Herz über Bord - Nadine Gerber - E-Book

Herz über Bord E-Book

Nadine Gerber

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Beschreibung

Was ist, wenn du vor zwölf Jahren eine Entscheidung getroffen hast, die falsch war? Du hast sie getroffen, weil es einfach nicht anders ging. Weil du gedacht hast, es ginge nicht anders. Was ist, wenn du immer denkst, «was wäre, wenn …»? Simon hat Hanna nie vergessen. In den Medien hat er den Werdegang der Olympiasiegerin im Rudern mitverfolgt. Wie sie vom Spitzensport zurückgetreten ist, sich neu verliebt hat, Mutter geworden ist. Sie hat sich alle ihre gemeinsamen Träume erfüllt und er ist stolz auf sie. Und wehmütig, nicht der Mann an ihrer Seite zu sein. Immer wieder hat er ihr Textnachrichten geschrieben – und sie wieder gelöscht. Vergangenheit ist Vergangenheit. Doch «was wäre, wenn …»? Dann steht etwas über Hanna in der Zeitung, über das Simon nicht hinwegsehen kann. Geschockt und betrunken schreibt er ihr eine Nachricht. Und drückt auf «senden». Er tritt eine Lawine der Emotionen los. Denn große Gefühle lassen sich höchstens wegsperren – aber nicht auslöschen. Bekommen Hanna und Simon noch eine Chance?

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Seitenzahl: 340

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Herz über Bord

Rudere, wenn der Wind fehlt

Nadine Gerber

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright 2021 by Prinzengarten Verlag

Dr. Hans Jacobs, Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

ISBN 978-3-89918-821-9

Teil I: «Alles verändert sich mit dem, der neben mir ist oder neben mir fehlt.»

Kapitel 1

Drama um Triathlon-Olympiasieger

Sebastian Fischer stirbt bei Canyoning-Unglück

Der erst neununddreißigjährige Sportler hinterlässt seine Partnerin, die Ruder-Olympiasiegerin Hanna Caminada, sowie die gemeinsame vierjährige Tochter.

Er legte ganz langsam sein Tablet auf den Tisch. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er bemerkte, dass er unter Schock stand. Es war schon so lange her, seit er Hanna zuletzt gesehen hatte. Zwölf Jahre.

«Ich werde dich nie vergessen.»

Das hatte er ihr damals bei ihrem letzten Treffen gesagt. Er hatte sich daran gehalten. Immer wieder hatte er an sie denken müssen. Manchmal hatte er gehofft, dass sie glücklich war. Manchmal hatte er sie vermisst. Und ziemlich oft hatte er sie in seinen Träumen gesehen. Darin hatte er nie die Entscheidung getroffen, nicht mit ihr zusammen zu sein. In seinen Träumen waren sie glücklich gewesen, hatten eine Familie gegründet.

Sie musste inzwischen fünfunddreißig Jahre alt sein. Er selbst feierte bald seinen vierundvierzigsten Geburtstag. Er fühlte sich plötzlich uralt. Aber er war noch am Leben. Im Gegensatz zu diesem Sebastian, der noch einiges jünger gewesen war als er selbst.

Er schaute in den Spiegel, der im Wohnzimmer über einer hölzernen Kommode hing. Wie scheußlich er ist dachte er mit einem Mal. Rechteckig mit einem silbernen Rand. Modern vielleicht, wenn man ihn richtig kombiniert hätte. Aber um eine schöne Einrichtung hatten sie sich noch nie bemüht. Er fand, er sah bleich aus, fahl. Er saß noch immer regelmäßig im Ruderboot, joggte oder ging wandern oder Fahrrad fahren. Seine Sportlichkeit hatte er sich bewahren können. Doch seine dichten, einst blonden Haare wurden immer grauer. Immerhin waren sie noch vollzählig.

Er kam sich plötzlich dumm vor, als ihm klar wurde, dass er sich um sein Äußeres sorgte, während Hanna um ihre große Liebe trauerte. Früher hatte sie immer gesagt, er sei ihre große Liebe. Er war sich nie sicher gewesen. Natürlich hatte er ihr geglaubt, doch sie war damals so jung gewesen und hatte noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt – und er hatte immer ein bisschen die Befürchtung gehabt, sie könnte es sich anders überlegen und ihm das Herz brechen. Gebrochen wurde es dann sowieso.

Er griff erneut nach dem Tablet und las den ganzen Artikel. Sebastian Fischer war ein Olympiaheld. Natürlich kannte er ihn. Nicht persönlich. Aber aus den Medien. Er wusste, dass er Hannas Partner gewesen war. Sie mussten sich kennengelernt haben, als sie selbst bei Olympia an den Start ging – und sensationell Gold holte. Vor acht Jahren also. Damals war Fischer «nur» sechster geworden. Doch vor vier Jahren und erst jetzt, vor wenigen Wochen, hatte er geglänzt – und war zweimal als bester Triathlet der Spiele zuoberst auf das Treppchen geklettert. Er war ein Vorbild. Ein verwegener Kerl, witzig, eloquent, gutaussehend. Er war nie abgehoben, hatte immer allen geholfen, ein offenes Ohr gehabt. Vor allem Kinder hatten ihm am Herzen gelegen. Aber er war auch ein Abenteurer gewesen. So ein völlig anderer Typ als er selbst.

Fischer hatte Extremsportarten geliebt, war ein routinierter Canyoning-Sportler gewesen, der auch Touren geleitet hatte. Zusammen mit einem Kollegen hatte er eine Kletterstelle sichern wollen, als die Fluten eines Wildbachs die beiden Männer erwischten. Sie waren sofort tot gewesen.

Warum waren die Männer in dem Canyon?, fragte auch die Zeitung. Eigentlich hätten sie es wissen müssen. Solche Wildbäche waren trügerisch. So schnell konnten die Wassermassen ansteigen.

Es hatte in den letzten Jahren einige Gelegenheiten für ihn gegeben, sich bei Hanna zu melden. Ihr Olympiasieg, ihr Rücktritt, die Nachricht von der Geburt ihrer Tochter. Als Sportheldin war sie ein begehrter Talk-Gast gewesen, auch wenn sie selbst nicht den Anschein gemacht hatte, dass sie Lust auf diese Publicity hatte. Sie hatten sich damals oft darüber unterhalten. Dass dies ein Teil des Erfolgs sei. Keiner von ihnen hatte diesen Aspekt des Sportlerdaseins gemocht.

