Herzkirschen und Fördeflimmern - Rita Roth - E-Book
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Herzkirschen und Fördeflimmern E-Book

Rita Roth

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Beschreibung

Neuer Job, neue Stadt … neue Liebe? Als Louisa ihren Job als Erzieherin verliert, bricht für sie eine Welt zusammen. Da hilft auch der gut gemeinte Rat nichts, dass sie doch mal etwas Neues wagen soll. Louisa mag ihre geregelte, übersichtliche Welt! Ein Stellenangebot in Flensburg bringt sie jedoch zum Nachdenken. Ein kleines bisschen Veränderung kann ja nicht so schlimm sein, oder? Das Universum scheint es allerdings mit der Veränderung etwas zu gut zu meinen. Kaum in der neuen Stadt angekommen, trifft Louisa ausgerechnet beim Kirschkernweitspucken Erik, der aussieht wie ein moderner Wikinger. Als würde er ihre Welt nicht schon genug durcheinanderwirbeln, muss sie sich nun doch mit der beängstigenden Frage auseinandersetzen, wie ihre Zukunft aussehen soll. Kann es wirklich sein, dass sie die Antwort darauf in Flensburg findet … und vielleicht sogar bei Erik?   Der neue herzerwärmende Liebesroman von Erfolgsautorin Rita Roth!

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Herzkirschen und Fördeflimmern

Rita Roth

1

Gut gelaunt steige ich am Freitagmorgen in meinen Mini und rausche mit offenem Verdeck über die Landstraßen, die von blühenden Bäumen gesäumt sind. Wie rosarote Wolken ziehen die Baumkronen an mir vorüber. Laut und ein bisschen schief singe ich die Hits im Radio mit und denke an die Zeit zurück, als ich, Louisa Kirsch, zur Kirschkönigin gewählt worden bin. Seitdem sind acht Jahre vergangen, ich war gerade erst zwanzig und erinnere mich noch sehr gut daran, dass mein Kopf einer vollreifen Kirsche glich, als man mir das Krönchen aufsetzte. Es war so peinlich.

Die Jungs aus der Umgebung schlossen Wetten ab, wer es schafft, mich zu erobern und mein Kirschkönig zu werden. Unglaublich! Besser, ich denke nicht daran zurück. Was war ich doch naiv! Völlig ahnungslos bin ich auf den heißesten Typen der Gegend reingefallen. Er hat mir mit seinem schnittigen Auto imponiert, aber auch mit den paar Jährchen, die er älter war als ich. Außerdem waren alle Mädchen hinter ihm her, aber mich hatte er auserwählt.

Als ich ihm auf die Schliche kam, hat er versucht, mich mit heißen Küssen und einer filmreifen Szene, die er wirklich grandios spielte, von der Ernsthaftigkeit seiner Gefühle zu überzeugen. Kein Wort habe ich ihm geglaubt. Pech für ihn! Ich habe sofort mit ihm Schluss gemacht, seitdem ist er Luft für mich. Wenn man mich verarschen will, ist mit mir nicht gut Kirschen essen.

Diese alte Geschichte ist nicht ganz spurlos an mir vorübergegangen, doch das trübt nicht meine Vorfreude, je näher das Datum rückt.

Ich drehe das Radio lauter und unterbreche meine musikalischen Gesangseinlagen für den Wetterbericht. An diesem Wochenende scheint die Sonne, und die Temperaturen sollen auf über zwanzig Grad hochklettern. Ich kann es kaum erwarten. Nur noch diesen einen Tag arbeiten, und dann wird gefeiert. Das Kirschblütenfest wird das Highlight des Jahres. Vor allem, weil ich am Samstagabend zum ersten Mal mit unserer Lindyhop-Tanzgruppe auf der Bühne stehen werde.

Ich gebe Gas, und eine halbe Stunde später rolle ich auf unser Firmengelände. Meinen Wagen parke ich direkt vor unserem Betriebskindergarten und bin wie jeden Morgen die Erste.

Ich liebe es, noch ein paar Minuten für mich allein zu haben, mir einen Kaffee zu ziehen und erst dann mit den Vorbereitungen zu beginnen. Da ich den Kids tags zuvor versprochen hatte, heute wieder einmal meine Kirschohrringe zu tragen, klipse ich sie schnell an meine Ohrläppchen. Die Kleinen finden das megacool. Heute Vormittag werden wir gemeinsam Kirschohrringe basteln, mit denen sie nach Hause gehen dürfen. Sie werden begeistert sein. Die wichtigsten Vorbereitungen sind schnell erledigt. Noch einmal atme ich tief durch, trinke meinen Kaffee aus, und dann trudeln auch schon die Kolleginnen und die ersten Kinder ein.

Der Vormittag verläuft ausgesprochen lustig, und gegen Mittag baumeln an allen Öhrchen rote Kirschen. Die Kids sehen total süß aus, selbst die coolsten Jungs finden es witzig. Ich bin superzufrieden und blicke voller Stolz auf die Basteleien meiner Zwergengruppe zurück.

Als ich gerade am Aufräumen bin, ruft unsere Sekretärin an und bittet mich, zum Chef hochzukommen. Sofort! Ich habe keine Ahnung, was er von mir will, mache mich aber umgehend auf den Weg. Es sind Gerüchte von größeren Veränderungen, einschließlich Versetzungen an andere Firmenstandorte, im Umlauf. Ob es etwas damit zu tun hat? Ich kann nur hoffen, dass ich nicht betroffen bin. Aber das ist alles nur Gerede, offiziell ist noch nichts bekanntgegeben worden. Wie man weiß, ist aber an jedem Gerücht ein Körnchen Wahrheit.

