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Joseph Conrad

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Beschreibung

In nur wenigen Wochen niedergeschrieben, ist Herz der Finsternis Joseph Conrads literarische Bewältigung seiner eigenen Reise auf dem Kongo, von der ihm eine zeitlebens zerrüttete Gesundheit und alptraumhafte Erinnerungen geblieben waren. Im Auftrag einer belgischen Handelsgesellschaft reist der Flussdampferkapitän Charlie Marlow nach Afrika. Er ist auf der Suche nach dem Agenten Kurtz, der eine wichtige Handelsniederlassung im Elfenbeingebiet leitet. Doch je tiefer Marlow in das fremde Terrain vordringt, desto mehr beginnt er, an der Welt um sich herum und sich selbst zu zweifeln. Eine Auseinandersetzung mit den Grundfragen des menschlichen Daseins und ein modernes Gegenbild des Dante'schen Abstiegs ins Inferno. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 235

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Joseph Conrad

Herz der Finsternis

Übersetzt und herausgegeben von Daniel Göske

Reclam

Englischer Originaltitel: Heart of Darkness

 

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

Coverabbildung: Channarong Pherngjanda / Shutterstock.com

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961923-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020653-9

www.reclam.de

Inhalt

Herz der Finsternis

I

II

III

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Nachwort

Zeittafel

Herz der Finsternis

I

Die »Nellie«, eine seetüchtige Jacht, schwoite ohne das leiseste Flattern der Segel um ihren Anker und lag still. Die Flut stieg, der Wind war fast ganz abgeflaut, und da es flussabwärts gehen sollte, blieb ihr nichts übrig, als beizudrehen und auf die Ebbe zu warten.

Die Mündung der Themse dehnte sich vor uns wie der Anfang einer unendlichen Wasserstraße. In der Räumte waren See und Himmel fugenlos zusammengeschweißt, und in der leuchtenden Weite schienen die sonnengegerbten Segel der mit der Flut flussaufwärts treibenden Kähne stillzustehen – rote Büschel aus Leinwand, scharf zugespitzt im Glanz der lackierten Bugspriete. Ein Nebelschleier ruhte über dem platten Land, dessen weite Flächen sich in der See verloren. Über Gravesend lag ein finsterer Dunst, der sich noch weiter entfernt zu einer trüben Düsternis zu verdichten schien, die reglos über der größten und großartigsten Stadt dieser Erde brütete.

Der Generaldirektor war unser Kapitän und Gastgeber. Wir vier sahen ihm wohlwollend zu, wie er, uns den Rücken zukehrend, am Bug stand und auf die See hinausblickte. Auf dem ganzen Strom gab es nichts, das nur halb so seemännisch ausgesehen hätte. Er erinnerte an einen Lotsen, für einen Seemann die Verlässlichkeit in Person. Es war schwierig, sich klarzumachen, dass seine Arbeit nicht dort draußen in der leuchtenden Meeresbucht auf ihn wartete, sondern hinter ihm, inmitten der brütenden Düsternis.

Uns vereinte, wie ich irgendwo schon gesagt habe, das Band der See. Nicht nur hielt dieses Band unsere Herzen während langer Trennungszeiten zusammen; es machte uns auch nachsichtig für die Geschichten eines jeden – und sogar für seine Überzeugungen. Der Anwalt – ein famoser alter Knabe – hatte wegen seiner hohen Jahre und hohen Verdienste das einzige Polster an Deck und lag auf der einzigen Matte. Der Buchhalter hatte bereits eine Schachtel mit Dominosteinen hervorgeholt und spielte mit ihnen herum. Marlow saß, an den Besanmast gelehnt, mit überkreuzten Beinen achtern. Mit seinen hohlen Wangen, seiner gelblichen Gesichtsfarbe und seinem aufrechten Rücken bot er einen asketischen Anblick und erinnerte mit seinen herabhängenden Armen, die Handflächen auswärts gekehrt, an eine Götterstatue. Nachdem der Direktor sich überzeugt hatte, dass der Anker ordentlich fest saß, kam er nach achtern und setzte sich zu uns. Träge wechselten wir ein paar Worte. Dann herrschte Schweigen an Bord der Jacht. Aus irgendeinem Grund begannen wir nicht mit der Dominopartie. Wir waren in Gedanken versunken und zu nichts aufgelegt, als ruhig vor uns hin zu schauen. Der Tag neigte sich in vollkommener Klarheit und leuchtender Stille. Das Wasser glitzerte friedlich, der Himmel war wolkenlos, eine gütige Unermesslichkeit makellosen Lichts; sogar der Dunst über den Marschen von Essex glich einem zarten und schimmernden Gewebe, das von den fernen waldigen Hügeln herabhing und das flache Land in durchsichtige Schleier hüllte. Nur die im Westen über dem oberen Flusslauf brütende Düsternis verdunkelte sich mit jeder Minute, wie zornig über das Nahen der Sonne.

