Herzblut: Ich liebe dich bis in den Tod - Hannah Jayne - E-Book

Herzblut: Ich liebe dich bis in den Tod E-Book

Hannah Jayne

4,7
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Gern geschehen" steht auf dem Zettel in Sawyers Schließfach, kurz nach dem Unfalltod ihres Freundes Kevin. Ein kranker Scherz? Oder ein irrer Stalker, der es auf sie abgesehen hat? Als sich die Todesfälle in ihrem Umfeld häufen, bekommt Sawyer Angst. Der Stalker scheint jeden ihrer Schritte zu beobachten. Sawyer kann niemanden mehr vertrauen, auch nicht ihrer neuen Liebe Cooper. Und langsam zieht sich die Schlinge zu... Übersetzt von: Manuela Knetsch

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 338

Bewertungen
4,7 (16 Bewertungen)
13
1
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Manuela Knetsch

KOSMOS

Umschlaggestaltung init. büro für gestaltung, Bad Oeynhausen

Titel der amerikanischen Orginalausgabe:

Truly, Madly, Deadly

© 2013 by Hannah Jayne und Sourcebooks, Inc.

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

weitere Informationen zu unseren Büchern,

Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und

Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2014, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-14431-2

Übersetzung: Manuela Knetsch

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für meine Mutter, der vermutlich nicht bewusst ist, dass die Tatsache, dass sie ihren Traum verwirklicht hat, mir die Stärke gab, meinen ebenfalls zu leben.

1

Danke, dass du gekommen bist.«

Die Worte schwebten in der Luft, fielen auf den weichen, flauschigen Teppich nieder, und Sawyer fragte sich, ob sie den kleinen Fussel von Kevins Ohrläppchen streichen sollte. Dort hing er und hob sich deutlich und weiß vom dunklen Marineblau seines Anzuges ab.

»Ohne dich hätte ich diesen Tag heute nicht durchstehen können«, sagte Mrs Anderson und drückte Sawyers eiskalte Hand.

Sawyer wusste, dass sie etwas Tröstliches sagen sollte, etwas Herzliches und Rücksichtsvolles, aber alles, worauf sie sich konzentrieren konnte, war der Fussel an Kevins linkem Ohr.

»Sie sagten, es sei schnell gegangen«, flüsterte jemand. »Sie sagten, er sei betrunken gewesen.«

In jeder Minute der letzten achtundvierzig Stunden hatten diese Worte immer und immer wieder in ihrem Kopf rotiert. Es war schnell gegangen. Kevin war betrunken gewesen, er hatte keine Chance gehabt. Sie weinte nicht – konnte es nicht mehr –, als sie auf Kevin hinunterblickte. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen leicht geöffnet und seine Hände lagen sanft gekreuzt auf seiner Brust. Von irgendwo tief unten in ihr, aus dem Dunkel heraus, kam Sawyer der Gedanke, dass er ihr nun zumindest nicht mehr würde wehtun können.

»Du musst am Boden zerstört sein.«

Sawyer spürte, wie Mr Hanson, ihr Spanischlehrer, sanft die Hand auf ihre Schulter legte. Sie zuckte zurück und war plötzlich unglaublich angewidert vom Duft der Lilien. »Ich bin gleich wieder da.« Sie nahm zwei Treppenstufen auf einmal, ihre Füße in den schwarzen Ballerinas traten lautlos auf dem Teppichboden auf. Auf dem oberen Treppenabsatz angekommen, sah sie am Ende des Flurs ein Mädchen – und blieb stehen.

Das Mädchen blinzelte Sawyer zu.

Sie war groß und dünn und hatte – unglücklicherweise – eine jungenhafte Figur, die nur aus Ecken und Kanten zu bestehen schien. Ihr langes braunes Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihr über die rechte Schulter fiel, und statisch aufgeladene kurze Härchen rahmten ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Die Augen des Mädchens sahen aus, als seien sie einmal samtbraun und lebendig gewesen, nun aber wirkten sie eingesunken und matt. Ihre vollen Lippen waren blassrosa und die Mundwinkel nach unten gezogen. Dieses Mädchen trug das Schwarz der Trauerkleidung wie eine zweite Haut.

Sawyer schluckte. Das Mädchen schluckte.