Doch dank der Medien hatte er einiges aus ihrem Leben mitbekommen. Natürlich auch wegen der Popularität ihres Partners. Immer wieder hatte er zum Handy gegriffen und einige Worte getippt – und sie dann wieder gelöscht. So war über ein Jahrzehnt vergangen. Zwölf Jahre, in denen er konsequent seinen Plan B gelebt hatte.

Er stand auf und holte sich einen Kaffee. Doch er merkte schnell: Das reichte nicht. So griff er nach der Flasche mit dem Whisky. Er trank tagsüber nie Alkohol. Eigentlich trank er generell sehr selten Alkohol. Doch in diesem Moment hatte er das Gefühl, Whisky sei das Einzige, das helfen konnte. Wobei? Den inneren Aufruhr zu unterdrücken. Sich zu beruhigen. Nachzudenken. Mutig zu werden. Und dann das Richtige zu tun.

Er kippte zwei Gläser, dann griff er nach seinem Handy. Dieses Mal würde er auf «senden» drücken.

«Liebe Hanna. Ich bin erschüttert. Ich weiß nicht, was ich sagen oder schreiben soll. Aber ich kann diese Nachricht nicht einfach ignorieren. Es tut mir so unendlich leid. Ich möchte dir gerne sagen, dass ich an dich denke. Jetzt. Und in den vergangenen zwölf Jahren. Wenn es etwas gibt, das ich tun kann, bitte lass es mich wissen. Dein Simon»

«Senden».

Er drückte darauf und dann brauchte er noch einen Whisky. Anschließend nahm er sein Fahrrad und fuhr zum See. Es war ziemlich kalt für einen Oktobertag. Doch er wagte es nicht, sich nach drei Gläsern harten Alkohols noch ans Steuer seines Wagens zu setzen. Ein kurzer Ausflug mit seinem Ruderboot würde ihm bestimmt helfen. Die Nachricht war abgeschickt, jetzt konnte er nur warten. Obwohl er eigentlich nicht damit rechnete, eine Antwort zu bekommen. Er wusste noch nicht einmal, ob Hanna ihre alte Handynummer behalten hatte.

Doch sein Handy bimmelte, er war noch nicht einmal beim See angekommen. Er stieg vom Fahrrad und holte sein Smartphone aus der Tasche.

«Simon. Bitte hilf mir!»

Er bemerkte, dass er ein kleines bisschen schwankte. Der Whisky war wohl doch keine sehr gute Idee gewesen – auch wenn er ihn zugegebenermaßen innerlich beruhigt hatte. Er stiess das Rad über den mit Kieseln bedeckten Weg hinunter zum See. An Rudern war nicht mehr zu denken. Er legte das Rad auf den Boden und setze sich auf die kleine Mauer, die den See vom Ufer trennte. Dann holte er tief Luft.

Die Message war klar: Sie wollte seine Hilfe. Sie klang verzweifelt. War er der Richtige? War das wichtig? Wichtig war, dass er ihr half, wenn sie es sich wünschte. Und er war bereit dazu. Oder?

«Darf ich zu dir kommen?»

«Ja!»

«Wohin?»

Sie nannte ihm eine Adresse in einem Ort, ungefähr eine halbe Stunde Autofahrt von ihm entfernt. Mist! Er bereute nun seinen Whisky-Konsum definitiv. Zunächst fuhr er mit seinem Rad wieder nach Hause. Es war jetzt kurz nach Mittag. Lisa arbeitete. Elias war bei seinen Großeltern, und für den Sonntag war ein Ausflug in den Zoo geplant. Heute war Samstag. Er hatte frei. Und Zeit. Zuhause angekommen stellte er sich unter die Dusche und zog sich frische Kleider an. Die Aussicht, Hanna zu sehen, machte ihn nervös. Er musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass der Anlass ein trauriger war. Dass sie nicht in der Stimmung war, über ihre gemeinsame Vergangenheit zu sinnieren. Und dass er nicht klar wusste, wie er ihr helfen konnte. Warum sie ausgerechnet seine Hilfe wollte. Er zog sich eine Jeans an und ein weißes T-Shirt, darüber einen braunen Cardigan. Mit inzwischen deutlich über vierzig war er nicht mehr jung genug für seine Schülerinnen, die hin und wieder für ihn schwärmtenDeshalb hatte sich sein Lehrerdasein merklich entspannt – und er hatte einen gewissen Sinn für Mode entwickelt. Braune Schuhe aus Wildleder und eine dunkelblaue Jacke rundeten sein Outfit ab. Seine Haare trug er weiterhin gerne ungekämmt – doch sie waren etwas länger als früher und standen ihm nicht mehr um den Kopf wie bei einem Igel. Auch den Bart hatte er belassen.

Er aß einen grossen Teller Suppe mit einem Stück Brot – dies mit dem einzigen Ziel, den Alkoholpegel in seinem Blut zu senken. Er hatte vor, mit dem Auto zu Hanna zu fahren. Allerdings hielt er sich selbst nicht für fahrtauglich, nicht nur wegen des Alkohols. Er bestellte sich ein Taxi. Eine gute Stunde nachdem er die Nachricht erhalten hatte, machte er sich auf den Weg. Und wieder eine halbe Stunde später stand er mit zitternden Händen vor dem schmucken Einfamilienhaus. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Das Haus war neu, es hatte ein Flachdach und einen grauen Anstrich. Es wirkte sehr klein, doch er bemerkte, dass das Haus in einen Hang hinein gebaut worden war – auf der anderen Seite musste es deutlich höher sein. Er dachte an seine eigene Wohnung, die kahl und nüchtern war. Etwas, das er mit einem Mal bedauerte. Was für ein Blödsinn. Er stand vor Hannas Haus und sobald er den Mut hatte, auf die Klingel zu drücken, würde er sie wiedersehen. In welchem Zustand?

