Herzenspsychologie - Stella May - E-Book

Herzenspsychologie E-Book

Stella May

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Beschreibung

Klara ist frustriert: weit und breit ist kein Traumprinz in Sicht. Sie lebt schon seit fast zwei Jahren von ihrem Exmann getrennt und wäre bereit für eine neue Liebe. Dazu kommt noch der stressige Alltag mit ihren zwei Töchtern und ihrer Arbeit als Psychologin im Kranken haus. Manchmal weiß sie gar nicht, wo ihr der Kopf steht. Plötzlich tritt Paul in ihr Leben und bringt es ordentlich durcheinander. Ist er ihr Traumprinz? Oder vielleicht doch Peter, den sie fast zeitgleich kennen lernt? Nicht nur Klaras Herz fährt Achterbahn. Auch ihre Freundin Anne und ihre Kolleginnen Dana und Sandra sind mit Herzensangelegenheiten beschäftigt. Jede Menge turbulente Herzenspsychologie mit ungewissem Ausgang …

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Stella May

Herzenspsychologie

Roman

Über das Buch:

Klara ist frustriert: weit und breit ist kein Traumprinz in Sicht. Sie lebt schon seit fast zwei Jahren von ihrem Exmann getrennt und wäre bereit für eine neue Liebe. Dazu kommt noch der stressige Alltag mit ihren zwei Töchtern und ihrer Arbeit als Psychologin im Krankenhaus. Manchmal weiß sie gar nicht, wo ihr der Kopf steht.

Plötzlich tritt Paul in ihr Leben und bringt es ordentlich durcheinander. Ist er ihr Traumprinz? Oder vielleicht doch Peter, den sie fast zeitgleich kennen lernt?

Nicht nur Klaras Herz fährt Achterbahn. Auch ihre Freundin Anne und ihre Kolleginnen Dana und Sandra sind mit Herzensangelegenheiten beschäftigt.

Jede Menge turbulente Herzenspsychologie mit ungewissem Ausgang …

Über die Autorin:

Stella May, geboren 1971, lebt in Schwerin und arbeitet als psychologische Psychotherapeutin. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. Neben ihrer Arbeit betreibt sie noch einen Blog, »chez-Stella«, auf dem sie über all die kleinen und großen Dinge schreibt, die sie in ihrem Alltag bewegen.

© 2019 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8301-1803-9 EPUB

Inhalt

1. Kennenlernen

2. Beste Freundinnen

3. Alltag

4. Anbandlungen

5. Party

6. Geheimnisträger

7. Mailgeflüster

8. Drama Teil eins

9. Gefühlsachterbahn

10. Drama Teil zwei

11. Frauenherzen

12. Kater

13. Visite

14. Nachwehen

15. Tränenzeit

16. Peter

17. Noch mehr Tränen

18. Tücken der Verdrängung

19. Liebeskarussell

20. Nachlese

21. Diät

22. Überraschungen

23. Mütter unter sich

24. Überraschungen zweiter Teil

25. Anders als man denkt

1. Kennenlernen

Das nächste Stück Schokolade wanderte wie von selbst in Klaras Mund. Sie ließ es genüsslich auf der Zunge zergehen. Das schlechte Gewissen und die Selbstvorwürfe würden sich erst später einstellen, wenn sie festgestellt hatte, dass sie mal wieder nicht, wie geplant, nach der Hälfte aufgehört hatte, sondern die Schokolade ganz aufgefuttert hatte. Klara saß vor dem Fernseher und sah zum x-ten Mal »Pretty woman«.

Sie hatte sturmfreie Bude, ihre beiden Töchter, Merle, sieben und Maja, elf Jahre alt, waren bei ihrem Ex, so dass sie sich nur um sich selbst kümmern musste. Sie genoss diese freien Wochenenden, auch wenn sie manchmal nicht recht wusste, was sie mit sich anfangen sollte. Die restlichen 12 Tage lief sie wie aufgezogen umher, ging arbeiten, kümmerte sich um die Kinder, machte den Haushalt und hatte höchstens abends kurz Zeit, die Füße hochzulegen und vor dem Fernseher einzuschlafen. Und alle vierzehn Tage waren die Kinder dann weg, es war Wochenende und sie hatte 48 Stunden Zeit für sich selbst.

Der Film war fast aus und Klara lächelte, weil gleich die Szene kommen würde, in der Richard Gere Julia Roberts mit der Limo abholte. Tief in ihrem Inneren war Klara eine Romantikerin, auch wenn sie das meist verdrängte, da ihr Alltag keinen Platz für Romantik ließ. Nur in den Filmen konnte sie so richtig dahinschmelzen und von dem wahren Prinzen träumen, der da draußen noch irgendwo auf sie wartete.

Der erste hatte sich ja als Frosch entpuppt. Ganz klischeehaft hatte er sie mit einer Arbeitskollegin betrogen. Zumindest hatte er ihr erspart, sie durch eine Jüngere zu ersetzen, die Neue war etwa in ihrem Alter. Aber das war nur ein schwacher Trost.

Nun war sie seit fast zwei Jahren wieder Single, nur dass sie eben nicht alleine war, sondern zwei Töchter hatte, die noch jeden potentiellen Partner auf Distanz gehalten hatten. Der Film war aus und Klara ließ sich auf die Couch zurücksinken. Ihre Hand griff neben sich und tastete das Papier nach dem nächsten Schokoladenstück ab. Als sie nichts fand, schaute Klara ungläubig auf das leere, unschuldige Papier und sagte leise: »Mist.« Sie seufzte, stand auf und brachte die verräterischen Reste ihrer Nascherei zum Mülleimer.

Da klingelte es an der Tür. Es war neun Uhr abends, Klara war in Gammelhose und Labberpulli, ihrer typischen Freizeitkleidung, die braunen Haare trug sie zu einem lockeren Knoten gebunden, der durch das Gelümmel auf der Couch mehr wie ein Vogelnest aussah. »Wer könnte das sein?«, überlegte Klara.

Dann kam sie zu dem Schluss, dass Detlef etwas von ihr wollte. Detlef war ihr Vermieter. Er war sehr nett und sie kam gut mit ihm klar. Sie hatte zunächst etwas Sorgen gehabt, als sie erfuhr, dass ihr Vermieter mit im Haus wohnen würde, aber sie hatte keinen Grund dafür gehabt. Detlef und seine Frau mochten Kinder und waren sehr unkompliziert. Sie veranstalteten sogar zweimal im Jahr ein Event für alle Mieter, damit die Hausgemeinschaft auch privat Berührungspunkte hatte.

Sie öffnete die Tür in den Flur und blickte überrascht in ein ihr völlig fremdes Gesicht. »Hey, ich bin Paul«, stellte sich ihr Gegenüber vor. »Kann es sein, dass deine Fahrräder meinen Kellereingang blockieren? Ich müsste da nämlich mal ran.«

Klara war so erstaunt, dass sie mit offenem Mund da stand und nichts sagte. Paul wirkte, als wäre ihm etwas unbehaglich zumute und versuchte es mit: »Also, ich bin heute hier eingezogen und würde gerne ein paar Sachen in meinen Keller stellen. Also, deine Fahrräder stören.« Klara hatte ihre Sprache wieder gefunden und fragte ungläubig: »Jetzt? Es ist mitten in der Nacht!« Paul schaute auf seine Uhr und meinte: »Also, nicht wirklich. Es ist gerade mal neun Uhr. Ich würde das wirklich gerne heute noch erledigen, der Krempel steht aktuell im Treppenhaus rum.«

Klara lugte aus ihrer Wohnung im Erdgeschoss in den Flur hinaus und sah dort einen Berg Kisten und anderen Kram gestapelt. Da fiel ihr ein, dass sie zu Beginn des Films noch überlegt hatte, was das für ein Getrampel im Treppenhaus war. Sie hatte es aber über dem Film wieder vergessen. Nun wusste sie es. Die Wohnung ganz oben hatte offenbar einen neuen Mieter gefunden. Sie war nur sehr klein, deshalb blieben die meisten nicht so lange dort. »Also gut, wenn’s sein muss«, gab Klara nach, drehte sich um und suchte nach den Fahrradschlüsseln.