Sawyer hielt einen ganzen Herzschlag lang inne, bevor sie hilflos an ihrem Zopf zog. Dann wandte sie ihren Blick vom Spiegel ab, der ihr ein Mädchen zeigte, das sie kaum wiedererkannte. Sie lief eilig den Flur hinunter.

Von den Nächten, in denen sie ihre Eltern angelogen und sich barfuß am Schlafzimmer von Kevins Eltern vorbeigeschlichen hatte, wusste sie, dass sein Zimmer hinter der letzten Tür links lag. Mit einem Seufzen schlüpfte sie hinein und schloss sachte die Tür. An der Innenseite der Tür war mit Klebeband ein Bild befestigt, dessen Ecken sich schon aufrollten, und Sawyer berührte es verblüfft. Es zeigte eine Strandszene, und sie hatte es an dem Tag gemalt, als Kevin das erste Mal mit ihr gesprochen hatte. Es war im Kunstunterricht gewesen, und sie hatte völlig versunken dagesessen, ihre Pinselstriche abgewägt, sich über das Papier gebeugt und die brechenden Wellen so realistisch wie möglich gemalt.

»Du bist echt gut«, hatte er gesagt und mit dem Kinn zu der Szene gedeutet. Selbst jetzt, als sie mit dem Zeigefinger über den sich kräuselnden Schaum des nun für immer zur Ruhe gekommenen Wassers strich, spürte sie noch immer die heftig aufwallende Hitze in ihren Wangen.

Sie hörte ein sanftes Atmen in dem gelblichen Licht, das durch die Jalousien drang und auf das Bild schien. »Ein Repräsentant des College war hier, um mit ihm zu sprechen, weißt du.«

Kevins Vater sagte es, ohne sich umzudrehen. Er hatte sich auf die Bettkante seines Sohnes gesetzt und hielt den Kopf gesenkt. Obwohl er mit dem Rücken zu ihr saß, sah Sawyer, dass seine Finger mit dem seidenartigen Stoff von Kevins Football-Trikot spielte. Er war die Nummer einundzwanzig der Hawthorne Hornets – der Hawthorne-Hornissen – gewesen. Eine ganze Ladung vergoldeter Football-Trophäen stand über ihnen auf dem Regal.

»Er hat davon gesprochen, dich zu heiraten.« Mr Anderson sah mit seinen blauen, tränenfeuchten Augen über die Schulter zu Sawyer. Er schien in Erinnerungen zu schwelgen und hatte ein leises Lächeln auf den Lippen. »Er sagte, er würde an die University of California gehen und du auf die Kunsthochschule, und dann wäre alles perfekt.«

Sawyer versuchte zu lächeln, versuchte sich an die Momente zu erinnern, in denen Kevin und sie sich im Gras gerekelt hatten, ihre Hand die seine fand, in denen sie über eine Zukunft sprachen, die weit weg und makellos war und in der es weder Scheidung noch Eifersucht noch den Druck und die Rivalitäten an der Highschool gab. Sie erinnerte sich daran, dass sie Kevin erzählt hatte, dass sie zur Kunsthochschule gehen wollte, erinnerte sich an den entrückten Ausdruck in seinen Augen, als sich ein Lächeln auf seine Lippen schlich.

»Was?«, fragte sie und konnte nur mühsam ein Grinsen unterdrücken.

Kevin schüttelte den Kopf und drückte sanft Sawyers Hand. »Das ist einfach perfekt! Ich gehe zur CAL und bin dort der umwerfende Football-Star, und du wirst auf der anderen Seite der Bucht an der Kunsthochschule sein und Porträts deines Geliebten malen.«

»Porträts von John Lennon? Das wird mir bestimmt irgendwann zu langweilig.«

Kevin zog sie am Arm – sanft, zärtlich – und Sawyer kuschelte sich in seinen Schoß und genoss das Gefühl, dass Kevin sie eng umschlungen hatte. Sie fühlte sich so sicher, so geborgen, und als er mit seinen Lippen über ihr Ohr strich, hatte sie tausend Schmetterlinge im Bauch.

Nun steckte ihr diese Erinnerung wie ein Kloß im Hals. Damals war alles noch in Ordnung gewesen, sagte sie sich.

