Herzschlagzeilen - Jutta Wilke - E-Book

Herzschlagzeilen E-Book

Jutta Wilke

4,3

Beschreibung

Isa träumt von einer Karriere als Starjournalistin. Die Titelstory ihres Lebens ist zum Greifen nah, als sie glaubt, Zeuge einer geplanten Entführung geworden zu sein. Das vermeintliche Opfer ist ihr Mitschüler Marc, Sohn des Oberbürgermeisters und stinkreich. Isa macht sich mit Feuereifer daran, Marc zu beschatten. Bevor sie mit der Enthüllungsstory an die Öffentlichkeit gehen will, möchte sie mehr über ihn herausfinden. Leider bleibt Marc ihr Interesse an seiner Person nicht verborgen und in der Not spielt Isa die glühend Verliebte. Marc beißt an und bald weiß Isa nicht mehr, wo ihr der Kopf steht.

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ISBN 978-3-649-61808-9 (eBook)

eBook © 2014 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

ISBN 978-3-649-61025-0 (Buch)

© 2014 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Text: Jutta Wilke, vertreten durch:

Literatur Agentur Hanauer, München

Umschlaggestaltung: Anna Schwarz, unter Verwendung von Bildern von

© Pink Pueblo, Anastasiia Kucherenko und Stacey Walker

Falls es uns nicht gelungen ist, die Rechteinhaber zu ermitteln, bitten wir diese, sich mit uns in Verbindung zu setzen

Lektorat: Christina Neiske, Sara Mehring

Satz: Sabine Conrad, Rosbach

www.coppenrath.de

Kiki!!!«

Ich starre mit offenem Mund auf den Monitor. Der Sonntag hat eigentlich gut angefangen. Warum konnte ich die Finger nicht von meinem Notebook lassen?

Früher, als Kiki ihre Bücher einfach nur gelesen hat, war noch alles in Ordnung. Aber dann hat sie Youtube entdeckt. Und seitdem wollte sie nur noch eins: vor die Kamera. Keine Ahnung, wo sie auf einmal eine Webcam herhatte, auf jeden Fall fing meine kleine Schwester plötzlich an, Vlogs zu drehen und zu veröffentlichen.

Unsere Eltern wussten anfangs nicht einmal, dass ein Vlog ein Blog in Videoform ist, aber sie fanden es total toll, dass Kiki das macht. Selbst Papa, der allem, was mit dem Internet zu tun hat, superkritisch gegenübersteht, findet diese Vlogs gut. Weil es wichtig ist, junge Menschen zum Lesen zu bringen, sagt er immer. Was ja okay ist. Aber kommt es nicht auch ein bisschen darauf an, was sie lesen?

Auf meinem Monitor zwitschert Kiki inzwischen fröhlich weiter: »Und nicht vergessen: In der nächsten Folge verrate ich euch, was ihr tun müsst, um den Traum eurer schlaflosen Nächte auch wirklich rumzukriegen.«

Irgendwo links oben im Bild blinkt eine kursive Schrift auf:

Die 10 ultimativen Flirtregeln! Nur in diesem Vlog!

Verziert ist das Ganze mit pinkfarbenen Herzchen, die wie Schneeflocken um die Einblendung tanzen.

»Bis zum nächsten Mal! Eure …«

Flirtregeln. Von meiner 13-jährigen Schwester! Ich stöhne und drehe den Ton ab. Kikis Vlogs werden immer kitschiger. Aber selbst das würde ich aushalten, wenn sie sich damit auf ihre Zimmerhälfte beschränken würde.

Schlimm genug, dass Kiki und ich uns überhaupt ein Zimmer teilen müssen. Ich meine, wer will schon mit seiner kleinen Schwester zusammenwohnen?

Es ist ja nicht so, dass ich Kiki nicht lieb habe. Meistens jedenfalls. Doch Kiki vergöttert One Direction. Und ganz besonders Harry Styles. Nichts gegen diesen Wunderknaben, aber muss er deswegen gleich bei uns einziehen?

Meine Schwester hat in ihrer Zimmerhälfte von Hand eine Bordüre mit lauter roten Herzen auf die Wände gemalt und irgendwo zwischen diesen Herzchen hängt ein Originalautogramm von Harry Wunderknabe Styles. In einem pinkfarbenen Rahmen! Und über ihrem Bett prangt ein Poster von Edward und Bella, um das Kiki eine Lichterkette drapiert hat. Eine Lichterkette! Um einen Vampir!

