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Katrin Nienhaus

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Beschreibung

Nach dem Schulabschluss will Sophie nur noch eines: die Vergangenheit endlich hinter sich lassen. An der Universität kann sie anonym und ungestört ihrer Leidenschaft für Informatik folgen. Das ist es schließlich, was sie am besten kann – programmieren.
Doch der Schutz ihrer sozialen Unsichtbarkeit bekommt schneller Risse, als ihr lieb ist, denn auch an der Uni bleibt ihre Begabung nicht lange verborgen. Insbesondere der junge Übungsleiter scheint Interesse an ihren Fähigkeiten zu haben. Oder sollte der nette Doktorand tatsächlich mehr in Sophie sehen als nur ihr Talent?

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Katrin Nienhaus

 

 

Herzens

CODE

 

Nerds mit Herz: Band II

 

 

 

 

Roman

 

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 00001

Kapitel 00010

Kapitel 00011

Kapitel 00100

Kapitel 00101

Kapitel 00110

Kapitel 00111

Kapitel 01000

Kapitel 01001

Kapitel 01010

Kapitel 01011

Kapitel 01100

Kapitel 01101

Kapitel 01110

Kapitel 01111

Kapitel 10000

Kapitel 10001

Kapitel 10010

Kapitel 10011

Kapitel 10100

 

 

Über dieses Buch

 

Nach dem Schulabschluss will Sophie nur noch eines: die Vergangenheit endlich hinter sich lassen. An der Universität kann sie anonym und ungestört ihrer Leidenschaft für Informatik folgen. Das ist es schließlich, was sie am besten kann – programmieren.

Doch der Schutz ihrer sozialen Unsichtbarkeit bekommt schneller Risse, als ihr lieb ist, denn auch an der Uni bleibt ihre Begabung nicht lange verborgen. Insbesondere der junge Übungsleiter scheint Interesse an ihren Fähigkeiten zu haben. Oder sollte der nette Doktorand tatsächlich mehr in Sophie sehen als nur ihr Talent?

Kapitel 00001

Sommersemester

„Liebe Studenten, herzlich willkommen zu Ihrem zweiten Semester an der UdR.“ Professor Altendorff schaltete den Beamer ein und kurz darauf wurde die erste Vorlesungsfolie an die graue Betonwand des Hörsaals projiziert. In der oberen Ecke prangte groß der stilisierte Förderturm, das Logo der Universität des Ruhrgebiets, das auf dem Campus überall allgegenwärtig war. Der Professor kramte einen Laserpointer aus seiner Aktentasche, um damit den Veranstaltungstitel Informatik II nachzuzeichnen.

„Es freut mich sehr, dass Sie heute Morgen so zahlreich zu Ihrer wichtigsten Veranstaltung in diesem Semester erschienen sind“, stellte er fest und ließ den Blick über die Menge schweifen.

Ich schmunzelte in mich hinein.

Die wichtigste Veranstaltung?

Na, ob die Dozenten der anderen Fächer das wohl genauso sehen würden?

In gewisser Weise hatte er natürlich recht, schließlich trug der Studiengang den Namen Angewandte Informatik. Da durfte eine klassische Informatikvorlesung selbstverständlich nicht fehlen. Dennoch war es nur einer von fünf Kursen auf dem Studienplan für dieses Sommersemester und jeder davon war mindestens genauso ernst zu nehmen, wenn man das Studium ohne Ehrenrunde hinter sich bringen wollte. Studienerfolg war hier definitiv keine Selbstverständlichkeit, wie mir auch der unauffällige Blick über die Schulter bestätigte. Die aufsteigenden Ränge des Hörsaals wirkten merklich leerer als noch im ersten Semester, obwohl der Raum immer noch gut gefüllt war. Ich schätzte, dass es wohl einige hundert Studenten waren, die dieses Fach hörten. Viele von ihnen kannte ich vom Sehen, aber bei dieser Größenordnung war es unmöglich, sich an jeden einzelnen Kommilitonen persönlich zu erinnern. Manche fanden das schade, doch ich mochte diese Anonymität. Jeder hier konnte einfach sein eigenes Ding machen, ohne dafür von irgendwem schräg angeschaut zu werden. Wenn ich im Hörsaal saß, dann fühlte ich mich wie ein Teil eines großen Schwarms, der zuverlässig Kurs auf immer neues, spannendes Wissen nahm.

„Hey, Sophie.“ Ein leichter Stoß gegen meine Rippen riss mich aus meinen Gedanken. „Aufpassen“, raunte Bruno neben mir.

Ich verdrehte lächelnd die Augen und warf meinem besten Freund und engsten Verbündeten in diesem Studentenschwarm einen kurzen Seitenblick zu, bevor ich wieder aufmerksam nach vorne schaute. Zufrieden verschränkte auch Bruno die Arme auf dem kleinen Klapptisch.

Wenn sich das Schicksal mit uns beiden einen Spaß erlauben wollte, dann war ihm das definitiv gelungen, als es uns im Wintersemester zusammengeführt hatte. Bruno war so ziemlich in jeder Hinsicht das komplette Gegenteil von mir. Er war fast einen halben Meter größer als ich, hatte wunderschöne schokoladenbraune Haut, einige Kilos zu viel auf den Rippen und das ansteckendste Lachen, das ich je bei einem Menschen erlebt hatte. Neben ihm wirkte ich mit meiner blassen Haut und den rotblonden Haaren wie ein unscheinbarer, nordischer Zwerg. Wären wir uns irgendwo auf der Straße begegnet, hätte sich vermutlich niemals eine solche Freundschaft zwischen uns entwickelt. Doch an der Uni galten andere Gesetze und so hatte uns das erste Semester mit all seinen Herausforderungen und aufregenden Erlebnissen zu einem eingeschworenen Team zusammengeschweißt. Nach allem, was ich in meinem Leben bereits durchgemacht hatte, fiel es mir nicht leicht, fremden Menschen Vertrauen zu schenken, aber mit seinem riesengroßen Herzen hatte Bruno es mir erstaunlich leicht gemacht. Inzwischen konnte ich mir mein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen.

Während seine Hände in meinem Augenwinkel knisternd einen Müsliriegel aus seiner Verpackung befreiten, versuchte ich, mich wieder auf den Dozenten zu konzentrieren. Professor Altendorff war ein leicht untersetzter Typ, dessen spärliches Haar zusammen mit dem inzwischen ergrauten Bart keinen Zweifel daran ließ, dass er bereits zu den älteren Dozenten des Fachbereichs zählte. Im Laufe der Jahre hatte er sich auf seinem Gebiet der Informatik eine beachtliche Reputation erarbeitet, sodass ich gespannt war, was ich in den nächsten Wochen alles von ihm lernen konnte. Leider war die erste Sitzung einer Veranstaltung allerdings auch bei einer Koryphäe ihres Fachs meistens nicht besonders spannend, weil es hauptsächlich um die organisatorischen Rahmenbedingungen des Kurses ging. Und obwohl ich viel lieber direkt mit den Inhalten begonnen hätte, waren diese Informationen natürlich nicht weniger wichtig.

Ganz im Gegenteil!

Ich hatte sogar das Gefühl, dass die meisten Teilnehmer dabei besonders eifrig mitschrieben, und auch ich notierte mir pflichtbewusst das Passwort für die Studienplattform, das der Professor vorne an die Tafel schrieb. Es war an der UdR üblich, dass die Dozenten ihre Vorlesungsfolien, Hausaufgaben und alle wichtigen Informationen über die Plattform verteilten, sodass gar kein Weg daran vorbeiführte, sich dort anzumelden.

„Tragen Sie sich bitte zeitnah für den Kurs ein, damit wir eine vollständige Liste der Studenten bekommen, die an dieser Veranstaltung teilnehmen“, bat auch Professor Altendorff, während er von der Tafel zu seiner Präsentation zurückkehrte.

„Wie Sie vielleicht schon wissen, besteht dieser Kurs aus zwei Teilen“, fuhr er fort. „Jede Woche montags um zehn werden Sie für zwei Stunden mit mir das Vergnügen haben. Ich gehe später noch im Detail darauf ein, womit wir uns in diesem Semester beschäftigen werden. Zusätzlich zur Vorlesung gibt es außerdem eine zweistündige Übung, die von meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern geleitet wird und die ebenfalls verpflichtend für Sie ist. Sie werden dort das Wissen aus der Vorlesung praktisch anwenden und Hausaufgaben bekommen, die Sie zum Bestehen des Kurses lösen müssen. Wenn Sie eine richtige Lösung abgeben, können Sie damit Bonuspunkte für die Klausur sammeln.“

Wie auf Kommando brach unter den Studenten Getuschel aus. „Die Punkte holen wir uns, oder?“, grinste auch Bruno und hielt mir die Hand hin.

„Na logo!“, schlug ich überzeugt bei ihm ein. Zwar hätte ich persönlich gar keinen Anreiz gebraucht, um die Hausaufgaben zu erledigen, aber Bonuspunkte konnten ja eigentlich nie schaden.