Ein Aufschluchzen von Mr Anderson brachte Sawyer zurück in die Gegenwart. Als sie aufsah, saß Kevins Vater gekrümmt da und hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen. Nur sein abgehackter Atem war zu hören. Er weinte.

Sawyers Unterlippe begann zu zittern, und als sie die Augen schloss, sah sie Kevin vor sich, lebendig und mit rosigen Wangen, die Lippen zu diesem leichten Lächeln verzogen, das dem seines Vaters so ähnelte. Vor ihrem inneren Auge verwandelte sich das Lächeln in ein wütendes Zähnefletschen. In ihrem Kopf hörte sie das widerwärtige Klatschen von Haut, die auf Haut traf. Sie wankte, spürte noch einmal den brennenden Schmerz.

»Er hat dich so sehr geliebt.«

Sawyer spürte Kevins warmen Atem, hörte das tiefe Brummen seiner Stimme, als er ihr zum ersten Mal gesagt hatte, dass er sie liebte. Sie erinnerte sich an den Schauder, der ihr über den ganze Rücken gelaufen war, an ihr Erstaunen, ihr Entzücken, ihr Verzaubertsein. Kevin – Kevin Anderson, der beliebteste Junge der Schule – liebte sie. All das spürte sie in diesem Moment, als Kevins Fingerspitzen über ihren schmalen Rücken strichen und er seine Lippen auf ihre drückte. Ihr Leben – ihre Familie – war zersplittert. Ihre Mutter war weit weg ans andere Ende des Landes gezogen, ihr Vater liebte eine andere Frau, aber Kevin Anderson wollte Sawyer. Er wollte Sawyer Dodd, und dadurch fühlte sie sich real. In diesem Augenblick wollte sie, dass die Zeit stillstand, versuchte verzweifelt, sie anzuhalten und nicht weiterlaufen zu lassen – nicht bis zu dem Moment, als er wütend wurde, nicht bis zu dem Moment, als sie ihn wütend machte, nicht bis zu den Momenten, als die tränenreichen Entschuldigungen folgten.

Sawyer nickte, Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich habe ihn auch geliebt.«

.................................................

Am Montag herrschte in der Schule eine bedrückte Stimmung und Sawyer war es leid, dass die Leute ihren Blick abwandten, wenn sie an ihnen vorüberging. In der dritten Stunde stand Chorsingen auf dem Stundenplan, ihre bevorzugte Fluchtmöglichkeit, und als sie in den Probenraum huschte und sie Chloe Coulter auf dem Klavier sitzen und mit ihren langen Beinen baumeln sah, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Sawyer!« Chloe sprang vom Klavier, sodass ihr blonder Pferdeschwanz auf und ab wippte. Sie drückte Sawyer begeistert an sich und kümmerte sich nicht um die Schüler, die sich an ihnen vorbeischieben mussten.

»Wie geht’s dir?« Chloe hatte klare, leuchtend blaue Augen, die heute besonders groß und mitfühlend wirkten, gerahmt von zu schwarz getuschten Wimpern und zu dunkel nachgezogenen Augenbrauen. »Bist du in Ordnung?«

Sawyer nickte langsam, während ihre beste Freundin ihre Hand drückte, und stieß dann einen Seufzer aus. »Bist du gerade erst wieder in die Stadt zurückgekommen?«

Chloe nickte. »Ja.« Sie blickte Sawyer in die Augen. »Es tut mir so leid, Sawyer. Ich wünschte, ich wäre hier gewesen. War es sehr schlimm? Es war furchtbar, stimmt’s? Ich hätte hier bei dir sein sollen. Gott, ich bin echt das Letzte.«

Sawyer schluckte. »Es war der neunzigste Geburtstag deiner Großmutter. Niemand hat erwartet, dass du zurückkommst.«

»Aber ich hätte es tun sollen.«

»Ich kann nicht glauben, dass er von uns gegangen ist«, sagte Maggie Gaines mit vor Aufregung geröteter Stupsnase. Ihre besorgt wirkenden Lakaien, die sie zu beiden Seiten eskortierten, boten Trost und Papiertaschentücher. Maggie hatte den Satz gerade so laut gemurmelt, dass auch andere ihn verstehen konnten. Als sie Sawyer sah, wurde ihr tränenfeuchter Blick schlagartig kalt und scharf.