Kiki steht aber nicht nur auf Harry und Edward, sondern auch auf Romane. Und zwar ausschließlich auf Liebesromane. Und weil Mama ebenfalls auf Liebesromane steht, beglückt sie meine Schwester fast täglich mit weiterem Material aus dem Buchladen, in dem sie arbeitet.

Ich begreife einfach nicht, was die beiden an diesen Schnulzen finden. Die sind doch alle gleich.

Kiki auf dem Monitor ist inzwischen zum Standbild eingefroren, ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Sie hat ihren neuesten Beitrag nämlich in meiner Zimmerhälfte gedreht, und das ist echt das Allerletzte! Jetzt denken meine Freunde vermutlich, dass ich neuerdings auf Lichterketten und Liebesromane stehe. Wenn ich Kiki in die Finger bekomme!

Wo ist sie überhaupt? Am liebsten würde ich sie gleich … Doch das Klingeln meines Handys unterbricht meine Rachepläne. Handy – nicht Smartphone! Eins von den Dingen, die mein Vater absolut überflüssig findet. Smartphones schränken die Kommunikation ein und machen einsam. Seine Meinung. Irgendwie ist es an ihm vorbeigegangen, dass die Postkutsche nicht mehr fährt und Menschen heute eben zum Handy greifen, wenn sie sich etwas Wichtiges mitteilen wollen.

Kiki und ich können daher schon dankbar sein, dass wir von ihm je so ein einfaches billiges Prepaid-Teil bekommen haben, und auch das nur, »damit ihr im Notfall Hilfe rufen könnt«.

Lediglich mein Bruder Colin hat inzwischen ein iPhone. Ein gebrauchtes zwar, aber immerhin. Dafür hat er in den letzten Ferien aber auch täglich im Getränkemarkt geschuftet.

Ich schnappe mir das Handy, werfe einen Blick aufs Display und lasse mich mit dem Telefon am Ohr aufs Bett sinken.

»Hallo, Nina, was gibt’s?«

Eigentlich will ich es gar nicht wissen, denke ich noch, als Nina schon loslegt.

»Hallo, Süße. Ich hab mir gerade das neue Video von deiner Schwester angesehen.«

»Ja, und?« Bitte sag jetzt nichts. Bitte!

»Sag mal, hat deine Schwester neu dekoriert oder hat sie das tatsächlich in deiner Zimmerhälfte gedreht?«

Ich stöhne auf.

»Nein, Kiki hat nicht neu dekoriert. Oder doch. Aber nicht bei sich, sondern in meiner Hälfte.«

»Okay. Sieht ja auch ganz gut aus mit der Lichterkette.«

Ich halte die Luft an, um nicht zu schreien, während meine Freundin munter weiterplaudert.

»Aber die Bücher da in deinem Regal, die liest du jetzt nicht wirklich, oder?« Sie kichert.

»NINA!«, schreie ich jetzt doch. »Nein, die lese ich nicht wirklich und die stehen zum Glück auch nicht mehr in diesem Regal!«

Ich blicke neben mich. Auf der Bettdecke liegen wild verstreut ein paar Bücher mit rosafarbenen und hellblauen Glitzercovern. Ich hatte sie mit einer einzigen Armbewegung von meinem Wandregal runtergefegt, als ich ins Zimmer kam, noch bevor ich mir Kikis Vlog überhaupt angeschaut hatte. Die Lichterkette, die meine Schwester um meine Weltkarte gehängt hatte, windet sich jetzt in einem wilden Knäuel mitten auf den Büchern. Nur die roten Herzchen, die sie kreuz und quer auf die Karte geklebt hat (auf meine Karte!), habe ich noch nicht abbekommen.

Und ich befürchte auch, die gehen nicht mehr ab. Meine Schwester kann sich also gleich nach einer neuen Weltkarte für mich umsehen.

Kikis Zettel, den ich auf meinem Schreibtisch gefunden habe, halte ich immer noch zusammengeknüllt in meiner Faust.

Hallo, Schwesterherz,

wenn dir die neue Deko gefällt, schenke ich sie dir.

Sieht doch so gleich viel gemütlicher und

nicht mehr so nüchtern aus, findest du nicht?

