Herzmalerei - Syma Schneider - E-Book

Herzmalerei E-Book

Syma Schneider

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Beschreibung

Was wäre, wenn deine verborgene, dunkle Seite unvermittelt hervortreten könnte? In Zenia kämpfen Herz und Verstand gegeneinander. Sie liebt Nael, durch ihre Rückführungen erkennt sie jedoch in Keno die große Liebe aus vergangenen Leben. Soll sie ihrem Seelenverwandten eine Chance geben oder den Wink des Schicksals ignorieren? Ihre beste Freundin Amrex spürt, dass Keno ein Geheimnis hütet. Die emsige Journalistin beginnt zu recherchieren und plötzlich ist nichts mehr, wie es scheint ... Die dramatische Fortsetzung des Bestsellers „Herzmalerei“ von Syma Schneider

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

09/2023

 

Herzmalerei mit Schatten

 

© by Sylvia Schneider

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Florin Sayer-Gabor - www.100covers4you.comunter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: michalsanca, adidesigner23

Lektorat: Paul Lung, Matthias Schlicke

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Autorenfoto: Charlotte Göbel

 

Coverbild ›Remoment‹

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Dangerous Person‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-207-9

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

Syma Schneider

 

 

Herzmalerei

mit Schatten

 

 

Wenn Herz und Verstand gegeneinander kämpfen.

Und dein gefährlichster Feind … eine große Liebe ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

Für alle Herzensmenschen

 

 

 

 

 

 

 

„Der einzige Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Sünder ist, dass jeder Heilige eine Vergangenheit hat und jeder Sünder eine Zukunft.“

 

Oscar Wilde

 

 

 

PROLOG

ZENIA

ZENIA

NAEL

ZENIA

KENOS Geburt

NAEL

ZENIA

ZENIA

KENO, 2 Jahre alt

ZENIA

AMREX

NAEL

ZENIA

NAEL

AMREX

ZENIA

KENO, 4 Jahre alt

ZENIA

NAEL

AMREX

NAEL

ZENIA

DER SCHATTEN

ZENIA

AMREX

ZENIA

AMREX

KENO, 5 Jahre alt

AMREX

KENO, 9 Jahre alt

AMREX

NAEL

ZENIA

DER SCHATTEN

NAEL

ZENIA

DER SCHATTEN

ZENIA

KENO, 13 Jahre alt

ZENIA

DER SCHATTEN

NAEL

DER SCHATTEN

ZENIA

DER SCHATTEN

NAEL

KENO, Untersuchungshaft

ZENIA

NAEL

ZENIA

KENO, Untersuchungshaft

ZENIA

NAEL

ZENIA

EPILOG

DANKSAGUNG

PROLOG

 

 

Was für ein gemeines Ende, meinten einige von euch zum Cliffhanger im ersten Teil von Herzmalerei. Das war tatsächlich ein kleines bisschen gemein, aber wir wollten, dass Zenias Geschichte in euren Herzen und Köpfen weiterwächst und individuell erzählt wird, in verschiedenen Farben und Formen, mit unterschiedlichen Ausgängen.

 

Vier Jahre später, zeigen wir euch nun doch unsere Version in der Hoffnung, dass sie euch fesseln wird. Wobei Sylvia das Werk alleine geschrieben hat. Marcel stand jedoch als perfekter Ehemann, Freund, Kritiker und Ideengeber immer an ihrer Seite.

 

Da mittlerweile viel Zeit vergangen ist und ihr sicher eine Menge anderer Bücher verschlungen habt, möchten wir euch, bevor Herzmalerei 2 beginnt, in die Story zurückführen, damit ihr nahtlos in die Fortsetzung eintauchen könnt. Das ist wirklich sehr zu empfehlen und dauert auch nicht lange.

Als kleine Auffrischung der doch komplexen Geschichte findet ihr auf unserer Website eine Zusammenfassung unter

www.herzmalerei.com/roman/spoiler

 

Im Anschluss an diesen Prolog seht ihr eine SymaPedia, in der wir euch kurz die Welt im Jahr 2124 vorstellen, somit seid ihr wieder perfekt gewappnet für BROs, Hover-Mobile und House-keeper.

 

Weil sich Zenias beste Freundin Amrex nicht zuletzt durch ihren Spleen für Fremdwörter in euer Herz geredet hat, seht ihr ganz hinten im Roman ein mini Wörterbuch, das wir mit einem Augenzwinkern verfasst haben, und das nicht als Unterschätzung eurer Intelligenz gewertet werden darf, sondern als kleiner Spaß, weil wir so viel Freude dabei hatten, solche illustren Wörter in die Dialoge und Monologe einzubauen.

 

Eines sei vorab verraten:

 

Die Fortsetzung ist nichts für schwache Nerven, es ist eine

 

Herzmalerei mit Schatten

 

Eure Syma, Sylvia und Marcel

 

SymaPedia

 

 

 

ENTWURF DER WELT IM JAHRE 2124

 

 

Die Erde ist überbevölkert,

sodass die Menschen enger zusammenrücken.

 

Durch den Klimawandel sind einzelne Küstenabschnitte überflutet, daher sind viele auf der Flucht und suchen eine neue Heimat im Landesinneren.

 

Die Großstädte sind überlastet und durch Wolkenkratzer geprägt, die hoch hinauf in den Himmel ragen. Auf ihren Dächern wird z.B. Landwirtschaft betrieben.

 

Das Leben in den Städten ist teuer,

daher reisen Millionen Berufspendler täglich ein und aus.

 

Stadtzentren wurden zu Gesundheitszonen erklärt. Hier dürfen sich nur Menschen aufhalten, die keine ansteckenden Krankheiten haben. Sie werden an Checkpoints gescannt.

 

Gewaltverbrechen kommen selten vor,

da der Zutritt zum Stadtkern

nur mit einem eingepflanzten ID-Chip gewährt wird.

 

Um den engen Raum in der Stadt optimal zu nutzen, können sich Wohnungen je nach Bedarf umbauen. Kleiderschränke und Betten fahren aus der Wand heraus und die Badewanne tauscht ihren Platz mit der Dusche. Die Wände bestehen aus Screenern, die reale Motive zeigen und die Wohnung in virtuelle Landschaften verwandeln.

 

Es gibt zwei Arten von Menschen:

 

System-Menschen werden künstlich in Kapseln produziert. Eltern entwerfen ihr Wunschbaby. Das ist teuer, aber die Kinder sind krankheitsresistent und in vielen Bereichen des Lebens erfolgreicher, da auch Charaktereigenschaften designt werden können. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 116 Jahren.

 

Gott-Menschen werden auf natürlichem Wege gezeugt. Sie sind anfälliger für Krankheiten. Ihre Lebenserwartung liegt bei durchschnittlich 90 Jahren.

