Herzregen - Nina Laurence - E-Book

Herzregen E-Book

Nina Laurence

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Beschreibung

Die selbstbewusste Fernsehjournalistin Betty glaubt nicht an die große Liebe. Als ihr ausgerechnet der umschwärmte Boygroup-Sänger Nolan Warwick nach einem Interview Avancen macht, erwacht trotzdem ihre Neugier. Und tatsächlich, hinter Nolans Fassade steckt mehr, als Betty vermutet hätte. Obwohl sie sich zu ihm hingezogen fühlt, schreckt sie vor einer heimlichen Beziehung mit dem Popstar zurück. Zu groß ist ihre Angst, dass er nur mit ihr spielt. Doch so leicht lassen sich ihre Gefühle für Nolan nicht abstellen.

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Inhaltsverzeichnis

NOLAN WARWICK Track 1 

NOLAN WARWICK Track 2 

BETTY RICHARDS Kapitel Drei 

BETTY RICHARDS Kapitel Vier 

NOLAN WARWICK Track 5 

BETTY RICHARDS Kapitel Sechs 

NOLAN WARWICK Track 7 

BETTY RICHARDS Kapitel Acht 

BETTY RICHARDS Kapitel Neun 

BETTY RICHARDS Kapitel Zehn 

BETTY RICHARDS Kapitel Elf 

BETTY RICHARDS Kapitel Zwölf 

BETTY RICHARDS Kapitel Dreizehn 

NOLAN WARWICK Track 14 

BETTY RICHARDS Kapitel Fünfzehn 

NOLAN WARWICK Track 16 

NOLAN WARWICK Track 17 

BETTY RICHARDS Kapitel Achtzehn 

NOLAN WARWICK Track 19 

NOLAN WARWICK Track 20 

NOLAN WARWICK Track 21 

BETTY RICHARDS Kapitel Zweiundzwanzig 

NOLAN WARWICK Track 23 

NOLAN WARWICK Track 24 

BETTY RICHARDS Kapitel Fünfundzwanzig 

BETTY RICHARDS Kapitel Sechsundzwanzig 

NOLAN WARWICK Track 27 

BETTY RICHARDS Kapitel Achtundzwanzig 

NOLAN WARWICK Track 29 

NOLAN WARWICK Track 30 

NOLAN WARWICK Track 31 

BETTY RICHARDS Kapitel Zweiunddreißig 

NOLAN WARWICK Track 33 

BETTY RICHARDS Kapitel Vierunddreißig 

BETTY RICHARDS Kapitel Fünfunddreißig 

NOLAN WARWICK Track 36 

NOLAN WARWICK Track 37 

BETTY RICHARDS Kapitel Achtunddreißig 

NOLAN WARWICK Track 39 

NOLAN WARWICK Track 40 

NOLAN WARWICK Track 41 

NOLAN WARWICK Track 42 

BETTY RICHARDS Kapitel Dreiundvierzig 

NOLAN WARWICK Track 44 

BETTY RICHARDS Kapitel Fünfundvierzig 

NOLAN WARWICK Track 46 

BETTY RICHARDS Kapitel Siebenundvierzig 

BETTY RICHARDS Kapitel Achtundvierzig 

NOLAN WARWICK Track 49 

BETTY RICHARDS Kapitel Fünfzig 

NOLAN WARWICK Track 51 

BETTY RICHARDS Kapitel Zweiundfünfzig 

NOLAN WARWICK Track 53 

NOLAN WARWICK Track 54 

BETTY RICHARDS Kapitel Fünfundfünfzig 

BETTY RICHARDS Kapitel Sechsundfünfzig 

DANKSAGUNG 

 

 

 

 

Vollständige e-Book Ausgabe 2023 

 

© 2023 ISEGRIM VERLAG 

in der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt 

Bildmaterial: © shutterstock.com 

Covergestaltung: Ria Raven www.riaraven.de 

 

Alle Rechte vorbehalten. 

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. 

 

ISBN: 978-3-95452-841-7 

 

www.isegrim-buecher.de 

 

 

 

Nina Laurence (PS.), Jahrgang 1994, studierte Germanistik und englische Literaturwissenschaften in Bonn und Cork. Zusätzlich arbeitete sie bisher in den Bereichen Journalismus, PR, Marketing und Kommunikation. Auch privat dreht sich bei ihr alles um Sprache: Wenn sie nicht liest oder schreibt, lässt sie sich von Musik inspirieren und stellt ihre Fangirl-Qualitäten auf Konzerten unter Beweis.

 

 

 

 

Für meine Mutter Sabine, meine Schwester Julia und meine Testleserin Maria – ihr rockt mein Leben und beweist, dass auch stillere Kämpferinnen stark sind. 

NOLAN WARWICK Track 1 

3. Januar 2001, 5:28 p.m. 

 

Ich stehe vor der Tür des Mannes, der meine Zukunft zertreten hat. Wie eine Schallplatte, die ich mir drei Jahre lang täglich angehört habe. Ich dachte, dass sie nie endet, aber da habe ich mich getäuscht. Drei Worte waren ausreichend, um die Nadel von der Rille zu ziehen und die Musik zum Verstummen zu bringen: »Ich steige aus.« Danach ging Cody und ließ uns sprachlos im Probenraum sitzen.

Niemand öffnet. Ich klopfe noch einmal an die Tür des Hotelzimmers, in dem er wohnt. »Cody? Ich weiß, dass du da bist.«

Schritte sind zu hören. Kurz darauf wird die Tür aufgerissen und ein fremder Mann steht vor mir. Er ist groß und blond, wie unser Bandkollege Mitch. Die Mitch-Kopie mustert mich von oben bis unten. »Hey. Ich wusste gar nicht, dass noch Besuch kommt.«

»Nolan?« Cody taucht hinter ihm auf. Er ist gerade dabei, sich einen Hoodie anzuziehen.

Ich räuspere mich. »Sorry, wollte nicht stören. Soll ich später vorbeikommen?«

»Wir sind fertig.« Cody kratzt sich am Kopf, der heute offenbar noch nicht mit einem Kamm in Berührung gekommen ist.

»Ich könnte noch ’ne Runde vertragen.« Die Mitch-Kopie zwinkert mir zu und grinst anzüglich. »Hast du Lust?«

»Nein«, sage ich. »Tut mir leid.«

»Allgemein oder nur heute nicht?«

»Allgemein.«

»Schade.« Er klingt wehmütig. Fast so, als hätte ich ihm den Glauben an die Existenz des Weihnachtsmannes genommen.

Cody tritt zur Seite, um mich ins Zimmer zu lassen.

»Komm gut nach Hause«, murmelt er, woraufhin sein Gast das Feld räumt – natürlich nicht, ohne mich noch einmal ausgiebig zu betrachten. Cody zieht die Tür zu und seufzt.

Langsam folge ich ihm ins Innere seines Hotelzimmers. Seine Gitarren sind kreuz und quer im Raum verteilt, teilweise vergraben unter schmutzigen Hemden und Hosen. Überall liegt zerknülltes Papier – sein Song-Friedhof.

»Lust auf ein Bier?« Er deutet mit dem Kinn in Richtung Küchenzeile.

»Ich wollte eigentlich weniger trinken.«

»Bier zählt nicht.« Er geht zum Kühlschrank und holt zwei Dosen heraus. »Bud Light?«

»Das ist kein Bier. Das ist eine Zumutung.«

»Was anderes hab ich nicht.« Er deutet hinter eine Couch, wo sich Bierdosen türmen. »Guck nicht so besorgt, die hab ich nicht alleine getrunken.« Er wirft mir das Bud Light entgegen und schlurft zur Couch hinüber. Nachdem er sich gesetzt hat, schnappt er sich die Fernbedienung und schaltet CBS ein. Er legt die Füße auf den Wohnzimmertisch und klopft auf den Platz neben sich. »Setz dich, gleich spielen die Lakers.«

So sitzen wir einige Minuten schweigend nebeneinander, trinken die pissgelbe Brühe, die Bier sein soll, und verfolgen, wie sich die LA Lakers von den Chicago Bulls abziehen lassen. Bevor ich Cody kannte, habe ich mich nie für Sport interessiert. Das hat sich erst geändert, nachdem er mich zu einem Spiel der Lakers geschleppt hat. Dieser legendäre Abend war noch vor dem Durchbruch von Forgotten Promise. Seit dem Erscheinen von Take My Heart, unserer ersten Nummer-Eins-Single, sind solche Ausflüge nicht mehr möglich. Stattdessen beschränken wir uns darauf, die Spiele im Fernsehen anzusehen und herauszufinden, wie viel Bier man an einem Abend trinken kann.

