Herz der Finsternis - Joseph Conrad - E-Book

Herz der Finsternis E-Book

Joseph Conrad

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Beschreibung

Eine erschütternde Reise in die Untiefen der Geschichte und der menschlichen Seele

Marlow, ein Zivilisationsflüchtling, hat als Kapitän auf einem Flussdampfer im Kongo angeheuert. Ohne zu ahnen, was ihn erwarten wird, steuert er den Dampfer tiefer und tiefer in die Wildnis, mitten hinein ins Herz des Schwarzen Kontinents, bis er schließlich auf den zwielichtigen Elfenbeinhändler Kurtz stößt. Die zusehends bedrohliche Reise führt ihn auf die dunkelsten Abwege europäischen Eroberungsstrebens. In seinem suggestiven, symbolisch verdichteten Meisterwerk zeigt Joseph Conrad, welch geringen Widerstand die Kultur, jener Kern menschlichen Selbstverständnisses, dem Absturz in die Barbarei entgegenzusetzen vermag.

PENGUIN EDITION. Zeitlos, kultig, bunt. – Ausgezeichnet mit dem German Brand Award 2022

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Seitenzahl: 195

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Große Emotionen, große Dramen, große Abenteuer – von Austen bis Fitzgerald, von Flaubert bis Zweig. Ein Bücherregal ohne Klassiker ist wie eine Welt ohne Farbe.

Joseph Conrad (1857–1924) war polnischer Herkunft und erlernte erst im Erwachsenenalter die englische Sprache. Im Dienst der britischen Handelsmarine und ab 1886 als Kapitän bereiste er die Weltmeere, den afrikanischen Kontinent und den Fernen Osten. Spät begann er zu schreiben. Seine Romane und Erzählungen, die um das Thema der menschlichen Einsamkeit und des Ausgeliefertseins kreisen, zählen zu den berühmtesten Werken der englischen Literatur.

Herz der Finsternis in der Presse:

«Das großartig-düstere Portalbuch des 20. Jahrhunderts, das die Dunkelseite der menschlichen Natur anleuchtet, aber auch die Schattenseite jener westlichen Kultur, der sich Conrad zutiefst zugehörig fühlte.» Hanjo Kesting, NDR

«Die Bücher Conrads sind ungeheure, von Einzelheiten strotzende Protokollberichte. Jede kleine Nebenfigur ist ein Roman.» Ernst Weiss

Joseph Conrad

HERZ DER FINSTERNIS

Novelle

Aus dem Englischen von Fritz Güttinger

Mit einem Nachwort von Ernst Weiss

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Copyright © 2022 by Manesse Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Regg Media in Adaption der traditionellen Penguin Classics Triband-Optik aus England

Unsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-29348-2V001

www.penguin-verlag.de

I

Die Nellie, eine Kreuzerjacht, pendelte ein wenig vor der Ankertrosse, ohne dass die Segel im Geringsten labberten, und kam zur Ruhe. Die Flut war im Steigen, es herrschte nahezu Windstille, und da wir flussabwärts wollten, blieb uns nichts anderes übrig, als den Ebbstrom abzuwarten.

Vor uns zog sich die Mündungsstrecke der Themse wie der Anfang einer unendlichen Wasserstraße dahin. In der Ferne gingen Meer und Himmel unmerklich ineinander über, und die im schimmernden Raum mit der Flut stromauf treibenden Lastkähne mit ihren Büscheln rostroten Segeltuchs und dem funkelnden Bugspriet standen gleichsam still. Über den seewärts verdämmernden, flachen Ufern war die Luft diesig, über Gravesend dunkel, und noch weiter zurück schien sie zu einer schwermütigen Düsternis geballt, die reglos über der größten und großartigsten Stadt auf Erden dräute.

Der Großkaufmann war unser Kapitän und Gastgeber. Zu viert betrachteten wir liebevoll seinen Rücken, wie er da im Bug stand und seewärts schaute. Auf dem ganzen Fluss gab es nichts, was auch nur halbwegs so seemännisch ausgesehen hätte. Er wirkte wie ein Lotse, für den Fahrensmann stets der Inbegriff der Vertrauenswürdigkeit. Man konnte sich nur schwer vergegenwärtigen, dass sein Wirkungskreis nicht dort draußen auf den schimmernden Mündungsgewässern lag, sondern hinter ihm, irgendwo im dräuenden Düster drin.