 

BRO

Der virtuelle Assistent erledigt und koordiniert alles für den Menschen, ist Lernbegleiter, Freund und Ratgeber. Er füllt den Kühlschrank auf, sendet Nachrichten, empfängt Calls. Der BRO kann individuell konfiguriert werden und als Hologramm erscheinen. Schon in der Entwicklungskapsel wird den System-Babys ein Chip in die Netzhaut gepflanzt. Er ist ihre Verbindung mit dem UniversalNet und schaltet den virtuellen Assistenten frei. Gott-Menschen können sich ebenfalls einen BRO in Form von Smart-Lenses und InEar zulegen.

 

Die Firma PerfectHuman ist Marktführer in der Herstellung von System-Babys und liefert jährlich 20 Millionen Kinder weltweit aus.

 

 

Das Unternehmen preVita behauptet, dass man keine perfekten Menschen erschaffen kann, weil die Seele den Ballast aus vorigen Leben in sich trägt. PreVita revolutioniert das Gesundheitswesen durch Software, die die Seele der Menschen durch Rückführungen heilt.

 

 

In der Stadt schweben die Hover-Mobile und -Trains auf unsichtbaren magnetischen Schienen. Menschen kommen schnell voran durch Hover-Shoes. Drohnen liefern innerhalb von Sekunden die Einkäufe.

 

 

Währung: UniversalCredits (UCs).

Durch Scannen der Hand wird gezahlt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Lass dich vom Verstande leiten, aber verletze nie die heilige Schranke des Gefühls.“

 

Otto Ludwig

 

ZENIA

 

 

Es riecht nach Neubeginn.

Die frische Morgenluft füllt meine Lungen, während ich mich an die Spitze der Landzunge setze.

Am Horizont liegen die Hügel wie schwarze Riesen vor mir, umschmeichelt von der Dämmerung, die ihre Silhouette in ein zartes Licht kleidet. Der See ist ruhig wie ein flüssiger Spiegel, der vage seine Umgebung reflektiert.

Ich wünsche mir, dass es ein schöner Tag wird, ohne böse Überraschungen, frei von Sorgen und Leid. Doch das Leben malt jeden einzelnen unserer Tage in unterschiedlichen Farben.

Am Himmel erstrahlen zahlreiche Federwolken durch die aufgehende Sonne in atemberaubenden blauvioletten, perlrosa und leuchtroten Tönen.

Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln in meiner Nase und ich niese dreimal hintereinander.

Ein Gefühl unendlicher Nostalgie übermannt mich. Könnte ich nur noch einmal mit ihm diesen Augenblick erleben.

Aber das Schicksal hat etwas anderes mit uns vor. Ich kann nur nicht begreifen, warum ein Mensch dafür sterben musste.

Es bleibt mir nichts übrig, als mit der Vergangenheit Frieden zu schließen, mich vom romantischen Gedanken an unsere Verbindung zu verabschieden.

Die Sonne wird von Sekunde zu Sekunde größer, formt sich zu einer Feuerkugel. Die Landschaft um mich herum nimmt schärfere Konturen an, ebenso wie mein Wille, ihn ein letztes Mal zu sehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DREI WOCHEN ZUVOR …

 

ZENIA

 

 

Für einen kurzen Moment öffne ich meine Augen und sehe, wie mir Keno sanft ein Herz auf die Hand malt …

 

 

Ein Gefühl der Ohnmacht überwältigt mich, doch ich kämpfe dagegen an, indem ich hektisch die Morgenluft einsauge, um meinen bebenden Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Er vibriert unangenehm, angetrieben von meinem Puls, den ich bis in die Schläfen spüre. Er vermischt sich mit Kenos Herzschlag, der laut in meinem Ohr widerhallt, weil mein Kopf nach wie vor an seinem Oberkörper lehnt. Meine Augen spielen verrückt. Wie eine Kugel beim Roulette, unentschlossen, auf welcher Zahl sie zu liegen kommt, flimmern meine Pupillen wild umher, und doch sehe ich es wie eingraviert vor mir: das Herz auf meiner Hand. Die imaginären Linien kribbeln sehnsuchtsgeladen nach, als würde mich eine Feder kitzeln.

Die Zeit scheint für uns still zu stehen. Aber die Erde dreht sich weiter, um uns herum pulsiert das Leben. Meine Sinne sind geschärft. Während meine Augen weiterhin meine Hand fokussieren, höre ich eine Mutter mit ihrem Kind über nicht erledigte Hausaufgaben schimpfen und fühle den leichten Frühlingswind an meinen nackten Beinen vorbeiziehen. In meinem Mund schmecke ich das Salz der Tränen, die ich mit der Zunge von meinen Lippen geleckt habe. Kenos Parfum, Noten aus Sandelholz und Zimt, breiten sich anregend und warm in meiner Nase aus. Trug er den Duft auch gestern Abend im Restaurant? Ich kann mich nicht erinnern, waren mein Herz und meine Gedanken doch stets bei Nael.

Nael.

Eine irrsinnige Hitze durchflutet meinen Körper, bahnt sich ihren Weg in jede meiner Zellen, sodass sich Schweißperlen auf meiner Stirn bilden. Sie vermischen sich mit den Tränen und suchen in Rinnsalen ihren Weg zu meinem Kinn. Dem Drang, sie wegzuwischen, kann ich nicht folgen, da ich unfähig bin, mich zu bewegen.

Nael!

Ich sehe sein Gesicht vor mir. Sein umwerfendes Lächeln … Und doch hält mich ein anderer in seinen Armen. Ich rüttle mich wach. Schockstarre geht in hektische Betriebsamkeit über, Herzlinien transformieren sich in Luftschlösser. Mit einem Mal ekelt mich Kenos Parfum an, Betörung wird zu Nüchternheit. Was mache ich hier? Geschockt von mir selbst entreiße ich ihm ruckartig meine Hand, als hätte ein Hund danach geschnappt. Gleichzeitig schnellt mein Kopf von seiner Schulter nach oben, woraufhin mein Kreislauf zusammensackt. Taumelnd halte ich mich an der Mauer des Hauseingangs fest und keuche aufgebracht.

«Zenia, was ist los?», fragt Keno mit besorgter Stimme.

Ich will ihn nicht ansehen und hebe lediglich meine Hand als Zeichen, dass er schweigen soll. Kann er nicht verschwinden, sich in Luft auflösen? Wie gerne wäre ich an jedem anderen Ort der Welt, untergetaucht in einem Versteck, in der Hoffnung, nicht aufgespürt zu werden. Vielleicht ginge dann alles schnell vorbei. Ich erschauere, als Keno plötzlich dicht vor mir steht und seine Hände meine Oberarme umfassen. Um ihn nicht anschauen zu müssen, blinzle ich über seine Schulter hinweg auf den Gehweg, wo Schaulustige unsere kuriose Darbietung beobachten. Ertappt und peinlich berührt drehen sie sich um und gehen ihrer Wege. Wie sehr wünschte ich, einer von ihnen zu sein. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie mich Kenos Blick fest fixiert, sein Griff wird energischer. «Zenia, was ist denn nur los?» Sein Gesicht ist keine 20 Zentimeter von meinem entfernt, sodass mir abermals ein Hauch seines Parfums entgegenweht.