Er holte noch einmal tief Luft und dann drückte er auf den schwarzen Knopf. Er wusste nicht, was er erwarten konnte. Hanna. Wie würde sie aussehen und was erwartete sie von ihm? Würde er ihre Tochter sehen? Wie ging es wohl dem kleinen Mädchen? Das seinen Papa verloren hatte. Er hatte sich alles aus Hannas Leben gemerkt, so gut er konnte. Wie ein Schwamm hatte er alle News über sie aufgesaugt, alle Sendungen, in denen sie aufgetreten war, geschaut. Er hörte Schritte, dann öffnete sich die Tür. Doch vor ihm stand nicht etwa Hanna, sondern eine Frau, die ihm sofort vertraut vorkam. Er musste auch nicht lange überlegen, wer sie war: Laura, Hannas beste Freundin. Er war erleichtert, dass Hanna nicht allein war und dass Laura nach all den Jahren noch immer eine so wichtige Person in ihrem Leben war. Doch er wusste auch: Laura war nicht wahnsinnig gut auf ihn zu sprechen und er konnte sie verstehen. Sie erkannte ihn ebenfalls sofort.

«Was machst du hier?»

«Hallo Laura. Entschuldige.» Er stammelte. «Hanna hat mich gebeten herzukommen.»

«So ein Quatsch. Das hätte sie mir gesagt.»

«Das ist noch keine zwei Stunden her. Wo ist sie? Wie geht es ihr?»

«Warte hier», sagte Laura und verschwand. Es war keine gute Idee gewesen, hierher zu kommen, dachte Simon. Hanna war in ihrem Zustand bestimmt nicht ernst zu nehmen. Sie war wohl nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, die gut für sie war. Er sollte wieder gehen. Und wenn er ihr wirklich helfen konnte? Manchmal, gerade in schwierigen Augenblicken, tat es gut, mit jemandem zu reden, der eine gewisse Distanz hatte und mit dem man sich trotzdem verbunden fühlte. Das ergab einen neuen Blickwinkel.

Nach ein paar Minuten ging die Tür wieder auf. «Ich weiß zwar nicht, was das soll, aber du kannst zu ihr.»

«Wo ist sie?»

«Wenn du ihr weh tust, trete ich dich dahin, wo es dir weh tut, das verspreche ich dir.» Simon lief rot an.

«Ich will ihr nicht weh tun. Ich möchte ihr gerne helfen. Wenn ich es kann. Wo ist sie? Und wie geht es ihr?»

«Es geht ihr beschissen, wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Sie hat seit Tagen weder gegessen noch geschlafen. Sie ist im Gästezimmer, weil sie nicht mehr in ihrem Bett liegen kann.»

«Oh Mann, Laura, sie tut mir so leid. Das alles tut mir so leid.»

«Warum bist du hier?»

Er zuckte mit den Schultern. «Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Ich konnte das nicht einfach ignorieren.»

«Das Gästezimmer ist dort hinten. Erschrick nicht – die schöne Hanna von damals gibt es im Moment nicht mehr.»

«Das ist doch jetzt wirklich egal.»

Er öffnete ganz leise die Tür, die Laura ihm gezeigt hatte. Hanna saß auf einem großen Bett, das aussah, als wäre es ausgeklappt worden. Die Decken waren zerknüllt. Sie war wach, doch sie reagierte nicht. Sie war wirklich dünn. Doch Laura hatte unrecht: Sie sah unsagbar schön aus. Sie schien eine der Frauen zu sein, die mit zunehmendem Alter nur schöner wurden. Natürlich wirkte sie traurig. Doch ihre Haut war noch immer gebräunt, ihre Haare waren lang, dicht und dunkel, und ihre Wimpern umrandeten die grünen Augen, die im Moment an Strahlen eingebüßt hatten. Sie trug eine alte Trainingshose und ein weißes T-Shirt, sie war barfuß. Sie drehte den Kopf in Richtung Tür und sah ihn an. Er ging zum Bett und setzte sich auf den Rand. «Hanna, mein Gott, Hanna. Es tut mir so leid. Was kann ich tun?»

«Kannst du dich zu mir legen und mich ganz fest halten?»

Ihr Wunsch verwunderte ihn. Doch sie sah so elend und traurig aus, dass er genau das sowieso am liebsten getan hätte. Also zog er seine Schuhe aus, legte sich aufs Bett und zog sie fest in seine Arme. Er sagte nichts. Und sie begann zu weinen. Sie schluchzte, ihr ganzer Körper zitterte. Er spürte ihre Rippen und die Schulterknochen. Er streichelte ihr über die Haare, sagte weiterhin nichts. Sie weinte und weinte und weinte. Die Zeit stand still und verging wie im Flug. Irgendwann beruhigte sich der dünne Körper in seinen Armen. Er betrachtete sie. Sie war eingeschlafen.

Er blieb noch einige Minuten neben ihr liegen, bis er sicher war, dass sie ganz tief schlief. Dann stand er auf und machte sich auf die Suche nach Laura. Er fand sie im unteren Stockwerk in der großen, modernen, hellen Küche. Das Haus war eine Wucht, es war neu und äußerst geschmackvoll eingerichtet. Doch er würde sich später ein Bild davon machen. «Was ist mit Hanna?», wollte Laura wissen.

«Sie schläft», antwortete Simon.

«Sie schläft? Ohne Tabletten?»

«Ja.»

«Wow. Das hat sie seit dem Unfall nicht getan. Vielleicht ist es doch nicht so schlecht, dass du hier bist.»

«Ich finde es toll, dass du hier bist, Laura. Ich freue mich, dich zu sehen. Ein liebes Gesicht an Hannas Seite.»

«Ich hätte nicht gedacht, dass du je wieder auftauchst.»

«Es hat viel Mut gebraucht. Aber ich habe Hanna nie vergessen.»

«Du warst ein Arschloch.»

«Ich war ein Feigling», korrigierte er sie. «Ein Arschloch tut etwas aus böser Absicht. Ich habe nie etwas aus Boshaftigkeit getan.» Er konnte ihr ihre negativen Gefühle nicht verübeln. «Könnten wir das Kriegsbeil vorübergehend begraben?» Sie konzentrierte sich wieder auf den Tee, den sie im Begriff war zu kochen.

«Wie lange bleibst du?»

«Solange Hanna mich braucht.»