Kuss

Kiki

Nein! Das finde ich nicht. Das finde ich ganz und gar nicht.

»Isa, bist du noch da?«

»Ja, bin ich. Und ich bin kurz davor, einen Mord zu begehen«, knurre ich ins Handy.

»Ach, Süße, reg dich doch nicht so auf. Kiki hat es bestimmt nicht böse gemeint. Und du musst zugeben, für diesen Roman war die Weltkarte der passende Hintergrund.«

Klar. Jemand, der Romane wie Ich folge meinem Herz um die Welt toll findet, mag das so sehen.

»Außerdem bin ich echt gespannt auf die Flirttipps deiner Schwester«, plappert Nina unbeirrt weiter. »Nicht, dass ich sie ausprobieren möchte, aber … na ja … falls mir doch mal ein Vampir begegnet …«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, falle ich ihr ins Wort.

Ich muss mich echt beherrschen, Nina nicht schon wieder anzuschreien. Schließlich kann meine Freundin ja nichts dafür, dass meine kleine Schwester für ihre neueste Buchbesprechung einfach meine Zimmerseite benutzt hat.

Ich mag Nina wirklich sehr. Genau genommen ist sie meine allerbeste Freundin. Wir sind nicht nur in derselben Klasse, lieben die gleichen Eissorten (Mango, Mango und noch mal Mango) und hören die gleiche Musik, sondern wir sind auch beide im Redaktionsteam unserer Schülerzeitung. So was schweißt zusammen. Und alles könnte ganz wunderbar sein, gäbe es da nicht dieses eine kleine Problem. Und das heißt Vampire. Nina liebt Vampire über alles. Ich dagegen finde sie vollkommen überflüssig. Ich verstehe einfach nicht, was an blassgesichtigen Jungs mit blutunterlaufenen Augen so toll sein soll. Wahrscheinlich liegt das Problem darin, dass diese Typen sich nie in einem Spiegel sehen können. Sonst würden sie sich vielleicht mal Gedanken über ihr Äußeres machen. Ich frage mich auch, warum um alles in der Welt man die ganze Zeit auf irgendeiner langweiligen Highschool abhängen sollte, wenn man unsterblich ist. Ich meine, hallo, ich bin froh, wenn ich mit der Schule endlich fertig bin und was Richtiges machen kann. Es ist mir echt ein Rätsel, warum ein 400 Jahre alter Vampir noch freiwillig mit lauter Teenies zur Schule gehen will.

Ich hatte das Phänomen Vampire in der Literatur letzten Monat für unsere Schülerzeitung aufgearbeitet und von allen Seiten kritisch hinterfragt. Der Artikel war wirklich gut, aber Nina hat sich total darüber aufgeregt, und auch Luke meinte dann, so was könnten wir nicht bringen, ohne einen ganz großen Teil unserer Leserinnen einzubüßen.

Luke gehört ebenfalls zu unserer Redaktion und heißt eigentlich Lukas. Aber wegen seiner Star-Wars-Leidenschaft wird er von uns Luke genannt. Wenn es nach ihm ginge, wäre unsere Schülerzeitung schon komplett zu einem Star-Wars-Fanmagazin mutiert, andere Themen kennt er kaum. Die Konferenz hat dann mit zwei Stimmen gegen eine beschlossen, den Artikel zu streichen. Feige Bande.

Um Nina wieder zu beruhigen, musste ich mein komplettes Taschengeld in Mango-Eisbecher investieren. Seitdem ist zwar unsere Freundschaft wieder gekittet, aber das Thema Vampire zwischen uns einfach tabu.

»Was willst du jetzt machen?«

Nina hat wohl auch gemerkt, dass sie mit mir besser nicht weiter über die Lichterkette in meinem Zimmer diskutieren sollte.

»Inzwischen dürfte die halbe Schule Kikis neuestes Video gesehen haben«, fährt sie fort.

»Musst du unbedingt noch Salz in meine Wunden streuen? Sag mir lieber, wo Kiki ist.«

»Ich hab keine Ahnung, wo deine kleine Schwester steckt, und wenn ich es wüsste, würde ich es dir vermutlich nicht sagen. Irgendjemand muss sie ja vor dir schützen.«

»Wenn ich könnte, würde ich dieses Video bei Youtube löschen. Aber ohne Kikis Zugangsdaten geht da gar nix.«

»Was hältst du von einem Artikel in der nächsten Brennpunkt?«

Brennpunkt ist der Name unserer Schülerzeitung, und ich habe keine Ahnung, was die mit Kikis Video zu tun hat.