Der Professor wartete, bis sich die allgemeine Unruhe etwas gelegt hatte, ehe er mit den Details zur Klausur fortfuhr. „Sie können sich bis Ende Juni über die Studienplattform dafür anmelden“, erklärte er. „Auf der Plattform finden Sie auch alle weiteren Details. Der Klausurtermin wird am zweiten Dienstag der Semesterferien sein. Die genaue Uhrzeit gibt das Prüfungsamt rechtzeitig vorher bekannt.“

„Hoffentlich nicht morgens früh“, brummte mein bester Freund, der nicht gerade als Morgenmensch bekannt war. Und obwohl das wahrscheinlich auf die meisten Studenten zutraf, wagte ich zu bezweifeln, dass die Leute im Prüfungsamt bei der Belegung der Hörsäle darauf Rücksicht nehmen würden. Doch die Klausurphase war aktuell noch so weit entfernt, dass es ohnehin kaum Sinn hatte, sich darüber jetzt schon Gedanken zu machen. Und auch Professor Altendorff schien dahingehend ganz meiner Meinung zu sein, denn er hatte bereits zur nächsten Folie weitergeschaltet, die die Termine für die wöchentliche Übung zeigte.

„Es stehen insgesamt sechs verschiedene Zeiten zur Auswahl. Tragen Sie sich bitte für eine davon ein. Die Plätze sind begrenzt“, merkte er an. „Also zögern Sie nicht zu lange mit der Entscheidung oder wir müssen Sie den verbleibenden Terminen zuteilen.“

Erneut brach Unruhe aus. Die offensichtliche Knappheit der Plätze verlieh der Anmeldung eine gewisse Dringlichkeit und obwohl der Professor nicht explizit dazu aufgefordert hatte, schien nun jeder mit seinen Nachbarn darüber zu diskutieren, welche Zeiten denn wohl am besten waren.

Wir waren da keine Ausnahme.

„Die eine Übung ist gleich nach der Vorlesung“, stellte Bruno fest. „Bei einem Herrn Förster. Sollen wir die direkt nehmen?“

„Nee, das finde ich blöd. Dann hatte man ja noch gar keine Zeit, sich den Stoff in Ruhe anzugucken.“ Ich glich die Liste der Zeiten mit meinem vorläufigen Stundenplan ab. „Wie wäre es denn mit Mittwochnachmittag?“, schlug ich vor.

„Hm, da wollte ich eigentlich den Computerlinguistikkurs im Wahlbereich belegen.“

„Okay, dann … Donnerstag, zehn bis zwölf bei Herrn Zech?“

„Ja, das passt.“ Bruno hatte bereits das Display seines Handys entsperrt, um sich auf der Studienplattform anzumelden. „Also, wo sind denn hier die Übungen?“, murmelte er und scrollte über die Kursseite.

„Ah, voilà, da sind sie ja. Oha!“ Er riss die Augen auf. „Der Donnerstag scheint der beliebteste Termin zu sein, Sophie – schon fast vierzig Teilnehmer. Schnell, beeil dich, dass du noch reinkommst!“

„Ich bin ja schon dabei. Es lädt noch“, klagte ich.

Leider war das WLAN dem zeitgleichen Ansturm der Studenten offenbar nicht gewachsen. Zumindest dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis die Seite endlich angezeigt wurde.

„Wo muss ich denn klicken?“

Hilfsbereit beugte Bruno sich über mein Handy, um den richtigen Termin anzuwählen. „Hier.“

Wieder wurde das Ladesymbol angezeigt und gebannt starrten wir beide auf den kleinen Bildschirm, bis ein grüner Haken uns erlöste.

Anmeldung erfolgreich.

Bruno stieß einen Jauchzer aus. „Du bist drin!“

„Ja, es hat geklappt!“, freute ich mich.

„Wie knapp! Guck mal, schon ist die Gruppe voll.“

Ich nickte. „Glück gehabt.“ Ich nahm einen Bleistift, um den Termin der Übung auf meinem Stundenplan zu ergänzen. „Passt absolut perfekt“, stellte ich fest. „Dann haben wir danach Mittagspause und können uns vor der Mathevorlesung noch stärken. Besser geht’s doch gar nicht.“

„Weise Worte von einem weisen Mädchen. Apropos stärken“, grinste Bruno und packte den zweiten Müsliriegel an diesem Morgen aus. „Auch ein Stück?“

Ich lachte. „Nein, danke. Lass es dir schmecken.“

Nachdem sich die meisten anderen Studenten ebenfalls ihren Übungstermin ausgesucht hatten und wieder ein wenig Ruhe eingekehrt war, kam Professor Altendorff auf den Inhalt der Vorlesung zurück. „Im letzten Semester haben Sie bei meinem Kollegen eine umfassende Einführung in die Informatik bekommen. In diesem Semester wird es nun um Algorithmen und Datenstrukturen gehen. Was also ist ein Algorithmus?“

Er sah in die Runde, bevor er seine Frage selbst beantwortete. „Vereinfacht gesagt, ist ein Algorithmus eine strukturierte Methode zur schrittweisen Lösung eines Problems. Im ersten Semester haben Sie selbst einfache Algorithmen entwickelt. In den nächsten Wochen werden wir uns nun verschiedene gebräuchliche Algorithmen ansehen, die ganz unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Auf der Folie habe ich Ihnen einen Überblick zusammengestellt.“

Er deutete mit dem Laserpointer auf die Zeilen einer Tabelle und gab kurze Erläuterungen zu den einzelnen angeführten Punkten. Einige davon kannte ich in Grundzügen schon aus der Schule, aber ich hatte schnell gemerkt, dass die Themen hier an der Uni meistens aus einer wesentlich theoretischeren Perspektive behandelt wurden. Obwohl ich das einerseits durchaus interessant fand und schon viel dabei gelernt hatte, war ich gleichzeitig froh, dass ich mich für einen Studiengang mit einer starken Praxisorientierung entschieden hatte. Ansonsten wäre mir das auf Dauer wahrscheinlich alles zu abstrakt gewesen.

Während der Professor damit fortfuhr, über die verschiedenen Datenstrukturen zu referieren, die wir im Laufe des Semesters behandeln würden, freute ich mich innerlich deshalb schon auf die Übungen. Ich war gespannt, was wir dort machen würden. Die Folien erweckten den Eindruck, dass wir wie im ersten Semester wieder in C++ programmieren würden. Ich mochte zwar Python und Java immer noch lieber, aber nach einem halben Jahr intensiver Übung beherrschte ich auch diese klassische Programmiersprache inzwischen relativ gut. Wenn man dem Ergebnis meiner Klausur glaubte, dann könnte man sogar sagen: sehr gut.

Rückblickend betrachtet war ich wirklich zufrieden damit, wie meine erste Klausurphase gelaufen war. Lange Zeit hatte ich es gehasst, schlau zu sein. Ich hatte immer einfach nur sein wollen wie alle anderen. Aber in einer Klausurphase stellte es sich dann doch irgendwie als ganz nützlich heraus, wenn man gut im Lernen war. Und mit Bruno zusammen hatte das Ganze zudem gleich doppelt so viel Spaß gemacht. War ich im Herbst noch als Einzelkämpferin an die Uni gekommen, so war ich nun mehr als froh, das alles hier dank ihm nicht mehr allein bestreiten zu müssen.

Auch zu unserer ersten Informatikübung am Donnerstag gingen wir natürlich gemeinsam. Veranstaltungsort war der IT-Pool unserer Fakultät, der mit seiner modernen technischen Ausstattung eines der Aushängeschilder des Studiengangs war. Bruno und ich hatten uns bewusst etwas früher verabredet, um noch einen guten Platz zu bekommen. Schließlich wollte niemand in der ersten Reihe sitzen – in der letzten aber auch nicht, denn dort bekam man durch die schlechte Akustik nicht mehr alles mit.

„Hier?“, fragte ich somit und deutete auf die äußeren Plätze in der dritten Reihe. Ich mochte es, wenn ich mich nicht erst noch an zwanzig anderen Stühlen vorbeidrängen musste, um zu meinem eigenen zu gelangen.

Bruno war da nicht ganz so wählerisch. „Gerne“, meinte er nur und ließ sich auf den Platz am Rand plumpsen, um schon mal unseren PC zu starten.

Kopfschüttelnd drapierte ich meine Jacke auf der Stuhllehne neben ihm, bevor ich mich für die Übung häuslich einrichtete. In meinem Fall hieß das, die Sitzhöhe auf die niedrigste Stufe zu ändern und Block und Stifte auf dem Tisch zurechtzulegen. Dann war ich auch schon bereit.

Schade, dass der Übungsleiter noch nicht da war.

Mein Blick wanderte zur Uhr, bevor er weiter durch den Raum schweifte. „Gut, dass wir so früh dran waren“, stellte ich fest.

„Mhm.“

Der IT-Pool um uns herum füllte sich zusehends und obwohl die Teilnehmerzahl der Übung begrenzt war, gab es schon jetzt mehr Studenten als Rechner. Manch einer hatte sogar seinen eigenen Laptop mitgebracht, aber ich persönlich fand es angenehmer, an einem größeren Bildschirm zu arbeiten. Vielleicht war ich, was das anging, ein bisschen verwöhnt …

Ich ließ den Blick zurück zu meinem besten Freund wandern. „Wie war eigentlich dein Computerlinguistikkurs gestern?“, fragte ich, um die Wartezeit bis zum Beginn der Übung zu überbrücken, und stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte.