Sie hatte es ganz praktisch gefunden, dass der Keller eine ganze Weile leer gestanden hatte, dort hatten ihre Fahrräder Platz gehabt. Jetzt müsste sie sich wieder was anderes damit überlegen. Sie ging die Treppe zum Keller runter und sagte über ihre Schulter: »Ich wusste gar nicht, dass jemand in die Wohnung einzieht. Detlef hat mir gar nichts gesagt.« Es klang etwas verteidigend, da sie ja mit ihrem Kram den Keller zugestellt hatte.

»Also eigentlich wollte ich erst nächste Woche einziehen, aber ein Kumpel hat mir sein Auto geliehen, da habe ich es vorgezogen.«

»Aha«, war alles, was Klara dazu einfiel. Sie machte sich an den Schlössern der Räder zu schaffen und ihr wurde plötzlich bewusst, wie sie aussah. Total schlumpfig und ungepflegt. Na, ein toller erster Eindruck. Andererseits hatte er sich ja auch nicht gerade Mühe gegeben, einen guten Eindruck auf sie zu machen. Nicht einmal ordentlich vorgestellt hatte er sich.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Paul, als sie nach einer Weile immer noch an dem Schloss von Majas Fahrrad rumdrehte. Maja war ihre ältere Tochter. Sie war im letzten Jahr in die fünfte Klasse gekommen und Merle war eingeschult worden. Majas Schloss war ein Zahlenschloss, das leider etwas klemmte und das mit Vorliebe tat, wenn Klara es eilig hatte, so wie jetzt gerade. Sie merkte, dass ihr langsam das Blut in den Kopf stieg vor Anstrengung, aber auch, weil ihr die Situation immer peinlicher wurde.

»Ach nee, geht schon«, ächzte sie und bekam das Schloss in diesem Moment endlich auf. »Ich bringe sie dann mal in den Garten«, sagte sie mehr zu sich selbst, als zu Paul und fing an, ihr eigenes Fahrrad zur Treppe zu bugsieren. Prompt verlor sie das Gleichgewicht und kam mit der einen Schulter gegen die Kellerwand. »Komm, lass mich dir helfen«, bot Paul wieder an, aber Klara wollte sich nicht helfen lassen. »Nee, ist schon gut«, sagte sie wieder und begann den mühsamen Aufstieg die Kellertreppe hoch.

Paul blieb etwas unentschlossen unten stehen, griff sich dann rechts Majas Fahrrad und das kleine Fahrrad von Merle links und kam ihr hinterher. Er stemmte die beiden Räder mühelos die Treppe hinauf. Oben stellte er sie im Hinterhof ab und sagte: »Also dann, danke. Und auf gute Nachbarschaft.« Er streckte Klara seine Hand hin, die sie schüttelte, ohne ihn anzusehen.

Er ging wieder hinein und Klara versuchte, die Räder möglichst dicht ans Haus zu stellen, damit sie vor Regen geschützt waren. Der einzige Nachteil ihrer Wohnung war der, dass es keinen Fahrradunterstellplatz gab. Detlef hatte immer wieder gesagt, dass er einen bauen wollte, aber bisher war nichts passiert. »Wenn wir einen gehabt hätten, hätte ich mir das hier sparen können«, dachte Klara.

Als sie in ihrer Wohnung in den Spiegel schaute, bekam sie einen Schreck. Sie hatte nicht nur Schokospuren um den Mund, sondern auch noch Kettenschmiere an der Wange. Ihr Dutt hatte sich vollends aufgelöst und ihre Haare hingen ihr in wirren Strähnen ums Gesicht. »Der muss dich ja für eine Hexe gehalten haben«, dachte sie, wobei sie hinzufügte, für keine wirklich bedrohliche, dazu sah sie in ihren Schlabberklamotten zu albern aus. Sie wusch sich gründlich die Finger, entschied dann, dass das nicht reichen würde und ließ sich ein Bad ein. Die Wanne war zwar nur klein, so wie das ganze Badezimmer, aber Gold wert. Nirgends konnte sie so entspannen wie in einem heißen Bad.

Sie machte extra viel Badeschaum ran, weil sie Schaumberge liebte. Nachdem sie in das heiße Wasser eingetaucht war, merkte sie, wie ihre Anspannung nachließ. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie so unter Spannung gestanden hat. Warum eigentlich? Gut, sie hatte sich vor dem Neuen ziemlich bescheuert angestellt, aber sie kannte ihn ja nicht und würde ihn ja vermutlich auch nicht wirklich kennen lernen. Er hatte ganz gut ausgesehen, auf eine athletische Weise. Keine Muskelberge, aber alles gut definiert. Sein Gesicht wurde von einer markanten Nase dominiert, die ihn aber männlich erscheinen ließ. Was ihr nicht gefallen hatte, war seine Art. Sie war irgendwie überheblich gewesen, unhöflich. Sie konnte auch nicht genau sagen, woran sie das festmachte, aber sie hatte sich in seiner Gegenwart unbehaglich gefühlt. Und außerdem hatte er sie einfach so überrumpelt. Um neun Uhr abends zu klingeln und von ihr zu verlangen, dass sie die Fahrräder wegstellte. Wo gab’s denn so was.

»Egal«, versuchte sie sich zu beruhigen, »genieß dein Bad und entspann dich.« In dem Moment klingelt es erneut an der Tür. Das konnte doch nicht schon wieder er sein? Sie würde nicht aufmachen, sie nahm ein Bad und es war nichts wichtig genug, das zu unterbrechen. Es klingelte erneut, diesmal mit mehr Nachdruck.

»Verdammt«, zischte Klara, »ich hoffe, dass es wenigstens wichtig ist!« Sie stieg aus der Wanne, schlang ein Handtuch um ihren noch mit Badeschaum bedeckten Körper und lief zur Tür, wobei sie kleine Pfützen auf dem Dielenboden hinterließ.

Es klingelte erneut. Sie riss die Tür auf und sagte: »Was gibt es denn so Wichtiges?« Sie blickte tatsächlich in das Gesicht ihres neuen Nachbarn, der seinerseits etwas betreten schaute, als er sah, in welchem Zustand sie war. »Oh, das tut mir leid, ich wollte dich nicht unter der Dusche hervorholen, aber …« Weiter kam er nicht, weil Klara ihn rüde unterbrach: »Weil der Schuhschrank im Flur dich stört? Dann hast du meine Erlaubnis, ihn wegzuschieben!«

Sie wollte schon wieder die Tür zumachen, aber Paul hielt sie mit einer Hand fest. »Ich würde nicht stören, wenn es nicht dringend wäre.« Das bezweifelte Klara, aber sie blieb stehen und sah ihn verärgert an. »Du bist die einzige, die im Haus ist, sonst hätte ich jemand anderen gefragt. Ich müsste mal dringend ins Netz. Mein Anschluss funktioniert noch nicht und ich muss die eine Mail eines Kunden beantworten.«

»Und das soll nicht Zeit bis morgen haben?« frage Klara ungläubig. »Nein, leider nicht, die kommen sonst nicht weiter.«

Klara schüttelte den Kopf und fragte: »Was genau bist du denn von Beruf, dass du um diese Zeit so unabkömmlich bist?« Sie sagte es mit einer deutlichen Prise Sarkasmus in der Stimme, die Paul nicht entging. Er reagierte aber nicht darauf, sondern antwortete: »Ich bin ITler, du weißt schon, einer von den Typen, die immer vor dem Rechner sitzen.« Klara zog eine Augenbraue hoch und sagte: »Na, das ist ja passend. Der Rechner steht im Wohnzimmer, also gleich hier rein. Ich geh mir dann mal was anziehen.« Und damit verschwand sie im Bad.