Normalerweise sind diese Abende super entspannend, aber heute kann ich nicht abschalten. Mein Gehirn ist damit beschäftigt, einen passenden Gesprächseinstieg zu finden. Cody tut so, als wäre alles wie immer. Er schimpft über die Chicago Bulls, macht sich über die Werbespots lustig und verdreht die Augen, wenn die Kiss Cam einen Mann und eine Frau zum Zwangsknutschen verdonnert.

Am Ende des Spiels gibt Cody das Schauspiel auf. »Ich komme nicht zurück«, sagt er, den Blick auf den schwarzen Bildschirm gerichtet.

»Das kannst du uns nicht antun.«

Er verzieht das Gesicht. »Ich habe keine Wahl.«

»Man hat immer eine Wahl.«

Cody stellt seine leere Dose auf den Tisch und dreht sich zu mir um. Statt einer Antwort krempelt er den Ärmel seines Hoodies hoch. Darunter kommt ein Tattoo mit Gitarrenmotiv zum Vorschein. Die Haut ist noch gerötet.

»Sieht klasse aus«, kommentiere ich, was Cody ein kurzes, stolzes Lächeln entlockt.

»Ich wollte mir das schon seit Jahren stechen lassen. Aber Lee hat’s mir verboten.«

»Wenn das der einzige Grund ist, solltest du noch mal mit ihm sprechen. Ich bin mir sicher–«

»Du weißt genau, dass das nicht der einzige Grund ist.« So harsch habe ich ihn noch nie erlebt. Er versteckt das Gesicht in den Händen. »Nolan, ich kann das nicht mehr. Jetzt, wo ich Forgotten Promise den Rücken gekehrt habe, gehört mein Körper endlich wieder mir. Die letzten drei Jahre war ich Lees Tanzbär, seine Melkkuh, sein Goldesel. Ich durfte nie die Musik machen, die ich wollte.«

Dem kann ich nicht widersprechen. Ein paar Mal war ich dabei, als Cody unserem Manager Peter Ronald Lee neue Songs vorgestellt hat. Von zehn Songs hat Lee vielleicht drei ausgewählt und das waren nicht mal die Besten.

»Wir können bestimmt mit ihm verhandeln«, wage ich dennoch einen weiteren Überzeugungsversuch. »Er weiß, dass du der kreative Kopf der Band bist.«

Cody schnaubt. »Glaubst du wirklich, dass Lee freiwillig einen Teil seiner Macht abtritt? Lieber gründet er eine neue Band. Davon abgesehen hat er mir nicht nur musikalisch Fesseln angelegt.« Er zögert. Obwohl ich seit einem Jahr Bescheid weiß, scheint das Thema ihm nicht leicht über die Lippen zu gehen. »Ich habe schon lange über einen Ausstieg nachgedacht. Aber als Lee verkündet hat, dass Girl Don’t Break Me Down die neue Single wird, habe ich gespürt, dass ich es jetzt beenden muss. Ich will nicht länger Girl singen, wenn ich Boy meine. Einerseits muss ich ständig mit irgendwelchen Frauen flirten, die mich nicht interessieren. Andererseits muss ich aufpassen, dass niemand mitbekommt, wen ich wirklich mit ins Hotelzimmer nehme. Dieser Spagat hat mein Leben zur Hölle gemacht.« Cody fährt sich durch das dunkelblonde Haar. »Diese Menschen schreiben uns vor, wen wir lieben dürfen und wen nicht. Das ist doch krank!«

Es ist kaum zu glauben, dass ich zwei Jahre mit ihm in einer Band war, ehe ich die Wahrheit erfahren habe. Mir ist nichts aufgefallen. Mitch war derjenige, der die Bombe platzen ließ. Cody konnte seine Gefühle für ihn irgendwann nicht mehr verbergen.

Auch für mich war es anfangs eine seltsame Situation, aber Cody konnte mir diesbezüglich alle Sorgen nehmen. »Du gehörst zu den schönsten Männern auf diesem Planeten, Nolan«, lautete sein Kommentar. »Aber ich stehe leider nur auf Arschlöcher.«

Für mich wird er immer der Typ bleiben, der auf meinem allerersten Flug mit seiner Gitarre vor der Toilettentür stand, während ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt habe. Um mich abzulenken, hat er Don’t Worry, Be Happy von Bobby McFerrin gespielt. Wahrscheinlich hätte ich die vergangenen drei Jahre ohne ihn gar nicht überstanden.

»Fühlst du dich jetzt besser?«, frage ich.

»Sex, Bier und Musik – was will man mehr?« Er versucht, das Ganze wie einen Scherz rüberzubringen, aber ich kenne ihn gut genug, um hinter die Fassade zu blicken.

»Du musst mir nichts vormachen. Ich weiß, dass Lee nicht der Hauptgrund für deinen Ausstieg ist.«

»Ach nein?« Codys Miene verfinstert sich. »Na schön. Vielleicht bin ich es leid, mit einem Kerl um die Welt zu reisen, der mich verachtet. Vielleicht kann ich es nicht ertragen, morgens im Hotel den Frauen über den Weg zu laufen, die er abgeschleppt hat. Ich weiß nicht, wie ich es drei Jahre mit ihm ausgehalten habe, obwohl ich jede Nacht von ihm träume. Jetzt schaut er mich an wie Ungeziefer, das er gerne zertreten würde.«

»Das hat nichts mit dir zu tun. Mitch behandelt jeden so.«

Cody schüttelt den Kopf. »Was würdest du an meiner Stelle tun? Könntest du mit einer Frau zusammenarbeiten, die dein Herz jeden Tag aufs Neue aufschneidet und ausbluten lässt?«

Ich hole tief Luft. »Versteh mich nicht falsch, Cody, ich weiß, wie beschissen die Situation ist. Aber diese Band ist mehr als ein Job, den man einfach hinschmeißen kann. Ohne dich wird alles den Bach runtergehen.«

»Umso besser. Man soll das Schiff verlassen, ehe es sinkt.«

»Und ich?«

»Steig auch aus. Wir könnten zusammen was Neues auf die Beine stellen.« Bei den Worten leuchten seine Augen.

»Hast du einen Plattenvertrag?«

»Ich dachte eher daran, ein Independent-Label zu gründen. Sonst hänge ich wieder in der alten Pop-Maschinerie fest.«

Manchmal vergesse ich, wie unterschiedlich die Welten sind, aus denen wir stammen. Codys Familie besteht aus erfolgreichen Anwälten. Er hat Jura studiert, bevor Lee ihn bei einem Gig entdeckt und ihn überredet hat, bei dem Projekt Forgotten Promise einzusteigen. Cody musste sich noch nie Gedanken darüber machen, ob er am Ende des Monats die Miete zusammenkriegt. Selbst wenn seine musikalischen Pläne scheitern, wartet ein finanzielles Polster auf ihn. Das soll natürlich nicht heißen, dass ich an ihm zweifle. Bei seinem Talent wird alles, was er anpackt, zu Gold.

»Du weißt, dass ich die Band nicht aufgeben kann.«

»Warum nicht?«

Solche naiven Fragen kann nur er stellen. »Ich bin nicht du, Cody!«

Er verdreht die Augen. »Ist mir aufgefallen.«

»Du weißt, wie ich das meine. Ich bin kein musikalisches Genie.«

Cody greift nach meinem Arm und schaut mich eindringlich an. »Du hast jede Menge drauf, Nolan! Lass dir von niemandem was anderes einreden. Lee profitiert von Abhängigkeit. Mach dich nicht von ihm abhängig.«

Ich stoße einen Schwall Luft aus. Codys Idealismus hat wenig mit der Realität zu tun. Ich gebe es ungern zu, aber Lee hat recht: Musik ist nur ein kleiner Teil von dem, was das Popbusiness ausmacht. Vielleicht wird Cody den Sprung vom Boygroup-Sänger zum ernstgenommenen Musiker schaffen. Er hat bereits jetzt genug unveröffentlichte Songs geschrieben, um zwei grandiose Alben füllen zu können. Gebt ihm ein Mikrofon und ein Klavier und er berührt einen ganzen Saal. Cody war das Talent von Forgotten Promise und wir nur das schmückende Beiwerk. Vier Typen, deren Aufgabe es ist, gut auszusehen, zu tanzen und so zu tun, als würden sie singen. Das sind nicht gerade beste Voraussetzungen für eine Solokarriere.