„Gut“, meinte Bruno nüchtern.

Stirnrunzelnd sah ich ihn von der Seite an. „Gut?“

„Ja, gut.“

Ich musste lachen. „Du hast dich wochenlang darauf gefreut und es war nur gut?“

„Naja, es war halt die Einführungssitzung und vielleicht hatte ich ein bisschen unrealistische Vorstellungen davon, was wir dort machen würden“, räumte er ein.

„Was hast du denn erwartet?“

„Ich weiß nicht.“ Ein wenig verlegen spielte er mit der Maus herum. „Ich dachte, wir würden da direkt richtig loslegen und Übersetzungssysteme entwickeln oder rassistische Kommentare in sozialen Netzwerken identifizieren oder einen Sprachassistenten bauen oder so. Aber in Wahrheit ist das nur ein Grundlagenkurs, in dem wir lernen, Satzgrenzen und Wortarten zu erkennen und so.“

„Wow.“ Ich musste mir das Lachen verkneifen, weil er wirklich geknickt darüber wirkte, wie weit seine Erwartungen von der Realität entfernt gewesen waren. Ich wusste ja, wie gerne er mit seinem Studium etwas Gutes in der Welt bewirken wollte. Aber eigentlich war es doch gar nicht so abwegig, erst mal mit den Grundlagen anzufangen. Auch wenn das wahrscheinlich das Letzte war, was er gerade hören wollte …

„Ach, bestimmt wird es trotzdem total interessant“, versuchte ich, ihn aufzumuntern. „Und wenn du die Basics erst mal richtig draufhast, dann kannst du damit garantiert auch diese ganzen coolen Sachen machen, von denen du geträumt hast, meinst du nicht?“

„Ja, da könntest du schon recht haben … Sag mal, wo kann man denn hier noch mal die Farben einstellen?“, wechselte er das Thema. „Weiß ist mir zu grell.“ Während ich ihn ausgefragt hatte, hatte er auf dem PC den Code-Editor geöffnet und angefangen, sich durch die Menüs zu klicken.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, das ändert sich doch alles ständig. Such vielleicht mal nach Themes“, schlug ich vor.

„Ah, guter Tipp. Ich hab’s: Color Themes. Wie findest du dieses hier?“

„Uah, bloß nicht!“ Ich hielt mir die Augen zu, um von der stechenden Kombination aus grüner, gelber und violetter Schrift auf schwarzem Hintergrund nicht zu erblinden. „Da kriegt man ja Augenkrebs! Gibt‘s nicht noch was anderes?“, fragte ich, während ich vorsichtig zwischen meinen Fingern hindurch linste.

„Doch, klar. Hier: klassisch, dunkel, modern …“, zählte Bruno die verschiedenen Optionen auf.

„Ich nehme sonst immer Midnight Blue.“

„Moment …“ Er suchte die Liste ab. „Ja, das gibt es hier auch.“ Er drückte auf das entsprechende Häkchen und sofort entspannten sich meine Augen.

„Puh, schon viel besser.“ Ich ließ die Hände sinken und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Die Zeit bis zum Beginn der Übung war irgendwie ganz schön lang. „Ich glaub, so langsam krieg ich Durst …“, dachte ich laut.

„Dann trink was.“

„Hast du das Schild nicht gesehen?“ Ich deutete auf die Hinweistafel neben der Tür, die in großen roten Buchstaben das Essen und Trinken im Raum verbot.

„Nö“, meinte Bruno, ohne aufzusehen.

„Ich aber.“

„Dann mach doch beim Trinken einfach die Augen zu“, schlug er vor.

Also wirklich!

Kopfschüttelnd stieß ich ihn in die Seite. „Du kleiner Rebell. Ich tu mal so, als hätt‘ ich das nicht gehört.“

„Wie du meinst. Dann wirst du wohl durstig bleiben.“

Ja, vielleicht würde ich das.

Oder ich könnte auch kurz auf den Flur gehen …

Hm.

Meine klobige Armbanduhr verriet, dass immer noch ein paar Minuten bis zum Beginn der Übung blieben. Wenn ich mich beeilte, könnte ich vielleicht sogar noch zur Toilette gehen. Aber dann riskierte ich doch, zu spät zu kommen und vor allen Augen zurück zu meinem Platz zu müssen.

Sollte ich es darauf ankommen lassen?

Noch während ich mit mir rang, ob ich nun aufstehen sollte oder lieber nicht, öffnete sich vorne die Tür. Die letzten Male hatte ich dem Eintreffen der Studenten kaum noch Beachtung geschenkt, doch als ich jetzt aus einem Impuls heraus aufsah, blieben meine Augen unerwartet an jemandem haften. Noch bevor er ganz in den Raum getreten war, wusste ich, dass der Typ, der da gerade hereinkam, kein Student war. Zu einer dunklen Röhrenjeans, die von einem Ledergürtel auf seinen schmalen Hüften gehalten wurde, trug er ein kurzärmliges graues Hemd, das ein Stück weit geöffnet war, sodass darunter ein weißes T-Shirt zum Vorschein kam. Es war fast schon ein Klischee, aber mit diesem Outfit war er zehnmal besser gekleidet als jeder anwesende Student im Raum.

Inklusive mir selbst …

Ich zupfte am Ärmel meines nachtschwarzen Pullovers, während ich mit den Augen seinen Weg zum Lehrpult verfolgte.

„Ob das wohl der Übungsleiter ist?“, murmelte ich leise.

„Scheint so“, meinte Bruno.

Ich nickte abwesend.

Irgendwie hatte ich mir einen Übungsleiter ganz anders vorgestellt. Wie genau konnte ich zwar nicht sagen, aber definitiv nicht so … keine Ahnung … nett?

Jung?

Athletisch?

Attraktiv?

Ich versuchte, über den Rand des Bildschirms einen weiteren Blick auf ihn zu erhaschen, aber dummerweise versperrten mir die Studenten in den vorderen Reihen die Sicht. Manchmal war es wirklich nervig, dass ich so klein war. Vielleicht hätten wir uns doch lieber weiter nach vorne setzen sollen. Nur seinen Kopf konnte ich noch erkennen, während er sich in aller Seelenruhe am Pult einrichtete. Sein mittelblondes Haar war an den Seiten kurz geschnitten, oben hingegen etwas länger und aus der Entfernung wirkte es ein wenig kraus.

„Er sieht … ganz nett aus“, wiederholte ich meinen ersten Gedanken. „Wir haben uns wohl die richtige Übung ausgesucht.“

„Nett?“ Bruno gluckste. „Der sieht ja wohl echt hübsch aus“, korrigierte er mich. „Aber leider überhaupt nicht schwul …“, schob er nach einer Weile hinterher, wobei er eine enttäuschte Grimasse zog.

„Also, Bruno!“ Ich stieß ihn empört in die Seite. „Man kann einem Menschen seine sexuelle Orientierung doch nicht ansehen!“, erinnerte ich ihn. „Das solltest du ja wohl am besten wissen. Außerdem ist er unser Übungsleiter. Das geht uns überhaupt nichts an!“

„Ja, ja.“ Bruno verdrehte nur amüsiert die Augen, widersprach mir allerdings auch nicht.

Derweil hatte der Übungsleiter vorne den Beamer eingeschaltet und schweigend beobachteten wir, wie er die Fernbedienung weglegte, um zum Whiteboard zu gehen. Obwohl es nur ein paar Meter bis dorthin waren, staunte ich insgeheim darüber, wie geschmeidig er sich bewegte. Seine Schritte wirkten nahezu lautlos.

Was er wohl anschreiben wollte?

Gebannt verfolgte ich den Pfad seiner leicht gebräunten Hand über die weiße Tafel.

 

Konstantin von Zech

 

Also war er wirklich unser Übungsleiter.

Ich nestelte am Kragen meines Pullis. Wie alt er wohl war? Der Professor hatte gesagt, dass die Übungen von seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern gehalten wurden. Das hieß, er musste bereits einen Uniabschluss haben. Allerdings wirkte er gar nicht so viel älter als wir.

Vielleicht Mitte zwanzig?

Nachdem er seinen Namen für alle sichtbar angeschrieben hatte, legte er den Whiteboardmarker wieder in die Halterung am unteren Rand der Tafel und ging zurück zum Pult – vermutlich, um dort am Computer auf die Uhr zu schauen. Denn im nächsten Moment wandte er sich auch schon mit einem Nicken dem Kurs zu.

„Ich denke, wir können anfangen“, meinte er. „Also, guten Morgen zusammen. Es freut mich, dass ihr hier seid.“ Seine Stimme klang angenehm freundlich und auf seinem Gesicht lag ein leichtes Lächeln.

„Ich bin Konstantin“, stellte er sich mit einem Wink zum Whiteboard vor. „Ich erlaube mir, euch zu duzen, also könnt ihr das umgekehrt natürlich genauso machen. Ich habe letztes Jahr hier an der UdR meinen Master abgeschlossen und bin jetzt Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl bei Professor Altendorff.“

„Hübsch und schlau“, murmelte Bruno.

Ich versuchte, ihn auszublenden, um mich voll und ganz auf das zu konzentrieren, was Konstantin sagte.