Schneller als mir lieb ist, werde ich jedoch in die Unternehmenspläne eingeweiht, als ich bei unserem Chef, Herrn Weber, im Büro sitze. Erleichtert atme ich auf, als ich erfahre, dass ich nicht an einen anderen Standort versetzt werden soll. Nun würde mich aber interessieren, weshalb ich hier sitze. Er weicht meinem fragenden Blick aus. Befremdlich starrt er mich an, was mich doch nervös werden lässt. Ich spiele mit einer Haarsträhne, die ich dann aber hinter's Ohr klemme. Augenblicklich fange ich an zu grinsen, auch wenn mir nicht danach zumute ist. Natürlich! Mein Ohrschmuck ist es, weshalb er so guckt, als käme ich von einem anderen Stern.

Gott sei Dank! Dann ist ja alles gut. Vermutlich wird er gleich mit mir über eine Gehaltserhöhung sprechen, geht es mir durch den Kopf. Doch nichts dergleichen passiert. Herr Weber schweigt beharrlich. Muss er mich so auf die Folter spannen? Es dauert nicht allzu lange, dann kräuselt sich die Stirn des erfolgsverwöhnten Mittvierzigers. Endlich kommt er zur Sache.

»Liebe Frau Kirsch, Sie haben vielleicht schon von den Veränderungen innerhalb unseres Konzerns gehört«, holt er aus.

Ich nicke zaghaft und bemühe mich, seinem Redefluss zu folgen. Was er von sich gibt, klingt wie einstudiert. Mehr oder weniger rauschen seine Worte an mir vorbei. Meine Aufmerksamkeit kehrt in dem Moment schlagartig zurück, als ich die Worte ›Schließung des Betriebskindergartens‹ vernehme. Mir ist, als würde das Blut in meinen Adern gefrieren, und mein Herz macht einen Aussetzer.

»Wie bitte?«

Polternd springe ich von dem Besucherstuhl auf. Ich muss ihn falsch verstanden haben. Das muss ein Missverständnis sein.

»Was meinen Sie denn damit?«, rufe ich aufgebracht.

Weber zieht die Augenbrauen hoch und nimmt ein dickes Kuvert zur Hand, das unter meiner Personalakte liegt. Ist in dem Umschlag mein Schicksal schwarz auf weiß besiegelt, frage ich mich. Volltreffer! Genau das ist es. Und nun erwartet Weber auch noch, dass ich mir den ganzen Papierkram an diesem Wochenende ansehen soll. In aller Ruhe! Er kann natürlich nicht wissen, dass ich am Wochenende etwas Besseres vorhabe. Ich will zum Kirschblütenfest, ich will nichts anderes als feiern und tanzen.

»Wann ist es denn so weit?«, frage ich tonlos. Mehr als ein Flüstern bringe ich nicht zustande. »Zum Ende des Jahres?«

Weber schüttelt den Kopf. Scheinbar betrübt sieht er mich an. »Die neue Firmenleitung will nicht länger als nötig mit dem Personalumbau warten.«

Wie bitte? Was ist das denn für ein schreckliches Wort? Personalumbau! Als ob man uns so einfach umbauen kann.

»Glauben Sie mir, ich bedaure die Maßnahmen auch aus tiefstem Herzen«, versucht er seine Betroffenheit auszudrücken. »Der Betriebskindergarten wird mit Beginn der Sommerferien geschlossen. Mitte Juni. Sorgen Sie bitte dafür, Frau Kirsch, dass die Betreuung bis dahin reibungslos weiterläuft. Ich möchte keinen Klatsch und vor allem keine unbedachten Äußerungen den Eltern gegenüber. Ich kann mich doch auf Sie verlassen, Frau Kirsch?«

Wieder nicke ich.

»In der nächsten Woche werden wir dann die ganze Belegschaft informieren.«

»Aber … Ich habe doch einen unbefristeten Vertrag«, wende ich ein. Als ob das was ändern könnte!

»Das ist richtig. Aber Sie haben einen Vertrag als Erzieherin. Wenn es jedoch keinen Kindergarten mehr gibt, sind uns die Hände gebunden, und wir können Sie als Erzieherin nicht weiterbeschäftigen.« Er spricht mit mir, als wäre ich nicht besonders helle. »Oder möchten Sie in die Produktion versetzt werden?« Er lacht gekünstelt über seinen Scherz, der nicht besonders witzig ist.

Verwirrt zupfe ich mir die Kirschen vom Ohr und starre sie an.

Weber setzt jetzt ein Lächeln auf, das wohl verständnisvoll wirken soll. Er versucht nun auch noch, mir die unausweichliche Situation schmackhaft zu machen.

»Betrachten Sie es als Chance, sich neu zu orientieren. In Ihnen schlummert noch so viel Potenzial. Frau Kirsch, Sie sind doch zu Größerem geboren als nur zu einer einfachen Erzieherin.«

»Einfache Erzieherin?«, zische ich. »Dass ich nicht lache. Der Job einer Erzieherin ist alles andere als einfach. Sie als Vater sollten das wissen.« Auf derart dumme, unqualifizierte Sprüche habe ich schon immer allergisch reagiert. »Haben Sie noch nicht mitbekommen, wie wohl sich Ihr Sohn in unserem Kindergarten fühlt? Es gibt Tage, an denen er gern noch länger bei uns bleiben würde.« Herausfordernd sehe ich meinen Chef an, dann haue ich ihm um die Ohren, was ich gerade denke.

»Sie sind ja fein raus, Herr Weber. Ihr Kleiner kommt nach den Ferien zur Schule. Das haben Sie ja prima hingekriegt! Und was ist mit den anderen Eltern? Wie sollen die auf die Schnelle einen Platz für ihre Sprösslinge finden?«

»Machen Sie sich darüber keinen Kopf. Wir haben ein großartiges Hilfspaket mit kreativen Lösungen entwickelt«, beschwichtigt er mich, ehe er seine Sekretärin bittet, uns einen Kaffee zu bringen. Das kann nur bedeuten, dass er mit mir noch nicht fertig ist.