Was uns verband, war die Liebe zur See, wie schon bei früherer Gelegenheit bemerkt. Abgesehen davon, dass uns das über lange Trennungszeiten hinweghalf, wirkte es sich auch insofern aus, als wir Nachsicht übten, wenn einer ein Garn zu spinnen begann oder gar Überzeugungen aussprach. Der Rechtsanwalt – eine gute alte Haut – hatte seiner hohen Jahre und seiner vielen Vorzüge wegen das einzige Kissen an Bord und lag auf der einzigen Wolldecke. Der Buchhalter hatte bereits ein Domino hervorgeholt und spielte mit den Steinen den Baumeister. Marlow saß mit untergeschlagenen Beinen achtern an den Heckmast gelehnt. Die eingefallenen gelblichen Wangen und seine aufrechte Haltung gaben ihm etwas Asketisches, und da er die Arme herabhängen ließ, die Handflächen nach außen, wirkte er fast wie ein Götzenbild. Als unser Gastgeber sich überzeugt hatte, dass der Anker hielt, kam er nach achtern und setzte sich zu uns. Träge wechselten wir ein paar Worte. Dann herrschte Schweigen an Bord der Jacht. Aus irgendeinem Grund fingen wir die Partie Domino gar nicht an. Wir waren in nachdenklicher Stimmung und unfähig, etwas anderes zu tun, als geruhsam in die Welt zu schauen. Der Tag ging in einem stillen, heiteren Glanz zu Ende. Friedlich schimmerte die Wasserfläche, der makellose Himmel war eine selige Unendlichkeit glasklaren Lichts; sogar der leichte Nebel über dem Marschland von Essex wirkte wie ein lichtes Gewebe, das von bewaldeten Höhen im Land drin herabwallte und einen durchsichtigen Schleier über die niedrigen Ufer breitete. Nur das Düster im Westen, das weiter oben über den Windungen der Themse dräute, wurde immer ausgeprägter, als sei es ergrimmt über das Herannahen der Sonne.

Am Ende ihrer Bahn sank sie schließlich herab, und aus der Weißglut wurde ein dumpfes Rot ohne Strahlung und ohne Hitze, als wolle sie sogleich erlöschen, tödlich angerührt von dem Düster, das über einem Haufen Menschen lastete.

Sogleich änderte sich die Stimmung über dem Gewässer; die stille Heiterkeit verlor an Glanz, wurde tiefgründiger. Spiegelglatt lag der alte Strom, als der Tag verging, in seiner breiten Mündungsstrecke da; schon eine Ewigkeit hatte er dem Menschenschlag, der seine Ufer bevölkerte, gute Dienste geleistet, mit der selbstverständlichen Würde einer Wasserstraße, die in alle Welt hinausführt. Für uns war der ehrwürdige Fluss nicht ein vergängliches Tagesereignis, wir betrachteten ihn im Licht unvergänglicher Erinnerungen. Tatsächlich kann es leicht geschehen, dass den, der mit Leib und Seele Seemann ist, auf den unteren Strecken der Themse der Geist der Vergangenheit anweht. Unablässig läuft der Gezeitenstrom auf und ab, voller Erinnerungen an Menschen und Schiffe, die er heimwärts oder seewärts getragen hat, dem häuslichen Feierabend oder dem Getümmel der Welt entgegen. Alle großen Gestalten, auf die England stolz ist, hat er getragen, von Sir Francis Drake bis zu Sir John Franklin, allen hat er gedient, den Rittern von Rang und denen ohne Rang, all den Fahrenden Rittern der See.