Und in ihrer weiten und unmerklich langsamen Bahn sank die Sonne schließlich tief herab, und ihr glühendes Weiß verwandelte sich in ein trübes Rot, das weder Licht noch Hitze ausstrahlte, als würde sie gleich jäh verlöschen, zu Tode getroffen von der Berührung mit jener Düsternis, die über einer riesigen Menschenmasse brütete.

Alsbald kam eine Veränderung über das Wasser, und die heitere Klarheit verlor an Leuchtkraft, gewann aber an Tiefe. Nach Jahrhunderten treuer Dienste für das Volk, das an seinen Ufern siedelte, lag der alte, weite Fluss am Ende dieses Tages still und glatt da, ausgebreitet mit der gelassenen Würde einer bis an die äußersten Enden der Erde reichenden Wasserstraße. Wir betrachteten den ehrwürdigen Strom nicht im kräftigen Licht eines kurzen Tages, der da kommt und für immer verschwindet, sondern im erhabenen Schein bleibender Erinnerungen. Und wirklich ist nichts leichter für den, der mit Ehrfurcht und Hingabe zur See gefahren ist, als auf dem Unterlauf der Themse den Geist einer großen Vergangenheit zu beschwören. Der Gezeitenstrom fließt in immerwährender Dienstbarkeit hin und her, und er ist voll von Erinnerungen an Männer und Schiffe, die er dem Frieden in der Heimat oder den Schlachten auf See entgegentrug. Er hatte all jene Männer gekannt und ihnen gedient, die der Stolz der Nation sind, von Sir Francis Drake bis Sir John Franklin, Ritter allesamt, mit oder ohne Titel – die großen fahrenden Ritter der See. Er hatte all jene Schiffe getragen, deren Namen in der Nacht der Zeiten wie Juwelen blitzen, von der »Golden Hind«, die, heimgekehrt mit ihren gerundeten Flanken voller Schätze, den Besuch Ihrer Königlichen Hoheit empfing und so ihre heldenhafte Geschichte krönte, bis zu der »Erebus« und dem »Terror«, die auf andere Eroberungen aus waren – und nie heimkehrten. Der Strom hatte sie alle gekannt, die Männer und ihre Schiffe. Von Deptford, von Greenwich, von Erith aus waren sie in See gestochen – Abenteurer und Kolonisten; Schiffe im Dienste des Königs und Schiffe im Auftrag der Finanzwelt; Kapitäne, Admirale, die lichtscheuen »Schleichhändler« des Osthandels und die mit Vollmachten ausgestatteten »Regulären« der Ostindienflotten. Auf der Jagd nach Gold, auf der Suche nach Ruhm fuhren sie aus auf diesem Strom; sie trugen das Schwert und oftmals die Fackel, Boten der Macht ihres Landes, Träger eines Funkens vom heiligen Feuer. Was war nicht alles an wahrhaft Großem mit der Ebbe auf diesem Fluss hinausgesegelt in das Geheimnis einer unbekannten Erde! … Die Träume von Menschen, die Samen von Staaten, die Keime von Weltreichen.

Die Sonne ging unter; Dämmerung senkte sich auf den Strom, und entlang des Ufers glommen Lichter auf. Der Leuchtturm von Chapman, ein dreibeiniges, hochaufgereckt in der Schlickfläche stehendes Etwas, warf einen hellen Schein. Ein großes Gewirr von Positionslampen irrlichterte in der Fahrrinne auf und ab. Und weiter westlich, über dem Oberlauf des Flusses, zeichnete sich die Lage der ungeheuren Stadt noch immer drohend gegen den Himmel ab, eine brütende Düsternis im Sonnenlicht, ein dunkles Glosen unter den Sternen.