«Ach komm, du kannst doch nicht einfach aus deinem tollen Leben mit deiner tollen Lisa aussteigen und hier den Seelentröster geben. Gibt’s Lisa überhaupt noch?» Er nickte verlegen.

«Wie lange bleibst du?»

«Solange Hanna mich braucht», äffte sie ihn nach. Das konnte ja heiter werden.

Er nahm sein Smartphone und setzte sich aufs Sofa. Sein Sohn war zumindest bis Sonntagabend versorgt. Es war Samstag. Er schrieb eine Nachricht an Lisa. «Komme heute nicht nach Hause. Erkläre dir alles morgen.» Die Nachricht von Sebastians Tod und Hannas Schicksal hatte ihn bis ins Mark erschüttert. Er merkte, dass er nicht nur für Hanna da sein wollte – er wollte vielmehr über sein eigenes Leben nachdenken, über die Art und Weise, wie er es lebte. Über sein sich selbst auferlegtes Nicht-Glücklichsein. Es fühlte sich an wie ein Weckruf. Das Leben war zu kurz, um nicht glücklich zu sein.

«Hanna ist wach», rief Laura. «Sie fragt nach dir.» Nachdenken konnte er später. Er machte sich wieder auf den Weg zu Hanna.

«Bleibst du bei mir?», fragte sie. «Natürlich nur wenn du kannst.»

Er legte sich wieder zu ihr und nahm sie in seine Arme.

«Möchtest du reden?»

«Nicht jetzt. Ich möchte einfach hier liegen, wenn ich darf.» Er schloss seine Arme noch fester um sie.

«Sicher», murmelte er in ihre Haare. Sie schlief kurz darauf wieder ein, doch er wagte es nicht mehr, sie zu verlassen. So blieb er neben ihr liegen und atmete ihren Duft ein. Es war eine seltsame Situation, in der er sich befand. Er hatte sie immer vermisst – doch jetzt spürte er erst, wie sehr. Es war, als wären sie nie getrennt gewesen und doch war alles anders. Er wusste nicht, wie sie sich verändert hatte. Oder wie sie das alles, was sie jetzt durchmachte, verändern würde. Er hoffte, er könnte wieder ein Teil ihres Lebens werden – in welcher Form auch immer.

Seit er an diesem Morgen die Nachricht in der Zeitung gelesen hatte, war er durcheinander. Es ging nicht mal nur um Hanna – vielmehr schrie alles in ihm nach «Plan A». Nach einem Leben, nach dem er seit seinem eigenen Unfall nicht mehr gestrebt hatte, weil er geglaubt hatte, mit «Plan B» zufrieden zu sein. Und das verwirrte ihn.

Hanna schlief volle drei Stunden und er spürte langsam, dass er Hunger hatte. Schlafen konnte er weiterhin nicht. Aufstehen konnte er auch nicht, weil er Hanna nicht wieder aufwecken wollte. Es schien, als könne sie nur schlafen, wenn er sie in seinen Armen hielt. Er beschloss sich eine Pizza zu bestellen. Er wagte es nicht, in ihrer Küche herumzuschnüffeln und sich etwas Essbares zu suchen. Zum Glück funktionierte das alles tonlos online.

Eine halbe Stunde später wurde die Pizza geliefert und er musste doch aufstehen. Er brachte die duftende weiße Schachtel ins Gästezimmer, zog den kleinen Couchtisch, der sich darin befand, zum Bett und öffnete den Karton.

«Was machst du?», flüsterte Hanna hinter ihm.

«Ich esse Pizza. Magst du ein Stück haben?» Sie setzte sich auf und kam näher, sie schnupperte.

«Ja», antwortete sie dann und er reichte ihr ein Stück, zusammen mit einer Serviette. «Ich habe gar nicht bemerkt, wie viel Hunger ich habe», meinte sie und biss in ihr Pizzastück.

«Du siehst dünn aus.»

«Ich habe einfach nichts mehr runterbekommen.» Sie kam noch ein bisschen näher und setzte sich im Schneidersitz neben ihn an den Rand. «Es tut mir leid, dass ich dich so überfallen habe», sagte sie dann.

«Du hast mich nicht überfallen. Ich habe dir meine Hilfe ja angeboten.»

«Ist es denn okay für dich hier zu sein?»

«Ich hätte mir unser Wiedersehen anders vorgestellt», antwortete er vorsichtig. «Aber es gibt keinen Ort, an dem ich jetzt lieber wäre.» Sie schaute ihn etwas skeptisch an.

«Das glaube ich dir zwar nicht. Aber ich danke dir, dass du da bist.» Sie nahm seine Hand und drückte sie. Dann biss sie wieder in ihre Pizza. «Wo ist Laura?»

«Ich weiß es nicht. Aber es ist auch toll, dass sie da ist.»

«Ja», gab Hanna zu. «Ich bin so froh. Ich weiß nicht, wie lange sie bleiben kann. Sie lebt in Berlin, weißt du?»

«Wir haben uns viel zu erzählen», sagte Simon. «Aber noch nicht jetzt, okay?» Sie nickte. «Wollen wir einen Film schauen?», fragt er dann. Sie nickte erneut.

Im Gästezimmer stand ein Fernsehgerät und er schnappte sich die Fernbedienung. Der Fernseher war recht neu, er bot einen Filmedownload an und Simon zappte sich durch das Angebot. «Worauf hast du Lust?»

«Ich weiß nicht. Nichts Lustiges. Und auch kein Liebesfilm. Ein Thriller vielleicht?»

«Ein Thriller?» Er schaute skeptisch. «Na gut, du bist die Chefin.» Er suchte einen Film heraus, der ihn nicht ganz so dramatisch dünkte und lud ihn herunter. Sie setzte sich aufrecht ins Bett und bedeutete ihm zu ihm zu kommen.

«Wann musst du nach Hause?»

«Gar nicht», antwortete er. «Nicht heute. Außer du möchtest, dass ich gehe.»

«Nein», bat sie. «Bleib bei mir.»

«Hast du noch ein Gästebett?»

«Bleibst du hier? Bei mir?»

«Wenn du das möchtest?»