„Wie ihr euch wahrscheinlich schon gedacht habt, werde ich für die nächsten Wochen euer Übungsleiter sein“, fuhr er mit seiner Begrüßung fort. „Ich hoffe, dass ihr alle am Montag in der Vorlesung wart und deshalb schon ungefähr wisst, was euch hier erwartet. Falls nicht, habt ihr ausnahmsweise Glück, dass ich dazu aufgefordert wurde, es jetzt noch mal ganz genau zu erklären.“

Ich schmunzelte.

Dass noch immer vereinzelte Nachzügler eintrafen und sich nicht gerade leise durch die Reihen zu den letzten freien Stühlen drängelten, schien ihn nicht aus der Ruhe zu bringen. Als würde er die Geräusche gar nicht hören, blendete er die erste Folie seiner Präsentation ein.

„Fangen wir am besten damit an, was diese Übung nicht ist.“ Er wies auf den fettgedruckten Satz, der an die Leinwand geworfen wurde. „Diese Übung ist – abgesehen von dieser Einführung heute – keine Wiederholung der Vorlesungsinhalte. Sie ist also kein Ersatz dafür, dass ihr euch montags in den Hörsaal bewegt und euch den Stoff anhört. Sie ist allerdings der Rahmen, in dem ihr Fragen zur Vorlesung stellen könnt. Ich werde mich darum bemühen, alles zufriedenstellend zu beantworten, entweder im Plenum, persönlich oder gerne auch per Mail. Konstruktive Kritik ist ebenfalls willkommen – also Verbesserungsvorschläge, Themenwünsche … Bitte nicht, dass ihr die Vorlesung langweilig findet. Da kann ich euch dann nämlich auch nicht helfen.“

Ein paar Teilnehmer lachten.

Offenbar hatte der Übungsleiter Humor. Er wurde mir immer sympathischer …

„Was die Übung allerdings auch nicht ist“, fuhr er fort und wechselte zur nächsten Folie, „ist eine reine Fragestunde. Das Ganze heißt natürlich Übung, weil ihr hier die Themen aus der Vorlesung praktisch anwenden werdet. Und wie könnte man das besser machen als mit – Hausaufgaben, richtig.“

Amüsiert über das leise Stöhnen im Raum schüttelte er den Kopf. „Nein, Spaß beiseite. Also, ihr habt ja schon vom Professor gehört, dass ihr fürs Bestehen dieses Kurses Hausaufgaben erledigen müsst. Da ihr so viele seid, werdet ihr dafür in Gruppen von mindestens zwei und maximal vier Personen arbeiten.“

„Oh yes“, grinste Bruno. „Das Dreamteam ist am Start.“

Schmunzelnd notierte ich Zweiergruppen auf meinem Block und fügte nach kurzem Nachdenken noch einen kleinen Smiley hinzu.

„Die Aufgaben werden jedes Mal nach der Vorlesung freigeschaltet und sind normalerweise bis zum Anfang der nächsten Vorlesung fällig“, informierte Konstantin uns derweil. „Ihr habt also hier in der Übung Zeit dazu, gemeinsam daran zu arbeiten. Natürlich könnt ihr auch zuhause daran basteln – wahrscheinlich müsst ihr das sogar, wenn ihr damit bis zur Abgabe fertig werden wollt. Aber wenn ihr hier daran arbeitet, hat das den Vorteil, dass ihr mir auch dazu Fragen stellen könnt. Ich darf euch natürlich nicht die Lösung verraten, aber ich werde euch so gut wie möglich weiterhelfen. Bei der Abgabe gibt es außerdem ein paar wichtige Dinge zu beachten, damit wir die Aufgaben zügig korrigieren können.“

Er ging dazu über, uns die genauen Anforderungen an die Bearbeitung und Abgabe der Aufgaben zu erläutern, und ich schrieb aufmerksam mit, damit wir später alles richtig machen würden. Es gefiel mir, wie klar und deutlich er alles erklärte. Es war viel leichter, ihm zu folgen als beispielsweise dem Professor. Und so, wie er die Formalia präsentierte, war es auch irgendwie überhaupt nicht langweilig. Vielleicht sollte ich meine generelle Abneigung gegenüber Einführungssitzungen bei Gelegenheit noch mal überdenken …

Nachdem Konstantin schließlich alle Details zum Ablauf der Übung und den Hausaufgaben durchgegangen war, gab er uns das erste Mal die Gelegenheit, Fragen zu stellen. Kurz dachte ich darüber nach, ob für mich noch irgendetwas unklar geblieben war, obwohl ich genau wusste, dass ich mich sowieso nicht melden würde. Wenn überhaupt hätte ich vielleicht sein Angebot angenommen, ihm eine Frage per E-Mail zu schicken. Ich hatte eine klare Abneigung dagegen, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen – und sei es auch nur für eine Minute. Ich wusste selbst, dass das albern war. Doch solange es bequemer war, mit dem Strom der Studenten zu schwimmen, sah ich keinen wirklichen Grund dafür, zum nach Aufmerksamkeit heischenden Regenbogenfisch zu mutieren.

Allerdings hatte Konstantin ohnehin alles so ausführlich erklärt, dass kaum noch Fragen offengeblieben waren, und als sich nach einer Weile niemand mehr meldete, klatschte er zufrieden in die Hände.

„Gut, da wir das nun geklärt haben, wird’s Zeit für die erste Aufgabe.“ Er schaltete den Beamer aus. „Ladet euch das Übungsblatt von der Studienplattform runter und fangt am besten direkt damit an. Ich werde währenddessen rumgehen und die Teilnehmerliste abhaken, damit ich weiß, wer von den angemeldeten Personen tatsächlich hier ist. Sollten sich in der Zwischenzeit Fragen zur Aufgabe ergeben, spart sie euch bitte auf, bis ich bei euch angekommen bin.“

Allgemeines Gemurmel brach aus und mit einem Klemmbrett bewaffnet machte Konstantin sich auf den Weg in die erste Reihe, um die Studenten nach ihren Namen zu fragen.

Ich bemühte mich, den Blick von seinem blonden Hinterkopf abzuwenden. „Okay, also worum geht’s denn in der ersten Aufgabe?“, fragte ich.

„Keine Ahnung, ich hab sie gerade erst runtergeladen.“ Bruno beugte sich vor, um den kleingeschriebenen Text auf dem Übungsblatt zu studieren. „Datenstrukturen: Queues und Stacks“, las er die Überschrift vor.

„Das hab ich mir schon fast gedacht.“

Zwar hatten wir in der ersten Vorlesung noch nicht wirklich viel Inhalt durchgenommen, aber diese beiden Speicherprinzipien, Schlangen und Stapel, hatte Professor Altendorff zumindest kurz angeschnitten. Somit wunderte es mich nicht, dass sie jetzt als Thema der ersten Hausaufgabe herhalten mussten. Da ich beide Speichermethoden schon aus der Schule kannte, war dieser Teil für mich an sich nichts Neues. Allerdings musste ich zugeben, dass die Implementation mit C++ schon deutlich anspruchsvoller war als in den anderen, neueren Programmiersprachen, die ich kannte. Vor allem die Verwendung von Pointern, also Zeigern, war dabei nicht ganz trivial und es war der Punkt, bei dem ich im letzten Semester am längsten gebraucht hatte, um ihn richtig zu beherrschen. Inzwischen hatte ich zum Glück kaum noch Probleme mit dem Einsatz von Zeigern, was angesichts der schwerwiegenden Fehler, die man damit verursachen konnte, auch besser war.

Nachdem wir das Aufgabenblatt beide einmal komplett durchgelesen hatten, stützte Bruno nachdenklich das Kinn in die Hände. „Also, Superhirn … Womit fangen wir an?“

„Aufgabe eins sieht am einfachsten aus“, überlegte ich. „Und außerdem scheint man diese Klasse danach immer wieder zu brauchen. Wollen wir die dann als Erstes angehen?“

„Von mir aus gerne.“ Bruno hielt die Finger über der Tastatur im Anschlag. „Dann schieß mal los!“, forderte er mich auf, bereit, jederzeit drauf los zu tippen.

Lachend stieß ich ihn gegen die Schulter. „So war das mit Teamwork aber nicht gemeint.“

„Nicht?“, flötete er scheinheilig.

„Nein. Du willst ja schließlich auch was lernen.“

„Na gut, hast gewonnen“, gab er sich geschlagen. „Dann also zuerst die Klassendefinition.“ Er atmete entschlossen durch, bevor er begann, das Grundgerüst der Queue zu erstellen.

Wie es an der Uni üblich war, forderte die Aufgabe uns ziemlich sachlich und unkreativ dazu auf, die verschiedenen gängigen Methoden einer Warteschlange zu implementieren, mit denen man Objekte am Ende der Schlange hinzufügen und vorne wieder entnehmen konnte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es nicht unser netter Übungsleiter gewesen war, der sich diese trockene Aufgabenstellung überlegt hatte. Aber wir waren ja eigentlich auch nicht hier, um gut unterhalten zu werden, sondern um etwas zu lernen, insofern beugte ich mich pflichtbewusst zu meinem Teamkameraden herüber und gemeinsam schrieben wir den Code für die Aufgabe in Rekordzeit herunter.