»Was für ein Artikel?«

»Du könntest einen Artikel über Videoblogs machen. Natürlich einen positiven, weil …

»Warum sollte ich das tun?«, falle ich Nina sofort ins Wort. Ich bin immer noch auf hundertachtzig.

»Weil die Mehrheit unserer Leser nun mal auf diese Vlogs steht«, gibt sie zu bedenken. »Und weil es die Auflage unserer Zeitung vermutlich drastisch erhöhen würde, wenn wir einen Artikel darüber bringen.«

»Hat Luke das vorgeschlagen?« Bei mir schrillen sofort sämtliche Alarmglocken. Normalerweise ist Luke derjenige in unserem Team, der in jedem zweiten Satz das Wort Auflagenhöhe verwendet.

»Quatsch, Luke hat damit überhaupt nichts zu tun. Wenn du den glücklich machen willst, solltest du einen Artikel über R2D2 und sein instabiles Verhältnis zu einer Senseo-Kaffeemaschine schreiben oder über die Populationsdichte der Ewoks auf Endor unter Berücksichtigung der totalen Abwesenheit von Fastfood-Restaurants. Ach, Süße, ich überlege doch nur, wie ich dir helfen kann.«

»Mir ist nicht zu helfen. Wie du schon sagtest: Die halbe Schule hat vermutlich längst dieses Video gesehen und morgen wird es auch die andere Hälfte sehen. Und alle werden denken, dass ich in meinem Zimmer eine Lichterkette und Glitzerbücher habe.«

»In dem Artikel könntest du es so darstellen, als hättest du Kiki das vorgeschlagen«, wirft Nina ein.

»Ich ihr vorgeschlagen?« Ich fasse es nicht. »Warum in aller Welt sollte ich denn so etwas vorschlagen?«

»Zu Recherchezwecken«, antwortet Nina unbeeindruckt von meiner Lautstärke.

»Recherchezwecke?« Ich verstehe nur noch Bahnhof.

»Du könntest in dem Artikel berichten, wie du deiner Schwester gestattet hast, dein Zimmer umzudekorieren, um die Wirkung eines passenden Hintergrunds auf die Klickquote eines Vlogs zu recherchieren.«

»Ich habe ihr aber nicht erlaubt umzudekorieren!« Langsam verliere ich meine Geduld.

»War ja nur ein Vorschlag. Denk einfach mal drüber nach. Ich muss jetzt los, mein Hero wartet.«

Zum Glück weiß ich, dass Hero Ninas neues Pflegepferd ist. Nina träumt von einem eigenen Pferd, seit ich sie kenne, aber dafür hat ihre Familie einfach nicht genug Geld. Seit einem Jahr darf sie sich jetzt aber dreimal in der Woche um Hero kümmern, das heißt Stall ausmisten, pflegen, füttern und regelmäßig mit ihm trainieren. Nina ist richtig verliebt in dieses Pferd. Aber eben auch nur in das Pferd.

Sonst hätte ich jetzt völlig an dem Verstand meiner allerbesten Freundin gezweifelt. Auch wenn Nina gern Vampirromane liest, sind wir uns nämlich in einem weiteren Punkt absolut einig: Jungs mögen ja nett sein, würden aber unserer Karriere nur im Weg stehen. Weder ich als zukünftige Journalistin noch Nina, die Tierärztin werden will, haben Lust, viel Zeit in irgendwelche komplizierten Beziehungen zu stecken. Ehrlich. Nicht, dass Jungs nicht ganz in Ordnung sind. Das schon. Na ja, hin und wieder zumindest. Aber die ganzen Mädchen um uns herum, die offensichtlich ihr Hirn mit Beginn der Pubertät eingebüßt haben und sich plötzlich benehmen wie Zweijährige, nur weil ein Junge aus der Oberstufe sie angeguckt hat, sind uns völlig suspekt.