«Es ist erstaunlich, Simon. Es ist fast, als wärst du nie weggewesen. Es geht mir dreckig.» Sie schaute ihn an. «Aber jetzt, wo du da bist, fühle ich mich nicht mehr so alleine.» Er legte den Arm um sie und sie kuschelte sich an ihn heran. Dann schauten sie gemeinsam den Film. Simon fand ihn nicht wirklich passend, es war ein Psychothriller und es floss reichlich Blut. Aber viel schien Hanna nicht davon mitzukriegen.

Er hatte bald den Eindruck, dass sie sehr viel Schlaf nachholen musste. Der Unfall war nun fast eine Woche her und Laura hatte gemeint, dass sie seither kaum ein Auge zugekriegt hatte. Es waren noch keine dreißig Minuten vergangen, bis sie erneut in seinen Armen eingeschlafen war. Da er langsam selbst etwas müde war und er keine Lust hatte auf Mord und Totschlag, beschloss er einfach es ihr gleich zu tun.

Kapitel 2

Drama um Triathlon-Olympiasieger

Sebastian Fischer stirbt bei Canyoning-Unglück

Der erst neununddreißigjährige Sportler hinterlässt seine Partnerin, die Ruder-Olympiasiegerin Hanna Caminada, sowie die gemeinsame vierjährige Tochter.

Er ließ langsam sein Smartphone sinken. Und was nun? Jetzt war alles vorbei – bevor es überhaupt je eine Chance gegeben hatte, anzufangen. Er war tot. Tot. Niemals würden sie zusammen reden, lachen, trainieren oder verreisen. Nie. «Sag niemals nie», hatte sie gesagt. Doch dieses «Nie» war endgültig und unwiderruflich. Nie. Nie. Nie. Nie. Nie. Er hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Sein Herz war schwer. Er konnte nicht einmal sagen, dass er besonders traurig gewesen wäre. Wie denn auch? Trotzdem war das Kapitel für ihn nicht einfach abgeschlossen. Er wollte Antworten auf alle seine Fragen. Doch er hatte keine Ahnung, wie er vorgehen sollte.

Kapitel 3

Er wusste erst gar nicht, wo er war. Es war dunkel und er tastete nach seinem Handy, damit er ein bisschen Licht hatte. Der Blick auf die Uhr zeigte, dass es früher Morgen war. Als er sich auf die Seite drehte, bewegte sie sich. Hanna, schoss es ihm sofort durch den Kopf. Er war bei ihr. Er bewegte sich nicht mehr und atmete ihren Geruch ein. Sie roch nach Hanna. Nach dem Duschmittel, das sie benutzt hatte, aber auch ein bisschen salzig von den vielen Tränen. Sie hatte teure Parfüms nie gemocht. Der Geruch kam ihm sofort vertraut vor. Als wäre er nie weggewesen. Ja, so war es. Es ging ihr furchtbar und er hatte Angst, etwas zu tun, was sie verschrecken oder verwirren könnte.

Sie war fünfunddreißig Jahre alt. Sie war noch immer so atemberaubend schön wie damals. Er war mit beinahe vierundvierzig Jahren dagegen fast ein alter Mann. Der Alterstunterschied zwischen ihnen hatte ihn schon damals beschäftigt. Damals war er außerdem ihr Lehrer gewesen. Was der Grund gewesen war, warum er sich gegen eine Beziehung mit ihr entschieden hatte. Diesen Entscheid hatte er oft bedauert. Er spürte, wie nah er sich Hanna noch immer fühlte. Er hoffte, er konnte sie unterstützen, ohne ihr zu nah zu kommen. Er wusste noch nicht, was es für ihn bedeutete, sie wieder in seinem Leben zu haben. Doch er wusste – er wollte die Geschehnisse als Anlass nehmen, sein Leben so zu verändern, dass er wieder glücklich war. Mit oder ohne Hanna. Er war seit Langem nicht mehr glücklich. Wahrscheinlich seit damals, vor zwölf Jahren, als er nach einer letzten Liebesnacht ihre Wohnung verlassen und nie wieder etwas von ihr gehört hatte. Er hatte sich immer eingeredet, seine Entscheidung sei richtig gewesen. Zu diesem Zeitpunkt war sie das auch gewesen. Doch je mehr er darüber nachgedacht hatte, desto mehr hatte er den Eindruck bekommen, dass er nicht genügend gekämpft hatte. Nicht um Hanna, sondern um die Akzeptanz ihrer Liebe.

Nach ein paar Minuten wachte sie auf. Sie drehte sich zu ihm um und schaute ihn an. Zum ersten Mal, seit er bei ihr angekommen war, lächelte sie.

«Wie geht es dir?», fragte er sie.

«Es ging mir schon einmal besser», meinte sie. «Es tut mir leid, dass du mich so siehst.» Er lächelte sie an.

«Das ist Quatsch, du machst es so toll. Erzählst du mir von ihm?»

«Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.»

«Kein Problem. Möchtest du etwas essen?» Sie drehte sich auf den Rücken und schaute an die Decke. Dann begann sie ganz leise zu sprechen.

«Ich konnte mich viele Jahre lang nicht wieder verlieben. Du hast mir damals das Herz gebrochen. Ich dachte für eine lange Zeit, dass ich mich nie wieder verlieben könnte. Ich hatte ein paar Angebote, weißt du. Aber mein Herz war noch nicht soweit.» Sie schaute ihn an. Ihre Aussagen schmerzten. «Ich habe mich ein bisschen ausgetobt, ich bin da ehrlich. Ich hatte viele Affären. Ich wollte nicht immer alleine sein. Aber ich wollte auch niemanden in mein Leben lassen. Ich hatte immer den Eindruck, ich wäre nicht ehrlich. So wie damals bei Felix. Sebastian war anders. Um ehrlich zu sein – er hat mich umgehauen. Er hat meine Argumente, warum ich keine Beziehung haben kann, einfach ignoriert.» Sie lächelte bei der Erinnerung und es gab ihm einen kleinen Stich ins Herz.

«Wo hast du ihn denn getroffen? Bei den Spielen?» Es musste fast so gewesen sein, aber Simon wusste es natürlich nicht definitiv.