Bevor ich einen letzten Überredungsversuch starten kann, piept mein Handy. Ich fische es aus der Hosentasche und verziehe das Gesicht, als ich die SMS von Lee sehe: »Wo steckst du? Krisensitzung in R45!«

»Überleg’s dir, Nolan. Wir brauchen die anderen Jungs nicht, um was Großes auf die Beine zu stellen.« Seine braunen Augen leuchten – eine Energie, die ich schon lange nicht mehr bei ihm gesehen habe.

Was mache ich hier eigentlich? Es besteht kein Zweifel, dass sein Austritt aus der Band die einzig richtige Entscheidung für Cody ist. Forgotten Promise hat ihm Ruhm eingebracht, aber zu welchem Preis? Wenn die Welt sieht, was Cody Whitman wirklich draufhat, wird sie ihm zu Füßen liegen. Ich werde mir seine CDs ins Regal stellen und mich darüber freuen, dass ich mal die Ehre hatte, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Es ist an der Zeit, diese Ego-Mission zu beenden. Cody ist nicht für mein Glück verantwortlich. Nur ein mieser Freund hält ihn von dem ab, was er wirklich braucht.

»Du gehst schon? Nach nur einem Bier?«, fragt Cody, während ich aufstehe.

»Lee ruft zur Krisensitzung.«

»Scheiß auf Lee!«

»Er ist mein Boss.«

Cody steht ebenfalls auf und fasst mir an die Schultern. »Wie lange willst du noch diese Rolle spielen? Du weißt, dass die Band nicht ewig Erfolg haben wird. Willst du dich dafür wirklich ausbluten lassen?«

Ich weiche seinem Blick aus. Bisher habe ich den Gedanken an eine Zeit nach Forgotten Promise erfolgreich verdrängt. Die Gegenwart ist so dominant, dass die Zukunft bei mir ein Schattendasein fristet – zumindest die Zukunft, die sich nicht um das nächste Album, die nächste Tour und die nächste inszenierte Affäre dreht.

»Ich muss los«, sage ich, mich aus seinem Griff befreiend.

Cody führt mich zur Tür. »Es tut mir leid, Nolan. Wirklich. Ich weiß, was dir diese Band bedeutet. Ich denke nur … vielleicht bedeutet sie dir zu viel. Wie eine Liebesbeziehung, von der du dich nicht lösen kannst.«

»Tja, komplizierte Liebesbeziehungen sind meine Spezialität.« Das Grinsen verrutscht mir, weil es zu wahr ist, um lustig zu sein. Ich umarme ihn kurz. »Vergiss nicht, dass wir uns ohne Forgotten Promise nie kennengelernt hätten.«

»Ich habe nie behauptet, dass alles an dieser Band scheiße war. Man muss nur wissen, wann die Party zu Ende ist.«

Mein Handy klingelt. Allerdings ignoriere ich es für den Moment. »Ich kriege deine erste goldene Schallplatte, versprochen?«, sage ich.

Cody zuckt die Schultern. »Kannst du haben. Ich freue mich eher auf die Live-Shows. Wenn ich noch einmal Playback singen muss, kotze ich auf die Bühne.«

Es ist beneidenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit er darüber spricht. Gut, mit seinem Talent wäre ich wahrscheinlich auch wesentlich entspannter.

»Nolan?« Ich habe bereits die Klinke in der Hand, drehe mich aber noch einmal zu ihm um. »Lee mag vielleicht die ganzen Rechte und die Kohle haben, aber ihr seid das, was die Band am Leben hält. Wenn Forgotten Promise wirklich dein Baby ist, dann sorg dafür, dass Lee es nicht umbringt.«

NOLAN WARWICK Track 2 

3. Januar 2001, 6:43 p.m. 

 

 

Normalerweise bin ich derjenige, der als erstes bei Bandmeetings auftaucht. Diesmal sind meine Bandkollegen Travis und Dave allerdings schon da. Sie drehen sich um, als die Tür hinter mir zufällt.

»Warst du bei Cody?«, fragt Dave hoffnungsvoll.

»Jap.«

»Konntest du ihn überreden?«

»Keine Chance.«

Dave flucht und schleudert seine Baseball-Cap auf den Boden. Seine Miene ist so finster, dass es für einen Moment aussieht, als wolle er darauf treten. Aber das würde er seiner geliebten Mütze niemals antun. »War ja klar, dass dieser Scheißkerl uns im Stich lässt.«

»Cody ist kein Scheißkerl.« Ich verschränke die Arme.

»Ach nein?« Dave kommt auf mich zu. Er ist mit Abstand der Muskulöseste von uns. Dave war Quarterback im Schulteam seiner High-School und hatte gute Chancen auf ein College-Stipendium. Dann vereitelte eine Verletzung ihm die Aussicht auf eine Footballkarriere und er beschloss stattdessen auf anderem Weg berühmt zu werden.

Travis kommt zu uns. In der Öffentlichkeit spielt er immer den entspannten Surferboy, aber davon ist im Moment nichts zu spüren. »Wie sollen wir mit unseren Songs auf die Bühne, wenn der Sänger fehlt? Nicht mal unsere blödesten Fans nehmen uns ab, dass wir ohne Cody genauso klingen.«

Ehe ich antworten kann, geht die Tür hinter mir auf und Lee betritt den Raum. Er ist unser oberster Manager und Talentscout von Stolen Hearts Records. Wenn wir ihn persönlich sehen, dann normalerweise in seinem Büro. Sein Doppelkinn zeugt davon, wie ungern er seinen Hintern vom Schreibtischstuhl wegbewegt. Sein schütteres, blond gefärbtes Haar hat er wie immer nach hinten gegelt. Lee trägt entweder Anzug oder Hawaiihemd, je nachdem, ob er den erfolgreichen Geschäftsmann oder den steinreichen Lebemann heraushängen lässt. Heute ist es der Anzug. Sein Hemd ist genauso zerknittert wie seine Miene.

Er schaut sich im Raum um. »Jetzt fehlt nur noch Summerhill.«

Es ist keine Überraschung, dass Mitch auf sich warten lässt. Er kommt aus Prinzip immer zu spät. Niemand weiß genau, wo er sich die ganze Zeit rumtreibt.

Hier stehen wir nun, im achten Stock des Hauptsitzes von Stolen Hearts Records. Der Raum ist kahl bis auf ein rotes Sofa, über dem ein riesiges Foto von der Los Angeles Skyline bei Sonnenuntergang hängt. Lee steuert geradewegs auf das Sofa zu und lässt sich darauf fallen. »Wir haben die Pressemitteilung eben rausgeschickt und wie erwartet sind etliche Interviewanfragen eingegangen«, kommt Lee sofort zum Punkt. »Ihr wisst, was das heißt.«

Travis, Dave und ich nicken. Solche Interview-Marathons sind echt anstrengend. Wenn wir eine neue Single rausbringen, interessiert das kaum jemanden, aber sobald irgendwas schiefgeht, ist die Presse sofort zur Stelle.

»Wir werden morgen eine Pressekonferenz abhalten, danach kommen kurze Einzelinterviews. Ricky wird sich gleich mit euch zusammensetzen und klarstellen, was ihr sagen sollt und was nicht.«

»Wer ist Ricky? Ich dachte, Chris ist für unsere PR zuständig?«, fragt Travis.

»Chris ist anderweitig beschäftigt.«

»Womit denn? Welcher Mistkarren ist größer als unserer?«

Lee antwortet nicht. Stattdessen schaut er zur Tür, wodurch wir uns ebenfalls umdrehen. Mitch beehrt uns endlich mit seiner Anwesenheit. Er rümpft bei unserem Anblick die Nase, wie ein Babysitter, der sich um eine Horde Kleinkinder kümmern muss. Dabei ist er mit seinen unschuldigen 20 Jahren der Jüngste.

»Chris kümmert sich um Lees neues Projekt«, verkündet Mitch betont gleichgültig. »Er weiß, dass unsere Tage gezählt sind.«

»Unsinn«, widerspricht Lee unwirsch. »Whitman war die Stimme, aber nicht das Gesicht von Forgotten Promise. Gute Sänger und Songwriter findet man an jeder Straßenecke. Solange ihr die Fans bei der Stange haltet, bleibt die Band noch Jahre an der Spitze.«

Jahre – glaubt er das wirklich? Travis und Dave tauschen skeptische Blicke aus. Sie wissen genauso gut wie ich, dass Lees Versprechen wenig Wert haben.