»Schau sie dir an«, sagte Chloe spöttisch. »Kevin war dein Freund, aber es ist natürlich Maggie, die nun das untröstliche Zentrum der Aufmerksamkeit sein will. Diese Rolle sollte eigentlich dir zukommen.«

Sawyer verkroch sich, so gut es ging, in ihrem weiten Sweatshirt. »Lass sie ihren großen Moment auskosten. Immerhin sind die beiden auch eine Weile zusammen gewesen.«

Chloe schnaubte verächtlich. »Ja, vor ungefähr hundert Jahren.«

Mr Rose erschien in der halb offenen Tür. Er stieß sie mit dem Fuß ganz auf und schob eine Garderobenstange in den Probenraum. Die Schüler verstummten und einige lehnten sich nach vorne, um einen Blick auf die neuen Choruniformen zu erhaschen.

»Ladies and Gentlemen«, begann Mr Rose. »Ich weiß, ihr alle wartet bereits mit Spannung darauf, welche Chorkleidung wir in diesem Jahr zu den Regionalausscheidungen tragen werden.«

Die Gruppe stöhnte geschlossen auf.

Der »Honigbienen«-Chor der Hawthorne High war nur für zwei Dinge bekannt: viermal in Folge die Landesmeisterschaften gewonnen zu haben – und die hässlichste Choruniform zu tragen, die je ein Mensch gesehen hatte. In Sawyers erstem Jahr auf der Highschool hatte diese aus armeegrünen Taftkleidern mit Ballonärmeln und Spitzeneinsatz für die Mädchen und ebenso scheußlichen grünen Samtblazern für die Jungs bestanden. Im zweiten Jahr war das Budget gekürzt worden und der Chor der Honigbienen hatte sich wie eine gut aufeinander abgestimmte Riege von Kellnern mit weißen Westen gezeigt. Ende letzten Jahres hatte die Highschool »Mitleid« mit ihrem Chor gehabt und einige ausrangierte Abschlussballkleider gesponsert, auf die der Handarbeitskurs kämpfende Hornissen und Musiknoten gestickt hatte. Das war es in etwa, was die Gruppe erwartet hatte, als Mr Rose neulich aufgeregt verkündet hatte, dass es wieder neue Choruniformen geben würde.

»So, und nun, ohne lange drum herumreden zu wollen …« Mr Rose zog das schwarze Tuch vom Garderobenständer und ein einhelliges »Ah« ging durch den Probenraum. Maggie hörte auf, sich in ihr Papiertaschentuch zu schnäuzen, Chloe blieb der Mund offen stehen und Sawyer setzte sich aufrecht hin.

»Oh mein Gott!«

»Die sind umwerfend!«

Mit der einen Hand hielt Mr Rose ein schlichtes Etuikleid aus schwarzem Satin hoch, dessen Taille eine breite rote Schärpe schmückte. In der anderen Hand hielt er einen schwarzen Blazer mit roter Krawatte nach oben. Die Honigbienen jubelten.

Mr Rose’ Apfelbäckchen glühten, er strahlte übers ganze Gesicht. »Dem Schulgremium ist euer Modeprotest zu Ohren gekommen und es hat – endlich – entschieden, dass die Honigbienen wie fünffache Sieger der Landesmeisterschaften aussehen sollen.«

Als unter den begeisterten Schülern wieder etwas Ruhe eingekehrt war, verteilte Mr Rose die in durchsichtige Plastikhüllen verpackten Uniformen. Als Sawyer an der Reihe war, hielt er inne und schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln, ein Lächeln, wie sie es schon seit einer Weile nicht mehr sehen konnte. Er legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und neigte den Kopf. »Geht es dir gut, Sawyer?«

Sawyer nahm ihr Kleid entgegen und schenkte auch ihm ein kleines Lächeln. »Ja, mir geht es gut. Danke, Mr Rose.«

»Weißt du, ich würde in unsere Setlist gerne auch eine kleine Nummer zum Gedenken an Kevin aufnehmen. Er war ein so wichtiger Teil der Schulgemeinschaft.«

Sawyer fühlte plötzlich einen Kloß im Hals. Sie nickte. »Klingt gut. Das hätte Kevin gefallen.«

»Ich würde dir gerne ein Solo in dieser Nummer geben.« Mr Rose’ Augen waren sanft, die buschigen grauen Brauen erwartungsvoll nach oben gezogen. »Wäre das in Ordnung für dich?«

Sawyer nickte stumm, während alles Mögliche in ihr aufwallte – Scheu, Aufregung, Trauer und Angst, alles zugleich. »Danke, Mr Rose«, brachte sie schließlich hervor.