Er hat alle die Schiffe getragen, deren Namen wie Karfunkelsteine aus dem Dunkel der Zeit hervorleuchten, von der Golden Hind, die, den Bauch voller Schätze, heimkehrte, von der Königin besucht wurde und dann aus der Weltgeschichte entschwand, bis zur Erebus und zur Terror, die auf andere Eroberungen ausgingen – und nie zurückkehrten. Der Strom hatte sie alle gekannt, die Schiffe und die Menschen. Von Deptford, von Greenwich, von Erith aus waren sie ankerauf gegangen – die Abenteurer und die Auswanderer, Kriegsschiffe und Kauffahrer, Kapitäne und Admirale, die lichtscheuen Schleichhändler ebenso wie die ordnungsgemäß ernannten «Generäle» der Ostindiengeschwader. Ob auf der Suche nach Gold oder nach Ruhm, alle waren sie auf diesem Strom hinausgezogen, das Schwert in der Hand und oft die Fackel, Boten der Macht ihres Landes, Überbringer eines Funkens der heiligen Flamme. Was war doch hier alles an geschichtlicher Größe stromab in geheimnisvolle Fernen getragen worden! – Männerträume, Anfänge einer Völkerverständigung, der Keim zu Weltreichen.

Die Sonne ging unter; Dämmerung brach über den Fluss herein, längs der Ufer begannen Lichter zu glimmen. Hell strahlte der Chapman-Leuchtturm, ein dreibeiniges Gebilde auf schlammigem Grund. Schiffslichter zogen das Fahrwasser hinauf und hinunter. Und weiter westlich, an den oberen Flussstrecken, zeichnete sich der Ort, wo die ungeheuerliche Stadt liegt, nach wie vor bedrohlich ab, eine brütende Düsternis an der Sonne, ein gespenstischer Schein unter den Sternen.

«Auch das», sagte Marlow plötzlich, «war einst eines der dunkeln Gebiete dieser Erde.»

Er war der Einzige unter uns, der noch zur See fuhr. Zu beanstanden an ihm war höchstens, dass er der Vorstellung, die man von einem Seemann hat, nicht durchweg entsprach. Er war Fahrensmann, aber gleichzeitig auch Wandersmann, während doch die meisten Seeleute, wenn man so sagen darf, ein sesshaftes Leben führen. Innerlich sind sie auf Behausung bedacht, und ihre Behausung ist immer um sie – das Schiff; ebenso ihre Heimat – das Meer. Ein Schiff gleicht dem andern, und das Meer ist überall dasselbe. In seiner ewiggleichen Umgebung gleiten die fremden Gestade, die fremden Gesichter, das wechselnde Gewühl der Welt am Seemann vorüber und bleiben ihm schleierhaft, nicht weil er das Fremde als geheimnisvoll empfindet, vielmehr aus bloßer Unkenntnis. Dem Seemann kommt nämlich nichts geheimnisvoll vor, es sei denn allein die See – die Herrin über sein Dasein, so unergründlich wie das Schicksal. Im Übrigen genügt ein flüchtiger Landgang, ein feuchtfröhlicher Abend, um ihm das Geheimnis eines ganzen Erdteils zu entschleiern, und meistens findet er es unerheblich. Ein Seemannsgarn zeichnet sich durch schlichte Geradlinigkeit aus, und was es an Bedeutung enthält, hat in einer Nussschale Platz. Doch abgesehen von seiner Vorliebe, ein Garn zu spinnen, entsprach Marlow nicht dem üblichen Bild des Seemanns; für ihn steckte der Sinn einer Geschichte nicht wie ein Kern in ihr drin, er umhüllte sie gleichsam wie ein Lichtschein.

Marlows Bemerkung setzte uns keineswegs in Erstaunen. Dergleichen sah ihm ähnlich. Wir nahmen sie stillschweigend auf; niemand sah sich auch nur zu einem Brummen veranlasst; und bald darauf sagte er denn auch, höchst gemächlich:

«Ich dachte an uralte Zeiten, als die Römer zum ersten Mal hierherkamen, vor neunzehnhundert Jahren – vor Kurzem … Licht ist seither von diesem Strom ausgegangen – fahrende Ritter, sagt ihr? Ja, aber das ist nur wie ein Strohfeuer, wie ein Blitz aus den Wolken. Wir leben in diesem Flimmerschein – möge er so lange Vorhalten wie der Erdball! Doch erst gestern herrschte hier noch Finsternis. Stellt euch die Gefühle des Befehlshabers einer – wie heißt das doch gleich? – einer prächtigen Trireme im Mittelmeer vor, der plötzlich nach dem hohen Norden versetzt und eiligst über Land durch ganz Gallien verbracht wird, worauf man ihm eines dieser Schiffe anvertraut, wie sie die Legionäre – tüchtige Handwerker müssen das gewesen sein – offenbar zu Hunderten bauten, in einem Monat oder zwei, falls man der Überlieferung glauben will. Stellt euch den Mann vor – hier, am Ende der Welt, wo die See bleiern ist, der Himmel rauchfarben, sein Schiff ungefähr so stabil wie eine Handharmonika; und hier muss er nun – mit Nachschub oder Aufträgen oder was weiß ich – diesen Fluss hinauf. Sandbänke, Marschland, Urwälder, Barbaren – und obendrein recht knappe Verpflegung für einen Kulturmenschen und nichts als Themsewasser dazu.