Ich rümpfe meine Nase.

Als würde er meinen Wunsch nach Distanz respektieren, tritt er einen Schritt zurück und lässt mich los.

Nun ist die Wand wieder mein ganzer Halt.

«Zenia!»

Durch den Wind flattert der Schal vor meinem Gesicht herum, genauso unkontrolliert wie meine Gedanken in meinem Kopf. «Ich …» Meine Stimme versagt. Während ich den mächtigen Kloß im Hals hinunterwürge, nimmt Keno meine Hand.

«Zenia, es ist alles gut. Ich bin bei dir.»

Er hat es wieder getan, hat wieder Bens Worte ausgesprochen.

Ein heftiger Adrenalinstoß durchfährt mich.

«Das ist es ja!», platzt es grell aus mir heraus, dass ich mich selbst über meinen Tonfall erschrecke. «Warum hast du das getan?» Nun starre ich ihn an. Meine Augen brennen, weil ich sie so weit aufreiße.

Er drückt etwas zu fest meine Hand. «Was habe ich falsch gemacht?»

Ich befreie mich aus seinem Griff und verstecke die Hand hinter meinem Rücken. «Warum hast du das Herz gemalt?», bringe ich unter erneutem Tränenausbruch hervor.

Keno wirkt verstört und kommt wieder etwas näher.

Ich fühle mich wie ein scheues Reh in der Falle. Mein Instinkt schaltet auf Fluchtmodus um. Obwohl ich das Gefühl habe, nicht zu atmen, hebt und senkt sich mein Brustkorb ungewöhnlich schnell. Nur weg hier! Ohne weitere Worte zu verlieren, stoße ich Keno zur Seite, stolpere zurück in meine Wohnung, donnere die Tür hinter mir zu und lege mich heulend auf mein Bett. «Lieber Gott, lieber Gott», murmle ich ins Kissen und schreie mehrfach. Es hört sich durch die Daunen abnormal und erstickt an. Ich bin überhaupt nicht gläubig, aber in diesem Moment erscheint mir Gott als gegenwärtigster Freund. Heftig strample ich mit meinen Beinen auf der Decke herum, sodass der Lattenrost unter den Strapazen zu ächzen beginnt.

Noch vor wenigen Stunden war mein Universum im Einklang, es hatte sich alles gefügt. Die Puzzleteile meines Lebens hatten endlich ein Ganzes, eine Einheit ergeben, das wundervolle Gemälde einer heilen Welt, und jetzt reißt sie das Schicksal gewaltsam in Stücke. Ein Schmerz fährt durch mein Bein, ein Wadenkrampf. Während ich meinen Fuß in sämtliche Richtungen drehe, um den Muskel zu dehnen, wage ich es zum ersten Mal, eine logische Gedankenkette zu formulieren: Keno hat ein Herz auf meine Hand gemalt. Das Zeichen, das Ritual, nach dem ich mich gesehnt habe, das ich aus vorigen Leben kenne. Das Zeremoniell, das meine große Liebe immer wieder vollzogen hat, mein Seelenpartner! Ein Wärmeblitz durchzieht meinen Körper. Ist es Keno? Dieser Anwalt, der mir so gut wie fremd ist? Sein Gesicht flackert vor meinem geistigen Auge auf. Sogleich zückt mein Herz einen dicken roten Filzstift und pinselt übereilt ein Kreuz darüber. Es darf nicht sein. Ich schüttle den Kopf. Ich liebe Nael! Erneut schnappe ich hektisch nach Luft mit dem Wunsch, mich für alle Zeiten in meinem Zimmer zu vergraben und diesem Albtraum zu entfliehen. Soll das Schicksal doch anderen Leuten Streiche spielen.

«Der Notdienst ist alarmiert!» Mein virtueller Assistent Romeo holt mich gnadenlos in die Realität zurück.

«Wieso denn Notdienst?» Während ich die Tränen mit meinem Blusenärmel wegwische, erscheint Romeo neben mir auf der Bettkante als Hologramm.

«Du bist sehr aufgewühlt, Zenia. Du hast geschrien, bist weggelaufen. Da hat diese Betreuerin, die dich bei der Rückführung begleitet hat, den Notdienst von preVita verständigt. Ich schätze, dass deine Kollegen bereits auf dem Weg hierher sind», sagt er mit bekümmerter Miene.

«Das hat mir gerade noch gefehlt.» Gehetzt schnäuze ich meine Nase. «Wenn die Firma mitbekommt, wie unprofessionell ich mich verhalte, werden sie mir kündigen. Außerdem sehe ich sicher grauenvoll aus.» Ich kämme meine zerzausten Haare mit meinen Fingern.

«Es ist gleichgültig, wie du aussiehst», bemerkt Romeo plump.

«Danke BRO, jetzt fühle ich mich gleich attraktiver.»

«Es ist unvermeidlich, dass du dich jemandem anvertraust.» Er erinnert mich an einen Jungen, der seiner Mama durch Mimik mitteilen möchte, dass er sie lieb hat. «Ich würde mich selbst gerne als Gesprächspartner in Liebesdingen zur Verfügung stellen, aber dafür bin ich nicht programmiert.» Er zuckt mit den Schultern.

Wie süß, finde ich. Logisch, ich habe ihn ja genau so entworfen. Ein klein wenig stolz bin ich in diesem Moment. Das erste positive Gefühl in einem endlosen Meer aus Herzensverwirrtheit und Seelennebel. Es wäre sicherlich eine neue Erfahrung, einem von mir virtuell erschaffenen Wesen, das nicht einmal richtig wie ein Mensch fühlen kann, meine Sorgen anzuvertrauen. Wobei Romeo recht hat. Er könnte mir lediglich Ratschläge geben, die er im UniversalNet findet, aber in mich hineinversetzen kann er sich nicht. Andererseits könnte ich drauflosreden, mir alles von der Seele plappern, was befreiend wirken wird. Besser jetzt bei Romeo als später bei meinen Kollegen von preVita. Diese Seelenverwirrung möchte ich echten Menschen ersparen.