Mr Rose fuhr mit der Verteilung der Kleider an die übrigen Honigbienen fort. Chloe beugte sich zu Sawyer hinüber, die Aufregung war ihr deutlich anzusehen.

»Ein Solo?«, fragte sie atemlos. »Oh Gott, das ist ja der Wahnsinn! Nur Mist, dass …« Chloe vermied es, Sawyer in die Augen zu sehen, und blickte stattdessen auf ihre im Schoß gefalteten Hände. »Es ist nur Mist, dass Kevin nicht hier sein wird, um dich zu hören.«

Sawyer versuchte, eine Antwort darauf zu fomulieren, einen einzigen zusammenhängenden Satz, aber es gelang ihr nicht.

Mr Rose nahm seinen Platz am Klavier ein und die Honigbienen begannen mit ihren Aufwärmübungen. Bei der letzten Note gab er Sawyer ein Zeichen.

Sie ging nach vorne und fühlte die Blicke der anderen in ihrem Rücken. Als sie sich zur Klasse umdrehte, sah sie, dass nur Maggie sie provozierend und mit zusammengekniffenen Augen fixierte. Sawyer lächelte sie versöhnlich an, was Maggie aber ignorierte.

Wir sind mal Freundinnen gewesen, hörte Sawyer sich beschwichtigend zu sich selbst sagen.

Maggies Hass rollte wie eine Welle über sie hinweg.

Als es klingelte, nahmen Sawyer und Chloe ihre Rucksäcke und die neuen Chorkleider und liefen zur Tür. Maggie stellte sich ihnen mit verschränkten Armen in den Weg – ihre roten Haare schienen ebenso wütend zu funkeln wie ihre stahlgrauen Augen.

»Ein Solo?«, keifte sie. Sie musterte Sawyer mit unverhohlener Verachtung von oben bis unten. Sawyer, genervt von Maggies regelmäßigen Eifersuchtsanfällen, seufzte nur.

»Würdest du uns bitte durchlassen, Maggie? Ich muss noch vor vier zu meinem Spind kommen.«

Doch Maggie blieb da, wo sie war.

»Glaubst du etwa, du kannst mir was vormachen? Dass ich auf deine ›Ich habe das Leid für mich gepachtet‹-Nummer hereinfalle? Wohl kaum. Du verdienst dieses Solo nicht, genauso wenig, wie du Kevin verdient hattest. Sieh dich doch mal an: Eine Freundin, die es ernst mit ihm gemeint hätte, könnte sich jetzt nicht so zusammenreißen, geschweige denn ein Solo singen.«

Sawyer wollte sich verteidigen, fühlte sich aber zu erschöpft und emotionslos. Vielleicht hatte Maggie ja recht. Sie hatte es nicht verdient, Kevins Freundin gewesen zu sein, sie hatte es nicht verdient, das Ventil für seine Wut gewesen zu sein, beharrte eine leise Stimme in ihrem Kopf. Sawyer ignorierte sie und schob Maggie harscher als beabsichtigt zur Seite.

»Lass gut sein, Maggie.«

»Komm du erst mal mit dir selbst klar«, hörte Sawyer Chloe fauchen. »Sawyer hat es eben nicht nötig, die Tussi zu spielen, die sich nicht zusammenreißen kann – das kannst du doch viel besser. Es ist nur blöd, dass du nichts anderes tust, seit Kevin dich abserviert hat. Wann war das noch mal genau? Vor neun, zehn Monaten? Ganz schön lange her, um jemandem noch hinterherzuschmachten, meinst du nicht?« Chloe griff sich eine Strähne aus Maggies langen Haaren und rümpfte die Nase. »Vielleicht ist es mal an der Zeit, deinen besessen depressiven Arsch unter die Dusche zu schleppen. Vertrau mir, danach werden wir uns alle besser fühlen.«

Chloe schob sich an Maggie vorbei, hakte sich bei Sawyer unter und führte sie durch den Schulflur.