Seit zum Beispiel Melanie in diesen Benny verschossen ist, hat sie im Unterricht ungefähr hunderttausend Herzchen mit einem B drin vor sich hin gekritzelt und kann selbst einfache Fragen nach der Uhrzeit nicht mehr beantworten. Sie schleicht durch die Gänge wie eine Schlafwandlerin, und wenn Benny ihr tatsächlich begegnet, steht sie jedes Mal vor ihm wie ein Fisch, der auf dem Trockenen nach Luft schnappt. Das ist einfach nur peinlich!

Oder Bea. Erst strich sie wochenlang wie eine rollige Katze um Tims Beine, und als Tim dann eines Morgens mit Ulla knutschend bei den Fahrradständern stand, rasierte sie sich ihre langen blonden Haare ab, färbte die verbliebenen Stoppeln schwarz und verkündete, jetzt lesbisch zu sein. Am schlimmsten hat es aber Chris aus unserer Klasse erwischt. Die hat sich Kevins Namen sogar auf den Unterarm tätowieren lassen. Heimlich. Ihre Eltern sind völlig ausgerastet, als sie das gesehen haben, und Kevin ist vier Wochen später sowieso mit seiner Familie in eine andere Stadt gezogen. Jetzt ranken sich die Buchstaben seines Vornamens als Blütenblätter getarnt um das neue Tattoo auf Chris’ Arm.

So etwas wird uns definitiv nie passieren. Das steht für Nina und mich fest.

Unser Motto lautet deshalb: Wenn ein Prinz mit einem weißen Pferd kommt, dann schnapp dir das Pferd und lass den Prinzen stehen.

»Na dann, lass deinen Helden nicht warten. Ich hab heute Nachmittag nichts vor. Sprechen wir uns später noch?«

»Klar – heute Abend bei Facebook. Ciao, und lass dich nicht ärgern.«

»Ich gebe mir Mühe.«

Ich drücke das Gespräch weg und betrachte das Chaos auf meinem Bett. Vielleicht ist Ninas Vorschlag ja doch nicht so schlecht. Wenn ich öffentlich behauptete, das alles absichtlich inszeniert zu haben, dann würde das der ganzen Katastrophe hier zumindest noch einen halbwegs seriösen Anstrich verleihen.

Wenn ich etwas unternehmen will, muss es allerdings gleich passieren. Die nächste Ausgabe der Brennpunkt erscheint viel zu spät. Mein Blick fällt auf mein Notebook. Wofür habe ich schließlich ein gut besuchtes Weblog? Die meisten Abonnenten von Kikis Vlog sind auch auf meinem Blog regelmäßige Leserinnen. Ein dezenter Hinweis darauf, dass diese Deko in meinem Zimmer ein reiner Testballon war, könnte mit Sicherheit nicht schaden.

Ich beschließe, noch heute Ninas Vorschlag aufzugreifen und einen kritischen Beitrag über Videorezensionen zu verfassen.

Dann raffe ich Kikis Zeug zusammen und schleppe es in ihre Zimmerhälfte, wo ich es mitten auf dem Teppich einfach fallen lasse. Aus den Augenwinkeln bemerke ich Edwards vorwurfsvollen Blick vom Poster herunter und kann es mir nicht verkneifen, ihm die Zunge rauszustrecken.

Als ich endlich wieder an meinem Schreibtisch sitze, logge ich mich erst mal bei Facebook ein, um nach ein paar weiteren aktuellen Themen für unsere Schülerzeitung zu suchen. Da Ninas Idee mit den Videorezensionen für die nächste Ausgabe ausscheidet, muss mir etwas Neues einfallen, denn uns fehlen auf jeden Fall noch zwei oder drei gute Artikel.

»Isa, was machst du da?«

Ich fahre herum. Papa.

»Schon mal was von Anklopfen gehört?«

Mein Vater versucht nicht einmal, schuldbewusst auszusehen.

»Sag mal, du sitzt doch nicht ernsthaft bei dem schönen Wetter den ganzen Tag vor dem Computer?«

Ich verdrehe die Augen. Erstens sitze ich erst seit einer halben Stunde hier, zweitens habe ich gerade einen interessanten Artikel gefunden und drittens ist heute Sonntag.

»Ich arbeite. Für die Schülerzeitung«, füge ich schnell hinzu, als ich den zweifelnden Blick meines Vaters sehe, der mir über die Schulter guckt.