»Warum sollen wir uns weiter den Arsch aufreißen, wenn wir schon längst auf dem Abstellgleis stehen?«, kommentiert Mitch. »Ich wusste von Anfang an, dass Whitman keine Aktie ist, auf die man setzen kann.«

»Du solltest die Klappe nicht zu weit aufreißen«, gehe ich dazwischen. »Wenn du Cody nicht so mies behandelt hättest, wäre er vielleicht geblieben.«

»Dann ist es also meine Schuld, dass Whitman bei meinem Anblick feuchte Träume bekommt?« Mitch schüttelt den Kopf.

»Es ist schlimm genug, unglücklich verliebt zu sein. Wenn derjenige, den du magst, dich aber wie einen Aussätzigen behandelt, fühlt sich das noch mieser an.«

Er verdreht die Augen. »Nolan Warwick spielt mal wieder den Moralapostel. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet Whitman sich geoutet hat. Für mich warst du der Kandidat fürs andere Ufer.«

In Momenten wie diesem würde ich ihm gerne einen Kinnhaken verpassen. Allerdings waren Prügeleien noch nie mein Ding. Davon abgesehen bringt Gewalt uns nicht weiter.

Ich stecke meine Hände in die Jeanstaschen, damit sie sich nicht zu Fäusten ballen. »Können wir Cody endlich abhaken und zum Wesentlichen zurückkommen? Wir müssen zusammenhalten, wenn Forgotten Promise eine Zukunft haben soll.«

»Amen, Bruder«, kommentiert Mitch. »Soll ich dir noch einen Heiligenschein besorgen?«

Ich hole tief Luft. Dave und Travis machen keine Anstalten, mir zu helfen.

Lee schaut auf seine Rolex und hievt sich vom Sofa hoch. »Haut euch meinetwegen in die Fresse so viel ihr wollt, solange ihr vor der Kamera beste Freunde seid. Aber passt auf, dass eure hübschen Gesichter keine Spuren davontragen.« Sein Ausdruck ist der des knallharten Geschäftsmannes, als er uns der Reihe nach ansieht. »Vergesst nicht, wessen Kohle in dem Projekt steckt. Wenn ich merke, dass ihr euren Job nicht richtig macht, drehe ich euch den Geldhahn zu. Es gibt da draußen viele schöne Jungs, die auf eine Chance warten. Ihr entscheidet, wann bei euch die Scheinwerfer ausgehen.«

BETTY RICHARDS Kapitel Drei 

4. Januar 2001, 7:06 a.m. 

 

 

»Ist Elizabeth schon im Büro?«, tönt die Stimme von Keith Hunt, dem Chefredakteur der LAC1 News, durch die verlassene Redaktion.

»Hier!«, rufe ich, ohne von meinem Computerbildschirm aufzusehen.

»Gott sei Dank.« Die Absätze seiner Lederschuhe klackern über den Fußboden, während er zu meinem Schreibtisch eilt. Mit seinem normalen Gehtempo könnte man ein gutes Ergebnis bei einem Marathon erzielen. Als er bei mir ankommt, stelle ich meine Kaffeetasse auf den Tisch und drehe mich zu ihm um.

»Wo brennt’s?«

»Wir haben ein tagesaktuelles Beitragsthema reinbekommen und die halbe Redaktion ist krank.«

Sein Gesicht ist mit roten Flecken übersät – auch das ist bei ihm kein seltener Anblick. Keith hat seinen Arzt letztens ausgelacht, als der ihm riet, Stress zu vermeiden. »Wenn ich früher gewusst hätte, dass ich Probleme mit Bluthochdruck bekomme, wäre ich jetzt Bibliothekar«, behauptete er einmal.

»Um welches Thema geht es?«, frage ich.

Keith zupft sich an der Krawatte. »Cody Whitman ist bei Forgotten Promise ausgestiegen.«

Ich zucke mit den Schultern. »Wer ist bei was ausgestiegen?«

»Du kennst Forgotten Promise nicht?« Keith hebt erstaunt die Augenbrauen. »Meine Tochter würde dich dafür umbringen.«

Seine Tochter? Dann kann das nur irgendein Teenagerding sein. »Geht es wieder um eine Boyband?« Das war als Scherz gemeint, Keiths ertappte Miene verrät allerdings, dass ich ins Schwarze getroffen habe. »Keith, eine solche Meldung gehört nicht in die Sieben-Uhr-Nachrichten.«

»Wir machen Nachrichten für jeden, Elizabeth. Vielleicht interessierst du dich nicht dafür, aber meine Frau und meine Tochter schon.«

»Dann sollen deine Frau und deine Tochter MTV schauen. Klatsch und Tratsch gibt es genug im Fernsehen, darum brauchen wir uns nicht auch noch zu kümmern.«

»Solange wir keine wichtigere Meldung bekommen, müssen wir die heutige Sendung mit dem füllen, was wir haben. Mitschnitte aus der Pressekonferenz, exklusive Statements und Hintergrundinformationen über die Band. Muss nicht länger sein als eins fünf. Höchstens zwei.«

»Eins fünf?« Ich schüttle den Kopf. »Viel zu lang. Ich würde nicht mehr als eine 30-Sekunden-Meldung bringen.«

»Diese Band gehört zu den kommerziell erfolgreichsten Boybands weltweit.«

»Die Betonung liegt auf Boybands. Wollen wir das Niveau der Sendung wirklich so herabsetzen?«

Keith seufzt. »Du hast letztens gesagt, dass man aus jedem Thema einen hochwertigen, kritischen Beitrag machen kann.«

»Trotzdem müssen wir nicht darüber berichten, dass in China ein Sack Reis umfällt.« Ich nehme einen Schluck meines koffeinhaltigen Lebenselixiers. Die vergangenen Nächte waren kurz. Erst gestern bin ich aus Washington zurückgekehrt, wo ich ein Interview mit dem Wirtschaftsminister hatte. Der Beitrag musste anschließend noch vor Ort geschnitten werden, damit wir ihn rechtzeitig senden konnten. »Ich werde dich natürlich nicht davon abhalten, deiner Tochter einen Gefallen zu tun. Aber ich befürchte, dass ich nicht die richtige Person für einen solchen Beitrag bin.«

Keith stützt sich kopfschüttelnd auf meinen Schreibtisch. »Ich kann mir außer dir niemanden vorstellen, der das übernehmen kann. Edith und Ken sind krank, Sharon im Urlaub und der Rest unserer Reporter ist entweder mit anderen Beiträgen beschäftigt oder zu unflexibel, um sich so schnell in das Thema einzuarbeiten.«

»Keith, ich bin Politikjournalistin und kenne die Band nicht mal.«

»Du hast sechs Stunden Zeit, um sie kennenzulernen.« Als er meinen ungläubigen Blick sieht, fügt er hinzu: »Stell dir einfach vor, du würdest über einen Politiker berichten und mach das, was du sonst auch immer machst: Recherchieren, kritische Fragen stellen, einen Beitrag zusammenbasteln. Ich dachte, du magst Herausforderungen.«

Keith weiß genau, wo meine Schwachstellen liegen. Tatsächlich habe ich schon ewig keine Beiträge mehr gemacht, die außerhalb meiner Komfortzone liegen. Ich wünschte nur, das Thema wäre nicht so trivial.

»Also schön«, gebe ich schließlich nach. »Aber das ist eine Ausnahme. Dafür bist du mir was schuldig.«

»Danke, Elizabeth. Oh, noch eine Sache: Kannst du die neue Praktikantin mitnehmen? Sie hat mich quasi angefleht.«

»Angefleht? Du weißt, dass ich prinzipiell kein Problem mit Praktikanten habe. Allerdings halte ich es für keine gute Idee, einen hormongebeutelten Teenager mit zu einer Boygroup zu schleppen. Ich habe keine Lust, die Rettungssanitäterin zu spielen, wenn sie bei dem Anblick der Schönlinge Schnappatmung bekommt.«

»Auf mich wirkte sie nicht wie ein hysterisches Groupie. Sie scheint nur die Musik zu mögen.«

»Die Musik? Sicher, die steht bei Boygroups natürlich im Vordergrund.« Keith setzt zu einer Erwiderung an, doch ich hebe kapitulierend die Hände. »Schon gut, ich nehme sie mit. Es schadet nicht, jemanden dabeizuhaben, der sich privat mit solchen Sachen beschäftigt.« Ich lehne mich mit verschränkten Armen auf dem Schreibtischstuhl zurück. »Wie geht es eigentlich deiner Tochter?«

Er verdreht die Augen. »Bei uns zu Hause herrscht gerade großes Drama. Sie ist wegen dieser Musikgruppe am Boden zerstört. Dabei ist der Sänger, der ausgestiegen ist, nicht mal ihr Liebling. Sie steht auf den Partytypen, dem ständig eine Strähne ins Gesicht hängt. Zum Glück wird sie diesen Draufgänger nie persönlich treffen. Ganz im Gegensatz zu dir. Nicht, dass einer der Jungs dir schöne Augen macht.« Er zwinkert mir zu. Keith ist erst Anfang 40, aber seine ausgeprägten Stirnfalten lassen ihn älter erscheinen.