Kein Falerner, kein Landurlaub. Da und dort ein Militärlager, in der Wildnis verloren wie die Stecknadel im Heuhaufen – Kälte, Nebel, Unwetter; Krankheit, Verbannung und Tod – überall lauerte der Tod, in der Luft, im Wasser, im Buschwerk. Wie Fliegen müssen sie hier dahingerafft worden sein. Gewiss – er führte den Auftrag aus, sogar sehr gut und ohne viel Federlesens zu machen; erst hinterher prahlte er dann vielleicht mit dem, was er zu seiner Zeit durchgestanden hatte. Er war Manns genug, es mit der Finsternis aufzunehmen. Und was ihn guter Dinge erhielt, war vielleicht die Aussicht auf Beförderung, falls er Freunde in Rom hatte und das furchtbare Klima überstand. Oder denkt euch einen jungen Herrn in einer Toga – vielleicht etwas allzu sehr dem Würfelspiel verfallen –, und nun kommt er im Gefolge eines Präfekten, eines Steuereinnehmers oder gar eines Händlers hierher, um seine Vermögensverhältnisse aufzubessern. Er landet in einem Sumpfgebiet, marschiert durch die Wälder und hat in einer Niederlassung im Innern des Landes das Gefühl, von der barbarischen Wildnis umzingelt zu sein, von all dem geheimnisvollen Leben, das sich im Urwald, im Buschwerk, im Herzen wildfremder Völkerstämme regt. Auch gibt es keine Einweihung in solche Geheimnisse. Er muss inmitten des Unbegreiflichen leben – ein weiterer Gräuel. Gleichzeitig geht aber auch ein seltsamer Reiz davon aus, dem er sich nicht entziehen kann. Der Reiz des Verbotenen. Man stelle sich die Reue vor, zusehends bitterer; den Drang, sich durch Flucht zu retten; den ohnmächtigen Widerwillen, die Unterwerfung, den Hass.»

Er hielt inne.

«Allerdings», begann er dann wieder, wobei er den rechten Unterarm anhob, mit der Handfläche nach außen, sodass er, wie er da mit untergeschlagenen Beinen vor uns saß, einem europäisch gekleideten Buddha ohne Lotusblüte glich, «allerdings wäre keinem von uns so zumute. Was uns davor bewahrt, ist die Tüchtigkeit – der Glaube an die Tüchtigkeit. Doch diese Kerle taugten eigentlich nicht viel. Es waren keine Kolonisten; ihre Verwaltung war vermutlich nichts als Erpressung. Es waren Eroberer, und dazu braucht es lediglich rohe Kraft – nichts, um sich damit zu brüsten, wenn man darüber verfügt; schließlich ergibt sich die Kraft des einen bloß zufällig aus der Schwäche des andern. Sie rafften einfach zusammen, so viel sie konnten. Es war Raub mit Körperverletzung, nichts weiter, Mord und Totschlag im großen Maßstab, und sie gingen dabei blindlings vor – wie es sich geziemt für solche, die es mit der Finsternis aufnehmen. Die Eroberung der Welt ist – genau betrachtet – nichts Erbauliches; meist läuft es darauf hinaus, dass man denen, die eine andere Hautfarbe oder platte Nasen haben, ihr Land wegnimmt. Zu rechtfertigen ist es lediglich in der Idee, die dahintersteckt – nicht mit Gefühlsduselei, sondern durch eine Idee und den selbstlosen Glauben an die Idee – etwas, das man aufstellen und dem man sich unterordnen, dem man Opfer bringen kann …»