»Schülerzeitung, hm? Bei Facebook. Mister Zuckerberg lässt grüßen.«

»Ja, ich suche nach aktuellen Themen.«

»Du weißt genau, dass ich es nicht gut finde, wenn du so viel auf dieser Seite postest.«

»Ich poste nicht, ich lese«, versuche ich einzuwenden. »Außerdem sind wirklich alle aus meiner Schule bei Facebook.«

»Und du weißt auch, dass ich es generell nicht gut finde, wenn du den ganzen Tag im Internet surfst.«

Manchmal kann mein Vater echt nerven.

»Papa, bitte, es ist Sonntag! Außerdem muss ich noch schnell einen Blogbeitrag schreiben.«

»Ein aktuelles Thema wäre das Geschirr in der Küche. Du bist dran, soweit ich weiß.«

»Was ist mit Kiki?«

»Deine Schwester und deine Mutter sind zum Buchladen gefahren. Das Schaufenster muss neu dekoriert werden und das geht sonntags nun mal am besten.«

Ich denke an die Lichterkette um meine Weltkarte und verdrehe die Augen. Jedenfalls weiß ich jetzt, wo Kiki steckt. Und ich weiß noch etwas: Wenn sie heute im Buchladen aushilft, wird sie spätestens morgen das nächste Video über irgendwelche Liebesromane drehen. Es wird also allerhöchste Zeit, meinen Blogbeitrag zu verfassen.

»Okay, ich komm gleich«, murmele ich ergeben und Papa verlässt das Zimmer.

Genervt starre ich auf den Monitor. Die Lust auf weitere Recherchen ist mir erst einmal vergangen. Reicht es nicht, dass mein Vater die ganze Woche über hier zu Hause rumhängt? Muss er auch noch am Sonntag den Hausmann spielen und alles kontrollieren?

Seit Papa diese Stelle als Streetworker angenommen hat, steht mein Leben total auf dem Kopf. Wir mussten umziehen, weil er jetzt weniger verdient als vorher. Unsere alte Wohnung war größer und einfach viel zu teuer. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, haben sich auch Papas Arbeitszeiten nach hinten verschoben. Er fängt jetzt fast immer erst am Abend an zu arbeiten und ist dann bis tief in die Nacht unterwegs. Da meine Mutter neuerdings in diesem Buchladen arbeitet, sehen sich meine Eltern kaum noch. Mag sein, dass es ihnen gut gefällt, sich so aus dem Weg zu gehen. Aber ich finde es ätzend, weil jetzt eigentlich ständig einer von ihnen zu Hause ist.

Ich gebe zu, es gab mal eine Zeit, da war ich stolz darauf, dass mein Vater keinen so normalen Beruf hat wie die Väter meiner Mitschüler. Bevor er die Stelle als Streetworker annahm, hat er als Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum gearbeitet und nebenher eine Zirkusschule für Kinder geleitet, um sie – wie er sagte – von der Straße oder der Flimmerkiste wegzuholen. Mein Vater kann Einrad fahren und jonglieren und Feuer spucken. Ich hatte die tollsten Kindergeburtstage in der ganzen Klasse.

Das mit dem Stolzsein änderte sich schlagartig an meinem dreizehnten Geburtstag. Es war meine erste richtige Party. Colin hatte Zimmerverbot, Kiki auch, und ich hatte zum ersten Mal nicht nur meine Freundinnen, sondern auch ein paar Jungs eingeladen.

Wir legten langsame Musik auf, spielten Flaschendrehen und aßen Pizza vom Pizzadienst, die Mama uns netterweise spendiert hatte. In meinem Zimmer war es so schummrig, dass man kaum noch sehen konnte, auf wen die Flasche eigentlich zeigte. Irgendwann rückte Thorsten mir immer dichter auf die Pelle, aber immerhin war ich gerade 13 geworden. Da musste schon ein bisschen mehr passieren als auf einem normalen Kindergeburtstag, auch wenn ich damals noch nicht so wirklich wusste, was ich mir unter ein bisschen mehr eigentlich vorstellte.

Thorsten hatte mich auf mein Bett gezogen und wir balancierten gemeinsam eine Pizzaschachtel auf unseren Knien. Plötzlich wanderte Thorstens Hand unter die Schachtel und schob sich zwischen meine Beine, die ich total erschrocken zusammenpresste.