Ich rutsche näher an meinen BRO heran und spiele mit dem Anhänger meiner Halskette. «Die letzten Wochen waren hart und verwirrend für mich. Die Gewissheit, dass PerfectHuman entsetzliche Verbrechen begangen hat, Mias Entführung, der Verlust meines Babys, LeBrons Tod, Naels Verhaftung, Lucies Selbstmordversuch, Amrex’ Trauer.» Mein Herz brennt vor Schmerz.

Ich atme tief durch.

«Die düstere Vergangenheit sollte nicht die schönen Momente überlagern.» Romeo überrascht mich mit seiner emotionalen Reife und den treffenden Worten.

Ich greife mir an die Schläfen, um den fiesen Kopfstich weg zu massieren. «Ach, Romeo, es ist so viel geschehen, dass ich dankbar für die Ruhe und den Frieden war, die schlussendlich einkehrten. Und zu dem Zeitpunkt, an dem ich denke, dass sich von nun an alles zum Guten wendet und die Aufregungen vorbei sind, zeigt mir Keno Edvardson, dass er meine große Liebe aus vorigen Leben ist. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich jetzt fühle?» Ich fixiere ihn.

Romeo öffnet seinen Mund, bringt jedoch kein Wort heraus.

Ich nehme ihm die Antwort ab. «Vollkommen verloren! Mehr noch: wie eine Verräterin. Eine Verräterin, die Nael von hinten ein Messer ins Herz sticht.»

Romeo findet die Sprache wieder. «Aber du hast doch nichts getan.»

«Nein, aber alleine der Gedanke daran, dass ein anderer Mann für mich infrage kommen könnte, gleicht einem Verrat.» Mit dieser Erkenntnis lasse ich mich wie einen nassen Sack zurück aufs Bett fallen. «Was soll ich denn nur tun?»

Es vergehen Minuten des Schweigens, in denen ich daliege und an die Decke starre, wo eine Fliege ihre Runden dreht.

Romeo meldet sich zurück: «Vielleicht wäre es besser, wenn du als Eintagsfliege wiedergeboren würdest. Die lebt nur kurz und hat eine einzige Mission: sich zu vermehren. Eintagsfliegen warten ewig lang darauf, zu schlüpfen, und wenn sie dann das Licht der Welt erblicken, beginnt die Jagd. Die Männchen umgarnen die Weibchen, um sich zu paaren. Nach einer Stunde ist die Lebensaufgabe der Männchen erfüllt und ihr Körper zerfällt. Die Weibchen müssen sich noch um den Nachwuchs kümmern und verteilen ihre Eier im Fluss. Im Anschluss sterben auch sie. Simpel und klar definiert, ein Leben aus wenigen Minuten, die voll durchgetaktet sind.»

Ist das jetzt sein Ernst? «Danke für die romantische Vorstellung, Romeo.» Aber eigentlich beneidenswert, so eine Eintagsfliege, zumindest im Moment. Ich seufze.

«Und wenn du es ignorierst?» Mein BRO reißt mich erneut aus meinen Gedanken.

Ich stütze mich auf meinen Ellbogen ab und blicke ihn skeptisch an. Habe ich ein Funkeln in seinen Augen wahrgenommen?

«Was wäre, wenn du die Herzmalerei unbeachtet lässt?», konkretisiert Romeo. «Objektiv betrachtet hast du dich in einem äußerst emotionalen Zustand befunden, als du auf die Straße liefst und auf Keno trafst. Er hat gegebenenfalls nur deine Hand gestreichelt, aber du hast die Zeichnung als Herz gedeutet, weil du es kurz zuvor in der Rückführung gesehen hast. Du warst nicht zurechnungsfähig, als es geschah, also könnte es durchaus sein, dass niemals ein Zeichen existierte.»

Ich bin von seiner Aussage, die sowohl von Scharfsinnigkeit als auch Kreativität geprägt ist, überrumpelt. Wie kommt er darauf? Vielleicht kann nur eine künstliche Intelligenz solche Schlüsse ziehen, die Logik als Grundlage haben. «Das wäre mir ehrlich gesagt die liebste Erklärung», murmle ich in mich hinein, ohne Romeo aus den Augen zu lassen. «Es ist nichts geschehen, alles war Einbildung?» Im nächsten Moment lache ich laut auf, sodass mein BRO zusammenzuckt. «Aber das Herz war zu speziell, Keno hat nicht irgendetwas mit meiner Hand gemacht, er hat explizit ein Herz gemalt.» Ich stöhne. «Ich bin mir leider sehr sicher, dass es ein Herz war. So etwas zeichnet man nicht eben so einer Halbfremden auf die Hand. Das ist es, was mich fertigmacht. Dieses Zeichen war mehr als eindeutig.» Ich schnaufe tief durch. «Und er hat gleich zweimal Bens Satz gesagt: Ich bin bei dir.»

«Dann müsste Keno derjenige sein, der dich vollkommen macht», sagt Romeo. «Ist das so?» Anscheinend hat er im UniversalNet ausgekundschaftet, was Seelenverwandtschaft bedeutet.

«Nein! Natürlich nicht», zische ich hervor. «Ich kenne ihn gar nicht, woher soll ich das einschätzen können? Muss man so etwas sofort spüren, wenn man denjenigen sieht?» Am liebsten würde ich mir mein Gehirn herausreißen, damit es nicht solche Gedankengänge formuliert. Ich mahne mich innerlich zur Ruhe und versuche, gewissenhaft meine Erinnerungen zu durchleuchten. «Das erste Mal traf ich Keno in seiner Kanzlei, als wir Naels Fall besprachen. Da wirkte er auf mich neutral, zielgerichtet und fast schon ein wenig kühl. Ganz sicher spürte ich damals keine Verbindung zu ihm, allerdings stand ich auch unter Schock, weil Nael wegen des Verdachts, einen Menschen getötet zu haben, im Gefängnis saß.» Ich denke weiter laut nach. «Zum zweiten Mal sah ich ihn bei Naels Entlassung, da hatte ich nur Augen für meinen Freund. Auch da keine Verbundenheit.» Ich horche in mich hinein, kann aber keinerlei Emotion entdecken. «Dann kam unser Abendessen, zu dem ich ihn als Dankeschön eingeladen hatte. Diese Momente waren schon anders. Er war nicht in seiner offiziellen Funktion als Anwalt dort, sondern leger gekleidet und recht offenherzig. Charmant, witzig, zuvorkommend. Zugleich sprach er seine Glückwünsche zu meiner Beziehung mit Nael aus. Empfand ich da etwas?» Na ja, vermutlich das, was jede Frau empfindet, wenn sie merkt, dass ein Mann sie mag: Sie ist geschmeichelt, aber Hintergedanken gab es keine. «Nein, Romeo, ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass mich Keno vervollständigt, noch fühlte ich mich zu ihm hingezogen.» Oh Mann, das verwirrt mich alles komplett. Vielleicht habe ich mir das Herz doch nur eingebildet. Um nicht im Gefühlsstress zu ertrinken, wende ich die Box-Atemtechnik an. Vier Sekunden sauge ich die Luft durch die Nase ein, halte vier inne, puste sie weitere vier wieder aus dem Mund heraus und halte sie nochmals vier Sekunden an. Ich spüre, wie sich allmählich mein Herzschlag beruhigt.