«Ja. Er war Triathlet. Aber damals war er noch nicht so gut wie später. Wir haben uns im Olympischen Dorf getroffen. Es war nach den Qualifikationsläufen. Sein Rennen war da schon durch. Er hatte noch ein paar Tage bleiben und das olympische Gefühl leben wollen. Er hatte keine Ahnung, wer ich war und er wollte mich unbedingt auf einen Drink einladen. Oder mit mir etwas essen gehen. Doch ich wollte mich auf meine Läufe konzentrieren. Das hab ich ihm auch gesagt. Ab da war er quasi mein persönlicher Assistent. Er hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen und mir alles hinterhergetragen. Später hatte er einmal gesagt, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er habe mich vom ersten Augenblick an gewollt.» Sie schwieg.

«Ich kann ihn gut verstehen», sagte Simon.

«Ich war ganz schön kratzbürstig. Ich habe immer wieder versucht ihn loszuwerden. Doch er wollte mich nur umso mehr. Nach dem ganzen Drama mit dir war das irgendwie ein schönes, neues Gefühl. Es tat mir gut so begehrt zu werden. Er war ein schöner Mann. Ein Lebenskünstler, und ich wusste am Anfang nie so richtig, woran ich bei ihm war. Obwohl er mir immer wieder versichert hatte, dass er mich liebt.» Was für ein Idiot er selbst gewesen war, dachte Simon. Er hätte es ganz genauso machen sollen. Er bewunderte Sebastian für seine Hartnäckigkeit. Und er war so furchtbar eifersüchtig. Natürlich konnte er sich das nicht anmerken lassen. «Ist es ok für dich, wenn ich dir das erzähle?» Es war schon damals so gewesen, dass sie oft genau das ansprach, was ihn beschäftigte. Als könnte sie in seine Seele blicken.

«Natürlich ist es ok. Sprich ruhig weiter.» Es kostete ihn einige Mühe, dies zu sagen, doch hier ging es nicht um ihn.

«Es hat ihn nie interessiert, ob ich das Finale gewinne oder verliere. Viel später sagte er mir einmal, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn ich nicht gewonnen hätte. Auch weil es ihn ein bisschen unter Druck gesetzt hat. Obwohl er sich gefreut hat, weil es mein großer Traum gewesen war. Doch der ganze Rummel nach dem Sieg führte dazu, dass wir uns nicht mehr so unbeschwert kennenlernen konnten. So sahen wir uns erst einmal eine ganze Weile nicht. Und da habe ich gemerkt, wie sehr ich ihn vermisste. Als wir uns dann wieder trafen, war es klar: Wir wollten zusammen sein und bleiben.»

«Was war er für ein Mensch?»

«Er war chaotisch. Diese Beschreibung hat am besten zu ihm gepasst. Er kannte keine Regeln und hat alles einfach so gemacht, wie er es für richtig hielt. Er tat alles auf eine sehr charmante Art und Weise, sodass man ihm nie böse sein konnte. Er war sehr intelligent und er hat mir die Welt erklärt. Wir sind so viel gereist. Nach meinem Rücktritt habe ich ihn unterstützt, habe viele Trainingslager und Rennen mit ihm besucht. Ich habe es genossen, mich bei ihm fallen zu lassen und schwach zu sein. Er war irgendwie immer stark und hatte alles im Griff. Der Sport war sein Leben. Er hat wirklich viel trainiert, was gar nicht zu seinem Naturell passte. Es war sein Traum, selbst bei Olympia erfolgreich zu sein. Und er hat es ja dann geschafft. Aber auch andere Sportarten faszinierten ihn, es war ganz egal was: Langlauf, Fussball oder Fallschirmspringen. Er musste alles ausprobieren. Besonders aufgeblüht ist er immer, wenn er in der Natur war. Klettern oder eben Canyoning.»

Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Er reichte ihr den Zipfel der Bettdecke, damit sie sich die Wangen trocknen konnte.

«Wollen wir rudern gehen?», fragte er.

Sie schaute ihn an.

«Ich saß seit dem Olympiasieg in keinem Ruderboot mehr», schniefte sie. Das erstaunte ihn.

«Warum nicht?»

«Ich hatte all meine Ziele erreicht. Auf einmal hatte ich das Gefühl, leer zu sein. Ich glaube, ich konnte so lange weitermachen, bis ich Olympia erlebt hatte. Danach war die Luft raus. Es gab zu viele schmerzhafte Erinnerungen an das Rudern. Es war nicht länger mein Leben. Ich habe dann viele andere Dinge ausprobiert. Sebastian hat mich angesteckt mit seinem Sportfimmel. Wir haben uns immer bewegt. Aber das Ruderboot hab ich nicht vermisst.»

«Willst du es versuchen?»

Sie überlegte eine Weile.

«Ja», sagte sie dann bedächtig. «Vielleicht wird es mir guttun.»

Kapitel 4

Laura hatte Frühstück gemacht, und zum ersten Mal seit dem Unfall setzte Hanna sich an den Tisch und aß ein Stück Brot mit Honig und trank ein Glas Saft dazu. Hannas Tochter Julia, die sie gerne einfach nur Juli nannte, war bei Hannas Eltern, sie konnte dort so lange bleiben, wie es nötig war.

«Wir gehen rudern», sagte Hanna zu Laura.

«Was? Du bist seit Jahren nicht mehr gerudert.»

«Ja ich weiß, aber ich würde es gerne versuchen. Ich habe die Stille auf dem See immer geliebt. Vielleicht hilft es mir ja?»

«War das deine Idee?», fragte Laura Simon.

«Ja, es war mein Vorschlag. Aber es muss nicht sein.»

«Doch, ich will das», erklärte Hanna bestimmt. Und dann zu Laura: «Ich bin froh, dass Simon da ist. Okay?» Laura nahm Hannas Hände.

«Tut mir leid, Süße. Alles, was dir hilft, ist okay für mich. Ich wünsche mir nur, dass deine Situation nicht noch schlimmer wird.» Hanna lächelte ihre Freundin an.

«Ich weiß. Es bedeutet mir viel, dass du so denkst. Ich spüre, dass er mir guttut. Er wird mich nicht wieder verletzen.» Simon hörte zu, wusste aber nicht so richtig, was er dazu sagen sollte. War er fehl am Platz? Wäre es für Hanna vielleicht besser gewesen, wenn er nicht gekommen wäre?

