Er beendete den Satz nicht, sondern sah verlegen auf seine Armbanduhr, als liefe die Zeit ab. Was für einen Engel im Allgemeinen ein etwas bizarres Verhalten ist. Engel denken in Ewigkeiten. Auch deshalb beachtete Uriel ihn kaum.

»Wir sind weder Cherubim noch Serafim«, fuhr sie fort, »die sehen Ihn ja täglich. Wir sind nur der dritte Chor. Was wissen wir schon? Und da wir alle noch existieren, spricht nichts dagegen, einfach weiterzumachen wie bisher. Was sollen wir auch anderes tun? Solange Gott schläft, geschieht gar nichts. Wenn Er erwacht, hören wir im selben Augenblick auf zu existieren. Aber es spricht nichts gegen die Annahme, dass Gott einfach weiterschläft. Tausende und Abertausende Jahre. Bis zum Jüngsten Gericht. Es wird also das Beste sein, keine schlafenden Hunde … Vergebung … kein Aufsehen zu erregen und alles so zu lassen wie immer.«

Uriel sah sich um. Sie sah strahlend schön aus, was auf Erden die meisten Leute schon einfach so überzeugt. Die anderen Engel waren aber auch schön, also wirkte es nicht ganz so stark, und sie brauchten etwas, bis sie ihre Argumentation verstanden hatten, aber dann begannen sie sich entspannt zurückzulehnen. Alle außer Jehudi.

»Das Universum geht seinen gottgewollten Gang«, schloss Uriel leise und legte die Hände aneinander, »also tun wir das auch.«

»Amen«, antworteten alle Engel und verschwanden. Alle außer Jehudi. Es war ja immer noch Freitag, und er hatte immer noch Dienst. Er stand allein inmitten des flammenden Teppichs und hatte das Gefühl, dass alles, was er eben gehört hatte, richtig und dabei doch irgendwie entsetzlich falsch war. Es musste doch etwas getan werden! Und wenn Gott ruhte, dann waren doch sie, die Engel, dafür da, dass die Dinge in Ordnung gebracht wurden. Er war sich auf einmal ziemlich sicher, dass er Uriel nicht mehr so mochte wie bisher, und weil er als Engel nicht fluchen konnte, trat er mit Wucht gegen den Tisch.

 

In der Petrikirche herrschte ruhiger Touristenbetrieb, als im Chor mit erschreckendem Fauchen ein brennender Altar erschien. Nicht nur die süddeutschen Besucher, sondern auch einige der lose buddhistischen Japaner, die eben noch ungeniert in der Kirche telefoniert hatten, fielen erschrocken auf die Knie.

 

Es ist nicht ganz leicht, einen Erzengel aus der Fassung zu bringen, aber John hatte es schon wieder geschafft. Jehudi starrte Stefans Seele an, die neben John stand und ihm beizubringen versuchte, wie man rappte.

 

»Ich bin tot, Alter, das ist echt voll stressig

mit meiner Karriere als Rapper ist es jetzt Essig,

und aus die Maus, und mein schöner Volkswagen,

den wollt’ ich eigentlich noch paar Jahre fahren,

liegt zerknüllt und verbeult auf der Straße,

und ich versteh jetzt, warum Leute das Totsein so hassen,

weil es hier nicht mal ’n Mikro gibt und die Akustik

so scheiße ist, hallo, wer findet das lustig?

Ich jedenfalls …«

 

Jehudi bedauerte in diesem Augenblick ganz und gar nicht, dass der große Gesamtplan Stefans irdische Existenz bereits im zarten Alter von vierundzwanzig für beendet vorgesehen hatte. Seinetwegen hätte man ihn auch schon zwei, drei Jahre früher abberufen können. Jehudi mochte die eine oder andere Spielart menschlicher Musik durchaus, und er war hochmusikalisch, aber das hier war einfach schon fast luziferisch schlecht.

»John«, sagte Jehudi unter Aufbietung all seines Willens möglichst ruhig, um nicht alle Kirchenglocken der Umgebung wild ins Läuten zu bringen, »John!«

Stefan brach ab, und John wandte sich ihm mit diesem unerträglichen Ich-weiß-nicht-was-ich-jetzt-schon-wieder-falsch-gemacht-habe-Gesicht zu. Manchmal wünschte Jehudi sich, auch mal aus vollem Herzen hassen zu können und nicht nur für sich ein vages Gefühl des Unbehagens so zu nennen.

»Warum ist Stefans Seele noch nicht in der Waschmaschine gewesen?«, fragte er mit kaum geöffneten Lippen.

»Waschmaschine« wurde der Ruheraum genannt, in dem alle Seelen nach dem Verlassen ihrer irdischen Körper in einem reinen, weißen, tönenden, warmen Licht gebadet wurden, das nach einer umfassenden Rückschau auf das vergangene Leben alle Spuren ihrer körperlichen Existenz abwusch, alle Erinnerungen und Erfahrungen, und lediglich den Wesenskern der Seele unberührt ließ, damit sie makellos wiedergeboren werden konnte. Vorausgesetzt, man entschied sich nicht dafür, noch eine Zeit lang man selbst und im Himmel zu bleiben.