»Schauen Sie sich die Unterlagen in Ruhe an«, sagt er nun zum wiederholten Mal, dabei klopft er auf den Umschlag, der zwischen uns liegt. »Mit Ihrer Abfindung und der Lohnfortzahlung bis zum Jahresende haben Sie Zeit genug, um sich Gedanken über Ihre Zukunft zu machen.«

»Zeit lassen! Was soll ich denn mit so viel freier Zeit anfangen?«, fauche ich. »Das ist ja alles schön und gut, aber ab Mitte des Jahres stehe ich definitiv ohne Job da.«

»Frau Kirsch, also bitte!«, knurrt er verärgert. »Zeit kann man nicht genug haben! Ist Ihnen eigentlich bewusst, in was für einer beneidenswerten, privilegierten Situation Sie sich befinden? Machen Sie Urlaub. Reisen Sie um die Welt! Oder schreiben Sie meinetwegen auch Bewerbungen. Horchen Sie in sich hinein und entdecken Sie die Talente, die tief in Ihnen schlummern.«

Will er mich einschüchtern und als undankbare Versagerin abstempeln? So aufbrausend, wie er reagiert?

»Wenn Sie jedoch für den Rest Ihres Lebens Erzieherin bleiben wollen, dann dürfte es ein Leichtes sein, eine neue Stelle zu finden. Fachkräfte wie Sie werden händeringend gesucht.«

Nach einem flüchtigen Blick auf die Uhr schreibt er eine Telefonnummer und eine Webadresse auf einen Zettel.

»Hier. Sehen Sie sich das einmal an«, sagt er. Er fügt noch hinzu, dass es sich um eine Stellenausschreibung handelt. Eine Stelle in Flensburg. »Wenn Sie sich bei dieser Kita bewerben, garantiere ich Ihnen eine Zusage.«

»Ach, ja?«

Mir klappt der Mund auf, aber er bemerkt es nicht einmal. Unvermittelt fängt er an, von der Stadt an der dänischen Grenze zu schwärmen. Mir ist sie nur im Zusammenhang mit dem Punktekonto für Verkehrssünder bekannt. Und von der Bierwerbung natürlich.

»Dat flenst!«, rutscht es mir auch prompt raus. In meinen Synapsen macht es ebenfalls Plopp, als er auf die dortige Uni zu sprechen kommt. Er konfrontiert mich mit der Frage, die mir immer öfter durch den Kopf geht, die ich bisher aber erfolgreich verdrängen konnte.

»Haben Sie noch nie darüber nachgedacht zu studieren? Lehramt würde zu Ihnen passen. Sie wären garantiert eine gute Lehrerin. Sie haben doch das Zeug dazu.«

Ich muss zugeben, ich habe schon öfter darüber nachgedacht. Aber das muss ich meinem Chef ja nicht auf die Nase binden. Er ist nämlich nicht der Erste, der zu wissen glaubt, was gut für mich ist. In meinem Freundeskreis ist es nicht viel anders. Ich bin ich nämlich die Einzige, die trotz eines super Abi-Zeugnisses nicht studiert hat. Der stille Vorwurf, nichts aus meinem Leben zu machen, nagt seit geraumer Zeit an meinem Selbstbewusstsein.

»Es geht Sie ja eigentlich nichts an«, erwidere ich, »aber meine Berufswahl ist eine bewusste Entscheidung, die ich nicht bereue. Ich liebe Kinder! Als Erzieherin kann ich wenigstens ein bisschen dazu beitragen, den Kindern einen guten Start ins Leben zu bereiten.« Nun rechtfertige ich mich schon wieder, was ich doch gar nicht will. Wahrscheinlich ist mein Ton deshalb eine Spur zu zickig.

»Das können Sie als Lehrerin auch. Und später einmal als Mutter«, beendet er an dieser Stelle unser Gespräch. Er reicht mir einen Kugelschreiber und verlangt, dass ich eine Verschwiegenheitsvereinbarung unterzeichne. Als das erledigt ist, entlässt er mich.

»Schönes Wochenende!«, ruft er mir hinterher, als ich schon an der Tür bin. Das ist die Krönung des Ganzen, der pure Hohn! Wie soll das Wochenende denn jetzt noch schön werden?

Mit dem Briefumschlag in meiner Hand, der sich anfühlt wie eine tickende Zeitbombe, stürme ich aus seinem Büro, den langen Gang hinunter und über die Treppe nach draußen. Ich laufe zu meinem Auto und pfeffere die Kündigung auf den Beifahrersitz. Das fiese Kribbeln in den Fingerspitzen ist immer noch da, es will nicht aufhören.

Der Gedanke, in zwei Monaten meinen geliebten Betriebskindergarten und die Kinder, die mir ans Herz gewachsen sind, zu verlassen, treibt mir die Tränen in die Augen, die ich auch nicht wegblinzeln kann. Ich gehe in den Waschraum und lasse kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen, bis es wieder einigermaßen geht. Dann denke ich an das Kirschblütenfest und ziehe dabei meine Mundwinkel so lange nach oben, bis mein Spiegelbild lächelt. Egal, ob das Lächeln echt ist oder nicht. Nur so kann ich zu den Kindern gehen.

2

Als ich Feierabend habe und den Umschlag auf dem Beifahrersitz liegen sehe, könnte ich schon wieder losheulen. Automatisch tippe ich die Nummer meiner Freundin Charlotte ins Handy ein. Ich muss meinen Frust loswerden und mit irgendjemandem über die Kündigung reden.

Charlotte ist Lehrerin, und freitags ist sie nach der vierten Stunde normalerweise zu Hause. Aber ausgerechnet heute erreiche ich sie nicht. Entnervt fahre ich rechts ran und schreibe ihr eine Nachricht. Darauf reagiert sie wenigstens, aber nur, um mir mitzuteilen, dass sie in einer Konferenz sitzt, die sich noch über Stunden hinziehen kann.

So lange kann ich aber nicht warten. Ich muss jetzt mit jemandem reden und meine Wut loswerden. Also fahre ich zu Martha. Martha ist unsere Nachbarin, sie ist schon ein wenig älter, und bei ihr zu Hause habe ich viele Stunden meiner Kindheit verbracht. Nach der Schule bin ich zu ihr gegangen, wenn Mama noch gearbeitet hat. Wir haben zusammen gegessen, Hausaufgaben gemacht und gespielt. Trotz ihres Alters ist Martha wie eine Freundin für mich. Sie kennt mich von klein auf, versteht mich und lässt mich so sein, wie ich bin. Sie sagt mir aber auch die Meinung, wenn es sein muss.