Er brach ab. Flämmchen glitten auf dem Fluss draußen vorüber, grüne, rote, weiße Flämmchen, die einander verfolgten, einholten, kreuzten – und sich dann langsam oder eiligst wieder voneinander entfernten. Der Verkehr der großen Stadt ging auf dem keinen Schlaf kennenden Strom bis in alle Nacht hinein weiter. Wir schauten zu, in geduldiger Erwartung – etwas anderes hatten wir nicht zu tun, bis die Flut aufgelaufen war; doch erst nach langem Stillschweigen sagte Marlow in zögerndem Ton: «Ihr erinnert euch wohl, dass ich mich einst vorübergehend der Binnenschifffahrt zuwandte?» Da wussten wir, was uns bevorstand: bis zum Einsetzen der Ebbe eines dieser nirgends hinauswollenden Erlebnisse Marlows zu hören.

«Ich möchte euch nicht über Gebühr damit behelligen, wie es mir persönlich erging», begann er, womit er den schwachen Punkt so mancher Geschichtenerzähler verriet, die sich oft nicht im Klaren sind darüber, was ihr Publikum am liebsten hören würde; «um jedoch die Wirkung zu verstehen, die das Ganze auf mich ausübte, müsst ihr doch etwas davon erfahren, wie ich dorthin gelangte, was ich sah, wie ich flussaufwärts bis zu der Stelle kam, wo ich dem armen Teufel zum ersten Mal begegnete. Darüber hinaus kam ich überhaupt nie, es war der Höhepunkt meiner Erlebnisse. Irgendwie schien es ein Licht auf alles Drum und Dran zu werfen – auch auf mich selbst. Es war recht betrüblich – durchaus nicht einzigartig – auch nicht sonderlich klar. Nein, nicht sonderlich klar. Und doch schien es ein Licht auf alles zu werfen.

Ich war damals, wie ihr wisst, seit Kurzem wieder in London, nachdem ich viel vom Indischen Ozean, vom Pazifik und vom Chinesischen Meer gesehen hatte – eine tüchtige Portion Orient – sechs Jahre ungefähr, und nun trieb ich mich untätig herum, hinderte euch vier an der Arbeit und drang in eure Wohnungen ein, als müsste ich euch das Heil bringen. Eine Zeitlang war das ja ganz schön, doch auch des Nichtstuns kann man überdrüssig werden. Dann fing ich an, mich nach einem Schiff umzusehen – wohl die anstrengendste Arbeit, die es gibt. Doch die Schiffe wollten nichts von mir wissen. So wurde ich auch dieses Zeitvertreibs überdrüssig.

Nun hatte ich schon als kleiner Knirps eine leidenschaftliche Vorliebe für Landkarten gehabt. Stundenlang konnte ich mir jeweils Südamerika oder Afrika oder Australien anschauen und in Gedanken die herrlichsten Entdeckungsreisen unternehmen. Damals gab es auf den Landkarten noch viele weiße Stellen, und wenn ich eine besonders verlockende sah (verlockend waren sie zwar alle), dann tupfte ich mit dem Finger drauf und sagte: ‹Wenn ich einmal groß bin, fahre ich hin.› Ich weiß noch gut, der Nordpol gehörte dazu. Dort bin ich allerdings noch nicht gewesen, und jetzt reizt er mich auch nicht mehr. Im Übrigen gab es um den Äquator verstreut und überhaupt in allen Breitengraden, nördlich und südlich, solche weißen Stellen. Einige davon habe ich kennengelernt, und – na, reden wir nicht davon. Doch da war eine – die größte von allen –, die mir keine Ruhe ließ.

Inzwischen stach sie auf den Karten allerdings nicht mehr weiß hervor. Seit meiner Jugend war sie mit Flüssen und Seen und Ortsnamen ausgefüllt worden. Sie war nicht mehr geheimnisvoll ausgespart – kein weißer Fleck mehr, an dem Knabenträume ansetzen konnten. Eine dunkle Welt war daraus geworden. Doch da gab es einen Fluss mitten drin, einen mächtigen Strom, der auf der Karte wie eine Riesenschlange wirkte – den Kopf in der See, den Leib über ein ungeheures Gebiet gekrümmt, den Schwanz irgendwo tief im Innern. Und als ich in einem Schaufenster eine Karte dieses Gebiets betrachtete, war ich davon gebannt wie ein Vogel von einer Schlange – ein dummer kleiner Vogel, heißt das. Dann fiel mir ein, dass es da einen großen Konzern gab, eine Handelsgesellschaft zur wirtschaftlichen Erschließung des Gebiets, durch das dieser Strom verlief. ‹Mensch›, dachte ich, ‹die können doch nicht Handel treiben ohne Binnenschifffahrt – da verkehren doch Dampfboote! Vielleicht brauchen die einen Schiffer.› Ich ging weiter, wurde aber den Gedanken nicht los. Die Schlange hatte mich bezirzt.