Wir waren gerade mitten in Aufgabe zwei, bei der wir fast das Gleiche in Grün machen sollten, nämlich die Methoden eines Stapels implementieren, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und aufsah. Wenige Sekunden später stand dann auch schon der Übungsleiter mit seinem Klemmbrett vor uns.

Ich schluckte leicht.

Obwohl der Bildschirm auf dem Tisch wie eine kleine schützende Mauer zwischen uns wirkte, spürte ich, dass ich in seiner Anwesenheit nervös wurde.

Er ist doch gar kein Prof, erinnerte ich mich selbst, nur der Übungsleiter. Aber irgendwie schlug mein Herz dadurch kein Stück langsamer …

„Hallo, ihr zwei“, begrüßte er uns, wobei seine Stimme fast noch freundlicher klang als vorhin bei der Einführung. „Kommt ihr soweit zurecht?“ Seine graublauen Augen musterten uns interessiert.

„Ja, alles super hier“, erwiderte Bruno freimütig.

„Sehr schön, so soll das sein“, lächelte Konstantin und deutete auf sein Klemmbrett. „Verratet ihr mir dann auch eure Namen?“

„Aber sicher doch. Bruno Mbuto und Sophie Hillenbrandt“, antwortete Bruno an meiner Stelle, wobei er überflüssigerweise zuerst auf sich und dann auf mich deutete. „Mbuto mit M wie Mamma Mia“, schob er hinterher.

„Mamma mia …“ Schmunzelnd fuhr der Übungsleiter mit dem Stift über die Liste, bis er den Nachnamen meines Freundes gefunden hatte. „Ich werd’s mir merken“, versprach er, nachdem er ihn abgehakt hatte. „Und du bist Sophie?“

Sein Blick war so offen und direkt, dass ich verlegen wurde und nicht viel mehr als ein stummes Nicken zustande brachte.

Zum Glück schien ihn das nicht weiter zu stören. Mit einem Lächeln suchte er auch meinen Namen auf der Liste, um mich ebenfalls abzuhaken. „Schön, dass ihr hier seid“, stellte er anschließend fest und klemmte den Kugelschreiber an das Brett. „Wenn noch was ist, meldet euch gerne.“

„Okay, machen wir, danke“, erwiderte Bruno höflich.

„Sehr gut.“ Wieder trafen mich für einen Moment seine graublauen Augen, bevor Konstantin uns ein letztes Mal zunickte und weiter zu den Studenten am Nachbartisch ging.

Einen Augenblick lang sahen wir ihm schweigend hinterher. Als er schließlich außer Hörweite war, stieß Bruno mich grinsend in die Seite.

„Also, der ist ja so was von nicht schwul“, wiederholte er überzeugt.

Ich verdrehte bloß die Augen.

Woher wollte er das denn bitte wissen?

Kapitel 00010

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Die Hände locker in die Schlaufen meines Rucksacks gehakt, lief ich am Nachmittag über das Unigelände zur Bahnhaltestelle. Der weitläufige Campus der UdR bildete eine stylische Mischung aus alten Betonbauten und modernen Gebäuden mit Glasfronten, zwischen denen kleine grüne Oasen bei gutem Wetter zu einer Lernpause einluden. Ich folgte den langen gepflasterten Wegen, die von den Gebäuden der informatisch-technischen Fakultät vorbei an der Bibliothek in Richtung Haltestelle führten. Einige Tauben, die mit Vorliebe die Krümel der vorbeiziehenden Studenten vom Pflaster pickten, wackelten eine Weile auf dem Weg vor mir her, bis es ihnen offenbar zu blöd wurde, mir auszuweichen, und sie flatternd in alle Richtungen davonflogen. Unwillkürlich hielt ich für ein paar Schritte die Luft an.

Wenn ich früher als kleines Kind mit meinen Eltern durch die Stadt gebummelt war, dann hatten sie mich jedes Mal ermahnt, Abstand zu diesen Vögeln zu halten, weil sie angeblich Krankheiten übertragen konnten. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, ob das wirklich stimmte. Schließlich galten Brieftauben im Ruhrgebiet traditionell als die Rennpferde des kleinen Mannes und wurden von einigen Züchtern noch immer voller Stolz für Wettbewerbe trainiert. Aber vielleicht bezogen sich die Warnungen meiner Eltern auch vor allem auf die dicken, gurrenden Stadttauben, die sich hauptsächlich von den Abfällen der Menschen ernährten. Das konnte ja wirklich nicht besonders gesund sein – selbst wenn die gut hundert Studenten, die bereits an der Bahnhaltestelle auf die nächste Straßenbahn warteten, zusammen wahrscheinlich trotzdem in jeder Minute mehr Krankheitserreger ausatmeten als ein paar pickende Tauben.

Ich versuchte, lieber gar nicht weiter darüber nachzudenken, während ich mich in die Schlange der Wartenden einreihte. Nach dem Ende der Sechzehn-Uhr-Vorlesung war es immer besonders voll an der Haltestelle und als bald darauf die Bahn Richtung Hauptbahnhof einfuhr, quetschte ich mich gemeinsam mit allen anderen durch die schmalen elektrischen Türen.

Ich hasste dieses Gedränge.

Als kleiner Mensch wurde man dabei einfach viel zu leicht übersehen. Wie oft war ich nicht schon von den anderen Fahrgästen rücksichtslos hin- und hergeschoben worden oder am Ende gar nicht mehr in eine überfüllte Bahn hineingelangt, weil ich einfach keine Chance hatte, mich in diesem Gewühl zu behaupten. Wäre der öffentliche Nahverkehr die freie Wildbahn gewesen, wären die kleinen Menschen wahrscheinlich längst ausgestorben. Zumindest, wenn sie nicht eine besonders ausgeprägte Geschicklichkeit an den Tag gelegt hätten und sich beispielsweise so wie ich in diesem Moment unbemerkt unter dem Arm eines Typen hindurch geschlängelt hätten, um es nicht nur trotz Gedränge in die Bahn zu schaffen, sondern sogar noch einen der letzten Sitzplätze zu ergattern.

Ha!

Triumphierend und zugleich ein wenig abgekämpft ließ ich mich auf das dünne Polster sinken. Das hatte doch mal erfreulich gut geklappt! Zufrieden hievte ich meinen Rucksack auf den Schoß und umklammerte ihn mit den Armen, während sich die rappelvolle Bahn langsam in Bewegung setzte. Draußen hinter den Scheiben zog erst das Universitätsviertel an uns vorbei, dann die umliegenden Stadtteile und ich erlaubte mir, für ein paar Minuten die Augen zu schließen.

Der Tag heute war wirklich anstrengend gewesen. Erst die Informatikübung am Vormittag und dann nach dem Mittagessen in der Mensa auch noch die erste richtige Vorlesung in Mathematik II. Obwohl ich in der Schule immer gut in Mathe gewesen war, fand ich das Fach von all meinen Veranstaltungen an der Uni definitiv am schwierigsten. Es mochte zwar Jammern auf hohem Niveau sein, aber für die Matheklausur hatte ich im Wintersemester mit Abstand am meisten lernen müssen. Und ich bezweifelte, dass der Stoff im zweiten Semester leichter werden würde.

Wahrscheinlich eher im Gegenteil.

Noch während ich dabei war, den Tag so in Gedanken Revue passieren zu lassen, weckte ein Gespräch ein paar Sitzreihen vor mir meine Aufmerksamkeit.

„Konstantin von Zech – also mal ehrlich“, meinte ein dunkelhaariger Typ mit spöttischer Stimme. „Was will einer wie der denn in Informatik?“

Sein Nachbar auf dem Fensterplatz zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht war ihm in Jura der NC zu hoch“, vermutete er.

„Pff, wahrscheinlich.“ Der andere lachte. „Hast du gesehen, wie der sich inszeniert hat? Total überheblich.“

Stumm fixierte ich die Hinterköpfe der beiden. Zwar konnte ich sie von hinten nicht genau zuordnen, aber sie mussten wohl auch Informatikstudenten sein und heute ebenfalls die Übung besucht haben, wenn sie sich so abfällig über den Übungsleiter äußerten. Dabei sprachen sie so laut, dass ich mich nicht einmal bemühen musste, um ihrem Gespräch zu folgen.

„Ich hab den Typen vorhin mal im Netz gesucht“, erzählte der Schwarzhaarige von ihnen jetzt. „Weißt du, wer seine Eltern sind?“

„Der Vater ist Direktor an der Uniklinik, oder?“

„Ja, und die Mutter ist Staatsanwältin.“

„Krass.“

Die beiden schwiegen für einen Moment. „Naja, kein Wunder, dass er so ein Snob ist“, fügte der eine dann hinzu. „Schnösel-Eltern, Schnösel-Kinder.“

Sein Kumpel nickte zustimmend.

Ich musste mir ein Schnauben verkneifen. So einfach, wie sie es darstellten, war es ja dann wohl nicht. Ich hasste es, wenn Leute so negativ über andere redeten, obwohl sie sie gar nicht wirklich kannten. Vielleicht störte mich das aufgrund meiner eigenen Vergangenheit noch umso mehr, aber ich persönlich hatte Konstantin überhaupt nicht als überheblich empfunden. Und selbst wenn seine Eltern der Kaiser von China und die Kanzlerin von Deutschland gewesen wären, sagte das in meinen Augen noch lange nichts über ihn selbst aus. Trotzdem wusste ich genau, dass ich diese beiden fremden Studenten niemals ansprechen würde, um ihn zu verteidigen. Nicht einmal, wenn sie so über mich gesprochen hätten, hätte ich wahrscheinlich etwas dagegen gesagt. Dafür war ich einfach viel zu schüchtern.