Sie ist zu Hause, welch ein Glück. Als sie die Tür aufmacht, geht es mir gleich ein bisschen besser, obwohl ich schon wieder mit den Tränen kämpfe. Sie sieht es natürlich und nimmt mich fest in den Arm.

»Was ist denn mit dir los?«, erkundigt sie sich und bugsiert mich zu der hölzernen Küchenbank mit den rot-karierten Sitzkissen, die schon in meiner Kindheit darauf lagen. Dann schaltet sie die Kaffeemaschine an, und wenig später tröpfelt mein Lieblingsgetränk in die Kanne und verströmt den Duft, den ich so sehr mag.

Noch immer völlig aufgebracht erzähle ich ihr von dem Gespräch mit meinem Chef und der Schließung der Kita. Martha hört aufmerksam zu, sagt aber nichts. Das ist auch nicht verwunderlich, da ich die ganze Zeit rede, wobei ich die Unterredung mit meinem Chef theatralisch ausschmücke und ihr gar keine Chance gebe, zu Wort zu kommen.

Während sie zuhört, nimmt sie ein Glas ihrer Himmlischen Herzkirschen aus dem Vorratsschrank. Es sind die besten Kirschen, gepflückt von ihren eigenen Bäumen. Auf ihre Kirschplantage mit vielen seltenen Sorten ist sie sehr stolz. Nach dem Tod ihres Mannes haben sich schon etliche Kaufinteressenten für die Plantage gemeldet, aber Martha hat sie alle abgewiesen. Geld braucht sie nicht, aber ihre Bäume, deren Früchte sie mit ihren achtzig Jahren immer noch eigenhändig verarbeitet, sind für sie lebenswichtig. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, als wir zusammen Marmelade eingekocht haben, wird mir immer noch ganz warm ums Herz. Eine Schwarzwälder Kirschtorte zu backen, hat sie mir auch beigebracht. Die konnte ich dank ihr schon, da war ich erst zwölf Jahre alt. Als ich das beherrschte, prägte sie den Spruch: ›In deinen Adern fließt Kirschblut.‹

Wenn man von ihren himmlischen Herzkirschen kostet, kommt es einem so vor, als würde man einen Hauch Sommer mit ganz viel Liebe verspüren. ›Man schmeckt das Paradies auf der Zunge‹, sagt sie dann mit einem unergründlichen Lächeln und erzählt von ihrer Urgroßmutter, die ihr das Rezept vermacht hat. Ich habe sie schon so oft danach gefragt, aber sie rückt es nicht heraus.

Nachdem ich meinen Monolog beendet habe, sitzt sie immer noch da und schweigt. Mein Unmut und meine Ungeduld sind schon arg strapaziert. Eine winzige Reaktion kann man doch wohl erwarten. Noch lieber wäre mir aber ein heftiger Fluch. Sie könnte meinen Chef zum Teufel jagen oder zumindest über die Ungerechtigkeit in der Welt wettern. Aber nein, sie schweigt und schmunzelt.

Noch immer mir zugewandt geht sie zum Gefrierschrank und entnimmt ihm eine Packung Vanilleeis, von dem sie eine dicke Portion in zwei Becher füllt. Auf das Eis kommt eine daumenbreite Schicht Himmlischer Herzkirschen, über die sie feine dunkle Schokolade raspelt. Gekrönt werden die Eisbecher dann mit einem Klecks Sahne und einem Waffelröllchen.

»Das ist besser, als wenn ich jetzt auch anfange zu motzen.« Sie schiebt mir einen Becher hin und setzt sich mir gegenüber.

»Nun sag doch mal endlich was und grins nicht die ganze Zeit! Was meinst du denn dazu? Du musst doch zugeben, dass man das nicht machen darf. Das ist doch eine Frechheit!« Während ich schon wieder lamentiere, schwinge ich meinen Eislöffel beängstigend nah vor ihrem Gesicht hin und her, sodass Martha in Deckung geht und erst danach mit Bedacht anfängt zu reden.

»Das mit dem Betriebskindergarten ist wirklich eine traurige Angelegenheit«, sagt sie. Das ist aber nicht das, was ich von ihr hören will. Ich bin davon ausgegangen, dass sie genauso empört ist wie ich und sich mit mir gemeinsam über Weber und die Firmenpolitik aufregt. Aber davon ist sie weit entfernt.

»Weißt du, Louisa, gegen die Firmenbeschlüsse kannst du nichts ausrichten. Oder siehst du da eine Möglichkeit?«

Ich schüttle schnaubend den Kopf.

»Dann musst du es wohl oder übel akzeptieren, so schwer dir das auch fällt.«

»Pah!« Ich will protestieren, aber sie lässt mich nicht.

»Louisa, es ist sinnlos, dich über etwas zu ärgern, das du nicht ändern kannst. Damit schadest du nur dir selber. Du kriegst Falten und einen verbiesterten Gesichtsausdruck, oder du wirst richtig krank. Das willst du doch nicht?«

Wütend löffle ich mich durch meinen Eisberg und pfeife auf ihre gut gemeinten Worte.

»Willst du meine ehrliche Meinung hören?«, fragt sie mich mit einem Mal. Danach hat sie mich noch nie gefragt, normalerweise sagt sie ihre schonungslose Meinung auch so.

»Und die wäre?« Ich lege den Eislöffel beiseite und lecke das Schälchen aus, wie als Kind.