Wohlverstanden, es war eine kontinentale Handelsgesellschaft, aber ich habe eine Menge Verwandte auf dem Festland; sie behaupten, es lebe sich dort billiger und gar nicht so schlecht, wie man gemeinhin glaubt.

Ich muss leider gestehen, ich begann sie zu bearbeiten. Schon das stellte für mich etwas Neues dar. Es war sonst bekanntlich nicht meine Art, Beziehungen spielen zu lassen. Ich bin stets meine eigenen Wege gegangen und auf eigenen Beinen, wohin immer ich wollte. Eigentlich hätte ich mir dergleichen gar nicht zugetraut, aber eben – ich wollte unbedingt dorthin – so oder so. Ich bearbeitete nun also meine Verwandten. Die Männer sagten: ‹Doch, sehr gern› und unternahmen nichts. Darauf – kaum zu glauben – versuchte ich es mit den Frauen. Ich, Charlie Marlow, steckte mich hinter die Frauen, um zu einer Anstellung zu kommen! Unglaublich, aber ich hatte nun mal diesen Floh im Ohr. Eine Tante, eine gute, schwärmerische Seele, schrieb mir: ‹Es wird mir eine Freude sein, alles für Dich zu tun, was ich kann, alles. Es ist eine großartige Idee. Ich kenne die Frau eines Mitglieds des Verwaltungsrates und auch einen höchst einflussreichen Mann …› und so weiter und so fort. Sie war entschlossen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um mir die Ernennung zum Kapitän eines Flussdampfers zu verschaffen, da mir daran gelegen sei.

Natürlich erhielt ich die Anstellung, und zwar sehr rasch. Zufällig war gerade einer der Kapitäne im Dienst dieser Handelsgesellschaft bei einer Meinungsverschiedenheit mit den Eingeborenen ums Leben gekommen. Das schreckte mich keineswegs ab, im Gegenteil, ich betrachtete es als einen Glücksfall. Erst viele Monate später, als ich nach den sterblichen Überresten des Mannes fahndete, erfuhr ich, dass es ursprünglich bloß um ein paar Hühner gegangen war. Jawohl, um zwei schwarze Hennen. Fresleven – so hieß der Betreffende, ein Däne – glaubte bei dem Handel hintergangen worden zu sein; er begab sich deshalb an Land und fing an, den Häuptling des Dorfes mit einem Knüppel zu bearbeiten. Ach, es erstaunte mich gar nicht, das zu hören und gleichzeitig zu erfahren, Fresleven sei sonst der gutmütigste Mensch gewesen, den es gibt. Durchaus glaubhaft, aber der Mann war eben schon seit zwei Jahren dort draußen für die hehre Sache tätig und empfand wohl das Bedürfnis, seiner Selbstachtung ein bisschen nachzuhelfen.

Er drosch deshalb unbarmherzig auf den alten Neger ein, während die Dorfbewohner entgeistert zuschauten, bis schließlich einer – der Sohn des Häuptlings, heißt es – das Wehgeschrei des Alten nicht länger mit anhören konnte und probeweise mit einem Speer nach dem Weißen stieß – natürlich drang die Spitze ohne Weiteres zwischen den Schulterblättern ein. Dann rückte das ganze Volk aus, in den Urwald, aller Arten von Unheil gewärtig, während anderseits auch Freslevens Dampfer panikartig das Weite suchte, vom Maschinisten geführt, soviel ich weiß. Danach schien sich niemand sonderlich um Freslevens Überreste zu kümmern, bis ich dorthin kam und an seine Stelle trat. Ich konnte die Sache nicht gut auf sich beruhen lassen, doch als sich mir schließlich eine Gelegenheit bot, mit meinem Vorgänger zusammenzutreffen, war das Gras, das durch seine Rippen emporsprosste, schon so hoch, dass es sie dem Blick entzog. Das Gerippe war aber noch vollständig beisammen. Nach seinem Sturz war das übernatürliche Wesen nicht mehr angetastet worden. Und das Dorf war verödet; windschief und schwarz klafften die Hütten innerhalb der Einfriedigung. Das Unheil war erwartungsgemäß hereingebrochen. Die Bewohner waren in wilder Panik auseinandergestoben, Männer, Frauen und Kinder, irgendwohin in den Busch, und sie waren nie mehr zurückgekehrt. Was aus den Hühnern geworden war, weiß ich nicht. Die Sache des Fortschritts hat sich ihrer wohl bemächtigt. Immerhin, durch diesen gloriosen Zwischenfall kam ich zu meiner Anstellung, ehe ich mich dessen versah.