Vielleicht hätte man auch sagen können: feige.

Allerdings musste ich kurz darauf ohnehin umsteigen und während ich mich darauf konzentrierte, im Hauptbahnhof das richtige Gleis zu erwischen, hatte ich die Gedanken an die zwei Lästermäuler längst wieder verdrängt. Im Bahnhof war es mindestens genauso voll wie in der Straßenbahn und ich hatte Mühe, mir zwischen den vielen Leuten meinen Weg zu bahnen. Erst nachdem ich einige Stationen mit der S-Bahn gefahren war, wurde es endlich ein bisschen leerer in den Abteilen, sodass ich in Ruhe mein Handy herauskramen konnte. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, die Zeit auf der Rückfahrt von der Uni dazu zu nutzen, meine To-do-Liste mit den neuesten Aufgaben zu aktualisieren, die ich im Tagesverlauf bekommen hatte, damit ich nichts vergessen würde. Die Hausaufgaben für Informatik hatten Bruno und ich zum Glück schon heute in der Übung fast fertiggestellt, sodass wir den Rest morgen gemeinsam in einer Freistunde erledigen konnten. Den Hausaufgabenzettel für Mathe würde ich dagegen wahrscheinlich erst am Wochenende angehen, denn vorher galt es natürlich noch, die Vorlesung nachzubereiten, um den nötigen Stoff auch wirklich verinnerlicht zu haben. Ich versah jede der Aufgaben mit ihrem Fälligkeitsdatum und verschob sie in die passenden Projekte in meiner App, bevor ich das Handy schließlich wieder wegsteckte.

Mein Blick schweifte aus dem Fenster. Der Zug hatte sich in der Zwischenzeit leider überlegt, irgendwo im Nirgendwo anzuhalten, anstatt seinen Fahrplan zu befolgen, und gedankenverloren betrachtete ich die Landschaft am Rand der Bahnstrecke. Zahlreiche wilde Pflanzen wucherten hier auf einem abgesperrten Gelände, das nach dem ehemaligen Schacht einer Zeche aussah. Nachdem die letzten Bergarbeiter den Standort verlassen hatten, hatte es offenbar nicht lange gedauert, bis die Natur sich das Gebiet zurückerobert hatte.

Der Lautsprecher an der Decke des Zugabteils knarzte. „Verehrte Fahrgäste, aufgrund einer Signalstörung verzögert sich unsere Weiterfahrt um wenige Minuten“, hörte man die Stimme des Lokführers. „Wir bitten um Entschuldigung.“

Seufzend warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr, bevor ich das Kinn auf den Rucksack bettete.

Pendeln war echt nervig …

Zum Glück dauerte es tatsächlich nicht allzu lange, bis die Bahn sich irgendwann wieder in Bewegung setzte, und nach einem weiteren Umstieg und einer daran anschließenden zwanzigminütigen Fahrt mit dem Bus hatte ich es endlich fast geschafft. Ich betätigte das rote Haltesignal, um an der Haltestelle Zum Stadtwald auszusteigen, von der ich vor etwa zehn Stunden heute Morgen gestartet war.

Gleich war ich zuhause!

Sobald der Bus hielt, schulterte ich meinen Rucksack und folgte dem schmalen Gehweg in unsere Wohnsiedlung. Die angenehme Ruhe, die mich hier auf der leeren Straße umgab, bildete einen deutlichen Kontrast zu dem konstanten Stimmengewirr in Bus und Bahn. Es war definitiv eine der besseren Gegenden in der Stadt. Dichte hohe Hecken und Mauern schirmten die meisten Häuser von der Straße ab und ließen nur erahnen, welche schönen Bauten und großzügigen Gärten sich dahinter verbargen. Auch unser Grundstück wurde von einer ordentlichen grünen Hecke gesäumt, für deren Pflege meine Eltern extra regelmäßig einen Gärtner kommen ließen.

Ich lief über den geschwungenen Weg zum Eingang und kramte meinen Schlüssel heraus, um die Haustür zu öffnen. „Ich bin wieder da!“, rief ich nach drinnen, während ich grob meine Schuhsohlen auf der Fußmatte abstreifte.

„Schätzchen, ich hab mir schon Sorgen gemacht“, hörte ich die Stimme meiner Mutter aus der Küche. „Wo warst du denn so lange?“

„Der Zug hatte Verspätung“, entschuldigte ich mich seufzend und stieg aus meinen Schuhen. „Signalstörung, mal wieder.“

„Oh nein, mein armes Mädchen.“ Sie streckte den Kopf aus der Küche. „Aber jetzt hast du es ja geschafft. Wollen wir zusammen essen? Papa kommt wohl erst später heute.“

„Gerne.“

Tatsächlich roch es bereits im Flur so köstlich, als hätte sie gerade erst frisch für mich Essen gekocht. Mein Magen dankte es ihr mit einem lauten Knurren, das keinerlei Zweifel daran ließ, wie verhungert ich nach der Rückfahrt war.

„Ich bin sofort da“, versprach ich und drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Wange, bevor ich schnell ins Gästebad verschwand, um mir die Hände zu waschen. Als ich mich anschließend hungrig zu ihr an den Esstisch setzte, hatte sie mir bereits eine ordentliche Portion auf den Teller geladen.

„Guten Appetit, mein Schatz.“

„Mmh, danke, Mama. Das sieht fantastisch aus“, freute ich mich. „So eine Stärkung kann ich jetzt echt gebrauchen.“

„Ja, ich auch. Lass es dir schmecken.“

„Anstrengender Tag heute?“, fragte ich kauend.

Sie nickte nur vage, wenngleich ihr deutlich anzusehen war, wie erschöpft sie nach ihrer Schicht im Altenheim sein musste. Wahrscheinlich sogar noch erschöpfter als ich, auch wenn sie das nie zugegeben hätte. Schließlich hatte sie ihren Beruf als Altenpflegerin aus tiefer innerer Überzeugung gewählt und war nach ihrer vorübergehenden Teilzeit sogar wieder zu einer vollen Stelle zurückgekehrt, seit ich studierte. Sie betonte immer, wie viel ihr die Arbeit mit den alten Menschen jeden Tag zurückgab, aber ich wusste natürlich trotzdem, wie kräftezehrend der Job war. Kurz musste ich an Bruno denken, der neben dem Studium ebenfalls im Altenheim jobbte, und bedauerte ein bisschen, dass ich selbst niemals dazu in der Lage gewesen wäre. Sicher hätten wir auch außerhalb der Uni ein hervorragendes Team abgegeben.

Um ein Lächeln bemüht, strich meine Mutter eine silbrige Strähne zurück, die sich aus ihrem ansonsten noch braunen Haar gelöst hatte. „Aber nun erzähl doch mal, mein Schatz“, lenkte sie meine Gedanken zurück an den Esstisch. „Wie war denn dein Tag heute? Ich bin ja schon ganz neugierig.“

„Oh, natürlich, Verzeihung.“ Ich trank einen kurzen Schluck, um meinen Mund auszuspülen. „Ich bin auch komplett kaputt“, gab ich dann zu. „Der Tag war echt lang und richtig anstrengend.“

Während wir den Rest unseres Abendessens verspeisten, erzählte ich meiner Mutter von der Informatikübung und den Hausaufgaben, die ich wöchentlich mit Bruno abgeben musste. Meine Mutter hatte absolut keine Ahnung von Informatik. Im Gegensatz zu meinem Vater mit seinem Fünfzig-Stunden-Job in der Kanzlei hatte Mama für ihren Beruf nie eine höhere schulische Ausbildung gebraucht und mir schon in der weiterführenden Schule nicht mehr viel helfen können, wenn ich Fragen hatte. Trotzdem hörte sie mir immer mit einer wahren Engelsgeduld zu, wenn ich von der Uni oder von meiner Leidenschaft fürs Programmieren sprach. Und im Gegenzug bemühte ich mich, ihr alles so gut wie möglich zu erklären. Ich wusste ja, wie glücklich sie darüber war, dass ich sie an meinem Leben teilhaben ließ, nachdem es so viele Jahre lang anders gewesen war …

Als wir irgendwann aufgegessen hatten, half ich ihr dann auch noch pflichtbewusst beim Abwasch, bevor ich schließlich nach oben ging. Als Einzelkind hatte ich natürlich das beste Zimmer auf der Rückseite des Hauses bekommen. Während das Schlafzimmer meiner Eltern zur Straße hinaus führte, konnte ich aus meinen großen, bodentiefen Fenstern direkt über den Garten auf den Wald blicken, der inzwischen in der Dunkelheit dalag. Ich schaltete das Deckenlicht ein und stellte meinen Uni-Rucksack an seine gewohnte Stelle neben dem Schreibtisch, bevor ich mich wie immer zuerst dem beleuchteten Aquarium auf der anderen Seite des Zimmers zuwandte.