»Sieh mal, Louisa, du bist jetzt achtundzwanzig«, beginnt sie, was Alarmglocken in mir läuten lässt. »Ich finde, es ist längst überfällig, dass du dein Hotel Mama verlässt und dich in der Welt umsiehst. Warum nicht an der Flensburger Förde? Schleswig-Holstein mit seinen Meeren zu beiden Seiten ist doch schon mal ein guter Anfang. Von da aus kannst du Skandinavien erobern und mit etwas Glück auch das Herz eines Mannes, mit dem du alt werden möchtest. Es ist doch eine echte Chance, die sich dir bietet.«

»Habt ihr euch jetzt alle gegen mich verschworen?«, nörgle ich und stampfe unterm Tisch mit dem Fuß auf, als wäre ich in der Trotzphase. Mein Eis zerschmilzt langsam und vermischt sich mit den Herzkirschen zu einer rosaroten cremigen Masse. Die Farbe ist der krasse Gegensatz zu meiner Gefühlslage.

Martha will mich also auch loswerden! Hat meine Mutter sich bei ihr beklagt? Das kann ich mir nicht vorstellen, unser Mutter-Tochter-Verhältnis ist ausgesprochen gut. Wir leben harmonisch unter einem Dach, ich in der Einliegerwohnung, und meine Mutter bewohnt den Rest des Hauses.

»Hat Mama sich beklagt?«, will ich es nun aber doch wissen.

»Blödsinn!« Martha zeigt mir einen Vogel. »Deine Mutter würde das niemals sagen! Sie hat dich viel zu gern in ihrer Nähe, und ich glaube, sie kann auch nicht loslassen. Aber ich mache mir Sorgen. Du kennst nichts anderes als unser Dorf, in dem man wirklich gut leben kann, und die nächste Stadt. Du bist bald dreißig und hast noch nichts von der Welt gesehen, Louisa.«

»Stimmt nicht«, brause ich auf. »Ich war schon auf Mallorca, und ich arbeite in der Stadt, jeden Tag bin ich da. Aber mal abgesehen davon finde ich es total schön hier auf dem Lande.«

»Ach Louisa, das weiß ich doch.« Martha tätschelt meine Hand und füllt meinen Kaffeebecher noch einmal auf. »Trotzdem. Ich muss zugeben, ich sehe das ähnlich wie dein Chef. Denk mal darüber nach, ob du nicht doch noch studieren willst. Letztendlich ist es deine Entscheidung, wohin dein Weg führen soll. Die kann dir keiner abnehmen. Auch ich nicht. Ich kann dir nur sagen, um glücklich zu sein, braucht man kein Studium.«

Wir sehen uns an, und mein Kloß im Hals wird immer dicker, mir fehlen die Worte.

»Was ist eigentlich da drin?«, fragt Martha schließlich mit Blick auf den Umschlag, der auf dem Tisch liegt.

»Meine Kündigung, nehme ich an. Soll ich mir am Wochenende durchlesen. Wahrscheinlich liegt noch ein Wisch dabei, in dem der Widerspruch erklärt wird. Oder so was.«

»Mach auf! Das sehen wir uns jetzt zusammen an.« Martha gibt mir ihr schärfstes Küchenmesser und lässt mich nicht einen Moment aus den Augen, als ich das Kuvert aufschlitze und die Papierbögen entnehme. »Und? Was ist es?«

Schweigend überfliege ich die eng beschriebenen Seiten. Das alles durchzulesen dauert ein bisschen länger, Marthas Neugier wird extrem strapaziert. Das hat sie nun davon, denke ich mit Genugtuung. Sie hat mich vorhin auch so zappeln lassen. Meine Mimik scheint ihr aber schon einiges zu verraten.

»Die Bedingungen sind gut, wenn ich deinen Gesichtsausdruck richtig interpretiere.«

»Wahnsinn!«, murmle ich. »Das ist ja viel besser, als ich dachte.« Ich gebe Martha das Schreiben, damit sie schwarz auf weiß sieht, was die Firma mir als Entschädigung anbietet.

»Also, mein Kirschmädchen, wenn du jetzt immer noch jammerst, dann hab ich bei deiner Erziehung was verkehrt gemacht«, brummelt sie, steht auf, geht zu ihrem antiquierten Plattenspieler und legt eine Schallplatte auf. Behutsam setzt sie die Nadel des Tonarms präzise auf die erste Rille, wobei ein verzücktes Lächeln ihre Lippen umspielt.

Marthas Plattensammlung ist ein Mix aus alten Zeiten, in dem Swing, Jazz, Rock ‘n Roll und Schlager vertreten sind. Selbstverständlich ist sie auch im Besitz einer modernen Stereoanlage, an ihrem alten Plattenspieler hängt allerdings ihr Herz.

Als die ersten kratzigen Töne erklingen, kann sie nichts mehr auf ihrem Platz halten. Sie nimmt meine Hände, und dann tanzen wir in ihrer Küche, bis unsere Wangen glühen und ich wieder lächeln kann.

›Tanz mal drüber nach‹, ist Marthas Lieblingsspruch und auch ihr Lebensmotto. Wahrscheinlich ist es das, was sie so jung und fit hält. Meine Martha! Sie hat nicht nur die Liebe zur Natur und zu Kirschen in mir geweckt, nein, auch die Liebe zum Tanzen, zum Lindyhop.

Heute Abend, das schwöre ich mir, während wir durch die Küche wirbeln, heute Abend bei der Generalprobe werde ich mir den Frust von der Seele tanzen. Und morgen wieder. Und wenn es sein muss, jeden Tag aufs Neue. So lange, bis ich mich endgültig entschieden habe, wie ich meine Zukunft tanzen und leben will.

3

In einem himmelblauen Kleid mit dicken rosaroten Blumen gehe ich abends zur Generalprobe. Meine Haare habe ich zu einem nachlässigen Dutt hochgesteckt, und dank meines Gute-Laune-Lippenstifts glänzt mein Mund in einem satten Pink. Komplettiert wird mein Outfit durch weiße Sneakers, mit denen ich die Nacht durchtanzen kann. Was man ihnen mittlerweile auch ansieht.

Als mein Tanzpartner Ben mich so vorfindet, pfeift er bewundernd durch die Zähne. Mein Kleid gefällt ihm offensichtlich, denn er nimmt seine Schiebermütze vom Kopf und fächelt sich damit Luft zu, ehe er seine Hand an meine Taille legt und wir unsere Tanzposition einnehmen. Wir hüpfen und swingen über die Tanzfläche und wirbeln herum. Es macht so viel Spaß. Nein, es macht glücklich, und an meinen Ärger denke ich nicht einmal mehr.