«Am Schluss steht die alles entscheidende Frage: Ist deine Liebe zu Nael so tief, dass dir vermeintliche Hinweise des Universums egal sind?»

Nach Romeos Worten, die mich wie Pfeile treffen, bleibt mir fast das Herz stehen. Flackert das Licht im Zimmer oder spielen mir meine Augen einen Streich? Liebe ich Nael so sehr, dass mir alles andere egal ist? Mein Herz schreit jauchzend JA, aber mein Verstand legt ein unmissverständliches Veto ein.

 

NAEL

 

 

«So schnell wirst du mich nicht los.» Lucie bemüht sich zu lächeln, doch dazu fehlt ihr scheinbar die Kraft.

Bereits seit Stunden sitzt Nael am Bett seiner Schwester, wacht über ihren zierlichen Körper, hätte ihr so gerne den Schmerz genommen, wenn es nur in seiner Macht stehen würde.

Herzstillstand. Lucie war für wenige Sekunden tot.

Die Ärzte hatten von der Medikamenten-Unverträglichkeit berichtet, und dass Lucie ein Loch im Herzen habe. Kein Wunder, dass es brüchig geworden ist, so viele Male hat das Leben wild darauf eingehämmert.

Nael seufzt. «Das kriegen wir schon wieder hin, versprochen.» Er wünschte, er könne seinen eigenen Worten Glauben schenken, aber er weiß nicht, wie er die weitere Behandlung zahlen soll.

Lucie versucht, nach Naels Hand zu greifen. Er lehnt sich vor, um ihre zarte Hand zu umfassen.

«Ich möchte eine Feuer-Bestattung.»

«Was?», fährt er hoch. «Hörst du auf, so zu reden!»

«Ich sage ja nicht, dass ich gleich sterbe.» Sie hustet und verzieht dabei schmerzerfüllt ihr Gesicht. «Versprichst du es mir?» Mit ihren traurigen Augen sieht sie ihn liebevoll an. «Die Vorstellung, dass sich mein Körper unter der Erde auflöst, ist eklig. Dass ein Häufchen Asche übrigbleibt, finde ich sehr friedvoll.»

Auf ihre düsteren, schaurigen Gedankengänge weiß er nichts zu erwidern, also nickt er nur. Innerlich zerrüttet und stinksauer. Sauer auf die Ungerechtigkeit des Lebens, auf die eigene Unfähigkeit, seine Schwester retten zu können. «Ich werde das Haus verkaufen, es gibt keine andere Möglichkeit.»

«Nein!» Lucies greller Schrei geht ihm durch Mark und Bein. Sie atmet schwer. All ihre Emotionen und ihre letzte Kraft hat sie in das eine Wort gepackt.

Die Apparatur neben ihr fiept, so schnell rast ihr Herz.

Nael beginnt vor Angst zu zittern und hastet zur Tür, um einen Arzt zu holen, doch Lucie schreit ein weiteres Mal nein! Nun jedoch nicht mehr so kraftvoll. «Geh nicht!», setzt sie nach.

Verunsichert kehrt er zu ihrem Bett zurück und bleibt daneben stehen.

«Bitte, das Haus ist das einzige, was uns noch geblieben ist, du darfst diese Erinnerung an Mama und Papa nicht auslöschen.» Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Nael streichelt ihr zärtlich über den Kopf.

«Warum ziehst du eigentlich nicht ein?», fragt sie.

«Weil du bald gesund bist und dort mietfrei wohnen kannst. Außerdem brauche ich Leute um mich rum, bin froh, dass ich meine Kumpels in der Siedlung habe.»

«Also, versprich mir, dass du das Haus nicht verkaufst!», bittet Lucie erneut. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich wieder langsamer, sie scheint sich beruhigt zu haben.

«Ist gut. Ich mach’s nicht», sagt Nael schweren Herzens. Abermals setzt er sich neben seine Schwester und nimmt ihre Hand in seine, während sein Blick aus dem Fenster gleitet, wo er sich im satten Grün der Bäume verliert. Nur, wo bekommt er das Geld her? Verzweifelt schnauft er durch.

Zu allererst muss er selbst Kraft schöpfen, sonst sind sie beide verloren.

 

ZENIA

 

 

«Nael ruft an. Wenn das kein Hinweis des Schicksals ist. Magst du mit ihm reden?» Romeo sieht mich aufmunternd an.

Mir stockt der Atem, mein Herz kracht gegen meine Rippen. In meinem Ohr rauscht es unbehaglich und ich hebe meinen Kopf tollpatschig an wie ein Baby bei seinem ersten Versuch, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. «Was?», frage ich dümmlich nach, obwohl ich Romeo ganz deutlich verstanden habe, nur um kostbare Zeit zu gewinnen. Mein Kopf fällt zurück.

«Möchtest du mit Nael reden?», wiederholt mein BRO.

Ich kneife meine Augen fest zusammen. «Nein. Kann ich nicht.» Was soll ich Nael sagen? Ich liebe dich über alles, nebenbei bemerkt hat mir jedoch ein anderer Typ ein Herz auf die Hand gemalt, also sorry, es ist aus mit uns. Andererseits …

«Zu spät», sagt Romeo. «Nael hat dir eine Nachricht hinterlassen, soll ich sie abspielen?»

Mit den Fingern fahre ich durch meine tränenbenetzten Haare. «Ja.»

 

Ich bin bei Lucie im Krankenhaus. Die Medikamente haben nicht geholfen, im Gegenteil, ihr Herz ist stehen geblieben. Sie braucht Ruhe und einen neuen Therapieplan, und ich weiß nicht, wie ich ihr noch helfen kann … Wann sehen wir uns?

 

Eine Dampfwalze, voll beladen mit Gewissensbissen, rollt über mich hinweg. Wie eine Idiotin komme ich mir vor, jammere hier herum, während Naels Schwester fast gestorben wäre. Ich muss mich zusammenreißen und Nael zur Seite stehen.

Mein Herzenswirrwarr werde ich später entflechten.

Es klingelt an der Wohnungstür.

Fieberhaft drehe ich meinen Kopf in sämtliche Richtungen, bis es abermals klingelt. Oh nein, bloß nicht Keno! Ich kann mich allerdings schlecht verleugnen lassen, da er genau weiß, dass ich zuhause bin. Vorsichtig, mit kraftloser Stimme, frage ich: «Wer ist das?»