„Na, ihr Hübschen“, begrüßte ich meine stummen Freunde, die hinter der Glasscheibe ihre Bahnen zogen. Einer der kleineren Fische drehte eine kunstvolle Pirouette, als wollte er mich ebenfalls begrüßen. Lächelnd nahm ich das Fischfutter vom Regal, um meine Schützlinge mit ihrer täglichen Ration Nährstoffe zu versorgen.

„Jetzt gibt’s ordentlich was zwischen die Kiemen. Das habt ihr euch verdient“, redete ich leise auf sie ein, auch wenn ich natürlich wusste, dass sie mich nicht hören konnten. „Hier, alles nur für euch.“

Aufgeregt schwärmten die Tiere zu der Stelle, an der die Futterflocken ins Wasser gerieselt waren, und fingen an, zu fressen. Obwohl ich das ganze Schauspiel sicherlich schon tausende Male beobachtet hatte, liebte ich dieses kleine tägliche Ritual. Fische hatten in meinen Augen so etwas wunderbar Beruhigendes an sich. Egal, wie aufgekratzt ich war, selbst nach einem langen Tag an der Uni brachten sie mich einfach jedes Mal wieder zurück zu mir selbst. Noch eine ganze Weile sah ich den kleinen bunten Flossentierchen dabei zu, wie sie hinter der Scheibe auf und ab schwammen, und genoss die gluckernde Stille.

Dann erst wandte ich meinen stummen Freunden den Rücken zu und setzte mich auf der gegenüberliegenden Seite an den Schreibtisch, um zu lernen. Ich hatte mir vorgenommen, noch heute Abend mit der Nachbearbeitung der Mathevorlesung zu beginnen, weshalb ich Handy, Block und Stifte vor mir auf der Tischplatte ausbreitete und die entsprechende Aufgabe in meiner To-do-Liste anwählte. Noch einmal tief durchatmen und dann startete ich auch schon den Timer.

Los geht’s, Sophie!Konzentriere dich für dreißig Minuten, forderte meine App mich auf.

Alles klar, nichts leichter als das.

Naja, zumindest normalerweise …

Heute schaffte ich es dagegen kaum, mich auch nur für fünf Minuten am Stück zu konzentrieren. Die Matheformeln tanzten vor meinen müden Augen über das Papier und egal, wie sehr ich mich bemühte, meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Vorlesungsstoff zu fokussieren – es gelang mir einfach nicht. Immer wieder wanderten meine Gedanken ab.

Zurück zu der Informatikübung.

Zurück zu unserem Übungsleiter.

Meiner Mutter gegenüber hatte ich ihn mit keinem Wort erwähnt, denn solange ununterbrochen Ablenkungen von außen auf mich eingeprasselt waren, hatten sie die Erinnerung an ihn erfolgreich überlagert. Aber nun, in der Stille meines Zimmers, drängten sich die Bilder wieder mit aller Macht in den Vordergrund – fast, als wollten sie meinen Geist zurückerobern wie die Natur den alten Zechenschacht an der Bahnstrecke. Ich hatte ihn nur ein einziges Mal kurz aus der Nähe gesehen und dennoch hatte er sich mir nachhaltig eingeprägt. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich noch immer sein schmales Gesicht mit den graublauen Augen und dem kurzen mittelblonden Haar vor mir sehen.

Und dazu dieses freundliche Lächeln!

Er hatte wirklich einen echt sympathischen Eindruck gemacht. Mochten irgendwelche lästernden Typen in der Bahn auch anderer Meinung sein – ich war mir sicher, dass wir uns genau die richtige Übung ausgesucht hatten.

Noch fünfzehn Minuten Konzentration, Sophie, erinnerte mich meine App.

„Ja, ja, ist ja schon gut“, brummte ich leise. „Ich hör ja schon auf, an ihn zu denken.“ Mit einem leichten Augenrollen zwang ich den Blick zurück auf die Vorlesungsfolien. „Integrale sind doch sowieso viel spannender.“

Na gut, das war gelogen.

Aber das konnte meine To-do-App ja zum Glück nicht wissen. Und trotz meiner geistigen Ablenkung und einer kurzen Störung durch meine Mutter, die mir etwas zu trinken brachte, schaffte ich es immerhin, die Hälfte der Mathevorlesung mit nur zwei weiteren Timern nachzuarbeiten, bevor ich das Lernen für heute einstellte.

Der Rest musste bis morgen warten.

Mit einem Gähnen stand ich auf und streckte mich. Von unten war seit einer Weile die Stimme meines Vaters zu hören, der inzwischen scheinbar auch von der Arbeit zurück war, aber wenn ich jetzt noch mal runter ging, dann würde ich heute wohl gar nicht mehr zum Programmieren kommen. So sehr ich mein Studium auch mochte, die elende Pendelei zwischen meinem Zuhause und der Uni war wirklich nervig. Ständig musste ich viel zu früh aufstehen, um rechtzeitig zu den Vorlesungen zu kommen, und wenn ich abends endlich zurück war, blieb mir kaum noch Zeit, um irgendetwas anderes zu machen, als zu lernen. Auch jetzt war ich eigentlich schon wieder viel zu müde, um nicht einfach direkt ins Bett zu fallen. Dennoch entschied ich mich dafür, noch mal den Android-Code-Editor zu öffnen.

Wenigstens für ein paar Minuten, sagte ich mir.

Danach konnte ich ja immer noch schlafen gehen. Aber heute Vormittag hatte ein Nutzer einen seltsamen Bug in meiner To-do-App gemeldet und ich wollte zumindest noch die Ursache für den Fehler finden. Ich mochte es nicht, wenn ich zwar wusste, dass etwas nicht funktionierte, aber nicht, warum. Und auch wenn es diesmal vermutlich kein schwerwiegendes Problem war, hatte ich keine Lust, aus vermeidbaren Gründen Nutzer zu verlieren. Leider waren viele heutzutage dermaßen ungeduldig, dass schon ein einziger Bug ausreichen konnte, um eine schlechte Bewertung im App-Store und die sofortige Deinstallation nach sich zu ziehen. Nicht gerade die Publicity, die man als kleiner, unbekannter App-Entwickler gebrauchen konnte …

Fokussiert scrollte ich somit auf der Suche nach dem Übeltäter Stück für Stück durch den Code, in der Hoffnung, die Ursache für den Fehler schnell zu lokalisieren. Tatsächlich stellte sich das heutige Problem zum Glück nur als eine Kleinigkeit heraus und da ich nun ohnehin schon dabei war, beschloss ich, mich trotz der späten Uhrzeit auch noch an die Korrektur zu machen. Hier ein paar Zeilen Code einfügen, dort ein bisschen was löschen. Meine Mutter, die vorbeikam, um mein leeres Glas wieder abzuholen und mir eine gute Nacht zu wünschen, nahm ich gar nicht richtig wahr. Hoch konzentriert schraubte ich an der Struktur der betroffenen Funktion, bis sie wieder das tat, wofür sie ursprünglich gedacht gewesen war.

„Und, funktionierst du jetzt wieder?“, murmelte ich, während der Smartphone-Emulator die App startete.

Um bei meinen Verbesserungsversuchen nicht versehentlich wieder neue Fehler einzubauen, hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, jede Änderung erst ausgiebig auf dem virtuellen Handy zu testen, bevor ich eine neue Version der App online stellte. Als ich irgendwann den Computer herunterfuhr, war es somit wirklich schon viel, viel zu spät geworden. Gut, dass morgen Freitag war und damit nur noch ein Tag bis zum Wochenende. Ich wünschte wirklich, ich hätte mehr Zeit zum Programmieren …

Doch die Uni mit all ihren Veranstaltungen und Aufgaben vereinnahmte mich in den ersten Wochen des Semesters einfach komplett. Kaum, dass ich mich versah, war schon wieder eine Woche vergangen und wir saßen zum zweiten Mal in der Donnerstagsübung bei Konstantin. Das Thema der dieswöchigen Hausaufgabe lautete Arrays und Listen und während die beiden Lästermäuler aus der Straßenbahn sich hinter uns darüber ausließen, wie ätzend sie diese Aufgaben fanden, diskutierten wir nur kurz über unseren Lösungsweg, bevor wir uns an die Arbeit machten. Da Listen im Grunde nicht viel anders funktionierten als die Stapel und Schlangen vom letzten Mal, hatten wir beschlossen, damit anzufangen, und nachdem letzte Woche Bruno das Tippen übernommen hatte, war dieses Mal ich damit an der Reihe, die Grundlagen der Datenstruktur in den Rechner zu hacken. Eifrig ergänzte ich somit unseren alten Code um die zusätzlichen Funktionen, sodass die Listenelemente nicht mehr nur von einer Seite zugänglich waren wie bei Schlange oder Stapel, sondern an jeder beliebigen Position abgerufen werden konnten. Ich war so vertieft in die Lösung der Aufgabe, dass ich gar nicht richtig mitbekam, wie der Übungsleiter durch die Reihen ging. Erst als er plötzlich hinter unserem Rechner auftauchte, stellten meine Finger automatisch das Tippen ein.

„Hallo! Schön, dass ihr wieder hier seid“, begrüßte er uns lächelnd. „Sophie und Bruno, richtig?“

„Exactement“, bestätigte mein Freund.