Ben flüstert mir ein Kompliment ins Ohr, was nicht ungewöhnlich ist. Er ist der Typ Mann, der das Flirten einfach nicht sein lassen kann und sich immer noch Hoffnungen macht, mich für sich zu gewinnen, mich zu verführen. Er macht das so charmant, dass es nicht immer leicht ist, ihm zu widerstehen. Ich sehe in ihm aber nur meinen Tanzpartner, und so soll es auch bleiben. Wenn er nicht verheiratet und Vater einer dreijährigen Tochter wäre, könnte ich vielleicht schwach werden.

»Dein Outfit heute, das ist ja Wahnsinn«, sagt er. »Dein Kleid ist toll, darin siehst du megascharf aus.« Wir tanzen auseinander, und als wir wieder zusammenkommen sagt er: »Hast du etwas mit mir vor? Willst du mich mit deinem süßen Kirschmund verführen?«

»Verführen?« Ich kichere über diese absurde Idee und swinge in eine Drehung. »Mein lieber Ben«, säusle ich, »da muss ich dich leider enttäuschen.«

Er zieht einen Flunsch, ist aber nicht wirklich eingeschnappt.

»Wenn du nach der Probe noch Zeit für einen Absacker hast, verrate ich dir gern, woher meine Power kommt.«

»Hast du dich etwa verliebt?«, raunt er wieder dicht an meinem Ohr.

Ich grinse vieldeutig und lasse ihn in dem Glauben.

Nach der Generalprobe geht’s mir richtig gut, ich bin total beschwingt. Auch Bens Augen leuchten, der verkniffene Zug um seinen Mund, den er häufig hat, ist wie weggeblasen. Ob er nach dem Sex wohl auch so entspannt aussieht, geht es mir durch den Kopf, und ich bin augenblicklich schockiert über diesen Geistesblitz. So etwas darf ich nicht einmal denken! Ich versuche mich abzulenken, kann aber nicht verhindern, dass ich rot werde.

»Woran denkst du?«, fragt Ben nun zu allem Überfluss.

»Wollen wir noch etwas trinken?«, schlage ich vor, bemüht, mir nichts anmerken zu lassen. Doch das gelingt mir nur schlecht. Vom Dekolleté bis zu den Haarspitzen breitet sich eine peinliche Hitze in mir aus, und in kürzester Zeit nehme ich die Farbe einer überreifen Kirsche an. Charlotte hat sich diesen Vergleich einfallen lassen, für sie ist es immer noch ein Heidenspaß, mich mit dieser Schwäche aufzuziehen.

»Mir ist wahnsinnig heiß«, sage ich möglichst belanglos und fächle mir mit der Getränkekarte Luft zu. »Du siehst auch aus, als könntest du einen Drink vertragen.«

Wir trinken eine Apfelschorle auf ex, und als der Durst gelöscht ist, ziehen wir weiter in eine nahegelegene Bar, in der wir noch einen Absacker nehmen wollen.

Kaum habe ich mich auf den Barhocker geschwungen, will Ben auch schon wissen, was es mit meiner Power und umwerfenden Ausstrahlung auf sich hat. Es lässt ihm keine Ruhe, und unauffällig rückt er immer ein paar Zentimeter näher an mich heran.

Nach einem halben Glas Gin kann ich mich dazu durchringen, heute noch einmal von meiner Kündigung zu berichten. Nachdem das Glas ganz geleert ist, erzähle ich ihm auch von der Idee, eventuell nach Flensburg zu gehen. Als er das realisiert, kippt seine Hochstimmung, er ist völlig außer sich.

»Keiner will mich«, murmle ich so leise vor mich hin, dass er es kaum hören kann. Ich nehme noch einen Gin und merke, wie gut es tut, mir den Tag von der Seele zu reden.

»Wie meinst du das? Keiner will dich?«, fragt er. »Das ist doch Quatsch.«

»Sogar meine beste Freundin will mich loswerden«, jammere ich ihm vor und erzähle von meinem Telefonat mit Charlotte. Von dem Gespräch ist bei mir nur hängengeblieben, dass auch sie sich der allgemeinen Meinung anschließt und mir geraten hat, mehr aus meinem Leben zu machen. Ihre Einstellung zu meinem Job kenne ich, aber ihre Art, wie sie dann die Sonderpädagogin raushängen lässt, geht mir total gegen den Strich. Wenn sie so mit mir spricht, komme ich mir vor wie einer ihrer Schüler, dabei ist Charly echt gut darin, das, was man nicht hören will, in watteweiche Worte zu verpacken.

»Auch Martha und sogar meine eigene Mutter wollen mich loswerden«, schimpfe ich weiter. »Meine Ma sagt das zwar nicht direkt, aber ich spüre doch, wie unglücklich sie mit meiner Berufswahl ist. Sie hätte es lieber gesehen, wenn ihr Mädchen studiert.«

»Und was ist mit mir?«, unterbricht Ben meine Selbstmitleidstour. »Was ist mit uns? Louisa, hast du das denn immer noch nicht gemerkt, wie sehr ich dich mag? Oder willst du es vielleicht nicht merken?« Er sieht mir tief in die Augen, mir wird ganz schwindelig. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn du gehst, wenn ich dich verliere. Niemals! Im Gegenteil. Ich … Also, wir …«

Lächelnd lausche ich seinen wohltuenden Worten und warte, ob er ausspricht, was er sich für uns beide vorstellt. Mein Blick verfängt sich für einen Moment in seinen braunen Augen, und urplötzlich verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was richtig und was falsch ist.