Während sie sich abtrocknete, fragte sie sich, wie bescheuert man eigentlich sein konnte. Warum hatte sie den Typen denn reingelassen? Sie kannte ihn ja gar nicht. Wenn er nun was klauen würde, oder, noch schlimmer, sie vergewaltigen würde! »Hör auf, dir so einen Quatsch vorzustellen«, ermahnte sie sich. »Du hast eindeutig zu viel Phantasie. Wenn du ins Wohnzimmer gehst, ist der Typ vermutlich schon weg.«

Sie sah sich im Badezimmer um. Mist, sie hatte gar nichts da, was sie anziehen könnte. Sie hatte ja auch nicht mit Besuch gerechnet. Notgedrungen wickelte sie sich wieder in ihr Badetuch und ging ins Wohnzimmer.

Ihre Wohnung war nur klein und so geschnitten, dass sie durch das Wohnzimmer in ihr Zimmer gelangte. Die beiden Kinderzimmer lagen neben dem Badezimmer. Jetzt wünschte sie sich, es wäre andersherum gewesen.

Paul saß noch an ihrem Computer, der auf ihrem Sekretär in der Ecke stand. Der Sekretär war ein Erbstück von ihrer Oma. Klara liebte alte Möbel und kombinierte sie mit einigen neueren Stücken, die sie meist von Ikea hatte, da Geld bei ihr immer knapp war. Sie mochte ihre Wohnung, die sie nach der Trennung für sich und die Kinder eingerichtet hatte, und hatte von vielen anderen schon Komplimente dafür bekommen. Ihre Freundin Anne hatte ihr sogar mal allen Ernstes vorgeschlagen, daraus einen Beruf zu machen und Innenarchitektin zu werden. Aber leider oder glücklicherweise, je nach Ausgang des Projektes, war Klara dazu zu vernünftig.

Paul sah vom Computer auf und war offensichtlich überrascht, sie nur in ein Handtuch gewickelt zu sehen, verriet das aber nur durch eine leicht hochgezogene Augenbraue. Klara merkte, wie sie rot wurde, versuchte, etwas Lustiges zu sagen, aber das einzige, was ihr im Kopf rumgeisterte, war die Vorstellung, das blöde Handtuch könnte rutschen, und sie gleich komplett nackt vor einem völlig Fremden stehen. Das trieb ihr gleich noch mehr Schamröte in die Wangen und anstatt einen flotten Spruch zu machen, huschte sie wortlos an ihm vorbei in ihr Zimmer.

Dort machte sie die Tür erleichtert hinter sich zu, lehnte sich dagegen und merkte erst da, wie schnell ihr Herz schlug. Es war aber auch eine verrückte Situation. Eigentlich hatte sie sich auf einen gemütlichen, völlig unaufgeregten Abend vor dem Fernseher gefreut. Mit so viel Aufregung hatte sie nicht gerechnet. Sie überlegte, was sie anziehen sollte. Wieder ihre gemütlichen Klamotten von vorhin? Oder was Vernünftiges? Eigentlich war sie ja auf dem Sprung ins Bett zu gehen, aber sie konnte ja schlecht ihr Oversize-T-Shirt anziehen, das sie als Nachthemd benutzte, mit Snoopy drauf, da würde er sie ja für völlig bescheuert halten. Aber wenn sie sich jetzt auftakelte, wäre das auch merkwürdig. Schließlich saß er auch in einer alten Jeans und irgendeinem unförmigen Ding von Pullover da, was man eben so anhatte, wenn man umzog.

Egal was, sie musste sich jetzt etwas anziehen, sonst würde Paul noch denken, sie sei bereits eingeschlafen! Sie griff sich eine Jeans von ihrem Stuhl und holte einen weiten Pullover aus dem Schrank. Das musste reichen.

Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, saß Paul immer noch vor ihrem Rechner und hypnotisierte den Bildschirm. »Alles in Ordnung?«, fragte Klara. Paul schaute nicht auf, sondern starrte weiter den Rechner an, als ob er dadurch irgendetwas bewirken könnte. »Ja, alles gut, ich versuche allerdings Zugriff auf ein Programm von der Arbeit zu bekommen, aber irgendwie akzeptiert er mein Passwort nicht.« Nun schaute er doch auf und Klara fiel auf, dass er ungewöhnlich lange Wimpern für einen Mann hatte, die seine grünen Augen einrahmten.

»Dein Rechner könnte mal ein bisschen Aufräumen vertragen. Der ist ganz schön langsam.« Klara fühlte sich auf dem falschen Fuß erwischt. Ihre Gedanken waren auf ganz anderen Bahnen unterwegs gewesen und er hatte sie unsanft in die Realität zurückgeholt. Richtig, er war ja nur hier, weil er ihren Rechner benutzen wollte, was schwadronierte sie da über seine Wimpern? Dennoch fand sie ihn unhöflich. Schließlich wollte er doch ihren Rechner benutzen, da sollte man etwas großzügiger sein.

Da sie über all den Gedanken nicht zum Antworten gekommen war, fuhr Paul fort: »Ich könnte das für dich machen, wenn du möchtest.«

»Nicht nötig«, sagte Klara schnell, die sich schon wieder dabei ertappte, wie sie rot wurde, weil ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie die ganze Zeit über nur Paul angestarrt hatte. »Mir reicht das so.« Damit wandte sie sich ab und ging in die Küche, um erst einmal wieder tief durchzuatmen. Was war denn mit ihr los? Normalerweise war sie nicht so auf den Mund gefallen. Gut, er war plötzlich aufgetaucht und hatte sie in einer peinlichen Situation erwischt, aber jetzt war sie wieder angezogen und sie sollte sich zusammenreißen und wie ein normaler Mensch benehmen.

Sie drehte sich abrupt um und trat in den Flur hinaus, wobei sie den leichten Absatz zwischen Flur und Küche übersah und stolperte. Wenn Paul nicht ebenso im Flur gestanden hätte und sie dank seines guten Reaktionsvermögens aufgefangen hätte, wäre sie der Länge nach hingefallen.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Paul, während Klara noch versuchte ihre Orientierung wieder zu finden. »Ja, ja, alles gut, danke«, stammelte sie und war überzeugt, sich mit dieser Aktion in seinen Augen komplett zum Trottel gemacht zu haben. Er hatte sie mit beiden Armen gepackt, so dass sie mit ihrem Kopf seinen Oberkörper berührte und sie durch seinen Pulli seine Muskeln spüren konnte. Eine sehr intime Berührung für jemanden, den man kaum kannte. Sie löste sich aus seinem Griff, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Normalerweise denke ich dran, das hier ein Absatz ist.« Sie ließ den Satz in der Luft hängen und wusste nicht recht, was sie noch sagen sollte.

»Also ich bin fertig. Danke noch mal, dass ich deinen Rechner benutzen durfte. Es tut mir leid für die«, er machte eine unbestimmte Geste mit der rechten Hand und fuhr dann fort, »Unannehmlichkeiten. Ich wollte nicht stören.« Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Auf gute Nachbarschaft!«, und streckte ihr seine rechte Hand hin. Sie ergriff sie, lächelte matt und wünschte sich nur, er würde endlich gehen, damit die Peinlichkeit ein Ende hatte. Wer weiß, was ihr sonst noch alles passieren würde.