Falls er beeindruckt davon war, dass Konstantin sich bei einer so großen Gruppe von Studenten tatsächlich unsere Namen gemerkt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Ich war es jedenfalls, auch wenn es sicherlich nicht an meinem stummen Auftritt gelegen hatte. Eher an Brunos charmanter Vorstellung mit Mamma Mia und allem, was dazugehörte …

Ich glaubte sogar, dasselbe Schmunzeln im Blick des Übungsleiters zu erkennen, als er jetzt in aller Ruhe seine Liste nach uns absuchte. „Habt ihr denn heute irgendwelche Fragen?“, wollte er währenddessen wissen.

„Hm, ich bislang nicht. Du?“ Bruno sah mich an.

Zögernd schüttelte auch ich den Kopf.

„Na dann … Ihr habt eine gute Hausaufgabe abgegeben“, stellte Konstantin fest.

„Merci. Das Lob gebührt dem Genie unter uns“, merkte Bruno selbstlos an. „Sophie hat’s drauf.“

„Ach echt?“

Ich spürte, wie ich unter den neugierigen Blicken des Übungsleiters rot wurde.

Na toll.

Verlegen zupfte ich am Ärmel meines kohleschwarzen Pullovers.

„Hattest du denn schon Vorerfahrungen vor dem Studium?“, erkundigte Konstantin sich interessiert.

Obwohl die Frage nicht besonders schwer zu beantworten war, brachte ich mal wieder nur ein Nicken zustande. Es war echt absurd, wie nervös er mich machte, aber ich konnte einfach nicht aus meiner Haut. Zum Glück hatte wenigstens Bruno keine Hemmungen, mit dem Übungsleiter zu quatschen. Wobei ich das mit dem Glück vielleicht noch mal überdenken sollte …

Denn anstatt einfach wahrheitsgetreu zu erzählen, dass ich genau wie viele andere hier eben auch Informatikunterricht in der Schule gehabt hatte, musste mein sogenannter bester Freund ganz frei heraus verraten, dass ich Apps entwickelte. Und als ob das nicht schon peinlich genug gewesen wäre, beließ er es nicht einmal dabei, sondern ging gleich noch einen Schritt weiter.

„Hier, ich nutze ihre To-do-App“, meinte er geradezu stolz und hielt dem Übungsleiter sein Handy hin. Scheinbar hatte er auf seiner Liste keine privaten Aufgaben stehen wie Fußnägel schneiden oder so …

„Wow, nicht schlecht“, murmelte Konstantin, während er die App genauer in Augenschein nahm.

Ich musste mich bemühen, einigermaßen ruhig weiter zu atmen. Einerseits ehrte es mich natürlich, dass er so beeindruckt von meiner Arbeit wirkte, aber gleichzeitig war es mir auch echt unangenehm, auf einmal ungewollt so im Mittelpunkt zu stehen. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, einem Dozenten von meinen Apps zu erzählen, geschweige denn, sie ihm auch noch zu zeigen.

Das war mir viel zu viel Aufmerksamkeit!

Allein schon diese Faszination, die jetzt in seinem Blick lag, während er sich durch die Anwendung tippte – da wurde ich ja gleich noch nervöser, als ich es ohnehin schon war.

Was hatte Bruno sich bloß dabei gedacht?

Ich war geradezu erleichtert, als Konstantins Aufmerksamkeit kurz darauf von den Studenten ein paar Tische weiter eingefordert wurde.

„Hey, äh, hallo, wir haben eine Frage“, riefen sie durch den Raum. „Kannst du uns mal kurz helfen?“

Er sah auf. „Klar, ich komme sofort.“

„Hier.“ Er gab Bruno das Handy zurück. „Tut mir leid, aber ich muss weiter“, entschuldigte er sich mit einem leichten Bedauern in der Stimme und deutete in Richtung unserer Nachbarn. „Falls ihr doch noch Fragen haben solltet, meldet euch jederzeit. Und lass sie nicht alles alleine machen“, warnte er Bruno mit einem leichten Zwinkern.

Ha!

Trotz meiner Anspannung musste ich beinahe schmunzeln. Das hatte gesessen!

„Ach Quatsch, niemals!“, versicherte Bruno scheinheilig. „Wir sind doch ein Team. Stimmt’s, Sophie?“ Wie zum Beweis legte er mir einen Arm um die Schulter.

Ich rührte mich nicht.

„Soso …“ Mit hochgezogener Augenbraue nahm der Übungsleiter Brunos verschmitztes Grinsen zur Kenntnis. „Na dann, umso besser“, räusperte er sich. Noch einmal streifte mich für einen Moment sein Blick, bevor er sich endlich umdrehte und zu den anderen Studenten hinüberging, die langsam bereits ungeduldig geworden waren.

„Was gibt’s denn?“, hörten wir ihn fragen.

Kopfschüttelnd schob ich Brunos Hand von meiner Schulter. „Also echt … Musstest du ihm so viel über mich verraten?“, fragte ich ärgerlich. Obwohl ich mich wirklich bemüht hatte, leise zu sprechen, merkte ich selbst, wie ungehalten ich klang.

Bruno zuckte nur mit den Schultern. „Er hat gefragt“, erwiderte er, als wäre er sich keiner Schuld bewusst. „Und außerdem kann ein bisschen Auffälligkeit nie schaden. Immerhin bewertet er unsere Hausaufgaben.“

„Na super.“

Das war natürlich ein ganz toller Grund, um mich so gegen meinen Willen ins Scheinwerferlicht zu rücken. Ich versuchte, meinen Ärger darüber herunterzuschlucken und mich wieder der Tastatur zuzuwenden. Doch egal, wie sehr ich mich in den folgenden Minuten auch bemühte, weiter zu programmieren – sobald ich merkte, dass Konstantin wieder zu uns herüberschaute, begann jedes Mal mein Herz zu klopfen und ich war augenblicklich wie blockiert. Am liebsten hätte ich mich vor lauter Verlegenheit hinter dem Bildschirm verkrochen.

Das war alles nur Brunos Schuld!

Mit verschränkten Armen rückte ich vom PC ab. „Mach du mal weiter“, forderte ich ihn auf.

„Ich? Aber ich dachte, du wärst heute dran?“, protestierte er.

„Du hast den Übungsleiter doch gehört. Du sollst mich nicht alles alleine machen lassen“, erinnerte ich ihn frech.

„Aber … ich … du …“

Ich reckte stur das Kinn in die Luft.

„Ach man, na gut … Hast gewonnen!“ Mit einer Mischung aus Lachen und Schmollen gab Bruno klein bei und klemmte sich hinter die Tastatur.

Das hatte er jetzt davon, dass er so eine Quasselstrippe war. Hätte er einfach so wie ich die Klappe gehalten, wäre das alles nie passiert. Aber mit meiner geschätzten Anonymität war es nun seinetwegen wohl endgültig vorbei. Bei der nächsten Donnerstagsübung machte Konstantin nicht einmal mehr einen Umweg durch die vorderen Reihen, sondern kam einfach direkt zu uns herüber.

„Achtung, Übungsleiter auf elf Uhr“, murmelte ich und rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her.

„Oh.“ Überrascht sah Bruno zu ihm auf. „Hallo.“

„Hey“, erwiderte Konstantin und stützte sich mit den Händen auf die hintere Kante unseres Tisches.

„Wir haben doch gar keine Fragen“, meinte mein Freund ein bisschen verwundert. „Höchstens vielleicht, ob du inzwischen auch schon Sophies App nutzt.“

Dieser … Argh!

Am liebsten hätte ich ihn unter dem Tisch unauffällig für seinen Kommentar gehauen. Aber obwohl das logischerweise nur ein Scherz von Bruno gewesen war, blieb Konstantin überraschend ernst.

„Ja, das tue ich in der Tat“, antwortete er, bevor er mich direkt ansah. „Hast du Interesse an einem Job?“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis seine Frage zu mir durchgedrungen war.

„Ei-einen Job?“, stammelte ich überrumpelt.

Mit einem Jauchzen stieß Bruno mich an. „Natürlich hat sie Interesse! Na los, Sophie, sag’s ihm!“

„W-was …“ Ich versuchte, meine Stimme zu kontrollieren. „Was denn für ein Job?“ Mein Herz hämmerte viel zu schnell gegen meine Rippen.

„Als SHK, also studentische Hilfskraft. Es geht um die Entwicklung einer App für ein Forschungsprojekt“, erklärte Konstantin. „Wenn du möchtest, können wir gerne gleich einen Termin vereinbaren, bei dem wir alles genau besprechen. Also …“ Noch immer fixierte er mich mit seinem Blick. „Hast du Interesse?“

Ja, unbedingt, rief die Stimme in meinem Kopf.

Um Gottes Willen, nein, flehte mein Bauch.

Was denn nun?

Ich nickte.

„Sehr gut!“ Er wirkte fast schon ein bisschen erleichtert. „Am besten wäre es, wenn das mit dem Termin heute noch klappt.“ Er zog sein Handy heraus und ich konnte von der Seite erahnen, dass er tatsächlich die Kalenderintegration meiner To-do-App öffnete. „Nach der Übung muss ich erst noch was erledigen“, stellte er mit einem Blick auf seine Termine fest. „Aber danach wäre ich flexibel. Passt dir dreizehn Uhr?“

„Klar, passt ihr das!

---ENDE DER LESEPROBE---