»Und auch dies«, sagte Marlow plötzlich, »ist einer der finsteren Orte auf Erden gewesen.«

Er war der Einzige unter uns, der noch immer zur See fuhr. Das Schlimmste, was man von ihm sagen konnte, war, dass er seinen Stand nicht wirklich verkörperte. Er war Seemann, aber er war auch ein Wanderer, während doch die meisten Seeleute sozusagen ein sesshaftes Leben führen. Sie haben ein bodenständiges Gemüt, und ihr Zuhause – das Schiff – ist immer um sie, ebenso wie ihr Heimatland – die See. Ein Schiff ist dem anderen sehr ähnlich, und die See bleibt sich immer gleich. In der Unwandelbarkeit ihrer Umgebung gleiten die fremden Küsten, die fremden Gesichter, die sich wandelnde Unermesslichkeit des Lebens vorüber, verschleiert nicht von der Ahnung des Rätselhaften, sondern von einer leicht verächtlichen Einfältigkeit. Denn es gibt nichts Rätselhaftes für einen Seemann außer der See selbst, die Herrin ist über sein Dasein und so unergründlich wie das Schicksal. Für das Übrige genügt nach getaner Arbeit ein gelegentlicher Bummel oder eine gelegentliche Zecherei an Land, um ihm das Geheimnis eines ganzen Kontinents aufzuschließen, und in der Regel ist ihm dieses Geheimnis der Mühe nicht wert. Das Seemannsgarn dieser Leute besitzt eine unverstellte Schlichtheit, deren ganzer Sinn innerhalb der Schale einer geknackten Nuss liegt. Marlow aber war kein gewöhnlicher Fall (seine Neigung, Seemannsgarn zu spinnen, ausgenommen). Für ihn lag der Sinn eines Ereignisses nicht im Inneren wie ein Kern, sondern außerhalb; er umgab die Geschichte, die ihn nur hervorrief, wie etwas Glühendes einen Dunstkreis erzeugt, umhüllte sie wie die dunstige Aureole, die manchmal sichtbar wird durch das geisterhafte Strahlen des Mondlichts.

Marlows Bemerkung kam beileibe nicht überraschend. Sie sah ihm sehr ähnlich. Schweigend nahmen wir sie auf. Niemand machte sich die Mühe, auch nur zu brummen, und bald sagte er sehr langsam:

»Ich dachte gerade an sehr alte Zeiten, als die Römer zum ersten Mal herüberkamen, vor eintausendneunhundert Jahren – neulich … Seither ist Licht von diesem Fluss ausgegangen – Ritter sagt ihr? Ja, aber es ist wie ein rasender Steppenbrand, wie ein Blitz in den Wolken. Wir leben im Augenblick des Aufflackerns – möge er so lang dauern, wie sich die alte Erde dreht! Aber gestern herrschte hier Finsternis. Stellt euch die Gefühle eines Kommandanten einer prächtigen – wie heißen die Dinger noch? – einer Triere im Mittelmeer vor, der plötzlich nach Norden beordert, in aller Eile über Land durch die Provinzen Galliens gebracht wird und dann den Befehl über eins der Schiffe erhält, die die Legionäre – fabelhaft geschickte Leute müssen das gewesen sein – bauten, und offenbar gleich hundertweise, in ein oder zwei Monaten, wenn wir glauben dürfen, was wir lesen. Stellt ihn euch vor, hier – am äußersten Ende der Erde; eine See von bleierner Farbe, die Farbe des Himmels wie Rauch, ein Schiff ungefähr so stabil wie eine Ziehharmonika – und er segelt flussaufwärts, mit Proviant oder Befehlen, oder was immer. Sandbänke, Sümpfe, Wälder, Wilde, herzlich wenig Genießbares zu essen für einen zivilisierten Mann und nichts als Themsewasser zu trinken. Kein Falerner, kein Landgang. Hier und dort ein Militärlager, verloren inmitten der Wildnis wie eine Nadel im Heuhaufen – Kälte, Nebel, Stürme, Seuchen, Verbannung und Tod – der in der Luft, im Wasser, im Dickicht lauert. Wie die Fliegen müssen sie hier gestorben sein. O ja, er machte seine Arbeit. Und machte sie sehr gut, kein Zweifel, und ohne viel darüber nachzudenken, höchstens vielleicht später davon zu prahlen, was er alles durchgemacht hatte seinerzeit. Diese Leute waren Manns genug, der Finsternis die Stirn zu bieten. Und vielleicht munterte es ihn auf, auf eine Gelegenheit zu passen, bald zum Flottenstützpunkt nach Ravenna befördert zu werden – vorausgesetzt, dass er in Rom gute Freunde hatte und das scheußliche Klima hier überlebte. Oder denkt euch einen ehrbaren jungen Bürgersohn in einer Toga, der – allzu viel Würfelspiel vielleicht, ihr wisst schon – der also hierherkam im Gefolge eines Präfekten oder eines Steuereintreibers oder gar eines Händlers, um sein Glück zu machen. Er landet an im Morast, marschiert durch die Wälder, und an irgendeinem Posten tief im Innern empfindet er die Wildheit ringsherum. Die tiefste Wildnis hat ihn umzingelt – all das geheimnisvolle Leben der Wildnis, die sich im Wald, in den Dschungeln, in den Herzen wilder Männer regt. In diese Geheimnisse wird man nie eingeweiht. Er muss inmitten des Unbegreiflichen leben, das abscheulich zugleich ist. Und doch übt es eine seltsame Faszination auf ihn aus, die ihn nicht unberührt lässt. Die Faszination des Greulichen, ihr wisst schon. Stellt’s euch vor: den wachsenden Gram, das Verlangen zu fliehen, den ohnmächtigen Ekel, die Ergebung – den Hass.«