Als sie die Tür hinter Paul geschlossen hatte, lehnte sie sich dagegen und fragte sich mal wieder, wieso das Leben eigentlich nicht wie in einem Film funktionierte. Dann hätte sie bestimmt ein sexy Negligé angehabt und hätte nach einem verführerischen Parfum geduftet. »Moment mal!«, sagte Klara laut, stieß sich von der Wohnungstür ab und ging in ihre kleine Küche, in die gerade so ein Esstisch für vier Personen passte. Dennoch fühlte sie sich sehr wohl in ihrer Küche. Sie war sehr hell, da man direkt durch eine Tür in den Garten gelangen konnte. Die Möbel waren blau-weiß gehalten und sie hatte die Wände in einem leichten lila Ton gestrichen. Sie trat an die Tür und lehnte ihren Kopf gegen das Fensterglas. Was passierte da gerade mit ihr? Sie war doch wohl nicht dabei, sich zu verknallen? Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Und dann auch noch in so einen Stoffel? Vielleicht sollte sie noch mal eine kalte Dusche nehmen, um wieder vernünftig zu werden. Stattdessen nahm sie sich ein Glas Wasser, machte die Tür in den Garten auf und setzte sich auf die oberste Stufe. Es war mittlerweile halb elf Uhr abends und es war ganz ruhig. Man würde nicht denken, dass ihr Haus mitten in der Stadt lag. Keiner Großstadt, aber nahe daran.

Der Vorteil war, dass man alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen konnte. Klara hatte ihr Auto verkauft, nachdem sie nach der Trennung wieder in die Stadt gezogen war. Sie genoss es, wieder in der Stadt zu leben, der Traum vom Haus auf dem Land war wohl eher der ihres Ex gewesen. Nach der Trennung war ihr aber schnell klar, dass sie dort mit den beiden Kindern vor die Hunde gehen würde. Sie war froh, wieder ein Leben zu leben, das ihr passte und in dem sie die Entscheidungen alleine treffen konnte.

Da es schon dunkel war, konnte man den Garten, der hinter dem Haus lag, kaum erkennen, aber der große Baum wiegte seine Zweige leise im Wind und Klara merkte, wie sie sich entspannte. Nach einer Weile stand sie auf und ging wieder hinein. Zeit ins Bett zu gehen. Morgen war zwar Samstag, aber sie war mit ihrer Freundin Anne zum Brunch verabredet und wollte eigentlich davor noch Laufen gehen, wenn sie es denn morgen rechtzeitig aus dem Bett schaffte. Sie stellte sich den Wecker und ließ sich in ihr großes Bett fallen. Ein weiterer Vorteil des Alleinseins war es, dass einem keiner die Decke klaute oder einem den Platz im Bett streitig machte. Da sie müde war, schlief sie bald ein, ohne noch einmal an Paul gedacht zu haben.

2. Beste Freundinnen

Am nächsten Morgen wurde sie durch Gepolter im Treppenhaus wach. Sie rieb sich die Augen und linste zu ihrem Wecker, der schon neun Uhr anzeigte. Sie ließ sich aufs Bett zurückplumpsen und überlegte, ob es sich jetzt noch lohnte, laufen zu gehen. Dagegen sprach ihr Energieniveau, sie hatte das dringende Bedürfnis sich wieder zusammenzurollen und die Decke über den Kopf zu ziehen. Dafür sprachen das gute Gefühl danach und das gute Gewissen, wenn sie das Büffeet plündern würde. Aber wenn sie es schaffen wollte, dann musste sie jetzt aufstehen, sonst käme sie zu spät. Klara seufzte. Warum bestand eigentlich das ganze Leben aus einer Abfolge von Entscheidungen? Sie rappelte sich hoch und schlurfte ins Bad. Da hörte sie wieder Lärm im Treppenhaus, als ob etwas Schweres geschleppt würde. Sofort erinnerte sie sich an ihre gestrige Begegnung mit Paul, was sie gleich hellwach machte. Das war wirklich eine Abfolge von peinlichen Momenten gewesen. Aber das Gute war: schlimmer konnte es nicht mehr kommen und wenn alles so lief wie immer, würde sie von ihm ja auch kaum etwas mitbekommen.

Während des Laufens waren ihre Lebensgeister zurückgekehrt, was auch an der Musik lag, die sie dazu hörte. Die machte ihr immer gute Laune.

Als sie gerade im Garten Stretching machte, fiel neben ihr etwas mit lautem Klack ins Gras. Sie erschrak und machte einen uneleganten Hüpfer zur Seite. »Oh, das tut mir leid, ist was passiert?«, hörte sie eine Frauenstimme von oben fragen. Klara strich sich die Haare aus dem verschwitzen Gesicht und schaute zum obersten Balkon hinauf, über dessen Brüstung ein weibliches Gesicht auf sie hinabsah. Ganz offensichtlich hatte sich die Dame mindestens genauso erschreckt wie Klara.

»Nein, ich bin heil geblieben. Der Blumentopf allerdings nicht.« Obwohl der Schreck ihr noch in den Gliedern steckte, wollte sie möglichst cool und lässig rüberkommen. »Gottseidank«, rief die Frau, die sich auf Pauls Balkon befand. »Um den Blumentopf ist es nicht schlimm. Es tut mir leid, er ist mir einfach aus der Hand gerutscht.«

»Ja, schon gut, ist ja nichts passiert«, entgegnete Klara und hätte jetzt doch Lust gehabt, sich darüber aufzuregen, mit einem Blumentopf beworfen zu werden. Stattdessen überlegte sie, ob es sich bei der Frau um Pauls Freundin handeln könnte, winkte ihr zu und wollte gerade die Haustür aufschließen, als diese plötzlich abrupt geöffnet wurde und sie am Kopf erwischte. »Autsch,« stöhnte sie und musste sich am Türrahmen abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Ach scheiße!«, entfuhr es Paul, der ihr jetzt gegenüberstand. »Das tut mir leid!«

»Willkommen im Club«, sagte Klara genervt und wollte sich an ihm vorbeidrängeln. Sie wollte jetzt nur noch in ihre Wohnung und duschen. Paul hielt sie aber am Arm fest und sagte besorgt: »Du blutest. Soll ich dich ins Krankenhaus fahren? Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen.«

»Das fehlte noch«, schnaubte Klara, »dass ich da am Wochenende auch noch hinfahre. Das ist nichts, das ist nur ein Kratzer. Du könntest mir aber den Gefallen tun, etwas vorsichtiger zu sein und das gilt auch für den Rest deiner Mannschaft.« Damit schaffte sie es ihren Arm zu befreien und sich an Paul vorbei zu drängeln. »Nun warte doch«, sagte dieser. »Ich wollte doch eigentlich nur schauen, ob alles okay ist bei dir.«

»Na, bis eben war es das zumindest«, entgegnete Klara schroff und hatte es geschafft, ihre Türe aufzuschließen. »Ich kann ja verstehen, dass du sauer bist, aber soll ich nicht lieber mitkommen und die Wunde versorgen?« Klara zog ihre Augenbrauen hoch und fragte: »Wieso, bist du Arzt?«

»Nein, natürlich nicht, aber …«

»Na also. Ich komme schon alleine klar.« Damit zog sie die Tür ins Schloss.

Kaum hatte sie die Tür zugemacht, kamen die Tränen. Ihr Kopf pochte wie wild und sie zitterte am ganzen Körper. Vermutlich durch die zwei Schreckmomente. Warum musste immer ihr so was passieren, dachte Klara und wischte sich die Tränen von der Wange.

Draußen hörte sie Schritte, die sich in Richtung Garten entfernten. Offenbar hatte Paul noch eine Weile vor der Türe gestanden und überlegt, was er machen sollte. Geschieht ihm recht, wenn er ein schlechtes Gewissen hat. Aber schon, als sie das dachte, schlich sich noch ein anderer Gedanke bei Klara ein. Konnte auch sein, dass sie überreagiert hatte. Schließlich hatte er das ja nicht absichtlich gemacht, und seine Absicht, nach ihr zu sehen, war ja zumindest ehrenwert gewesen.