»Keine Sorge, ich habe kein Interesse an Halbwüchsigen. Nun, Keith, ich schätze deine Gesellschaft sehr, aber wenn ich heute noch an ein Interview kommen will, muss ich mich an die Arbeit machen.« Ich deute auf das Telefon.

»Klar, ich bin sofort weg.« Keith lächelt. Die hektischen Flecken sind aus seinem Gesicht verschwunden – sein Arzt wäre stolz auf mich. »Ich bin gespannt auf deinen Beitrag.«

Ja, das bin ich auch.

BETTY RICHARDS Kapitel Vier 

4. Januar 2001, 1:07 p.m. 

 

 

In weniger als einer halben Stunde soll die Pressekonferenz beginnen und wir stecken hoffnungslos im Verkehr fest. Die Straßen in L.A. sind allgemein katastrophal, aber heute scheint die Stadt das Fahren komplett verlernt zu haben. Das ist bereits der zweite Unfall, durch den wir ausgebremst werden – ein Truck, der eine brutale Liaison mit einem Sportwagen eingegangen ist.

»Nimm eine Ausfahrt vorher«, rät Michael, unser Tonspezialist. Sein Schweizer Akzent erinnert mich an meinen ehemaligen Professor für europäische Geschichte.

Kameramann John schnaubt verächtlich. »Ich lebe seit über 20 Jahren hier. Da brauche ich keine Tipps von einem Typen, der mein Sohn sein könnte.«

»Wie du willst.« Michael hebt abwehrend die Hände und wirft mir einen genervten Blick durch den Rückspiegel zu.

Als ich Johns Namen auf der Dispo gesehen habe, hätte ich den Auftrag am liebsten wieder abgegeben. Der Sender beschäftigt so viele kompetente Kameraleute, dass mir schleierhaft ist, warum sie John noch nicht gefeuert haben.

Die Praktikantin, die neben mir auf der Rückbank sitzt, schaut verunsichert in die Runde. Als ich sie eben das erste Mal gesehen habe, hätte ich fast gelacht. Susan sieht aus wie ich vor zehn Jahren. Dunkelgraue Hose, weiße Bluse, schwarzer Blazer, und die exakt gleiche Frisur. Der einzige Unterschied ist, dass ihre kinnlangen Haare nicht rotblond, sondern braun sind. Susan ist erst seit einer Woche bei uns. Trotzdem hatte sie den Mut, den Chefredakteur zu beknien, bei diesem Beitrag dabei sein zu dürfen. Wenn sie mir jetzt noch beweist, dass sie vor der Boygroup die Nerven behält, werde ich sie in den nächsten Wochen häufiger mit zum Dreh nehmen.

»Du möchtest also Journalistin werden?«, frage ich.

Susan nickt ebenso enthusiastisch wie ich damals. »Das war schon immer mein Traum.«

»Dann bin ich gespannt, ob du nach dem Praktikum immer noch so denkst. Mir haben damals alle gesagt, dass ich mir das gut überlegen soll. Ich dachte, sie übertreiben, aber sie hatten am Ende recht: Wenn du wirklich erfolgreich sein willst, musst du alles auf den Job ausrichten.«

»Ist das nicht bei jedem Job so?«, wirft Susan ein.

»Möglich. Allerdings musst du beim Journalismus immer auf dem Sprung sein. Privat kann man sich kaum was vornehmen.«

»Heißt das, du würdest dir einen anderen Beruf aussuchen, wenn du noch mal von vorne anfangen könntest?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich gehöre zu den Menschen, für die der Job gemacht wurde. Privatleben fand ich schon immer überbewertet.«

»Stimmt es, dass du in Harvard studiert und mit einem Honors Degree abgeschlossen hast?«

»Hat Keith wieder mit mir geprahlt?«

Susan erwidert mein Grinsen. »Er scheint viel von dir zu halten.«

»Deswegen hat er mich nach L.A. geholt, um exklusiv für LAC1 zu arbeiten.«

»Für wie lange?«

»Der Vertrag geht bis zum Ende des Jahres. Wie es dann weitergeht, hängt von den Angeboten ab. Ich spekuliere auf einen Einsatz als Auslandskorrespondentin. Mich hat es noch nie lange an einem Ort gehalten.«

John tritt auf die Bremse und beschimpft den Wagen vor uns. Ich wünschte, er würde in seine Arbeit auch so viel Energie stecken.

»Wo kommst du ursprünglich her?«, fragt Susan.

»Aus Washington D.C. – wenn man das Weiße Haus so gut wie vor der Tür hat, kann man nicht anders, als sich für Politik zu interessieren. Das dachte ich – meine Mitschüler waren da anderer Meinung.«

Sie zupft an ihrem Blazer. »Das Problem hatte ich auch. Wenn man den Lehrern zuhört, statt die ganze Zeit über Jungs zu reden, wird man direkt als Streber abgestempelt.«

»Die Streber kommen im Leben weiter. Und Jungs sind der Teil vom Privatleben, der am stärksten überbewertet ist.« Ich zwinkere ihr zu. »So, jetzt stelle ich dir mal ein paar Fragen. Was verbindet dich mit dieser Boyband?«

Susan schaut mit einem verlegenen Grinsen auf ihre Hände. »Ich höre das manchmal zum Abschalten.«

»Dann geht es dir also wirklich nur um die Musik?«

Sie grinst noch breiter. »Na ja, hässlich sind die ja nicht. Vor allem Nolan.«

Ich durchforste die Informationen, die ich mir heute angelesen habe, nach Details über das Bandmitglied. »Ist das der Älteste?«

»Ja. Er ist 23.«

»Offiziell. In Wirklichkeit ist er zwei Jahre älter.«

»Was? Warum lügt er seine Fans an?« Susan wirkt ernsthaft schockiert.

»Vermutlich hatten sie Angst, dass er den Teenagern sonst zu alt ist.« Ich zucke die Schultern. »Solche Kleinigkeiten interessieren die Boulevardpresse nicht, weil es dort nicht um Fakten, sondern um Unterhaltung geht. Versteh mich nicht falsch: Auch seriöser Journalismus ist nichts anderes als Storytelling. Aber Informationen sollten der Kern jeder Geschichte sein – wahre Informationen.«

Es wird dunkel, da wir in das Parkhaus der Plattenfirma Stolen Hearts Records fahren. John rast wie ein Wahnsinniger die Serpentinen hinunter. Susan hält sich an der Tür fest. Sie wirkt ein bisschen blass um die Nase.

Es dauert eine Weile, bis er einen Parkplatz gefunden hat. Im Eiltempo springen wir aus dem Auto und holen das Equipment aus dem Kofferraum: Zwei Kameras, ein Stativ, und eine Tasche mit der Tonausrüstung. Ich gebe Susan das Stativ und nehme mir eine der Kamerataschen.

»Michael, nimm die zweite Kamera«, verlangt John, nachdem er sich die andere Kameratasche geschnappt hat. »Du kannst nicht von einer Frau verlangen, sowas zu tragen.«

»Keine Sorge, das schaffe ich«, erwidere ich kühl.

»Schau dich mal an. Wer so klein und schmal ist, sollte keine schweren Sachen tragen. Nicht, dass was kaputt geht und das mit dem Kinder kriegen nicht mehr klappt. In deinem Alter hatte meine Frau schon zwei.«

»Dein Mitgefühl rührt mich, John. Meine Familienplanung braucht dich aber nicht zu interessieren.« Ich habe schon einmal den Fehler gemacht, sein antiquiertes Frauenbild mit Argumenten anzugreifen. Die kommunikative Schlacht endete in einem Stellungskrieg. Johns Weltbild ist genauso immun gegen den Fortschritt wie seine Kameraführung.