»Das hättest du nicht tun müssen«, sagte Sawyer und warf sich den Rucksack über den Rücken. »Mit Maggie komme ich schon klar.«

Chloe sah sie mit ihren großen blauen Augen an und in ihrem Blick lag puppenhafte Unschuld. »Ach, Süße, das habe ich doch nicht für dich getan.« Sie zwinkerte Sawyer zu und ihre grellpink geschminkten Lippen verzogen sich zu einem ironischen Lächeln. »Das habe ich für mich getan.«

»Hola, senoras.« Mr Hanson war der einzige Spanischlehrer der Schule, doch mit seinen kaum dreißig Jahren sah er mehr wie ein Schüler und weniger wie ein Mitglied des Lehrerkollegiums aus. Er bahnte sich einen Weg zwischen Sawyer und Chloe hindurch und grinste, während ein Flur voller Mädchen hinter seinem Rücken dahinschmolz. »Perdon, perdon. Ah, Sawyer! ¿Has estudiado para la prueba?«, sagte er und sah sie erwartungsvoll an.

Sawyer merkte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ähm, sí, señor.«

»¡Bueno!« Mr Hanson strahlte übers ganze Gesicht, kleine Fältchen legten sich um seine Augen.

»Oh mein Gott, was hat er da gerade zu dir gesagt?«

Sawyer zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt habe ich keinen blassen Schimmer. Meine Standardantworten sind Sí, No oder das immer wieder gern genommene ›Was heißt Regelschmerzen auf Spanisch?‹«

Chloe rümpfte die Nase. »Bäh.«

»Sie verlangen nie von dir, irgendwas zu übersetzen, wenn sie glauben, dass du Regelschmerzen hast.«

Chloe sah, wie Mr Hanson zum Büro von Direktor Chappie hinüberging. »Scheiß auf Französisch. Ich wechsle zu Spanisch.«

»Du hast es ja sowieso an irgend so einen Frankokanadier verschwendet.«

»Bist du gar nicht in ihn verknallt?«

Sawyer sah über die Schulter und erhaschte einen letzten Blick auf Mr Hansons dunkles Haar, bevor er im Büro des Direktors verschwand. »Findest du nicht, dass er ein bisschen übereifrig ist?«

»Also bitte! Die Hälfte meiner Lehrer kennt nicht mal meinen Vornamen. Hanson kommt gerade frisch vom Lehramtsstudium oder woher auch immer und steckt voller Hoffnung. Er glaubt noch an uns.« Chloe klimperte mit den Augen.

»Na ja, kann sein.«

»Außerdem habe ich gehört, dass er Libby neulich nach Hause gefahren hat.«

Sawyer zog den Reißverschluss ihres Rucksackes auf. »Und ich bin mir sicher, dass sie sich angemessen bei ihm bedankt hat.«

Chloe, die mittlerweile gelangweilt war, verschränkte die Arme vor der Brust. »Steht unsere Verabredung für morgen Abend noch?«

»Du meinst unsere Konvokation?«

»Oh, Konvokation. Ist das ein Begriff aus dem Eignungstest fürs College?«

Sawyer lachte. »Besser bekannt als meine Fahrkarte aus der Vororthölle. Ich ruf dich aber morgen noch mal an. Dad und Ehefrau Nummer zwei finden morgen das Geschlecht oder sollte ich sagen: die Spezies ihrer Brut heraus. Danach wollen die beiden garantiert etwas pädagogisch Wertvolles und emotional Befriedigendes mit mir unternehmen, das in ihren Ratgebern für Patchworkfamilien steht.«

»Ah, ein weiterer Abend, an dem sie ihre Bäuche aneinanderreiben und zusammen Yoga machen?«

Sawyer seufzte. »Bist du sicher, dass ich nicht lieber zu dir kommen soll, um zu beobachten, wie sich deine Eltern in passiver Aggression aus dem Weg gehen, während sie ihrer extremen Enttäuschung über dich und dein Leben insgesamt Ausdruck verleihen?«