Mein BRO projiziert den Besucher an die Wohnzimmerwand. «Es ist Keno Edvardson. Soll ich ihn hereinlassen?»

Kann er nicht einfach verschwinden? Ich verstecke mich unter meiner Bettdecke.

«Zenia?», hakt Romeo nach.

«Ist alles in Ordnung da drinnen?», höre ich Keno durch den Lautsprecher stammeln.

Ich luge aus meinem Unterschlupf hervor. «Ich kann ihm jetzt nicht unter die Augen treten, Romeo. Sag ihm, dass ich mich später melde.»

«Wird gemacht. Ist auch besser, denn ich habe, mit Verlaub, schon Gespenster gesehen, die eine gesündere Gesichtsfarbe hatten als du», witzelt er recht unpassend.

«Habe ich etwas Falsches gesagt oder getan? Bitte, was immer es ist, lass uns darüber reden.» Keno schüttelt seinen Kopf. Ein letztes Mal blickt er in die Kamera, bevor er fortgeht.

Bei dem Wunsch, die vergangenen Stunden aus meinem Leben wegzuradieren, stöhne ich laut auf. Warum konnte ich heute früh nicht auf Nael warten? Dann hätten wir gemeinsam die Rückführung gemacht und Leas Tod miteinander verarbeiten können. Nael hätte mich in seinen starken Armen gehalten und mich nie wieder losgelassen. Keno hätte mir lediglich meinen Schal zurückgebracht, aber eine Herzmalerei hätte es nie gegeben.

Doch jetzt?

Wie kann mir das Schicksal nur so übel mitspielen?

Ich kratze mich am Nacken, bis ich merke, dass es brennt.

Wenn Keno mein Seelenpartner ist … heißt das, dass ich mich automatisch zu ihm hingezogen fühlen muss? Dass ich mein bisheriges Leben über Bord werfe, um ihm meine Liebe zu schenken? Dafür Nael verlassen? Ein Stich fährt mir ins Herz. Keno erscheint wie Segen und Fluch zugleich. Ohne ihn säße Nael noch im Gefängnis, aber durch ihn versinkt meine Seele im Chaos. Ich raufe mir die Haare. Meine Ratlosigkeit entlädt sich in einem ohrenbetäubenden Schrei der Verzweiflung, der von abermaligem Klingeln abgelöst wird. «Nein, bitte nicht! Romeo, sag Keno, dass ich jetzt einfach nicht reden möchte, er soll gehen!»

«Es ist Carl von preVita.»

«Oh, lass ihn rein.»

Carl kommt mir durch die Wohnungstür entgegengeeilt. «Um Himmels willen, was ist nur geschehen?»

«Du bist der Notdienst?» Ich muss erleichtert schmunzeln, weil ich nicht mit meinem Vorgesetzten gerechnet habe.

«Na ja, wenn es um meine Lieblingsmitarbeiterin geht, komme ich natürlich persönlich vorbei. Wo drückt denn der Schuh, hat die Rückführung nicht funktioniert oder war sie belastend?», fragt er mit seiner warmen Altherren-Stimme, während er sich neben mich aufs Bett setzt.

Meine privaten Angelegenheiten möchte ich nicht mit meinem Chef besprechen. Er ist zwar ein brillanter Psychologe und ich vertraue ihm, doch ginge es zu weit, von Nael und Keno zu berichten. Daher versuche ich, neutral zu erzählen. «Ich habe eben die Rückführung in mein Leben als Lea gemacht. Es war zunächst wunderschön. Du konntest damals bei unseren Sitzungen ja auch Ausschnitte mitverfolgen. Doch am Ende …» Ich schlucke den fetten Kloß in meinem Hals hinunter. «Am Ende ist Lea gestorben, ganz schlimm … so jung und viel zu früh, und zwar, noch bevor sie Ben das Geheimnis weitergeben konnte. Ich war im Anschluss so durcheinander und aufgewühlt, dass ich nicht mehr Herrin meiner Sinne war … da hat wohl eure virtuelle Betreuerin den Notdienst gerufen.» Ich lache kurz auf. «Ehrlich, es war grausam, das eigene Ende zu sehen, davon muss ich mich erst einmal erholen, aber ansonsten ist alles in Ordnung.» Es ist kein gutes Gefühl, einen Menschen anzulügen, den man gerne mag, wobei ich nicht ernsthaft lüge, sondern nur die wichtigen Details verschweige, die mein Inneres umpflügen.

Carl sieht mich mitleidig an. «Das ist das Verrückte. So sehr die Reisen in vergangene Leben faszinieren, so verstörend können sie wirken. Wenn du möchtest, neutralisieren wir die Emotionen, die dieses einstige Dasein bei dir auslöst und therapieren dich somit, danach belastet dich das Gesehene nicht länger.»

«Bloß nicht», dröhnt es viel zu schnell aus meinem Mund heraus.

Carl schreckt zusammen.

«Dann würde ich auch nicht mehr die intensiven positiven Gefühle nachspüren, die Lea und Ben füreinander empfunden haben.» Mir fährt ein warmer Schauer über die Arme bis in die Fingerspitzen hinein. Zugleich ängstigen mich die Bilder des Unfalls.

«Wie ist Lea denn gestorben?»

Ich kann den Knall förmlich noch hören, den Leas Körper auf der Motorhaube des Autos beim Aufprall erzeugte.

«So schlimm?» Carl nimmt behutsam meine Hand.

Ich nicke. «Ja, sie war gerade dabei, ihr Leben zu regeln, das Geheimnis zu lüften, und dann starb sie.»

«Das ist wirklich schlimm. Was hat Lea, bzw. was hast du denn kurz vor dem Tod gefühlt? Was waren deine Gedanken?»

Mein Schutzmechanismus warnt mich vor den möglichen Konsequenzen, wenn ich mich erneut in die Situation eindenke, aber ich kann es nicht aufhalten, es geschieht automatisch. «Ich war wie gelähmt, konnte mich weder bewegen noch sprechen. So sehr ich mich bemühte, ich konnte Ben nicht mehr sagen, woher seine Albträume kommen und welch enge Verbindung wir beide hatten. Ich kämpfte ums Überleben, versuchte, mich bei Bewusstsein zu halten, doch die Verletzungen waren zu stark. Obgleich ich verzweifelt war, fühlte ich mich dennoch durch Bens Gegenwart und seine beruhigenden Worte behütet. Ich wusste, dass wir uns in einem anderen Leben wieder begegnen würden, und ich konnte mich von jenem verabschieden.» … und die geliebte Seele in Keno wiederfinden, vollende ich in Gedanken den Satz und hasse mich sogleich dafür.

«Gut, dass du als Lea bereits an weitere Leben geglaubt hast, sonst wäre der Tod für dich ein endgültiger Abschied gewesen», ergänzt Carl und lächelt.