Er hielt inne.

»Wohlgemerkt«, fuhr er fort, indem er einen Unterarm, die Handfläche auswärts gekehrt, anhob, so dass er mit den vor ihm gekreuzten Beinen die Haltung eines Buddha einnahm, der, ohne Lotusblüte und in europäischer Kleidung, eine Predigt hält – »wohlgemerkt, keiner von uns hätte es ganz genau so empfunden. Was uns rettet, ist Tüchtigkeit – hingebungsvolle Tüchtigkeit. Aber diese Burschen hatten in der Beziehung wahrlich nicht viel los. Das waren keine Kolonisten, ihre Verwaltungstätigkeit bestand wohl nur aus Erpressung und sonst nichts. Sie waren Eroberer, und da braucht’s nur rohe Gewalt. Nichts Rühmenswertes, wenn man über sie verfügt, denn Stärke ist bloß zufällig und ergibt sich aus der Schwäche der anderen. Sie rissen an sich, was sie nur immer kriegen konnten. Es war bloß schwerer Raub mit Körperverletzung, Mord in großem Stil, blindlings begangen, wie es sich gehört für die, die einer Finsternis entgegentreten. Die Erde zu erobern – was meist bedeutet, sie denen wegzunehmen, die eine andere Hautfarbe oder etwas flachere Nasen haben als wir – die Erde zu erobern ist keine schöne Sache, wenn man sich’s zu sehr aus der Nähe betrachtet. Was einen damit versöhnt, ist nur die Idee dabei. Eine Idee, die dahintersteckt – nicht ein gefühlsduseliges Geheuchel, sondern eine Idee; und der selbstlose Glaube an diese Idee – etwas, das man aufstellen, vor dem man sich verbeugen und dem man ein Opfer bringen kann …«

Er brach ab. Flammen glitten auf dem Fluss umher, kleine grüne Flämmchen, rote Flämmchen, weiße Flämmchen; verfolgten sich, überholten, vereinigten und kreuzten sich – trennten sich dann gemächlich oder hastig voneinander. Das Treiben der großen Stadt ging in der hereinbrechenden Nacht auf dem schlaflosen Fluss weiter. Wir sahen zu, warteten geduldig – es gab sonst nichts zu tun, bis die Flut vorbei war. Aber erst als Marlow nach langem Schweigen zögernd sagte, »Ihr erinnert euch wohl, dass ich einmal eine Zeitlang Binnenschiffer war«, erst da wussten wir, dass wir dazu verurteilt waren, vor dem Einsetzen der Ebbe etwas über eines seiner seltsam unbestimmten und ergebnislosen Erlebnisse zu hören.

»Ich will euch nicht besonders damit langweilen, was mir selbst zugestoßen ist«, begann er und bewies mit dieser Bemerkung die Schwäche vieler Geschichtenerzähler, die sich so häufig nicht im Klaren zu sein scheinen, was ihre Hörer am liebsten erfahren würden. »Aber um zu verstehen, was es für mich bedeutete, solltet ihr doch wissen, wie ich nach dort draußen gelangte, was ich sah, wie ich flussaufwärts kam bis zu dem Ort, wo ich dem armen Kerl zuerst begegnete. Es war der äußerste Punkt auf dem schiffbaren Teil des Flusses und der Höhepunkt meiner Erlebnisse. Irgendwie schien es ein gewisses Licht auf alles um mich herum zu werfen – und in mein Inneres. Eine ziemlich düstere Geschichte – und erbärmlich – nicht irgendwie außergewöhnlich – auch nicht sehr klar. Nein. Nicht sehr klar. Und doch schien es ein gewisses Licht auf alles zu werfen.