Chloe schob sich einen Kaugummi in den Mund und kaute nachdenklich. »Nein, echt nicht. Mittwochs ist ›Brathähnchen und Burger statt Gemüse‹-Abend im extragroßen Wohnwagen. Diese Absonderlichkeit ist nur für meine Augen bestimmt. Und sie sind nicht meine Eltern – Lois und Dean sind meine Aufpasser.«

Sawyer legte den Kopf schief und verschränkte die Arme. »Nicht mehr Mom und Stiefvollidiot?«

»Nein, hoffentlich nicht. Dean habe ich seit über einer Woche nicht gesehen. Und ich spreche jetzt von meinen Aufpassern, sodass Lois schließlich klein beigeben muss und zugeben wird, dass ich adoptiert bin.«

Sawyer grinste. »Dumm nur, dass du deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten bist.«

Chloe verdrehte die Augen. »Träumen wird man doch wohl noch dürfen, oder nicht?«

»Du bist eine Knalltüte.«

Chloe warf Sawyer einen Kuss durch die Luft zu. »Ich werde mit fettigen Fingern neben dem Telefon sitzen und auf deinen Anruf warten.«

Sawyer grinste und sah ihrer besten Freundin hinterher. Zum ersten Mal seit einer Zeit, die Sawyer wie eine Ewigkeit vorkam, fühlte sich alles wieder leicht und normal an.

»Entschuldige bitte, darf ich mal kurz?« Logan Haas lächelte Sawyer schüchtern an. Sie trat zur Seite, um ihn an seinen Spind zu lassen, der sich direkt unter ihrem eigenen befand. Logan verkörperte die unglücklichste Verbindung von Attributen, die man auf einer Highschool haben konnte: Er war dünn, klein und kurzsichtig. Doch er war Sawyer gegenüber immer zurückhaltend und freundlich gewesen und sie mochte ihn.

»Hey, jederzeit«, sagte sie.

Logan nahm seine Bücher, schloss die Spindtür, winkte ihr zum Abschied unbeholfen zu und lief mit gesenktem Kopf den Flur hinunter. Als Sawyer die Zahlenkombination des Schlosses eingestellt hatte und ihre Spindtür öffnete, stieß sie einen überraschten Laut aus. Auf dem ordentlichen Stapel mit Schnellheftern und Büchern lag ein kleiner, dicker, mintgrüner Briefumschlag. Ihr Name war in Computerschreibschrift daraufgedruckt. Sie nahm den Umschlag in die Hand und sah sich vorsichtshalber erst einmal um, ob auch niemand mit rotem Gesicht oder einem Lächeln hinter ihr stand, um zu signalieren, dass er es war, der ihn in ihren Spind gelegt hatte.

Sie öffnete den Briefumschlag und zog eine mintgrüne, farblich passende, gefaltete Karte heraus. Am unteren Rand war ein winziges Eichenblatt eingeprägt. Als sie die Karte aufklappte, fiel ein ausgeschnittener Zeitungsartikel heraus. Sawyer musste gar nicht erst die Überschrift lesen, um zu wissen, worum es darin ging. Schüler der örtlichen Highschool bei Autounfall getötet. Sie unterdrückte einen Aufschrei und las, was auf der Karte stand.

Es waren nur zwei Worte: »Gern geschehen.«

2

Sawyer lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Die Karte war mit »ein Verehrer« unterzeichnet, und das Wort Verehrer krallte sich in ihr fest. Ihre Hände begannen zu zittern, sie legte den Umschlag wieder in den Spind, schlug die Tür zu und drückte ihre Stirn gegen das kalte Metall.

Es ist nichts, redete sie sich gut zu. Vermutlich hatte jemand Blumen geschickt – alle schickten Blumen. Seit Kevins Tod schien jede Stunde ein neues Blumenbouquet anzukommen – farbenprächtig, mitleidsvoll, mit herunterhängenden Chrysanthemen und billigen Glitzerschleifen in den Farben der Hawthorne High. Jedes Bouquet erinnerte Sawyer an Kevin – besonders, wenn die Blumen zu welken begannen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!