«Dank preVita sehe ich die Welt in einem anderen Licht, und das ist ein großes Geschenk.»

«Und durch preVita hast du Nael kennengelernt — wo ist er eigentlich? Wolltet ihr die Rückführung nicht gemeinsam ansehen?» Carl blickt um sich und zieht seine weißen Augenbrauen in die Höhe.

Da ist es wieder. Mein schlechtes Gewissen, das an mir nagt. Ich müsste längst in der Klinik sein. «Es ist etwas dazwischen gekommen. Bitte sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt los.» Überhastet stehe ich auf.

«Kein Problem. Wenn du Redebedarf hast, kannst du dich jederzeit bei mir melden», gibt Carl zurück und verabschiedet sich mit einem zweideutigen Blick, der zugleich Skepsis und väterliche Sorge ausdrückt.

Kurz nachdem Carl die Tür hinter sich geschlossen hat, meldet sich mein BRO zu Wort. Er hatte während des Besuchs den Body-Modus ausgeschaltet und flackert nun wieder als Hologramm an meiner Küchentheke auf. «Möchtest du zuerst einen Cappuccino haben? Vielleicht bringt er dich in Balance. In diesem Zustand bist du Nael und Lucie keine Hilfe.» Romeo lächelt zaghaft und verlagert sein Gewicht unsicher von einem Bein aufs andere.

«Das ist eine gute Idee. Eine Koffeinspritze hat noch nie geschadet.» Hätte ich auch eine Infusion zur Verfügung, die mir Klarheit im Nebel meiner Gefühle verschafft, hätte ich sie, ohne zu zögern, tief in meine Vene gestoßen.

Wenige Sekunden später steht ein wohlduftender Cappuccino vor mir.

«Kann ich sonst noch etwas für dich tun?»

«Romeo, du bist wirklich ein guter Freund.»

«Wenn ich könnte, würde ich dich jetzt in den Arm nehmen. Aber das geht erstens nicht und zweitens ist das eigentlich Naels Job.»

Nael. Diese vier Buchstaben, dieser Mann setzt mein Herz in Flammen.

Und die anderen vier Buchstaben Keno erobern meinen Verstand.

Wie wird es sein, wenn mir Nael gleich gegenübersteht? Ist alles wie zuvor, oder ist das, was wir hatten, bereits jetzt zerbrochen? Soll ich Kenos Herzmalerei ignorieren? Falls ja, würde ich jemals die Tatsache vergessen oder verdrängen können, dass Keno allem Anschein nach mein Seelenverwandter ist? Könnte ich auf diesem Wege unbedarft mit Nael in die Zukunft schreiten?

Mir wird schwindelig und ich setze mich auf meinen Küchenhocker. Während ich mit meinem Zeigefinger den Rand der Tasse umkreise, wird mir klar, dass ich den Rat meiner Freundin brauche, bevor ich irgendetwas in puncto Männerangelegenheiten unternehme. Wie unreif ich mir vorkomme! Kopfschüttelnd schicke ich Amrex eine Nachricht, dass ich sie gerne am Wochenende besuchen käme.

Ihre Zusage lässt nicht lange auf sich warten.

Mein BRO meldet sich erneut. «Ich bin natürlich gegen deine Schokoladensucht, aber ich schätze, dass ich dir jetzt ein paar Stücke kredenzen könnte.» Romeo weiß, dass Schokolade mein Seelenfutter ist.

Kurz darauf knabbere ich an einem Täfelchen mit Minzstücken drin. Diese Süßigkeit ist für mich ein Rettungsanker, ein Freund in der Not, der zwar keine guten Ratschläge gibt, aber geduldig ist und göttlich schmeckt. Neulich las ich eine Studie, in der den Teilnehmenden zum einen salzige Snacks, zum anderen Schokolade gereicht wurde. Das Ergebnis war interessant. Leute, die Schokolade aßen, stuften die Gesichter Fremder viel attraktiver ein als Menschen, die Salzstangen knabberten. Das hat wohl seinen Ursprung darin, dass wir den süßen Geschmack aus Kindheitstagen mit Vertrauen und Liebe verbinden, ah ja … Ich betrachte meinen Romeo, der mit zunehmendem Schokoladenkonsum nicht hübscher wird, und muss über meine Gedankenentgleisung grinsen. Es ist schön, mal für ein paar Sekunden das Chaos in mir auszublenden. Gut, dass Romeo meine Vorratskammer immer reichlich mit Süßigkeiten füllen lässt, obwohl er mich öfter ermahnt, dass ich auf meine Gesundheit achten soll. Aber hallo? Wenn Schokolade in meinem Fall nicht gerechtfertigt ist, wann dann? Solange Kakaobohnen an Bäumen wachsen, ist Schokolade auch Obst, rede ich mir lächelnd ein und verschlinge sogar fast zwei ganze Tafeln.

Danach ist mir so übel, dass ich mich hinlegen muss.

Es ist jetzt 14 Uhr.

Wenn ich ein Nickerchen mache, bleibt noch genügend Zeit, um Lucie und Nael zu besuchen.

Verdammte Schokolade.

Das nenne ich eine glasklare Hassliebe.

 

KENOS Geburt

 

 

Die Wehen setzten ein, als Isabel gerade das Abendessen für ihren Mann vorbereitete.

Lovis hatte am Mittag gemeint, er käme gegen sieben heim.

Da sie bereits seit zwei Jahren mit ihm verheiratet war, wusste sie inzwischen, dass seine Zeitangaben wertlos waren. Meist kam er viel später und beschwerte sich dann, dass die Mahlzeit nicht mehr heiß wäre. Rückte er früher als vorgesehen an, schimpfte er, weil noch kein Essen auf dem Tisch stand.

 

Als sie sich kennenlernten, damals auf der Bowlingbahn, schien er ein anderer Mensch gewesen zu sein. Warmherzig, zuvorkommend, ein Gentleman.

Sie hatte ihren zwanzigsten Geburtstag mit ein paar Freundinnen im Bowldream gefeiert. Mit jedem Glas Sekt und jedem gelungenen Wurf jubelten die jungen Frauen lauter. Es wurde gekichert und gelacht. Kein Wunder, dass alle anderen im Saal auf die Fünfergruppe aufmerksam wurden.

«Feiert hier jemand Geburtstag?» Zwei Männer gesellten sich zu ihnen, woraufhin die Mädels zunächst verstummten, danach wieder in Gelächter ausbrachen und hinter vorgehaltenen Händen tuschelten. Die jungen Männer waren keine Schönlinge, strotzten jedoch vor Selbstsicherheit. Einer von ihnen zog Isabel gleich in seinen Bann. Unübersehbar machte er viel Sport, was sein eng anliegendes Shirt unterstrich.