Aber sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Sie torkelte ins Bad und betrachtete ihr Gesicht. Sie hatte eine kleine Schramme an der Stirn, die blutete. Ansonsten war ihr Gesicht durch das Laufen feuerrot und das Haar klebte ihr verschwitzt am Gesicht.

Na ja, da brauche ich wenigstens keine Angst haben, dass er sich in mich verlieben könnte, dachte Klara und fragte sich im nächsten Moment, warum sie immer daran dachte, wenn ihr Paul begegnete.

Sie machte die Wunde vorsichtig mit Jod sauber und verzog vor Schmerz das Gesicht. Dabei drängte sich ihr das Bild auf, wie Paul sich über sie beugte, um ihre Wunde zu säubern. Dabei trug er ein ärmelloses T-Shirt und sie konnte die Muskeln seiner Oberarme bewundern. Klara schüttelte den Kopf und stieß sofort ein unterdrücktes Fluchen aus. Es tat weh, den Kopf zu schütteln.

Nach einer Dusche und einer Paracetamol saß sie mit ihrer Freundin Anne im Café Blaubär und schlürfte an ihrem Latte Macchiato. Für Klara gab es nichts besseres, als einen Kaffee mit aufgeschäumter Milch. Vor ihr lag ein Croissant, das mit Marmelade bestrichen war und darauf wartete, dass sie hineinbiss.

Anne schlürfte ihren Tee und saß vor einer großen Schale Müsli mit Früchten. Sie hatte blonde, kinnlange Haare, die sie offen trug, und blaue Augen. Ihr Gesicht war nicht im eigentlichen Sinne schön, aber sie hatte sehr markante Züge, die interessant wirkten. Die Männer standen auf sie und Klara hatte sich neben ihr oft wie Aschenputtel gefühlt.

Anne schilderte gerade eine weitere Episode aus dem Leben mit ihrem 13-jährigen Sohn. »Ich kann alle Eltern verstehen, die ihren pubertierenden Kindern gegenüber handgreiflich werden. Mir fällt da auch nichts mehr ein. Stellt der sich doch vor mich und sagt allen Ernstes, ich sollte mal etwas chillen. Also, da hat es mir doch glatt die Sprache verschlagen.«

Klara sah ihre Freundin lächelnd an und entgegnete: »Und das will schon was heißen, wenn es dir die Sprache verschlägt.« Anne lächelte auch und meinte: »Ja, du hast Recht, und ich hab sie ja auch wieder gefunden. Aber so was hätten wir uns damals nicht getraut. Aber genug davon. Erzähl mir jetzt mal lieber, wie du zu deiner Schramme gekommen bist.«

Anne hatte Klara natürlich gleich danach gefragt, als Klara mit etwas Verspätung im Café eingetrudelt war. Aber Klara hatte nur abgewinkt und gesagt: »Später, ich brauche erst einmal einen Kaffee. Erzähl du erst mal, was bei dir so passiert ist.«

Da Anne gerne und viel erzählte und in ihrer lebhaften Familie auch nicht oft zu Wort kam, was verwunderlich war, da sie neben ihrem Mann zwei Söhne hatte, kam sie der Aufforderung gerne nach. Aber nun war sie neugierig und wollte endlich wissen, was es mit der Schramme auf sich hatte.

Klara überlegte, wo sie anfangen sollte und erzählte dann einfach der Reihe nach, was gestern und heute passiert war. Als sie ihren Bericht beendet hatte, saß Anne einfach nur da und schaute sie bedeutungsvoll an. »Was?«, fragte Klara irritiert. »Nachtigall, ick hör dir trapsen«, sagte Anne nur und schmunzelte.

»Also, ich weiß nicht, was du meinst«, begann Klara, verstummte dann aber und fing an zu lachen. »Ja, ich geb’s zu, er sieht ganz süß aus, aber gleichzeitig ist er mir total auf die Nerven gegangen und ich bin froh, wenn ich ihn nicht mehr zu sehen kriege. Außerdem hat er eine Freundin«, fügte sie noch hinzu, da ihr das als das ideale Argument erschien, um Anne davon abzuhalten, weiter in diese Richtung zu stochern.

»Ach, Klara, was ist denn daran so schlimm, wenn du mal wieder Herzklopfen hast? Ist doch was Schönes. Und woher weißt du denn, dass die Tussi vom Balkon seine Freundin ist? Könnte ja auch seine Schwester sein, oder die Freundin eines Freundes.«

»Tja, wissen tue ich es nicht, klar, aber ich vermute es. Die beiden passen einfach zusammen.« Da musste Anne prustend loslachen. »Wie konntest du das denn feststellen? Du hast doch nur ihren Kopf zu Gesicht bekommen, und das auch noch aus größerer Entfernung.«

»Ich meine ja nur«, verteidigte sich Klara, »sie wirkten irgendwie beide aufgeblasen.« Prompt fingen beide Freundinnen zu lachen an, so dass einige andere Gäste zu ihnen herüber sahen. »Pscht«, flüsterte Anne, »benimm dich, die anderen gucken schon«, woraufhin wieder beide losprusteten. Klara musste sich die Stirn massieren, weil durch das Lachen der Kopfschmerz zurückgekommen war. »Hör auf«, bat sie, »ich kann nicht mehr.«

Als sich beide wieder beruhigt hatten, meinte Klara: »Im Ernst, Paul ist nicht mein Typ, er ist viel zu ruppig und selbstverliebt. Aber in einem hast du Recht. Es tut gut, mal wieder ein Kribbeln im Bauch zu spüren, und vielleicht sollte ich das einfach als Zeichen nehmen, wieder am Spiel teilzunehmen.«

»Ganz meine Rede«, meinte Anne aufgeregt und beugte sich vor. »Du hast dich lange genug verkrochen. Seit zwei Jahren bist du nicht mehr mit einem Typen aus gewesen, da wird es wirklich Zeit. Wie aufregend, bald gibt es ganz viele Männernkennenlerngeschichten.«

»Nun komm mal wieder runter«, entgegnete Klara und beugte sich nun auch nach vorne. »Das war ja nur erst einmal so ein Gefühl. Ein Schritt nach dem anderen.«

»Oh nein, jetzt wird nicht mehr gekniffen«, antwortete Anne bestimmt. »Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen.« »Was meinst du damit?«, fragte Klara. »Ich kann mir die Männer ja nicht backen.«

»Das musst du auch gar nicht, sie stehen alle schon im Regal.« Klara sah Anne entgeistert an und fragte sich, ob sie sich Sorgen um ihre Freundin machen sollte.

»Man, du stehst auf der Leitung. Ich meine natürlich im Internet. Da gibt es viele Partnerbörsen, da warten die Kerle nur auf dich.« Klara hatte gerade den letzten Bissen ihres Croissants in den Mund gesteckt, holte vor Überraschung Luft und musste prompt husten, wobei sie Croissantkrümel über den Tisch verteilte. Als sie wieder sprechen konnte, sagte sie: »Auf keinen Fall. Ich mache mich doch nicht lächerlich!«

»Quatsch, das machen heute alle so. Wie willst du denn sonst einen Mann kennenlernen?« Darauf wusste Klara auch nichts zu sagen, hatte sie doch außer Paul in den letzen zwei Jahren gar niemanden kennen gelernt. »Na ja, vielleicht habe ich auch bloß nicht richtig geguckt, weil ich ja keinen Mann wollte.«

»Nein, keine Ausreden«, sagte Anne bestimmt, »wir gehen jetzt gleich zu dir und erstellen dein Profil.«

»Was, jetzt gleich?«, fragte Klara überrascht und entkam nur knapp einem neuerlichen Hustenanfall.