»Wir beide?«, wiederhole ich, als er ins Stocken gerät und pures Verlangen aus seinen Augen spricht. »Ben, du bist verheiratet und Vater einer süßen kleinen Tochter. Was soll das?«, bringe ich lahm hervor und nehme einen langen Zug aus meinem Glas. »Mit dir zu tanzen ist wundervoll, das ist auch für mich das Größte, aber …« Ich weiß nicht, wie ich es ihm beibringen soll. »Aber, ich kann das nicht. Ich liebe Kinder, und ich habe mir geschworen, nie im Leben eine Ehe zu zerstören. Aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, wie sehr ein Kind leidet, wenn es von seinem Papa verlassen wird.«

Ben sieht mich nur an und sagt nichts. Er sitzt da wie ein geprügelter Hund, der gekrault werden möchte.

»Bring mich nach Hause.« Es tut mir weh, ihn so verletzt zu sehen. Ausgerechnet Ben, der immer so stark ist, der immer weiß, was zu tun ist, und mich so wunderbar führen kann. »Lass uns Tanzpartner und Freunde bleiben. So wie bisher.«

»Du hast ja keine Ahnung«, murmelt er. »Es ist nicht so, wie du denkst. Lass mich dir doch einmal erklären, wieso …«, unternimmt er einen neuen Anlauf, mich rumzukriegen.

»Nein, natürlich ist es nicht so!«, gifte ich ihn an.

Diese Sprüche habe ich schon so oft gehört, viel zu oft. Auch von den Eltern meiner Kita-Kinder, auch da läuft nicht immer alles harmonisch.

»Und das soll ich glauben? Ach Ben, sei bitte nicht eingeschnappt. Ich mag dich sehr, das weißt du. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Aber du kennst meine Einstellung und meine Prinzipien.«

»Es könnte aber auch nicht schaden, wenn du deine Prinzipien von Zeit zu Zeit mal hinterfragen würdest.«

Nun ist er doch sauer auf mich. Ich habe ihn enttäuscht. Aber welcher Mann steckt schon gern eine Niederlage ein?

»Lass uns einfach nur miteinander tanzen, solange ich noch hier bin. Bitte.« Beschwichtigend schmiege ich meine Hand an seinen Arm, was er wohl falsch versteht, denn zärtlich legt er seine Hand auf meine.

»Willst du dir das nicht noch einmal in Ruhe überlegen? Du hast die Kündigung doch heute erst bekommen, oder? Schlaf erst mal eine Nacht darüber.«

»Okay, ich schlafe eine Nacht darüber. Vielleicht hast du recht«, stimme ich ihm zu.

»Louisa?« Ben hebt mein Kinn an und liebkost mich mit seinen Augen. »Ich brauche dich, hast du das denn immer noch nicht gemerkt? Ich brauche dich viel mehr, als du denkst. Unsere wöchentlichen Treffen bedeuten mir so viel, du ahnst ja nicht, wie viel.«

In meinem Kopf dreht sich alles. Was meint er damit?

»Du bist eine wunderschöne Frau, und es gibt nichts, was ich lieber tue, als dich in meinen Armen zu halten. Was soll denn aus mir werden, wenn du gehst?«

»Nichts?«, murmle ich. Das bezweifle ich doch sehr. Wenn seine Kleine ihren Papa umarmt, dann ist das doch garantiert schöner, als mich im Arm zu halten.

Außer seiner Verzweiflung ist da aber noch etwas anderes, und das verwirrt mich zutiefst. Plötzlich fängt es in meinem Bauch an zu kribbeln. Es fühlt sich an wie Brausepulver unter der Zunge. Bens Atem an meiner Haut bringt das kribbelige Gefühl zum Überschäumen, unsere Nasen berühren sich, und dann spüre ich seine Lippen auf meinem Mund.

Sollte das der krönende Abschluss dieses verrückten Tages sein? Es ist mir egal, ich schlingere aus diesem Tag, schmiege mich an Ben, gebe seine Zärtlichkeiten zurück und verliere mich in dem Kuss. Den Küssen. Viel zu lange ist es her, dass ich zum letzten Mal geküsst habe. Urplötzlich überfällt mich das heiße Verlangen nach mehr, nach sehr viel mehr als nur einem Kuss.

»Gehen wir zu dir?«, flüstert Ben an meinem Ohr.

»Auf einen Kaffee?« Ich kichere leicht beschwipst.

»Kaffee plus?«, fragt er mit rauer Stimme.

»Lass uns gehen.«

4

 

 

Am nächsten Morgen reißt mich das Klingeln meines Handys aus dem Schlaf.

»Hallo«, krächzte ich verschlafen.

»Habe ich dich aus dem Bett geholt?«, höre ich Charlotte fröhlich am anderen Ende der Leitung.

»Wie spät ist es denn?«

Ich reibe mir die Augen und stelle fest, dass es schon halb zehn ist. So lange schlafe ich sonst nie, auch nicht am Wochenende. Mit einem Mal fällt mir wieder ein, wie der gestrige Abend zu Ende gegangen ist.

»Hey, du Schlafmütze. Habt ihr bis Mitternacht geprobt? Oder gab es noch einen Absacker auf deine Kündigung?«, lästert Charlotte. »Eigentlich wollte ich nur fragen, ob ich Brötchen mitbringen soll. Du hast unsere Verabredung doch nicht etwa vergessen?«

In meinem Hirn klickert es. Die Kündigung! Ben. Der Kuss. Und der Kaffee bei mir, ohne Plus.

»Bist du noch da, Louisa? Oder bist du wieder eingeschlafen? Los, aufstehen! In einer halben Stunde stehe ich vor der Tür und bringe Brötchen mit. Hast du Kaffee?«

»Kaffee ist kein Problem. Brötchen sind super. Ich springe dann mal schnell unter die Dusche.«

 

Als Charlotte vor der Tür steht, bin ich hellwach. In Windeseile habe ich alles aufgeräumt, den Tisch gedeckt und die Kaffeemaschine in Gang gesetzt.