Was sie am meisten faszinierte, war sein Blick, der unentwegt an ihr haftete. Seine Augen lächelten, flirteten mit ihr und sagten mehr als tausend Worte. Es war so, als könne er ihr schönes reines Herz sehen, es berühren, allein dadurch, dass er sie betrachtete. Sie war froh, dass ihre Hände die Bowlingkugel fest umklammerten, sonst hätte sie woanders Halt suchen müssen.

«Also, wem dürfen wir gratulieren?», fragte der andere.

«Ihr!» Marie zeigte auf Isabel, wonach beide Männer auf sie zuschritten und ihr per Handschlag gratulierten.

Als Lovis so nah vor ihr stand, fingen ihre Knie an zu schlottern, doch sie versuchte, ihre Unbeherrschtheit zu unterdrücken. «Soll ich für dich werfen?», fragte er mit einer angenehmen tiefen Stimme und nahm ihr die schwere Kugel ab.

«Gerne!», sagte sie knapp und beobachtete, wie er ausholte und die Kugel warf.

«Das wäre auch zu kitschig gewesen, wenn ich alle abgeräumt hätte.» Mit einem Achselzucken kam er zurück und lächelte sie innig an.

Mein Märchenprinz, dachte sie nur.

Das waren ihre ersten gemeinsamen Momente. Es folgten viele schöne, inklusive romantische Hochzeit.

 

Irgendwann blieb er immer länger weg, auch öfter nachts.

Wenn sie ihn fragte, wo er gewesen sei, antwortete er nur: «Mit den Jungs weg, ist später geworden.» Oder: «Im Atelier.» Er war Bildhauer und verbrachte viel Zeit mit seinen Plastiken und Statuen, die er dann mehr oder weniger ertragreich verkaufte, während sie Kunstgeschichte studierte.

Sie nahm es hin, anfangs noch in dem Glauben, er sage die Wahrheit, über kurz oder lang verdichtete sich ihr Verdacht, er würde fremdgehen. Einmal sprach sie ihn darauf an, da schenkte er ihr zur Versöhnung einen Blumenstrauß und beteuerte, dass alles in Ordnung sei, er habe einfach sehr viel zu tun. Sie schliefen nur noch selten miteinander, redeten wenig, nur Belangloses, und sie fasste den Entschluss, ihn zu verlassen.

Wäre nicht die ungeplante Schwangerschaft dazwischengekommen, würde sie vielleicht heute noch leben.

 

Die Krankenschwestern und Pfleger versuchten vergeblich, ihren Mann zu benachrichtigen.

So gebar sie ihren Sohn ohne Anwesenheit des Vaters.

Als Lovis endlich das Krankenhaus erreichte, richtete er seinen Blick auf das Baby. «Bist du sicher, dass er von mir ist?», war das Erste, was er zu seiner noch von der Geburt geschwächten Frau sagte.

«Von wem soll er denn sonst sein?» Ihre Stimme war dünn, sie hatte keine Kraft, sich mit ihm zu streiten. War er es doch, der fremdging und nicht sie. Das hatte sie mittlerweile herausgefunden.

Wäre Keno nicht gewesen, hätte sie Lovis längst verlassen, dann würde er vielleicht noch leben.

 

ZENIA

 

 

Als ich am frühen Abend erwache, fühle ich mich so verklebt und verschleimt wie ein frisch geschlüpftes Neugeborenes, gerade einmal fähig, eigenständig zu atmen. Wie kann ich mich nur so gehen lassen? Ich versuche die Psychologin in mir um Rat zu bitten, aber die schläft wohl noch, also höre ich meine Sprachnachrichten ab. Wieder eine von Nael, der fragt, wann ich in die Klinik komme. Keine Meldung von Keno. Spüre ich so etwas wie Enttäuschung?

Nachdem ich mich von dem Anblick des Monsters erholt habe, das mich im Badezimmerspiegel aus verquollenen Augen anstiert, dusche ich und ziehe ein weites längeres Kleid über, um meinen schokoladengefüllten Bauch zu vertuschen. Zumindest habe ich das Gefühl, als hätte ich nach meiner Fressattacke einige Kilo zugenommen.

«Du bist völlig überzuckert, nimm bitte ein paar Tabletten, damit du dich ins Gleichgewicht bringst», spricht BRO Dr. Romeo mit medizinischer Strenge.

Widerwillig öffne ich meinen Schrank und lege drei Zauberpillen auf meine Zunge, zerkaue sie mit etwas Wasser und schlucke den metallartig schmeckenden Brei runter. «Himmlisch», gebe ich patzig zurück und schlüpfe in meine Hover-Shoes, heilfroh darüber, dass sie den Weg zur Klinik alleine finden werden. Von meinem Gedankenchaos überfordert, würde ich niemals den richtigen Kurs einschlagen. Fakt ist, ich muss meine Bedürfnisse hintanstellen und mich um Menschen kümmern, die in größerer Not sind.

Ich beschließe, voll und ganz für Nael und seine Schwester da zu sein.

Kliniken und Krankenhäuser mag ich grundsätzlich nicht, obwohl ich jahrelang beim Babyproduzenten PerfectHuman gearbeitet habe. Doch das hier ist eine nüchterne Sorte von Gebäude. Der Architekt hat wohl nie Liebe empfunden, wie sonst hätte er ein Haus erschaffen können, dem jegliche Form von Zuneigung fehlt. Breit, flach, weiß, ohne Schnörkel oder Details, bis auf einzelne Fenster, die mit Gittern versehen sind, was das Gesamtbild nur noch trauriger macht. Diese Klinik habe ich schon oft beim Vorbeifahren gesehen. Ich reibe mir meine mit Gänsehaut überzogenen Arme, schnaufe durch und gehe hinein.

Nach dem obligatorischen Security- und Healthcheck schlendere ich unschlüssig und mit flauem Bauchgefühl durch die Gänge. Einerseits freue ich mich, Nael wiederzusehen, ihn in die Arme schließen zu können und mich an ihn zu drücken. Andererseits legt sich die Möglichkeit, dass Keno mein Seelenpartner ist, wie eine Gewitterwolke über meine Euphorie.

Ich hole zweimal tief Luft, bevor ich den Raum 36 betrete. Er hat wider Erwarten eine freundliche Atmosphäre. Durch ein zimmerbreites deckenhohes Fenster bahnen sich einzelne Sonnenstrahlen ihren Weg hinein. Auf der rechten Seite steht eine Sitzgruppe mit zwei gemütlichen Sesseln und einer Couch, alles in Limettengrün, dazu gesellt sich ein kleiner Tisch. Daneben geht eine Tür ab, die womöglich ins Bad führt und auf der linken Seite erblicke ich ein großes Bett, in dem Lucie schläft.

---ENDE DER LESEPROBE---