»Ja, genau, so was soll man nicht auf die lange Bank schieben. Aber vorher holen wir uns noch was zu essen, schließlich muss ich das Geld ja wieder reinholen.«

Nach einem ausgiebigen Frühstück schlenderten beide zu Klaras Wohnung. Da sie im Zentrum wohnte, war das ein Weg von nur zehn Minuten.

»Ich beneide dich, dass du hier wohnen kannst«, sagte Anne und ließ sich auf Klaras Couch plumpsen. »Manchmal denke ich, ich wäre auch lieber getrennt, als in unserem Vororthaus das Chaos der Jungs und von Daniel zu beseitigen.«

»Das ist doch nicht dein Ernst?«, fragte Klara und klang dabei etwas besorgt, da eine Ernsthaftigkeit in Anne’s Stimme mitgeschwungen hatte, die ihr Sorgen machte. »Nein, vermutlich nicht«, entgegnete Anne leichthin. Sie nahm das Glas Sekt-Orange entgegen, das Klara aus der Küche geholt hatte, prostete Klara zu und sagte: »Also, ran ans Werk.«

Die beiden setzten sich vor Klaras Computer und Klara öffnete den Internet-Browser. »Welche Singlebörse soll ich denn nehmen?«

»Keine Ahnung. Gib doch mal Frisch verliebt ein, die sollen ganz gut sein.« Als die Startseite erschien, fragte Klara wieder: »Und nun?«

»Du stellst dich an wie der letzte Mensch«, schimpfe Anne. »Lass mich mal machen.« Klara ließ sich das nicht zweimal sagen, zog aufs Sofa um, legte die Füße hoch und nippte an ihrem Sekt-Orange.

»So, ich habe jetzt mal das Profil aufgemacht, das du ausfüllen musst. Allerdings wollen die von dir eine Mitgliedsgebühr, sonst kannst du mit niemandem Kontakt aufnehmen«, verkündete Anne von ihrem Platz vor dem Computer aus. »Ich denke aber, das ist es wert. Dann machen das zumindest nur Leute, die es auch ernst meinen.«

Klara wollte schon protestieren, dachte sich dann aber, dass Anne vermutlich Recht hatte und sie nur wieder kneifen wollte. Die erotischen Gedanken an Paul waren doch ein klares Zeichen gewesen, dass sie sich eine Beziehung wieder vorstellen konnte. Bisher hatte sie einfach keine Kraft und Energie für etwas anderes als ihren Alltag übrig gehabt, hatte Männer in ihrem Umfeld kaum zur Kenntnis genommen.

»Gut, da du nicht protestierst, kann es ja losgehen.« Anne holte sie mit diesen Worten aus ihren Überlegungen. »Du musst hier jede Menge Zeug ausfüllen. Also natürlich die Angaben, wie alt du bist, wie viele Kinder usw. Aber dann auch so Sachen wie: welcher Typ du bist, was du an einem Freund besonders schätzt und so weiter. Am Ende kommt dann ein Profil raus und das wird mit den Profilen der Männer verglichen, und du weißt dann gleich, ob ein Mann zu dir passt.«

»Pffft«, kommentierte Klara Annes Ausführungen von der Couch aus. »Wer’s glaubt, wird selig. Schließlich bin ich Psychologin, ich weiß, was machbar ist und was nicht. In Statistik haben sie immer gesagt: glaub nur der Statistik, die du selbst gefälscht hast.«

»Ach komm, du übertreibst. Außerdem soll das ja nur eine Starthilfe sein. Wenn dir einer gefällt, dann wirst du eh mit ihm schreiben und sehen, ob das passt oder nicht.«

Die nächsten zwei Stunden füllten sie zusammen den Bogen aus und leerten noch ein Glas Sekt-Orange. Anne machte Klara Vorschläge, was sie alles schreiben konnte, was beide immer wieder zum Lachen brachte. Schließlich war es vollbracht und beide starrten gespannt auf den Bildschirm, auf dem sich das Profil aufbaute. »Aha, du bist also eher zurückhaltend, magst die Natur, legst Wert auf gesunde Ernährung und machst viel Sport.«

»Wer hätte das gedacht«, kicherte Klara. »Das hätte ich denen auch vorher sagen können.«

»Na und, das Profil hat also nichts Neues ergeben, aber nun kommt das eigentlich Interessante. Wir schauen mal, was für Männer es ausspuckt, die zu dir passen könnten.« Klara beugte sich aufgeregt nach vorne. Vielleicht war ja wirklich der Mann dabei, der ihr Schmetterlinge in den Bauch zaubern konnte.

Schon erschienen fünf Profile, die alle Männer mit einer mindestens 80%-igen Übereinstimmung anzeigten, die in der Nähe wohnten. »Immerhin fünf«, kommentierte Anne das Ergebnis, »hätte schlechter sein können.« Sie rief das erste Profil auf und es war schnell klar, dass der für Klara nicht infrage kam. Schließlich blieben zwei Männer übrig, die Klara ganz nett fand und bei denen sie sich vorstellen konnte, mal zu schreiben.

»Aber was soll ich schreiben«, maulte sie fast im gleichen Ton, den ihre neunjährige Tochter an sich hatte, wenn sie angab, ihr sei langweilig und sie wisse nicht, was sie machen solle. »Na, irgendwas«, entgegnete Anne, ebenfalls in ihrem besten »nerv-mich-nicht-so-Ton«.

»Weißt du was«, sagte Klara und machte den Bildschirm aus. »Genug für heute. Wir gehen jetzt noch eine Runde um den Pfaffenteich und dann fährst du wieder zu deiner Familie. Wir wollen die Geduld deines Mannes ja nicht überstrapazieren.« Sie stand auf und zog auch Anne auf die Füße. »Also gut«, sagte sie und ihr war anzumerken, dass sie auch genug vom langen Sitzen und auf den Bildschirm starren hatte. »Aber du schreibst gleich morgen. Und ich will alles wissen.«

»Geht klar«, erwiderte Klara lachend, »aber jetzt schnappen wir erstmal frische Luft.«

Als sie sich nach einem ausgedehnten Spaziergang verabschiedeten, sagte Anne: »Schade, dass ich Paul nicht zu Gesicht bekommen habe. Ich bin ja schon neugierig auf den Mann, der dich wiedererweckt hat.«

»Ach komm, übertreib nicht so«, sagte Klara und knuffte ihre Freundin gegen den Arm. »Aber keine Sorge. Früher oder später werdet ihr euch hier zwangsläufig über den Weg laufen.« Und das sollte schon bald passieren.

3. Alltag

Zur Arbeit fuhr Klara meist mit dem Fahrrad, nur bei richtigem Schietwetter sattelte sie auf die Straßenbahn um. Da Schwerin nur knapp hunderttausend Einwohner hatte, konnte man alles gut mit dem Fahrrad erreichen. An diesem Morgen musste sie sich beeilen. Wenn sie nicht durch die Kinder auf die Uhr schauen musste, ließ sie sich mehr Zeit und kam dann am Ende in Hektik.

Sie hatte gerade noch Zeit, ihren Rucksack in ihr Zimmer zu stellen, bevor sie zum ersten Treffen eilen musste. Sie arbeitete als Psychologin in der Psychiatrie, vermied es aber, dies Fremden gegenüber zu erwähnen, da die meisten Menschen dann gleich auf Abstand gingen, als wäre es etwas Unheimliches oder Ansteckendes. Für sie war es zwar ein anstrengender, aber dennoch ganz normaler Beruf. Und mit hellseherischern Fähigkeiten, die manche Menschen bei ihr vermuteten, war sie auch nicht ausgestattet, auch wenn ihr die manchmal ganz gut zupass gekommen wären.