Ich war damals, wie ihr euch erinnern werdet, gerade nach London zurückgekehrt, nach ungefähr sechs Jahren Indischem Ozean, Pazifik, Chinesischem Meer – eine tüchtige Dosis Ferner Osten; ich lungerte so herum, hinderte euch Burschen an eurer Arbeit und drang bei euch zu Hause ein, just als hätte der Himmel mich beauftragt, euch zu zivilisieren. Das war ganz schön und gut für eine Zeit, aber nach einer Weile wurde ich doch des Ausruhens müde. Ich begann mich nach einem Schiff umzusehen – die wohl schwerste Arbeit auf Erden. Die Schiffe aber würdigten mich nicht mal eines Blicks. Und ich wurde auch dieses Spiels müde.

Also, als ich noch ein Knirps war, hatte ich eine Schwäche für Landkarten. Stundenlang betrachtete ich Südamerika oder Afrika oder Australien und verlor mich in Träumen von ruhmreichen Entdeckungsreisen. Damals gab’s noch viele weiße Flecken auf dem Globus, und wenn ich einen fand, der besonders einladend aussah (aber eigentlich sehen sie alle so aus), legte ich meinen Finger drauf und sagte: Wenn ich groß bin, gehe ich dorthin. Der Nordpol war eine dieser Gegenden, wie ich mich erinnere. Na, ich bin noch nicht dort gewesen und hab es jetzt auch nicht vor. Der Lack ist ab. Andere Gegenden lagen am Äquator und auf allen Breitengraden der beiden Hemisphären. Einige von ihnen hab ich gesehen und … Na, reden wir nicht davon. Aber einen gab’s noch – den größten – den sozusagen weißesten Fleck –, nach dem ich mich sehnte.

Natürlich war es zu dieser Zeit kein weißer Fleck mehr. Seit meiner Jugend war er mit Flüssen und Seen und Namen gefüllt worden. Er hatte aufgehört, eine große Leere voller großartiger Geheimnisse zu sein – ein weißer Fleck, von dem es sich für einen Jungen herrlich träumen lässt. Er war ein Ort der Finsternis geworden. Aber es gab da besonders einen Fluss, einen mächtig großen Fluss, den man auf der Karte sehen konnte und der an eine ungeheure, lange Schlange erinnerte, mit ihrem Kopf in der See, ihren Leib in ruhigen Windungen weit über ein riesiges Land gestreckt und ihrem Schwanz, der sich tief im Inneren verlor. Und als ich die Landkarte in einem Ladenfenster betrachtete, verzauberte er mich, schlug mich in seinen Bann wie eine Schlange einen Vogel – ein dummes, kleines Vögelchen. Da fiel mir ein, dass es ein großes Unternehmen gab, eine Gesellschaft, die auf diesem Fluss Handel trieb. Zum Kuckuck, dachte ich bei mir, sie können keinen Handel treiben auf dieser Menge Wasser ohne irgendwelche Schiffe – Dampfschiffe! Warum sollte ich nicht versuchen, das Kommando über eins von ihnen zu bekommen. Ich ging weiter die Fleet Street entlang, konnte aber diese Idee nicht loswerden. Die Schlange hatte mich verzaubert.

Wohlgemerkt, es war ein Unternehmen auf dem Kontinent, diese Handelsgesellschaft; aber ich habe viele Verwandte, die auf dem Kontinent leben, weil’s da billig ist und gar nicht so scheußlich, wie’s scheint – sagen sie.

Ich muss leider zugeben, dass ich ihnen ziemlich auf den Pelz rückte. Schon das war etwas Neues für mich. Ich war nicht daran gewöhnt, das, was ich wollte, auf diese Weise zu beschaffen. Ich war immer meinen eigenen Weg gegangen, hatte auf meinen eigenen Beinen gestanden, war gegangen, wohin ich wollte. Ich hätte das von mir nicht geglaubt, aber ich dachte: Irgendwie muss ich dorthin kommen, so oder so. Also rückte ich ihnen auf den Pelz. Die Männer sagten: ›Mein lieber Junge‹, und taten nichts. Dann – ob ihr’s glaubt oder nicht – versuchte ich’s mit den Frauen. Ich, Charlie Marlow, brachte die Frauen auf Trab, um eine Stellung zu bekommen! Allmächtiger Himmel! Na ja, ihr seht schon, diese – diese Idee trieb mich dazu. Nun hatte ich eine Tante, eine gute, begeisterungsfähige Seele. Sie schrieb: ›Das wird herrlich. Ich bin bereit, alles, alles für Dich zu tun. Eine großartige Idee. Ich kenne die Frau einer sehr wichtigen Persönlichkeit in der Verwaltung und außerdem einen Mann, der sehr einflussreich ist bei …‹ und so weiter und so weiter. Sie war entschlossen, einen ungeheuren Rummel zu veranstalten, um mir das Kommando über einen Flussdampfer zu verschaffen, wenn ich mir das in den Kopf gesetzt hatte.