«Ich werde Hanna nie wieder verletzen, ich verspreche es», sagte er dann ganz leise. «Alles, was zählt, ist sie und was sie möchte.»

«Ich möchte mit dir rudern gehen», erklärte Hanna. Laura nickte – und lächelte.

Simon wusste, warum er sie sofort wiedererkannt hatte. Es war die alte Laura von damals. Das gleiche offene, herzliche Lachen Hanna gegenüber, das gleiche böse Funkeln in den Augen, wenn sie ihn, Simon anblickte. Ihre Haare waren kürzer, ihre Hüften ein bisschen breiter – aber ihr Gesicht war jugendlich schön wie eh und je.

«Ich werde euch nicht im Weg stehen, versprochen. Du hast recht, Simon, alles, was jetzt zählt, ist, dass Hanna wieder auf die Beine kommt.

Kapitel 5

Es war ein schönes, modernes Haus mit Flachdach, es war grau, doch ein Teil war mit Holz eingekleidet. Die Namen S. Fischer und H. Caminada standen auf dem Schild neben der Klingel. Er brauchte sie nur zu drücken. Es war nicht sonderlich schwierig gewesen die Adresse ausfindig zu machen. Trotz der Bekanntheit der beiden Bewohner. Hier lebten sie also. Oder hatten gelebt … Was sollte er schon sagen? Sebastians Tod war gerade ein paar Tage her. Seither hatten sich die Ereignisse überschlagen und er hatte keine Zeit gehabt, alles zu sortieren.

Die Seite mit dem Eingang hatte tatsächlich kein einziges Fenster. Das Haus war seltsam gebaut, es stand in einem Hang, weshalb es auf der oberen Seite eher klein schien, aber von unten her gesehen richtig gross war. Die Fenster waren an der Seite. Und wenn er den schmalen Kiesweg, der links um das Haus herumführte, ein Stück hinunterging, konnte er durch die Terrassentür ins Wohnzimmer sehen. Es brannten keine Lichter. Was nicht erstaunlich war, es war fast Mittag und es war hell genug. Aber so konnte er nicht erkennen, ob jemand zuhause war oder nicht.

Er ging zurück zur Eingangstür und hob seinen Finger erneut an die Klingel. Und drückte erneut nicht darauf. Es ging nicht. Er schaffte es nicht. Hatte keinen Mut. Er ließ seinen Arm sinken. Dann drehte er sich um. Plötzlich hörte er etwas an der Innenseite der Tür. Er hechtete, so schnell er konnte, um die holzverkleidete Garage herum und schlüpfte um die Ecke, wo er sich gegen die Wand drückte. Die Tür ging auf.

Kapitel 6

Direkt nach dem Frühstück schlüpfte ich in meinen alten Einteiler. Ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr getragen. Aber ich hatte mich nie dazu aufraffen können ihn wegzugeben oder zu entsorgen. Zu viele Erinnerungen hingen daran. Früher war er hauteng gewesen, jetzt war er viel zu groß. Früher hatte ich nur aus Muskeln bestanden, jetzt war ich nur noch Haut und Knochen. Ich zog einen Trainingsanzug darüber und schnappte mir meine Turnschuhe. Das konnte ja heiter werden. Meine Kraft würde wohl nur bis in die Mitte des Sees reichen – und nicht wieder zurück.

«Bist du bereit?», fragte Simon.

«Ja.»

Wir mussten mein Auto nehmen, da Simon mit dem Taxi hergekommen war. Er erklärte sich jedoch bereit zu fahren. Ich drückte auf den Knopf, der das Garagentor öffnete. Wir fuhren rückwärts hinaus und Simon bog nach links auf die Strasse ab. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, im Rückspiegel Sebastian zu sehen. «Was ist los?», wollte Simon wissen, der mir den Schrecken im Gesicht wohl angesehen hatte. «Ich dachte, da wäre Sebastian gewesen. Ich sehe schon Gespenster.»

«Das ist sicherlich normal», meinte Simon. «Es ist erst so kurz her. Magst du noch rudern?»

«Ja», sagte ich so zuversichtlich wie ich konnte. Ich freute mich wirklich auf den Ausflug im Boot.

Schon kurze Zeit später kamen wir beim Ruderclub an. Erneut hatte ich den Eindruck, Sebastian zu sehen, dieses Mal in einem Auto oben an der Straße. Ich musste verrückt werden. Und das wollte ich nicht. Ich kniff meine Augen zusammen und versuchte mich auf das bevorstehende Rudern zu konzentrieren.

Ich stieg aus dem Auto und schaute mich um. Ich war seit zwölf Jahren nicht mehr hier gewesen und erstaunt, wie wenig sich verändert hatte. Die beiden Gebäude sahen von außen aus wie früher. Ich fühlte mich auf einmal auf eine sonderbare Weise geborgen. Es war ein bisschen wie nach Hause kommen. Auf der rechten Seite des Kieswegs stand die altehrwürdige Villa, das eigentliche Clubhaus. Es war zweistöckig und umzäunt. Ich betrachtete das Fenster neben der Tür. Damals, als ich Simon ganz neu kennengelernt hatte und er noch mein Lehrer gewesen war, hatte ich durch dieses Fenster nach draußen klettern wollen, weil die Tür abgesperrt gewesen war. Ich war vom Stuhl gefallen und Simon hatte mich zum ersten Mal geküsst. Ab diesem Zeitpunkt hatte ich ihn geliebt.

Er bemerkte meine Blicke in Richtung Fenster. Er griff nach meiner Hand und drückte sie. Er wusste, was ich dachte und er dachte dasselbe. Vor fünfzehn Jahren hatte es angefangen, seit zwölf Jahren war es vorbei. Bis heute.

«Komm, wir holen uns ein Boot», riss mich Simon aus meinen Gedanken.

Auf der linken Seite des Kiesweges stand ein alter Holzschuppen. Dort waren die Boote gelagert. Ein Zugang auf der anderen Seite der Tür führte direkt zum See.

Alles, was ich jetzt brauchte, waren ein Boot und zwei Ruder. «Ich ziehe mich schnell um», erklärte Simon. «Ich habe da drinnen einen Einteiler. Magst du mitkommen oder wartest du hier?»