Michael beruft sich wie immer auf seine Schweizer Wurzeln und hält sich aus der Diskussion heraus. Er nimmt sich die Tontasche, klappt den Kofferraum zu und folgt mir zusammen mit Susan durch das Parkhaus. John schließt sich uns widerwillig an. Mit dem Aufzug geht es ins Erdgeschoss von Stolen Hearts Records, wo ich mich am Empfang melde und meinen Presseausweis vorzeige. Die Frau schickt uns in die achte Etage. Dort angekommen, rennen wir so schnell durch die Gänge, wie es mit der Kameratasche über den Schultern möglich ist. Der Konferenzraum ist ausgeschildert, sodass wir ihn leicht finden. Die Tür ist jedoch wie erwartet geschlossen. Ein breiter, schwarz gekleideter Sicherheitsangestellter steht davor und beäugt uns mit gerunzelter Stirn. »Die Pressekonferenz hat schon angefangen. Sie können da nicht mehr rein.«

»Wir sind von den LAC1 News.« Ich halte ihm meinen Presseausweis unter die Nase.

»Na und?«

»Wenn Ihr Chef erfährt, dass Sie eine Sendung mit unserer Einschaltquote nicht reingelassen haben, wird er wenig erfreut sein.«

»Kommen Sie das nächste Mal pünktlich.«

Ich verdrehe innerlich die Augen. Denkt er, es macht mir Spaß, unpünktlich zu sein? Es gibt wenig, das ich mehr hasse.

»Hören Sie, Boygroups gehören normalerweise nicht zu den Themenschwerpunkten unserer Nachrichtensendung. Wir haben in diesem Fall eine Ausnahme gemacht, weil Forgotten Promise einen gewissen Erfolg vorweisen kann. Das heißt aber nicht, dass wir den Bericht unbedingt bringen müssen. Im Anschluss habe ich ein Exklusiv-Interview mit der Band. Es liegt an Ihnen: Entweder Sie lassen uns rein oder ich sage das Interview ab und wir berichten überhaupt nicht darüber.«

Der Sicherheitsmann kratzt sich nervös an der Nase. »Ich habe die Anweisung bekommen, dass Störungen vermieden werden sollen.«

»Wir haben nicht vor zu stören. Aber gut, dann fahren wir weiter zum nächsten Termin.« Ich stelle Blickkontakt mit Michael her, woraufhin er sich zum Gehen wendet.

Das macht die Irritation meines Gegenübers komplett. Vor zwei Stunden habe ich mit meiner Promi-begeisterten Freundin Megan telefoniert. Die konnte gar nicht glauben, dass ich auf die Schnelle ein Exklusiv-Interview mit ihrer Lieblingsboygroup bekommen habe. Klatschzeitungen reißen sich darum. Ein arrogantes Kamerateam wie wir, das den Mann nicht auf Knien anfleht, es reinzulassen, scheint dem Sicherheitsangestellten ungeheuer zu sein.

»Also gut«, gibt er schließlich nach und öffnet die Tür.

Im Inneren des Raumes werden wir vom Klicken der Kameras begrüßt. Ich suche automatisch nach einem guten Ort in dem Gedränge, an dem wir unsere Kamera aufstellen können. Die vier Bandmitglieder sitzen an einem langen, schmalen Tisch, dessen Vorderseite so verkleidet ist, dass ihre Beine verdeckt sind. Von uns aus gesehen rechts redet ein Mann, den ich nicht zuordnen kann. Vermutlich ist das der Pressesprecher der Band.

»… und deswegen können wir Ihnen versichern, dass kein interner Streit zu Codys Ausstieg geführt hat«, erklärt er. »Wir haben uns mit ihm zusammengesetzt und lange darüber diskutiert, welche Möglichkeiten wir für seine künstlerische Entfaltung sehen. Leider ist es aber so, dass er musikalisch eine neue Richtung einschlagen möchte.«

Endlich habe ich einen passablen Ort für die Kamera gefunden. Ich winke Susan heran, damit sie mir das Stativ gibt. Susan bahnt sich einen Weg durch die Menge. Statt auf ihre Füße zu achten, konzentriert sie sich aber auf die jungen Männer hinter den Mikrofonen.

Ihr Liebling ergreift das Wort. »Unsere Fans können sich darauf verlassen, dass alles beim Alten bleibt«, sagt er. »Wir gehen wie geplant auf Tour und bringen die Fans zum Kochen.«

In dem Moment, als er einer Frau in der ersten Reihe zuzwinkert, ertönen ein dumpfer Laut und ein entsetztes: »Pass doch auf!«

Als ich mich umdrehe, bemerke ich Susan mit dem Stativ auf dem Boden. Ein Mann hält seine Kamera fest und wirft Susan giftige Blicke zu. Ich eile zu ihr und helfe ihr hoch. Ein Raunen geht durch die Menge, das auch die Aufmerksamkeit der Boyband erregt.

»Bin ich so umwerfend?«, fragt Susans Schwarm mit einem überheblichen Grinsen. Unsere Praktikantin starrt ihn an, als wolle sie gleichzeitig Luftsprünge machen und im Boden versinken. Kaum zu glauben, dass dieser Mann 25 Jahre alt sein soll – er sieht aus wie ein Teenager.

Während Susan um Fassung ringt, bauen John, Michael und ich im Eiltempo Kamera und Ton auf. Viel spannendes Bildmaterial entgeht uns nicht, da der PR-Mensch lediglich Werbung für die kommenden Auftritte macht.

Als wir fertig sind, ergreift Mitch Summerhill das Wort. Er sieht aus wie der Prototyp eines Schwiegermutter-Lieblings: Goldblond, mit einem zuckersüßen Lächeln und einer schüchtern klingenden Stimme. »Wir vermissen Cody sehr. Aber ich bin mir sicher, dass wir trotzdem gute Freunde bleiben. Wer weiß, vielleicht kommt er ja zu uns zurück, wenn er merkt, dass die Musik gemeinsam mit uns mehr Spaß macht.«

Einige Journalisten lächeln verzückt. Die wir-haben-uns-alle-lieb-Botschaft scheint sie zu besänftigen. Ich weiß jetzt schon, dass ich das nicht mit in den Beitrag nehmen werde. Dieser Cody Whitman wäre bestimmt nicht ausgestiegen, wenn alles so harmonisch ist, wie die anderen behaupten.

»Gibt es noch Fragen?«, leiert der PR-Mensch herunter. Ein Kanon an Stimmen bricht los. Er hebt abwehrend die Hände. »Nacheinander bitte. Ja, Sie da vorne.«

»Nolan, stimmen die Gerüchte, dass Cody ausgestiegen ist, weil du ihm die Freundin ausgespannt hast?«, fragt eine Frau mit nervtötend piepsiger Stimme.

»Das ist Unsinn. Cody und ich sind beide Singles und haben einen sehr unterschiedlichen Geschmack, was Dates betrifft.«

Eine weitere Frau meldet sich. »Du wurdest letztens zusammen mit Britney Spears gesehen. Läuft da was?«

Nolan Warwick grinst vielsagend. »Wer weiß.«

»Courtney Pérez meinte letztens in einem Interview, dass sie von einer Nacht mit dir träumt.«

Er lehnt sich zurück und fährt sich in einer großspurigen Geste durchs Haar. Es ist braun und kurz, mit einer viel zu langen Strähne, die ihm vorne ins Gesicht fällt. »Sagen wir’s so: Ich bin für alles offen.«

»Mitch, hast du inzwischen die Trennung von deiner Ex-Freundin überwunden?«

Mitch lächelt traurig. »Langsam tut es weniger weh. Ich hoffe, mich bald auf eine neue Liebe einlassen zu können. Bisher habe ich die Richtige aber noch nicht gefunden.«

Am liebsten würde ich kommentarlos den Raum verlassen. Unsere Lehrer behaupteten immer, dass es keine dummen Fragen gibt, aber ich bin da anderer Meinung. Die Band droht, sich aufzulösen und die Kollegen interessieren sich nur für Bettgeschichten? Ich werde nie verstehen, warum Megan sich trotz Harvard-Abschluss für die Boulevardpresse entschieden hat. Eigentlich wollte ich mir meine Fragen für das Interview aufsparen. Allerdings werde ich keine zwei Sekunden brauchbares Material von der Pressekonferenz zusammenbekommen, wenn ich mich auf die Fragen der anderen verlasse. Also hebe ich meinen Arm und warte darauf, vom Pressesprecher aufgerufen zu werden.