Ich bekam das Kommando – natürlich; und ich bekam es sehr schnell. Die Gesellschaft hatte offenbar die Nachricht erhalten, dass einer ihrer Kapitäne in einer Rauferei mit den Eingeborenen getötet worden war. Diese Nachricht war meine Chance, und sie machte mich umso begieriger, dorthin aufzubrechen. Erst viele Monate später, als ich das, was von ihm übrig war, zu bergen versuchte, hörte ich, dass der ursprüngliche Streit aus einem Missverständnis über ein paar Hennen erwachsen war. Ja, zwei schwarze Hennen. Fresleven – das war der Name des Mannes, ein Däne – Fresleven fühlte sich in dem Handel irgendwie übervorteilt; also ging er an Land und fing an, mit einem Stock auf den Häuptling des Dorfs einzudreschen. Oh, es überraschte mich nicht im Geringsten, das zu hören und zugleich erzählt zu bekommen, Fresleven sei das sanfteste, ruhigste Geschöpf gewesen, das je auf zwei Beinen wandelte. Zweifellos stimmte das, aber er war schon einige Jahre dort draußen im Dienst der guten Sache tätig gewesen und fühlte sich wohl schließlich genötigt, sich auf irgendeine Weise seine Selbstachtung zu beweisen. Also prügelte er gnadenlos auf den alten Nigger ein, während eine große Menge aus dessen Stamm wie vom Donner gerührt zusah, bis einer – der Sohn des Häuptlings, wie man mir erzählte – aus Verzweiflung über das Gekreische des alten Knaben mit dem Speer zaghaft nach dem weißen Mann stieß – und natürlich drang der Speer ziemlich leicht zwischen den Schulterblättern ein. Alle Einwohner flüchteten darauf aus Angst vor allem möglichen Unheil in den Wald, während sich seinerseits auch der Dampfer, den Fresleven befehligt hatte, wohl unter dem Kommando des Maschinisten, in einem üblen Anfall von Panik davonmachte. Danach schien sich niemand groß Gedanken über Freslevens Überreste zu machen, bis ich dorthin kam und in seine Fußstapfen trat. Ich konnte das nicht auf sich beruhen lassen, aber als sich endlich eine Gelegenheit bot, meinen Vorgänger kennenzulernen, war das Gras, das zwischen seinen Rippen wuchs, hoch genug, seine Knochen zu verbergen. Sie waren alle noch da. Man hatte das übernatürliche Wesen nicht angerührt, nachdem es gefallen war. Und das Dorf war verlassen, die Hütten standen offen, schwarz, faulig und schief inmitten der verfallenen Gehege. Ein Unheil hatte es heimgesucht, das war klar. Die Leute waren verschwunden. Irres Entsetzen hatte sie über den Busch verstreut, Männer, Frauen und Kinder, und sie waren niemals zurückgekehrt. Was aus den Hennen wurde, weiß ich auch nicht. Sie werden schon irgendwie der Sache des Fortschritts gedient haben, denk ich. Wie auch immer, dank dieser glorreichen Angelegenheit bekam ich mein Kommando, noch bevor ich mir richtig Hoffnung darauf gemacht hatte.

Ich tummelte mich wie verrückt, um alles rechtzeitig zu erledigen, und keine achtundvierzig Stunden später überquerte ich den Kanal, um mich meinen Arbeitgebern zu präsentieren und den Vertrag zu unterschreiben. Nach wenigen Stunden kam ich in einer Stadt an, die mich immer an ein übertünchtes Grab denken lässt. Zweifellos ein Vorurteil. Ich fand das Bureau der Gesellschaft ohne jede Schwierigkeit. Sie war die größte der ganzen Stadt, und jeder, den ich traf, sprach von ihr. Sie wären dabei, in Übersee ein Weltreich aufzubauen und im Handel Geld wie Heu zu scheffeln.