«Ich setze mich da vorne an den See», antwortete ich. Es würde nicht lange dauern und ich wollte mich mit der Umgebung, die ich so gut gekannt hatte, erneut vertraut machen.

Simon kam schon nach ein paar Minuten zurück und führte mich zum Lagerhaus. Er war inzwischen im Clubvorstand und hatte damit freien Zugang zu allen Bereichen. Eine Funktion als Assistenztrainer hatte er jedoch nicht mehr inne, wie er mir auf der Hinfahrt zögerlich erzählt hatte. Er hatte sich gescheut mir etwas von sich zu erzählen. Es ginge jetzt um mich, hatte er gemeint.

«Welches Boot magst du haben?» Ich stand staunend vor den ganzen Reihen, dutzende Boote in allen Farben und Längen waren hier übereinander gelagert. Früher war dieser Anblick Alltag gewesen. Jetzt war er sonderbar, doch ich bemerkte, wie er doch ein leises Kribbeln in mir auslöste. Hatte ich das Rudern vermisst, ohne es überhaupt bemerkt zu haben? «Weißt du noch, welche Größe dir passt?» Natürlich hatte ich es nicht vergessen, aber Simon brauchte meine Antwort nicht.

Er hob, ohne meine Antwort abzuwarten, ein Boot herunter und trug es zum Wasser. Er wusste viel besser als ich, welches Boot ich brauchte. Dann kam er zurück und reichte mir zwei Ruder. Anschließend nahm er ein Boot und Ruder für sich selbst.

«Komm», sagte er und nickte mir aufmunternd zu. Es war ein kühler Herbstmorgen und einige Nebelschwaden hingen tief über dem See. Das verlieh dem Ganzen eine traurige Stimmung, was in diesem Augenblick gut zu mir passte. Ich setzte mich ins Boot und packte die Ruder. Das Boot wackelte ein bisschen. «Brauchst du Hilfe?» Ich schüttelte den Kopf und stieß die Ruder ins Wasser und hatte bald das Gleichgewicht gefunden. Es war ein bisschen wie Fahrrad fahren – man verlernt es nicht, wenn man es mal gekonnt hatte. Und ich hatte es mal wirklich gut gekonnt. Ich lächelte ein bisschen, als ich mich daran erinnerte. Insbesondere an meinen Karrierehöhepunkt, den Olympiasieg. Das war schon acht Jahre her. Trotzdem, meine Arme waren eingerostet und diese spezifische Bewegung nicht mehr gewohnt. Ich würde üblen Muskelkater haben. Aber ich fühlte mich gut. Simon ruderte neben mir her. Ich hatte kein Bedürfnis zu sprechen und er bemerkte dies und schwieg ebenfalls. Nachdem er sich sicher sein konnte, dass ich nicht kentern würde, ging er sogar einen Schritt weiter und stoppte sein Boot. So ruderte ich alleine weiter durch den Nebel. Ich lauschte dem leisen Plätschern des Wassers, wenn ich die Ruder hob und wieder hineinstieß.

Als ich Simon zugesagt hatte, mit ihm rudern zu gehen, hatte ich mir vorgestellt, dass ich mit ihm über Sebastian sprechen würde oder ich wenigstens über ihn und seinen Unfall nachdenken würde. Doch jetzt waren all diese Gedanken auf einmal weg. Ich konnte auf einmal an gar nichts mehr denken. Das verwirrte mich. Ich spürte nur, wie mir die Tränen über die Wangen liefen und verstand noch nicht einmal, weshalb. Es war nicht nur Trauer, es war auch dieses seltsame Gefühl, dass ich angekommen war. Ich hatte das Rudern vermisst – und es war mir gar nie bewusst gewesen. Ich erkannte so viele Dinge, eine Bank am Ufer, einen Baum, einen großen Stein. Tausende Male war ich daran vorbeigerudert und das alles hatte sich in mein Hirn eingebrannt. Es war erstaunlich, wie ich mich auf einmal an alles erinnerte und wie ich mich um über ein Jahrzehnt in die Vergangenheit versetzt fühlte.

Ich ruderte einmal durchs Seebecken auf die andere Seite. Simon war stehengeblieben. Als ich mich drehte, konnte ich ihn in der Ferne erblicken. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht fuhr ich langsam zu ihm zurück.

«Alles okay?», fragte er mich, als ich wieder auf seiner Höhe war.

«Alles okay», versicherte ich ihm. «Es hat mir wahnsinnig gutgetan. Danke, dass du mich dazu überredet hast. Es war, als wäre ich nie weggewesen. Es hat meine vielen Gedanken gestoppt.»

«So geht es mir immer. Deshalb habe ich auch nie damit aufgehört.» Simon half mir, das Boot und die Ruder im Bootshaus zu verstauen.

«Wir können das jederzeit wiederholen, wenn du magst.»

«Ja, das möchte ich wirklich gerne. Wenn du Zeit hast.»

Kapitel 7

Am Nachmittag saßen sie zusammen auf dem Sofa. Sie schwiegen beide. Simon war hin- und hergerissen. Er wollte nicht gehen, er wollte aber auch nicht ohne Hannas Einverständnis bleiben. Und wenn er bleiben würde, musste er einige Dinge in die Wege leiten. Hanna schien ganz in ihre Gedanken versunken und er wollte sie nicht mit seinen Problemchen belasten. Deshalb beschloss er abzuwarten. Nach einer langen Weile blickte sie ihn an.

«Kannst du noch ein bisschen bleiben?» Sie räusperte sich. «Ich meine, du musst natürlich nicht. Ich verstehe, wenn du gehen musst, wirklich. Du hast schon viel für mich getan.»

«Ich würde sehr gerne bleiben», hörte er sich sagen.

«Kannst du das denn überhaupt?»

«Ja, ich denke schon. Ich muss nur ein paar Dinge erledigen.»

«Lisa?» Er nickte.

«Sie sollte wenigstens wissen, wo ich bin.»

«Bitte bleib nicht, wenn sie das nicht will, okay? Es war schon sehr egoistisch von mir, dich um Hilfe zu bitten. Ich möchte uns nicht wieder alle drei herunterreißen, so wie damals. Du kannst nicht hierbleiben, wenn du noch mit ihr zusammen bist.»