»Cody Whitman war der Frontsänger der Gruppe. Wer wird die Rolle jetzt übernehmen?«, frage ich.

Die Bandmitglieder werfen sich unbehagliche Blicke zu. Schließlich antwortet der Pressemensch: »Da der Ausstieg erst einen Tag zurückliegt, muss sich Forgotten Promise erst sammeln und neu strukturieren.«

»Das bedeutet aber, dass die Musik in Zukunft anders klingen wird, richtig?«

»Bitte nur eine Frage pro Person.«

Ich ignoriere seinen Einwand und schiebe hinterher: »Wird eines der bestehenden Mitglieder den Lead-Gesang übernehmen oder suchen Sie nach einem neuen Mitglied?«

»Das steht noch nicht fest.«

»In der Washington Column Daily erschien neulich ein Artikel mit dem Titel: Der Tod von Boygroups im neuen Jahrtausend. Nigel Brown stellt darin die These auf, dass Boygroups ein Relikt der 90er sind und allmählich von der Bildfläche verschwinden. Was sagen Sie dazu?«

Die Herren hinter den Mikrofonen sagen erst einmal gar nichts. Obwohl wir einige Meter von ihnen entfernt stehen, erkenne ich Schweißperlen auf der Stirn des PR-Mannes. »Dieser Artikel ist mir nicht bekannt«, behauptet er.

»Sie können trotzdem Ihren Standpunkt kundtun.«

Es herrscht einige Sekunden angespanntes Schweigen, durchbrochen vom gelegentlichen Hüsteln der Journalisten.

Schließlich ergreift David »Dave« Brown das Wort: »Es hängt von unseren Fans ab, wie lange es uns noch gibt.«

Sein Kollege Travis Manson ergänzt: »Wir werden unserem Stil treu bleiben, aber uns natürlich auch weiterentwickeln.«

»Tatsächlich? Wie sieht das konkret aus?«, bohre ich nach.

Damit habe ich offenbar die Geduld des PR-Experten überstrapaziert. »Unsere Zeit ist abgelaufen«, verkündet er mit gespieltem Bedauern. »In den nächsten Tagen haben Sie die Möglichkeit, Einzelinterviews anzufragen. Darüber hinaus informieren wir Sie natürlich über Neuigkeiten.« Er steht auf, woraufhin die Bandmitglieder seinem Beispiel folgen. Die Kollegen brüllen weitere Fragen durch den Raum, doch die Band verschwindet, von einem Bodyguard begleitet, wortlos durch eine Hintertür.

Nachdem sie verschwunden sind, werde ich von hasserfüllten Blicken durchbohrt. Offenbar habe ich den anderen die Möglichkeit genommen, weitere schlüpfrige Gerüchte zu überprüfen. Eine absurde Farce – selbst wenn die Geschichte nicht wahr ist, setzt die Regenbogenpresse sie trotzdem auf die Titelseite.

Mein Team und ich sehen zu, so schnell wie möglich einzupacken und aus dem Raum zu kommen. Im Flur lassen Michael und John das Equipment bei Susan und mir. Sie machen sich gemeinsam auf die Suche nach Kaffee. Susan scheint sich noch immer nicht von dem Vorfall erholt zu haben. Ihre Hände zittern leicht und sie meidet Blickkontakt.

»Was ist eben passiert?«, frage ich.

Susan spielt mit einem silbernen Ring an ihrem Mittelfinger. »Der Trageriemen einer Tasche lag im Gang und ich bin daran hängengeblieben.«

»Das kommt vor. Jetzt kennst du zumindest die oberste Regel bei Pressekonferenzen: Pass auf deine Füße auf.«

Susan versteckt ihr Gesicht in den Händen. »Das war furchtbar peinlich! Nolan hält mich jetzt bestimmt für ein Trampeltier.«

»Der hat den Vorfall schon wieder vergessen.«

»Vielleicht.« Die Praktikantin seufzt. »Dieser Moment, als er mich angesehen hat … o mein Gott, diese blauen Augen! Er sieht einfach unfassbar gut aus.«

»Das trifft auf alle zu. Forgotten Promise wird nicht umsonst als die schönste Boygroup am Markt bezeichnet.« Ich verkneife mir den Zusatz, dass genau das ihr simples Erfolgsgeheimnis zu sein scheint. Musikalisch hat die Band kaum Wiedererkennungswert.

»Ich weiß nicht, wie ich das Interview überleben soll«, sagt Susan gequält. »Was ist, wenn er sich an mich erinnert?«

»Was wäre so schlimm daran? Wenn du Journalistin werden möchtest, darfst du dich von niemandem verunsichern lassen. Blende Macht, Geld und Ruhm aus und versuche den Menschen hinter der Fassade zu sehen.«

Susan schüttelt den Kopf. »Wie soll das funktionieren?«

»Ich führe mir vor Augen, dass diese Menschen auch auf die Toilette gehen müssen, manchmal krank im Bett liegen und im Stau stehen.«

»Ich wette, dass Nolan selbst dabei noch gut aussieht. Aber ich versuch’s.« Sie denkt einen Augenblick lang nach. »Ich fand echt beeindruckend, wie du deine Fragen durchgeboxt hast, obwohl der ganze Saal wollte, dass du den Mund hältst. Hast du ein Geheimrezept, wo man diese Selbstsicherheit herbekommt?«

»Das muss man einfach üben. In deinem Alter hatte ich immer Angst davor, Leuten auf die Nerven zu gehen. Ich wollte niemanden belästigen, niemandem Umstände machen. Sei demütig und bescheiden, das hat man uns damals im Mädcheninternat eingeredet. Mit dieser Einstellung gerät man im Berufsleben unter die Räder. Am College hat mich die Dozentin und Journalistin Jessica Kingston zur Seite genommen und gesagt: Elizabeth, du musst den Mund aufmachen. Wenn du etwas wissen willst, nimm dir die Information. Ich garantiere dir, dass du damit Leuten auf die Füße trittst – aber anderen Leuten öffnest du mit diesen Informationen die Augen. Schau dir an, was Schweigen in Diktaturen angerichtet hat. Unsere Aufgabe ist es, Menschen die rosafarbenen Brillen von den Augen zu reißen, die Politiker und andere Machtträger ihnen aufsetzen.«

Susan nickt mit abwesender Miene.

Nach einigen Minuten kommen John und Michael zurück. Michael hat Susan und mir Kaffee mitgebracht. Nachdem wir den ausgetrunken haben, machen wir uns auf den Weg in den dritten Stock. Der Pressekontakt hat mir die Raumnummer vor etwa vier Stunden am Telefon durchgegeben.

Die Tür wird von innen geöffnet. Es ist der junge Mann, der auch die Pressekonferenz geleitet hat. Bei meinem Anblick rutscht ihm das Grinsen aus dem Gesicht und weicht einem Stirnrunzeln. »Oh, Sie sind das.«

»Elizabeth Richards von den LAC1 News.«

Der Name der Sendung ist für den Mann Anreiz genug, um mir die Hand zu schütteln und aufgesetzt fröhlich zu verkünden: »Freut mich, Sie zu treffen. Kommen Sie rein.«

NOLAN WARWICK Track 5 

4. Januar 2001, 2:30 p.m. 

 

 

Schon nach dem ersten Interview brummt mir der Schädel. Es ist verdammt anstrengend, die Mundwinkel hochzuhalten, wenn einem nicht zum Lachen zumute ist. Als Mitch eben auf der Pressekonferenz davon gesprochen hat, wie sehr wir alle Cody vermissen, hätte ich am liebsten auf den Tisch gekotzt. Oder ihn erwürgt.

Letzte Nacht habe ich kaum geschlafen, sodass die Visagistin ständig nachschminken muss, um meine Augenringe zu verstecken. Mein Kopf fühlt sich wattiert an – keine gute Voraussetzung für die Fragen der Aasgeier-Journalisten.

Wir sitzen in einem kleinen Raum auf modischen aber ekelhaft unbequemen Sesseln und warten auf die Nummer Zwei im Interview-Marathon. Sieben Interviews hat Ricky, der neue PR-Manager, eingeplant. Die dauern jeweils nur zehn Minuten, aber ich habe trotzdem keinen Bock darauf. Eben war eine Frau von der Stars in Touch hier. Sie wollte unbedingt, dass ich eine Affäre mit Courtney Pérez bestätige. Wie immer, wenn Beziehungsgerüchte über mich im Umlauf sind, habe ich mich sehr vage gehalten. Solange die Gerüchteküche brodelt, ist Forgotten Promise im Gespräch. Natürlich wäre es mir lieber, wenn die Leute über unsere Musik reden würden. Über das neue Album berichtet kaum jemand, aber wenn ich erfundene Bettgeschichten ausplaudere, schreiben sie einen langen Artikel darüber. Tja, wenn das hilft, um Fans auf unsere Konzerte zu locken, nehme ich es in Kauf. Was bleibt mir anderes übrig?