Eine schmale und leere Gasse in tiefem Schatten, hohe Häuser, zahllose Fenster mit Rollläden, Totenstille, zwischen den Steinen hindurchsprießendes Gras, stattliche Torbögen rechts und links, ungeheure, wuchtige Flügeltore, die einen Spalt weit offen standen. Ich schlüpfte durch eine dieser Ritzen, stieg eine reinliche und schmucklose Treppe hinauf – öd wie eine Wüste – und öffnete die erste Tür, an die ich gelangte. Zwei Frauen, fett die eine und mager die andere, saßen auf strohgepolsterten Stühlen und strickten schwarze Wolle. Die magere erhob sich und ging geradewegs auf mich zu – immer noch strickend, mit gesenkten Augen, und erst als ich ihr wie einem Schlafwandler ausweichen wollte, blieb sie stehen und sah auf. Ihr Kleid war so schlicht wie Regenschirmstoff, und sie wandte sich wortlos um und ging mir in ein Vorzimmer voraus. Ich nannte meinen Namen und sah mich um. Ein Kiefernholztisch in der Mitte, schlichte Stühle rundherum an der Wand, an einem Ende des Raums eine große, in allen Farben des Regenbogens leuchtende Karte. Ungeheuer viel Rot – immer schön anzusehen, weil man weiß, dass dort wirkliche Arbeit geleistet wird – verteufelt viel Blau, ein bisschen Grün, ein paar Schmierer Orange und, an der Ostküste, ein purpurroter Fleck, der anzeigte, wo die famosen Vorkämpfer des Fortschritts ihr famoses Bierchen trinken. In all diese Gegenden allerdings würde ich nicht gehen. Ich würde ins Gelbe gehen. Geradewegs in die Mitte. Und da war er, der Fluss – faszinierend – tödlich – wie eine Schlange. Uahh. Eine Tür ging auf, ein weißhaariger Sekretärskopf (mit durchaus anteilnehmender Miene) erschien, und ein knochiger Zeigefinger winkte mich ins Allerheiligste. Es lag im Halbdunkel, und ein wuchtiger Schreibtisch kauerte in der Mitte. Hinter diesem Gebilde erhob sich ein bleiches und plumpes Etwas in einem Gehrock. Der hohe Herr höchstselbst. Er war fünfeinhalb Fuß groß, denk ich, und er verfügte über ebenso viele Millionen. Er schüttelte, wie ich mir einbilde, meine Hand, murmelte etwas Unbestimmtes, war zufrieden mit meinem Französisch. Bon voyage.

In ungefähr fünfundvierzig Sekunden fand ich mich im Vorzimmer wieder, zusammen mit dem anteilnehmenden Sekretär, der mir voller Trostlosigkeit und Mitgefühl ein Dokument zur Unterschrift vorlegte. Ich glaube, ich verpflichtete mich unter anderem, keine Geschäftsgeheimnisse zu verraten. Nun, ich hab’s nicht vor.

Ich begann mich etwas unwohl zu fühlen. Ihr wisst ja, ich bin an solche Zeremonien nicht gewöhnt, und irgendetwas Unheilvolles hing in der Luft. Es war, als wäre ich – ich weiß nicht – in eine Art Verschwörung hineingeraten, in etwas, das nicht in Ordnung war, und ich war froh, da wieder herauszukommen. Im Vorraum strickten die beiden Frauen fieberhaft an ihrer schwarzen Wolle. Es kamen Leute, und die Jüngere ging hin und her, um sie hineinzuführen. Die Alte saß auf ihrem Stuhl. Ihre flachen Stoffpantöffelchen stützten sich auf einen Fußwärmer, eine Katze schlummerte auf ihrem Schoß. Sie trug ein gestärktes weißes Ding auf dem Kopf, eine silbergeränderte Brille auf der Nasenspitze und hatte eine Warze auf einer Wange. Sie warf mir über den Brillenrand einen Blick zu. Die flinke und gleichgültige Gelassenheit dieses Blicks verwirrte mich. Zwei junge Männer mit dümmlichen, fidelen Zügen wurden herübergelotst, und sie warf ihnen denselben raschen Blick gleichmütiger Weisheit zu. Sie schien alles über sie zu wissen und über mich auch. Mich beschlich ein ungutes Gefühl. Etwas Unheimliches und Verhängnisvolles schien von ihr auszugehen. Weit weg, dort draußen, habe ich oft an diese beiden denken müssen, wie sie das Tor zur Finsternis bewachten und schwarze Wolle strickten wie für ein wärmendes Leichentuch; die eine führte die Besucher hinein, führte sie unablässig hinein ins Unbekannte, die andere musterte die fidelen und dümmlichen Gesichter mit gleichmütigen alten Augen. ›Ave! Alte Strickerin mit der schwarzen Wolle. Morituri te salutant.‹ Nicht viele von denen, die sie so betrachtete, haben sie je wiedergesehen – nicht die Hälfte, bei weitem nicht.