John hob die Schultern und sagte so genervt, wie es die himmlische Atmosphäre zuließ: »Na, ich dachte, er ist vielleicht was Besonderes, weil du ihn persönlich gebracht hast. So was wie Elia oder so. Du weißt schon – was du neulich gesagt hast.«

Jehudi ließ seinen Blick zwischen John und Stefans Seele hin und her wandern. John begann zu schwitzen, und er sah nach unten. Er hatte zunehmend das Gefühl, dass dieser Freitag nicht so sein Tag war, und wünschte sich inbrünstig, damals nicht heiliggesprochen worden zu sein.

»Der?«, fragte Jehudi schließlich in einem für ihn schwer herzustellenden Ton des Unglaubens mit einem Blick auf Stefans Seele, die jetzt interessiert auf den Konferenzraum sah, wo mittlerweile die Flammen aus der Decke schlugen.

»Ist ja gut«, murrte John, nahm Stefans Seele bei der Astralhand und geleitete sie hastig zu einer Doppeltür, die für die gewöhnlichen Seelen sonst nicht benutzt wurde. Als er sie öffnete, strömte weißes Licht wie ruhiges, kühles Wasser in den Raum, und Jehudi atmete tief ein. Ja. So sollte es eigentlich sein.

 

»Das Licht ist voll cool, Alter,

ich kann’s echt nicht glauben,

was geht in dem Raum, ich will

die Ewigkeit schau …«

 

John schob Stefan schnell in die Waschmaschine, schloss die Tür und schlich, so leise er konnte, zu seinem Arbeitsplatz. Jehudi hatte sich zum Fenster gedreht und die Fäuste geballt. So viel Chaos, so viel Unordnung und Unsicherheit im Himmel hatte er nicht mehr erlebt, seit … und da kam ihm ein Gedanke, der vielleicht alles erklären konnte, und plötzlich hatte er das Gefühl, es sei hier im Himmel ein bisschen zu kalt.

 

Nürnberg

Helena lag im Bett, in diesem Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen, in den man manchmal am frühen Morgen gerät, wenn man nicht geweckt wird, sondern von selbst aufwacht, langsam hochschwebt aus den Tiefen der Nacht und die Oberfläche zum Tag noch nicht ganz durchbrochen hat. Es war noch dunkel und der Frühling weit weg. Der Schnee von gestern war liegen geblieben, und über der Stadt hing tief ein trister, winterlicher Himmel. Samstag. Sie hatte keine Schule, aber eigentlich wäre sie heute sogar lieber gegangen. Es graute ihr vor einem langen, bedrückten Tag. Sie hatte keine Lust zu Gesprächen über Papa, aber sie wollte auch nicht, dass Mama so tat, als wäre nichts passiert. Toll. Sie wollte weder das eine noch das andere, dachte sie müde. Der schöne, traurige Mann auf dem Grab fiel ihr wieder ein. Schön. Es gab gar kein anderes Wort für ihn. »Gut aussehend« hätte man nicht sagen können. Wie seine Hand geprickelt hatte! Helena verkroch sich noch tiefer im Bett und zog die Decke über den Kopf. Ihr Gesicht brannte plötzlich, weil sie sich so schämte. Es war ein großartiges Gefühl gewesen. Wahrscheinlich war richtiger Sex so. Perfekter Sex mit dem perfekten Jungen oder so.

Scheiße. Wie konnte sie so was denken? Papa war tot, und sie dachte an Sex und an einen fremden Mann. Ihr wurde ein bisschen schlecht, aber nicht schlecht genug, gemessen an dem, wie sie sich schämte.

Sie dachte an all die Dinge, die Papa mit ihr unternommen hatte. Der Tiergarten natürlich, als sie klein war. Jedes Jahr mindestens viermal. Manchmal war es ihr zu viel gewesen, aber irgendwann, als sie älter wurde, hatte sie gemerkt, dass er nicht nur wegen ihr hinging. Dass er es selbst liebte, durch den Tiergarten zu wandern, diesen weiten, großzügigen Park mit seinen verschlungenen Waldwegen, dem kleinen Tal und den Flamingoweihern. Er mochte die Tiere so. Immer war er viel länger stehen geblieben als alle anderen und hatte die Tiere angeschaut, die Geparden, die auf einer kleinen Lichtung meistens in der Sonne lagen, die Gamsböcke und die Wisente, die Przewalski-Pferde und sogar die Ziegen im Streichelzoo. Er hatte sie manchmal so angeschaut, wie er sie selbst auch ab und zu unvermittelt beim Frühstück oder in der U-Bahn angesehen und dann plötzlich geknuddelt hatte – schrecklich peinlich, aber voller Liebe.

Lautlos begann sie zu weinen. Tränen. Schon wieder. Das Kissen wurde ganz nass.

Ach, Papa, dachte sie, ich vermisse dich.

 

Einige Zeit später lag sie völlig still da. Das Weinen hatte aufgehört, und in ihr fühlte sich alles grau und flach und leer an; sie war erschöpft, und fast ohne es zu merken, glitt sie noch einmal in den Schlaf.