In Wahrheit habe ich das Topmodel Courtney Pérez noch nie getroffen. Auch die kurze Begegnung mit Britney Spears war kaum der Rede wert: Wir sind uns auf einer Party in London begegnet, haben gemeinsam ein Bier getrunken und das war’s.

Mein letztes richtiges Date hatte ich vor zwei Monaten. Das stand übrigens nicht in der Zeitung, weil wir beide keine Lust auf den Trubel hatten. Was Ernstes ist daraus nicht geworden. Da die Bandmitglieder offiziell Single bleiben müssen, sind Langzeitbeziehungen tabu – und wenn man sich doch darauf einlässt, sind damit jede Menge Heimlichkeiten verbunden. Inzwischen verbringe ich die wenigen freien Stunden, die ich habe, vor dem Fernseher. In letzter Zeit hänge ich auch häufig am Telefon, wo ich mir den Liebeskummer meiner Schwester Tessy anhöre. Glamour? Kann ich!

Ricky öffnet die Tür und holt die nächste Journalistin herein, die sich uns als Elizabeth Richards vorstellt. Sie erinnert mich an meine junge Biolehrerin aus der Middle School: Rotblonde, schulterlange Haare, blass, und ein Hosenanzug, der sie älter aussehen lässt als sie wahrscheinlich ist. Sie kommt mit einem Kamerateam im Schlepptau und zieht beim Anblick des Raums eine Augenbraue hoch. Statt uns anzuschauen, gleitet ihr Blick zu den Fenstern hinter uns.

»Können wir das vielleicht in einem anderen Raum drehen?«, fragt sie freundlich, aber mit einer unüberhörbaren Autorität in der Stimme.

»Das schaffen wir in zehn Minuten nicht«, verkündet Ricky.

»Dann müssen wir die Band woanders hinsetzen. Wenn wir Fenster als Hintergrund haben, gibt es beim Schnitt Probleme. Die Lichtverhältnisse sind zu wechselhaft.«

»Wechselhaft ist doch gut – passt zu unserer Karriere«, mische ich mich ein.

Die Journalistin mustert mich kritisch. »Das mag sein. Aber es wird die Zuschauer irritieren. Davon abgesehen ist das Bild im Ganzen nicht stimmig. Oder möchten Sie, dass Ihnen ein Ast aus dem Kopf wächst, Mr. Warwick?«

Ich drehe mich um. Sie hat recht. Hinter dem Fenster steht ein Baum, dessen Äste leicht im Wind schwanken.

Ich stehe auf und reibe mir die Hände. »Na schön, dann stellen wir die Sessel woanders hin.« Als ich von allen Seiten irritiert angeschaut werde, füge ich hinzu: »Was? Wir können jetzt Zeit verschwenden, indem wir lange rumdiskutieren, oder wir sorgen direkt dafür, dass alle zufrieden sind.«

»Nolan hat recht.« Dave steht ebenfalls auf und beginnt, seinen Sessel vom Fenster wegzutragen. Das ist das Gute an Dave: Wenn für ihn eine sportliche Betätigung herausspringt, ist er sofort dabei. »Wohin?«

Die Journalistin deutet auf eine Wand, an der ein riesiges Foto von der Vincent Thomas Bridge hängt. Ich schnappe mir ebenfalls meinen Sessel und stelle ihn neben Daves. Travis und vor allem Mitch ziehen nur sehr widerwillig nach. Es dauert ein paar Minuten, bis wir alles so hingestellt haben, dass die Frau zufrieden ist.

»Was meinst du?«, fragt sie die Assistentin an ihrer Seite. Die Kleine kommt mir bekannt vor.

»Hey, hast du dir vorhin wehgetan?«, frage ich, woraufhin sie mich wie ein verschrecktes Reh ansieht – ein Reh mit knallrotem Gesicht.

»Ähm, nein … mir geht’s gut.« Ihr Gesichtsausdruck sagt eher das Gegenteil, aber eine solche Reaktion ist für mich nicht neu. Keine Ahnung, was die Leute in mir sehen, aber es scheint gleichzeitig furchteinflößend und berauschend zu sein.

Die Journalistin ist wohl immun gegen das Forgotten-Promise-Syndrom. »Gut, fangen wir an«, verkündet sie.

Wir setzen uns auf die Sessel, was Ricky mit verschränkten Armen beäugt. Es schmeckt ihm offensichtlich gar nicht, dass die Journalistin die Regie übernommen hat. Sie nimmt sich einen Stuhl und stellt ihn so hin, dass er nicht im Bild steht. Bevor sie mit dem Interview beginnt, überprüft sie noch einmal die Kameraeinstellung und diskutiert leise mit ihrem Kameramann. Schließlich setzt sie sich mit einer auffällig geraden Haltung auf den Stuhl. Der Kerl, der für den Ton zuständig ist, bringt seine Tonangel in Stellung.

»Gut, können Sie mir zu Beginn noch einmal kurz zusammenfassen, warum Cody Whitman die Band verlassen hat?«, lautet ihre erste Frage. Ricky setzt zu einer Antwort an, doch die Journalistin bedeutet ihm mit einer abschneidenden Handbewegung, die Klappe zu halten. »Ich brauche Originalaussagen der Bandmitglieder.«

Mitch ist mit der Antwort leider schneller als ich: »Cody wollte einen kreativen Neustart. Wir haben ihn gebeten, bei uns zu bleiben, aber wir verstehen natürlich, dass er auch mal was Neues ausprobieren möchte.«

Ich schlucke den Ärger hinunter, der mir bei dieser Heuchelei im Hals brennt. Obwohl es das Ende von Forgotten Promise bedeuten könnte, ist Mitch doch insgeheim froh, Cody los zu sein.

»Halten Sie es für möglich, dass er sich einer anderen Band anschließt?«

»Nein, ich denke, er ist eher ein Einzelkämpfer«, behauptet Mitch mit Engelszunge. »Sein Austritt wird unsere Freundschaft aber auf keinen Fall gefährden. Cody wird immer ein Teil unseres Herzens sein.«

Gott, mein Brechreiz lässt grüßen.

Die Journalistin nickt ernst. Ihr Anblick erinnert mich daran, wie ich mit zwölf Jahren nach jeder Biologiestunde zum Pult gegangen bin, um meine Lehrerin mit Fragen aus der Reserve zu locken. Die Aufgabe der Lehrer war es, uns vor Augen zu führen, wie schlimm Sex ist und uns Enthaltsamkeit einzutrichtern. Kein Wunder, dass meine teilweise sehr expliziten Fragen sie aus dem Konzept gebracht haben. Ich wollte sie nicht ärgern oder so. Mich haben diese Fragen echt beschäftigt. Davon abgesehen war sie die mit Abstand heißeste Lehrerin der Schule. Heutzutage wäre ich nicht mehr so fies, aber hey, Teenager sind Teufel. Vor allem dann, wenn ihre Hormone im Rudel angreifen und alle Gedanken verdrängen, die nichts mit Sex zu tun haben.

»Um noch einmal auf den Artikel zurückzukommen, den ich während der Pressekonferenz erwähnt habe: Wie wollen Sie Forgotten Promise im neuen Jahrtausend auf Kurs halten?«

Ach so, dann war sie also die hartnäckige Schnüfflerin, die mit ihren Fragen in unserer offenen Wunde gebohrt hat.

»Für uns ist Forgotten Promise nicht bloß eine Band, sondern unser Leben«, melde ich mich zu Wort. »Unsere Fans spüren das und teilen unsere Leidenschaft.«

»Es heißt ja, dass die Entstehungsgeschichte ausgedacht ist und Forgotten Promise gecastet wurde. Stimmt das?«

Jetzt muss ich wieder mit dem Lügen anfangen. »Die Anschuldigungen sind natürlich Unsinn. Wir waren schon vor Forgotten Promise befreundet. Klar, der Erfolg hat uns weiter zusammengeschweißt. Deswegen sind wir sicher, dass wir auch diese Krise meistern werden.«

»Sie geben also zu, dass es eine Krise ist?«