Die anderen waren in dem Zimmer, in dem auch die Visiten abgehalten wurden, versammelt und schauten auf, als sie zur Tür herein kam. »Dann sind wir also vollzählig«, brummte der Oberarzt anstelle einer Begrüßung und nickte in Richtung diensthabendem Arzt. Morgens versammelten sich alle, um über die Neuzugänge oder andere Ereignisse in der Nacht informiert zu werden. Danach durfte ein müder Arzt, der sich die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, nach fast 24 Stunden Dienst nach Hause gehen.

Heute war David an der Reihe, der nun berichtete, dass er zwei Neuzugänge aufgenommen hatte. Einen auf die geschlossene Station, einen auf die Station für Schizophrene. Beide Aufnahmen betrafen Klara nicht, da sie in einer anderen Station arbeitete. Das war gut, so konnte sie ihr Programm für den Tag normal angehen und musste nicht noch ein Gespräch mit einem neuen Patienten dazwischenquetschen.

David, ein freundlicher Typ, der rein optisch an einen Teddybären erinnerte, berichtete über die beiden Aufnahmegespräche, wobei er an seinem Kaffee nippte. In der Klinik gab es zu jeder Tageszeit Kaffee. Klara erschien es manchmal so, als würden sich die Schwestern und Ärzte von nichts anderem ernähren. Leider war der Kaffee für ihre Empfindung ungenießbar. Es handelte sich dabei um meist schon leicht abgestandenen Filterkaffee, aber das schien sonst niemanden zu stören.

Klara hatte sich angewöhnt, sich die Geschichten, die sie täglich zu Ohren bekam, nicht zu Herzen zu nehmen. Es reichten ihr schon ihre eigenen Patienten, da war sie natürlich auch emotional beteiligt, das ging gar nicht anders, wenn man therapeutisch arbeiten wollte. Aber alle anderen Fälle, die sie nur so hörte, wie z. B. die über den Selbstmordversuch einer jungen Mutter diesen Morgen, versuchte sie gar nicht an sich heran zu lassen.

Als David fertig war, fragte der Oberarzt, der trotz seiner 50 Jahr noch sehr sportlich und auf eine interessante Weise gut aussah: »Sonst noch was?« Er hieß Dr. Richter, und Klara fand, dass der Name gut zu ihm passte. Er hatte etwas Getragenes und verlieh dem, was er sagte, damit immer eine Bedeutung, auch wenn es ganz banale Sachen waren. Klara wünschte sich oft, sie könnte das auch, ganz normale Dinge bedeutungsschwer sagen, dann hätten alle den Eindruck, sie hätte den Durchblick. Leider gelang es ihr nur selten, diesen Eindruck zu vermitteln.

Sie hatte aber auch ein doppeltes Handicap: zum einen war sie eine Frau. Die traten meistens unsicherer auf als Männer. Zum anderen war sie eine Psychologin. Anders als Ärzte wurden Psychologen im Studium darauf gedrillt, alles in Frage zu stellen. Ärzte dagegen wurden während ihres Studiums dazu »erzogen«, eine Diagnose zu stellen und die auch mit Überzeugung zu vertreten.

Klara wurde in ihren Überlegungen gestört, weil es nun um eine von ihren Patientinnen ging. Diese war erst seit ein paar Tagen auf Station und war von Anfang an sehr unruhig gewesen. Gestern hatte sie nicht schlafen können und immer wieder nach David rufen lassen, der ihr schließlich noch mehr Beruhigungsmittel gegeben hatte. Heute Morgen sei sie aber schon wieder bei den Schwestern gewesen, weil sie sich so unruhig fühlte.

Dr. Richter sah Klara an und fragte: »Sie kümmern sich drum?«

»Klar, ich gehe gleich im Anschluss zu ihr.« Er nickte und sagte: »Na dann, gehen wir’s an.« Es folgte ein allgemeines Stühlerücken, alle hatten es eilig, ihre Sachen anzugehen. Diese Teamtreffen waren zwar wichtig zum Austausch, nahmen einem aber viel Zeit weg, die man nicht für Termine mit den Patienten und zum Berichtschreiben hatte.

Bevor Klara in der Klinik angefangen hatte, das war nun zwei Jahre her, hatte sie nicht so viel Zeit mit Papierkram verbringen müssen. Sie verstand nicht, warum sie ihre Zeit nicht lieber den Patienten widmen konnte. Stattdessen musste sie vierseitige Berichte verfassen und alles ganz genau dokumentieren. Darunter hatten alle zu leiden, auch die Schwestern, die Klara wirklich für ihre Arbeit bewunderte.

Sie arbeitete auf einer Aufnahmestation, was soviel hieß, wie alle Patienten kamen zunächst mal zu ihnen und wurden dann auf die anderen Stationen aufgeteilt, je nach Problematik. Deshalb ging es bei ihnen auch so »bunt« zu. Das war nicht immer einfach für die Schwestern, denn es kam regelmäßig zu Konflikten unter den Patienten.

Klara wollte eigentlich nur kurz mit der unruhigen Patientin reden, aber diese wurde so von Ängsten geplagt, dass Klara eine Stunde mit ihr sprach und ihr schließlich versicherte, sie werde mit dem Arzt noch mal über die Medikation reden.

Dadurch war ihr Zeitplan durcheinander geraten. Sie musste noch Visite machen. Das bedeutete nicht, dass sie zu den Patienten ging, wie man das auf den somatischen Stationen kennt, sondern die Patienten kamen zu ihr. Schließlich waren sie ja nicht körperlich, sondern psychisch krank, und es tat allen gut, das Bett zu verlassen. Sie sprach mit jedem Patienten, den sie betreute, um im Kontakt zu bleiben und die weitere Behandlung zu planen. Eine Schwester war auch dabei und berichtete, wie es aus ihrer Sicht mit der Behandlung lief.

Manche Patienten bekamen darüber hinaus noch jede Woche ein Therapiegespräch, allerdings nur die, die das auch aushalten konnten. Es gab auch schizophrene Patienten, die waren schon mit einem zehnminütigen Gespräch überfordert.

Als sie mit der Visite endlich fertig war, stand schon wieder die nächste Besprechung an. Mittags trafen sich alle Stationen, um über die Wechsel der Patienten zu sprechen. Besonders von ihrer Station wechselten viele Patienten auf spezielle Stationen, das musste besprochen und geplant werden. So wusste man immer, wo wie viele Betten frei waren.

Da Klara noch viel Papierkram hatte, lehnte sie das Angebot ihrer Kollegin Suse ab, mit zum Essen zu gehen. Suse war auch Psychologin und arbeitete auf der gleichen Station. Sie kamen gut miteinander aus, waren aber nicht befreundet. Ein Treffen nach der Arbeit hatte sich einfach nie ergeben und Klara hatte nicht die Zeit und den Ehrgeiz, noch mehr Kontakte zu pflegen. Aber gelegentlich gingen sie zusammen essen oder besprachen einen Fall.

Als Klara um drei Uhr Feierabend machen konnte, war sie völlig erledigt. Der Magen hing ihr bis zu den Knien, weil sie sich nur eine Stulle mitgenommen hatte. Das Wetter war toll und sie wäre am liebsten in eines der Cafés gegangen, hätte sich einen Milchkaffee und einen Kuchen bestellt und wäre erst einmal runtergekommen.

Leider musste sie ihre Jüngste von der Schule abholen, weil die Handball hatte. So kaufte sie nur schnell beim Bäcker zwei Süßteilchen und hielt völlig abgehetzt vor der Schule. Merle spielte irgendwo auf dem Schulgelände und war mal wieder auf den ersten Blick nicht zu finden. Klara sah nervös auf ihre Armbanduhr und ärgerte sich mal wieder, dass sie überhaupt mit diesem Sport angefangen hatte.