Blieb noch der Besuch beim Arzt. ›Eine reine Formsache‹, versicherte mir der Sekretär, als nähme er ungeheuren Anteil an all meinen Leiden. Also kam ein junger Bursche, den Hut über die linke Braue gezogen, aus den oberen Stockwerken herunter – vermutlich ein Angestellter, es muss dort Angestellte gegeben haben, obwohl es still war im Haus wie in einem Haus einer Totenstadt – kam herunter und führte mich hinaus. Er sah schäbig und liederlich aus, mit Tintenflecken auf den Rockärmeln, und er trug eine breite, wellige Halsbinde unter einem Kinn, das wie die Spitze eines alten Stiefels geformt war. Es war noch ein bisschen zu früh für den Arzt; daher schlug ich vor, etwas zu trinken, worauf er in eine durchaus aufgeräumte Stimmung geriet. Als wir über unserem Wermut saßen, pries er die Unternehmungen der Gesellschaft in den höchsten Tönen, so dass ich mich nach einer Weile beiläufig verwundert darüber zeigte, dass er nicht selbst dort hinausginge. Er fasste sich sofort und wurde sehr kühl. ›Ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe, sprach Plato zu seinen Schülern‹, sagte er knapp, leerte mit großer Entschiedenheit sein Glas, und wir erhoben uns.

Der alte Doktor war mit seinen Gedanken offenbar ganz woanders, als er meinen Puls fühlte. ›Gut! Gut für dort unten‹, murmelte er, und dann fragte er mich eilig, ob ich ihm wohl gestatten würde, meinen Kopf zu vermessen. Ziemlich überrascht sagte ich ja, worauf er ein greifzirkelartiges Ding hervorzog, vorn und hinten und überall Maß nahm und sich sorgfältig Notizen machte. Er war ein unrasiertes Männchen in einem verschossenen, kittelartigen Rock und Pantoffeln an den Füßen, und ich hielt ihn für einen harmlosen Schwachkopf. ›Ich bitte immer um die Erlaubnis, im Interesse der Wissenschaft, die Hirnschale der Männer zu messen, die dort hinausgehen‹, sagte er. ›Und wenn sie zurückkommen auch?‹, fragte ich. ›Oh, ich bekomme sie nie mehr zu Gesicht‹, entgegnete er, ›und außerdem finden die Veränderungen im Inneren statt, wissen Sie.‹ Er lächelte wie über einen kleinen Scherz. ›Also Sie gehen auch dort hinaus. Famos. Und interessant.‹ Er warf mir einen prüfenden Blick zu und machte sich noch eine Notiz. ›Irgendwelche Fälle von Wahnsinn in Ihrer Familie?‹, fragte er in sachlichem Ton. Ich wurde sehr ärgerlich. ›Ist das auch eine Frage im Interesse der Wissenschaft?‹ ›Es wäre‹, bemerkte er, ohne meinen gereizten Ton zu beachten, ›für die Wissenschaft interessant, die mentalen Veränderungen an Individuen vor Ort zu beobachten, aber –‹ ›Sind Sie Nervenarzt?‹, unterbrach ich ihn. ›Jeder Arzt sollte das sein – ein wenig‹, antwortete dieser kauzige Mensch ungerührt. ›Ich habe da so eine kleine Theorie, die Sie Messieurs, die Sie dort hinausgehen, mir helfen müssen zu beweisen. Das ist mein Anteil an dem Gewinn, den mein Land aus dem Besitz einer so prächtigen Kolonie ziehen wird. Die bloßen Reichtümer überlasse ich anderen. Verzeihen Sie meine Fragerei, aber Sie sind der erste Engländer, der mir hier unterkommt …‹ Ich beeilte mich, ihm zu versichern, dass ich keinesfalls ein typisches Exemplar sei. ›Wenn ich’s wäre‹, sagte ich, ›würde ich nicht so mit Ihnen reden.‹ ›Was Sie sagen, ist recht tiefsinnig und wahrscheinlich ein Irrtum‹, entgegnete er lachend. ›Hüten Sie sich vor Aufregung noch mehr als vor zu viel Sonne. Adieu. Wie, eh, sagen Sie in England? Good-bye. Ach ja! Good-bye. Adieu. Vor allem man muss Ruhe bewahren in die Tropen …‹ Er hob warnend den Zeigefinger. ›Du calme, du calme. Adieu.‹