»Hast du deinem Ärger einen Gin gegeben? Oder zwei?«, lästert sie auch nun wieder. Ein bisschen mehr Mitgefühl wäre schön. »Und hat Ben dich getröstet?«

»Hör auf damit. Es ist auch so schon alles kompliziert genug. Du hast ja überhaupt keine Ahnung, wie mies es sich anfühlt, wenn einem aus heiterem Himmel gekündigt wird.«

Bis ins kleinste Detail erzähle ich ihr beim Frühstück, wie Weber mich abserviert hat. Auch von seinem Vorschlag, mich in Flensburg bei einer städtischen Kita zu bewerben, falls ich nicht doch lieber Lehrerin werden wollte.

»Ich finde es nett und fürsorglich von ihm, dass er sich so viele Gedanken um deine Zukunft macht. Du kennst meine Meinung ja. Es ist eine super Chance. Lass uns die Kita mal googeln und nachsehen, was du alles an Bewerbungsunterlagen brauchst.« Sie schmiert Butter auf ihr Brötchen und beißt hinein. »Ben hat dich letzte Nacht getröstet, stimmt’s? Erzähl schon. Es wird ja auch mal höchste Zeit, dass du deinen inneren Moralapostel beiseiteschiebst.«

»Ich habe meinen Moralapostel nicht beiseitegeschoben und auch noch nicht gekillt«, entgegne ich, köpfe das Ei mit einem gezielten Hieb und fange an zu erklären, wieso, weshalb, warum. »Ich bin anständig geblieben. Es ist besser so.«

»Aber du magst ihn doch. Warum tust du immer so, als ob da nichts ist zwischen euch?«

»Ja, ich mag ihn. Als Freund und als Tanzpartner. Dafür ist er ideal. Aber er ist gebunden, und er hat ein Kind. In mein neues Leben passt keine Fernbeziehung und schon gar kein verheirateter Mann«, bringe ich es auf den Punkt.

Ben und ich, wir haben keine Chance, wird mir schlagartig bewusst. In dem Moment, als ich es ausspreche, ist auch meine Entscheidung für Flensburg gefallen. Das ist schön weit weg von zu Hause, weg von allem.

»Wenn du so guckst, Isa, dann verheimlichst du mir was. Raus damit! Da ist doch was gelaufen zwischen euch.« Sie durchbohrt mich mit ihren klaren, hellen Augen. Dem Blick kann ich nicht lange standhalten. Nach und nach erzähle ich ihr alles, auch von dem Kuss.

»Und jetzt?«

»Nichts und jetzt! Aber küssen kann er! Mindestens genauso gut wie tanzen.« Ich seufze. »Mehr war aber wirklich nicht. Ich schwöre! Wird es auch nie sein. Meinetwegen kannst du ihn haben. Er braucht ja eine neue Tanzpartnerin, wenn ich weg bin.«

»Du bist ja süß. Wie rührend du um sein Wohl besorgt bist. Du glaubst doch nicht, dass ich meiner Freundin den Typen ausspanne?«, empört sie sich. »Ich habe auch meine Prinzipien.«

»Er ist nicht mein Typ«, zicke ich sie an. Das ist meine Standardantwort, wenn sie nach meinen Gefühlen für Ben fragt. »Vielleicht hast du ja Lust, bei der Schnupperstunde mitzumachen? Nach unserer Vorführung heute Abend. Kann ja sein, dass Lindyhop doch etwas für dich ist. Ben kann führen, mit ihm ist es supereasy.«

Charlotte grinst sich eins. All meine Versuche, sie für Lindyhop zu begeistern, sind bisher gescheitert. Aber man weiß ja nie. Unser dörfliches Kirschblütenfest hat seinen ganz eigenen Zauber, dem man sich nur schwer entziehen kann.

 

***

 

Sommerlich gekleidet schlendern Jung und Alt über die Festmeile mit ihren zahlreichen Ständen voller heimischer Spezialitäten. Weiße Zelte mit Stehtischen und Hockern laden zum Verweilen ein. Es duftet lecker nach Kaffee, und eine lange Tafel mit selbstgebackenen Kuchen und Torten der Landfrauen ist der kulinarische Magnet des Kirschblütenfests. Auch Prosecco und Kirschwein kann man verkosten.

Für die Kinder werden Schminkaktionen und andere Vergnügungen angeboten. Jedes Mal versetzt es mir einen Stich, wenn mir ein Kind als bunter Schmetterling, mit Blumen auf den Wangen, als Prinzessin oder Pirat verkleidet über den Weg läuft. Die Kündigung mit all ihren Auswirkungen ist dann sofort wieder präsent. Und es ist so schwer und so wichtig für mich, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich dachte ja, ich habe sie schon getroffen, aber mir kommen immer wieder Zweifel. Der Abend mit Ben gestern und der Kuss machen es nicht leichter.

Für unsere Aufführung habe ich ein weit schwingendes Vintagekleid mit Kirschdruck gewählt. Bis zu unserer Lindyhop-Vorführung ist aber noch viel Zeit, da kann ich noch in Ruhe über die Festmeile bummeln, Bekannte treffen und ein kleines Schwätzchen halten. Ob Ben wohl schon da ist, mit Frau und Kind? Wenn ich seine Frau wäre, würde ich mir seinen Auftritt jedenfalls nicht entgehen lassen.

Kaum denke ich an ihn, sehe ich ihn auch schon mit ein paar Kumpels am Burger-Stand. Frau und Kind kann ich nirgends entdecken. Er winkt mir zu. Vielleicht hat er auch nach mir Ausschau gehalten. Als ich zurückwinke, trennt er sich von seinen Jungs und schlendert zu mir rüber.

»Hi«, begrüßt er mich und tut so, als wäre nichts gewesen. Mister Pokerface höchst persönlich. »Wie geht’s dir heute? Besser? Hast du gut geschlafen nach der ganzen Aufregung?«

»Hi Ben«, sage ich auch möglichst cool. »Nett, dass du fragst. Ich konnte nicht sofort einschlafen, aber dann hab ich geschlafen wie ein Stein. Bis Charlottes Anruf mich geweckt hat.« Ich merke schnell, dass er es so genau nicht wissen will. Etwas anderes scheint ihn viel brennender zu interessieren.