Ihr Leben war so oder so schon getaktet genug, da brauchte sie nicht auch noch Sporttermine, zu denen sie die Kinder bringen musste. Wenn sie Merle nicht gleich fand, würden sie wieder zu spät kommen. Endlich entdeckte sie sie bei den Büschen, wo sie zusammen mit ihren Freundinnen etwas in Eimern sammelte.

Sie schritt schnell aus und rief: »Merle!« Als diese sie sah, kam sie auf sie zugerannt und sagte aufgeregt: »Hallo Mama! Wir sammeln Käfer. Schau mal, drei haben wir schon gefunden!« Und damit hielt sie Klara den Eimer unter die Nase. »Schön, mein Schatz, aber jetzt müssen die anderen alleine weiter sammeln, wir müssen los, sonst kommen wir zu spät.«

»Na gut«, sagte Merle und gab den Eimer widerstrebend ihrer Freundin Kathy. »Aber ihr müsst die Käfer auch gut füttern!« Klara nahm ihre Tochter am Arm und zog sie Richtung Hortgebäude, in dem die Sachen von Merle waren. »Tschühus!«, rief diese ihren Freundinnen zu und rannte dann los, um vor Klara im Gebäude zu sein.

In diesem Moment klingelte Klaras Telefon. »Na, was gibt’s«, fragte sie Maja, die Schulschluss hatte und immer anrief, wenn sie noch mit den Freundinnen was unternehmen oder zu Hause den Süßigkeitenbestand plündern wollte. »Mama«, kam es durch das Telefon, »könnte ich vielleicht …«, hier entstand eine Pause, weil die Mädchen anfingen zu kichern und zu tuscheln, »könnte ich vielleicht noch mit Keyla in die Stadt. Wir wollen uns noch«, erneutes Kichern und Tuscheln, »was für die Schule besorgen.«

Klara war mittlerweile auch im Unkleideraum angekommen, in dem Merle sich immerhin schon die Schuhe angezogen hatte und gerade dabei war, ihre Jacke anzuziehen. »Mama«, sagte sie, als sie Klara sah, »weißt du, was wir heute gemacht haben, wir haben … « Klara hob die Hand und unterbrach sie. »Merle, ich telefoniere.«

Dann sprach sie wieder ins Handy: »Also, von mir aus. Wann seid ihr denn dann zu Hause? Und was ist mit Hausaufgaben?«

»Wir haben nur Vokabellernen auf, das geht schnell. Ich bin auch um sechs Uhr zu Hause. Bitte, Mama!«

»Also gut«, gab Klara nach, auch wenn sie ein schlechtes Gewissen dabei hatte. Sie hatte immer das Gefühl, nicht genug Zeit zum Lernen für ihre Kinder zu haben, aber sie würde ohnehin nicht vor fünf zu Hause sein, also was sollte es. Und Maja war eigentlich ganz selbstständig, was ihre Hausaufgaben anging.

Klara war froh, als sie sich endlich auf einer Bank vor der Halle hinsetzen und in ihr Hörnchen beißen konnte. Den ganzen Weg über hatte Merle erzählt und war mehr gerannt, als gelaufen. Sie war ein absolutes Energiebündel und Klara fragte sich immer, wo sie das her hatte. Schließlich war ihr Vater auch eher ein ruhiger Vertreter und sie hatte als Kind am liebsten die Nase in ein Buch gesteckt. Leider hatte sie das keinem der Mädchen vererbt. Für sie waren die beiden Mädchen das Wichtigste, alles andere musste sich unterordnen. Und auch wenn es häufig immer noch stressig war, war Klara froh, dass die Kleinkindzeit vorbei war, als sie noch rund um die Uhr gefragt war. Nun war die Große kaum noch zu Hause und auch Merle hatte ihre Aktivitäten und Klara blieb Zeit, einfach in der Sonne zu sitzen und zu warten, bis das Training vorbei war.

Nach einem turbulenten Abendessen - irgendwas zu streiten fanden ihre Töchter immer, auch wenn es nur die Frage war, wer zuerst die Salami bekam - waren endlich beide Töchter im Bett und Klara schloss behutsam die Tür von Merles Zimmer, nachdem sie von dieser mehrmals geküsst und gedrückt worden war. Merle war auch im Zeigen ihrer Zärtlichkeiten überschwänglich.

Klara fuhr den Rechner hoch und wollte sich schon hinsetzen, als sie plötzlich Lust auf ein Radler bekam. Sie holte sich eins aus dem Kühlschrank und merkte, dass sie etwas aufgeregt war. Albern, dachte sie, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Herz schneller schlug.

Sie stellte fest, dass nur einer der Männer geantwortet hatte. Er hieß Kai und war von Beruf Anwalt. Klara hatte ihm zunächst nicht schreiben wollen, weil in ihrer Vorstellung ein Anwalt trocken und langweilig war, aber Anne hatte sie überredet, weil sie so eine hohe Übereinstimmung hatten. Die Antwortmail von ihm las sich ganz nett und Klara wollte gerade zurückschreiben, als es an der Tür klingelte.

»Oh nein, nicht schon wieder«, dachte sie und wollte nachsehen gehen, als sie hörte, dass Maja schon auf dem Weg zur Tür war. Als Klara im Flur ankam, hatte Maja schon die Tür geöffnet und schaute Paul fragend an: »Ja bitte?«

»Guten Abend«, sagte Paul und lächelte Maja an, »ich wollte zu deiner Mama.« Dabei sah er Klara an, die jetzt in den Flur getreten war. Auch Maja drehte sich zu ihrer Mutter um. Da steckte Merle den Kopf aus ihrem Zimmer und fragte: »Wer ist denn das?«

»Also ihr beiden, ihr geht jetzt mal wieder ins Bett«, sagte Klara und fühlte sich plötzlich ganz erschöpft. Sie war so froh gewesen, beide im Bett zu haben. Unter vielen Fragen zogen sich die beiden Mädchen wieder zurück, Merle musste noch mal zugedeckt und umarmt werden und schließlich konnte Klara die Kinderzimmertür wieder schließen.

Die ganze Zeit war Paul in der Tür gestanden und wirkte unbeholfen. Klara kam zur Tür und sagte, um etwaigen Fragen seinerseits zuvorzukommen: »Heute Abend brauche ich meinen Computer leider selber.« Paul winkte ab und reichte ihr ein Päckchen, das er in der Hand gehalten hatte. Es war Klara vorher gar nicht aufgefallen, bei all dem Trubel.

»Ich hatte überlegt, es einfach vor die Tür zu legen, aber dann schien es mir netter, es doch selbst abzugeben.« Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort. »Jetzt denke ich, ich hätte es doch besser vor die Tür gelegt. Ich wollte nicht stören.«

»Schon gut«, sagte Klara und merkte selbst, dass ihre Stimme sehr müde klang.

Sie nahm das Päckchen entgegen und wickelte es aus. Es kam eine Pralinenschachtel zum Vorschein und eine Karte auf der »Gute Besserung!« stand. »Ich wollte mich noch mal wegen Samstag entschuldigen. Ich hoffe, es geht dir besser.« Er sah Klara prüfend auf die Stirn, an der nur noch eine kleine Schramme zu sehen war.

»Klar, nicht der Rede wert«, entgegnete Klara. Dann sagten beide eine Weile nichts und Klara wurde bewusst, dass sie mal wieder mit Schlabberpulli und Jogginghose vor ihm stand, während er noch seine Arbeitsklamotten anzuhaben schien, Jeans und Sakko, was ihm sehr gut stand, da es seine breiten Schultern betonte. »Ja, dann, gehe ich mal wieder rein«, sagte Klara schließlich. »Ich bin total müde.« Dabei gähnte sie herzhaft, um das Gesagte zu unterstreichen. »Ja, wie gesagt, ich wollte nicht stören, sondern nur mal kurz fragen, wie es geht. Also dann, man sieht sich!«