Ich sauste in der Stadt umher, bis ich alles beisammen hatte, und es dauerte keine achtundvierzig Stunden, da fuhr ich bereits über den Ärmelkanal, um mich meinen Arbeitgebern vorzustellen und den Vertrag zu unterzeichnen. In wenigen Stunden kam ich in der Stadt an, die mich immer an eine weiß getünchte Grabstätte gemahnt. Ein Vorurteil, zweifellos. Den Sitz der Handelsgesellschaft zu finden, fiel mir nicht schwer; sie war das größte Unternehmen am Platz und in aller Leute Mund. Es sollte in Übersee ein Reich aufgebaut und dabei eine Menge verdient werden.

Eine schmale, menschenleere Straße im Schatten hoher Häuser, unzählige Fenster mit Rollläden, Grabesstille, Gras zwischen den Pflastersteinen, mächtige Torbogen rechts und links, Portale, gewichtig aufgesperrt. Ich schlüpfte durch eine dieser Lücken, stieg ein blank gescheuertes und völlig kahles Treppenhaus empor und öffnete die erstbeste Tür. Zwei Frauen, die eine dick, die andere mager, saßen auf Rohrstühlen und strickten etwas mit schwarzer Wolle. Die magere stand auf und kam geradewegs auf mich zu, immer noch mit ihrem Strickzeug beschäftigt; erst als ich ihr wie einer Schlafwandlerin ausweichen wollte, blieb sie stehen und schaute auf. Ihr Kleid war so schlicht wie ein Schirmfutteral. Ohne ein Wort machte sie kehrt und ging mir in ein Wartezimmer voran, wo ich meinen Namen nannte und mich dann umsah. Tannenholztisch in der Mitte, gewöhnliche Stühle den Wänden entlang, am einen Ende eine große kunterbunte Landkarte. Vieles darauf war rot, was immer erfreulich ist, weiß man doch, dass dort tatsächlich Arbeit geleistet wird; bedenklich vieles war blau, einiges grün, etwas orange, und – an der Ostküste – ein blauroter Fleck, der anzeigte, wo die gemütlichen Pioniere des Fortschritts ihr gemütliches Lagerbier trinken. Doch alles das ging mich nichts an; das Gelbe war, wo ich hin wollte. Ganz in der Mitte. Und auch der Fluss war eingezeichnet – unwiderstehlich – verhängnisvoll – einer Schlange gleich. Uh! Eine Tür ging auf, ein weißhaariger Sekretär streckte teilnahmsvoll den Kopf heraus, ein knochiger Finger winkte mir, ins Allerheiligste einzutreten. Drinnen herrschte Dämmerlicht, und in der Mitte machte sich ein wuchtiger Schreibtisch breit, hinter welchem sich etwas Bleiches und Behäbiges in einem Gehrock abzeichnete. Der große Mann in Person. Allzu groß schien er mir nicht geraten, aber er verfügte bestimmt über Millionen. Soviel ich mich erinnere, schüttelte er mir die Hand, murmelte etwas vor sich hin und schien mit meinem Französisch zufrieden. Bon voyage.*

In etwa fünfundvierzig Sekunden befand ich mich wieder im Wartezimmer, zusammen mit dem teilnahmsvollen Sekretär, der mich mit Leichenbittermiene ein Schriftstück unterzeichnen ließ. Ich glaube, unter anderem verpflichtete ich mich, keine Geschäftsgeheimnisse zu verraten. Naja, das habe ich auch nicht im Sinn.