Sie befand sich hoch oben in der obersten Spitze eines achteckigen Glockenturmes; noch über dem Glockenstuhl auf einer kleinen hölzernen Plattform. Von den acht nach oben spitz zulaufenden Kupferdreiecken, die eigentlich die Spitze des Turmdachs bildeten, war jedes zweite herausgenommen, sodass sie weit über eine Stadt sehen konnte. Sie hatte fürchterliche Höhenangst, weil es so wehte und der Turm schwankte und sie so sehr weit oben stand, aber da war der schöne Mann vom Friedhof neben ihr und hielt sie an der Schulter fest.

»Kannst du mir etwas zum Hergang der Ereignisse sagen?«, fragte er sie, und Helena wunderte sich, dass er sich so altmodisch ausdrückte, wusste aber gleichzeitig, dass er Papas Unfall meinte. Es war schön, dass er sie hielt, und sie wollte auf keinen Fall etwas Falsches sagen, damit er sie nicht losließe. Aber dann war er fort und sie plötzlich im Treppenhaus des Turms auf ihrem Skateboard; schlitterte rasend die Stufen hinunter, die kein Ende nahmen, immer in der Angst, in den leeren Raum in der Mitte zu stürzen, schrammte immer wieder an der Wand entlang und konnte das Skateboard nirgends bremsen, ratterte weiter die Stufen hinab, immer schneller hinab, bis da plötzlich ein Stock auf den Stufen lag, sie versuchte noch einen Sprung, der zu weit führte, und mit dem Skateboard an den Füßen stürzte sie, stürzte und stürzte immer tiefer …

 

… und wachte mit einem entsetzten Ruck auf. Es kam ihr vor, als müsste sie völlig atemlos sein, aber eigentlich war ihr Atem ruhig und lang vom Schlaf. Erst jetzt wurde er schneller. Sie war völlig durchei­nander. Das Gefühl des Fallens war noch nicht ganz aus ihrem Körper gewichen, und sie hielt sich mit beiden Händen an der Bettkante fest, bevor sie aufstand und ins dunkle Bad hinüberging, wo sie mit immer noch weichen Knien aufs Klo sank und es sie wütend machte, dass ihr Leben einfach so weiterging, dass sie pinkeln und sich waschen musste und reden und so tun, als wäre alles so wie immer. Sie weinte nur deshalb nicht wieder, weil sie irgendwie noch ein bisschen das Gefühl aus dem Traum hatte, als sie auf dem Turm festgehalten wurde. Das war wie ein kleiner Trost gewesen.

Sie stand vom Klo auf, spülte, warf ihre Wäsche in den Wäschekorb, stieg unter die Dusche und drehte das kalte Wasser voll auf.

 

Antarktika

Das Erste, was Jehudi sah, als er auf Antarktika erschien, war ein fliegender Pinguin. Wild flatternd flog er in einem hohen, eleganten Bogen durch den kristallklaren blauen Himmel und landete irgendwo hinter einer kleinen Gebirgsformation aus antarktischem Eis, das durch die tief stehende Sonne eine blutrote Färbung hatte.

Aha.

Fliegende Pinguine.

Jehudi fragte sich, ob das Ende des Universums vielleicht doch nicht einfach plötzlich geschah. Vielleicht zersetzte es sich schlicht in allmählich zunehmenden Paradoxien und immer größerem logischen Chaos.

Ein weiterer Pinguin löste sich vom Horizont, stieg im Näherkommen immer höher, passierte Jehudis Kopf und senkte sich ebenfalls hinter dem kleinen eisigen Tafelberg außer Sichtweite.

Wie schön.

Diesmal war der Pinguin rückwärts geflogen.

Jehudi hörte ein entferntes Lachen. Das war auch nicht so gut. Selbst Engel sollten in der leersten Weltgegend keine Stimmen hören. Er seufzte besorgt und wanderte in Richtung der startenden Pinguine. Vielleicht müsste er zuerst einmal das klären. Es war eigentlich ein sehr schöner Tag für Antarktika. Um die fünfzig Grad kalt und nicht allzu stürmisch. Jehudi war lange nicht mehr hier gewesen. Er hatte das Engelsgewand wieder gegen den distinguierten grauen Anzug getauscht, in dem er sich in diesem Jahrhundert einfach wohler fühlte. Die Kälte machte ihm nichts aus. Ehrlich gesagt, war sich Jehudi der Tatsache gar nicht bewusst, dass es kalt war und stürmte, denn wie auch auf dem Rest der Welt hatte das Wetter freilich viel zu viel Res­pekt vor einem Erzengel, um ihn mit Dingen wie Temperatur oder Windstärkewerten auf der Beaufortskala zu belästigen.

Da.

Wieder einer.

Diesmal drehte er sich die ganze Zeit flatternd um sich selbst. Jehudi hatte noch nie fliegende Pinguine gesehen und wusste daher nicht, wie sie fliegen würden, wenn sie fliegen könnten, aber dass sie so nicht fliegen sollten, war ihm klar.

Er überschritt eine kleine Schollenverwerfung, die ihm die Sicht genommen hatte, und dann sah er, wo die Pinguine herkamen.