Was machte er da? War ihm ein Stück Pizza runtergerutscht? Mir wurde ganz heiß vor Aufregung. Was aber vielleicht auch daran lag, dass ich gerade auf ein Stück Peperoniwurst gebissen hatte. Jedenfalls ging in dem Moment zum ersten Mal die Tür auf, jemand knipste das Licht an, und Thorsten zog seine Hand so schnell unter der Schachtel hervor, dass unsere Pizza in hohem Bogen auf dem Fußboden landete. Interessiert stellte ich fest, dass Thorstens Gesicht binnen Sekunden die gleiche Farbe annahm wie meine in Krepppapier eingewickelte Nachttischlampe.

Dann bemerkte ich den Clown, der in meiner Zimmertür stand und verwirrt von einem zum anderen schaute. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.

Auch jetzt, als Streetworker, geht mein Vater manchmal noch zu seiner alten Zirkusschule und hilft dort aus. Aber als Clown habe ich ihn seitdem nie wieder gesehen. Ich glaube, das Lachen ist ihm in seinem neuen Job gründlich vergangen. Im Grunde macht er nichts anderes, als nachts mit einem Partner durch die Straßen zu wandern und nach Menschen zu suchen, die sozusagen vom rechten Weg abgekommen sind. Betrunkene, Kiffer, Leute, die anderen in den Vorgarten pinkeln und ähnliche reizende Zeitgenossen. Heute wünsche ich mir oft, mein Vater hätte auch so einen Beruf wie die Väter meiner Klassenkameraden. Die haben Berufe, die man kaum aussprechen kann. Sie sind Cash Relation Officer oder Key Account Manager oder Solution Manager oder wenigstens Listbroker oder Vision Clearance Engineer oder sonst irgendetwas Cooles.

Papa ist neuerdings gegen fast alles, was cool ist. Facebook zum Beispiel.

Ich öffne mein Blog und klicke auf Neuer Eintrag.

Ich greife nach meiner Gabel und steche sie mit so viel Schwung in ein Stück Tomate, dass es spritzt.

»Aua!« Colin neben mir zuckt zusammen und verzieht das Gesicht. »He, die Tomate war schon tot!«

Ich beachte ihn nicht und stopfe mir das Gemüse in den Mund. Solange ich was zwischen den Zähnen habe, kann ich nicht sprechen, und solange ich nicht sprechen kann, ist meine kleine Schwester einigermaßen sicher vor mir.

Weil Mama und Kiki den halben Sonntag im Buchladen verbracht haben, hat Papa sich um das Abendessen gekümmert.

Die Kocherei ist der einzige positive Nebeneffekt an Papas neuem Job. Er kocht echt gerne und auch ziemlich gut, ganz im Gegensatz zu Mama. Sie hasst Kochen. Und ihre englische Phase, wie Papa sie nennt, hat sie letztendlich in dieser Meinung nur bestätigt. Mama hat nämlich ein absolutes Faible für alles, was englisch ist. Deshalb liest sie auch nicht einfach irgendwelche Liebesromane. Nein. Ihr unübertroffener Favorit ist Rosamunde Pilcher. Liebe, Leid und Leidenschaft gehören zusammen, sagt Mama immer. Und das alles möglichst in einem englischen Landhaus hoch über den Klippen Cornwalls, von denen sich die unglücklich Verliebten dann gerne hinunterstürzen, vorzugsweise direkt in die Arme eines jungen Mannes aus adligem Hause.

Mamas Leidenschaft verdanken wir nicht nur die weiß gestrichene Holzvertäfelung in der Küche und eine Sammlung kitschiger Porzellanfigürchen auf der Fensterbank, sondern leider auch unsere Vornamen.

Kiki heißt eigentlich Kimberly Alicia und mein richtiger Name lautet Emily Isabelle.

Keine Ahnung, was meine Eltern sich dabei gedacht haben. Mein Bruder Colin, mit vollem Namen Colin Ethan Heimbucher, meinte einmal, dass man ihnen dafür eigentlich das Sorgerecht hätte entziehen müssen. Darauf meinte Papa nur, er solle froh sein, dass Mama kein Faible für asiatische Autoren hat, sonst würden wir wahrscheinlich Phuong-Anh, Saranya-Akima und Somchai-Liang heißen und müssten jeden Tag mit Stäbchen essen. Dabei bin ich mir fast sicher, dass chinesisches Essen sehr viel besser schmeckt als das, was bei uns aufgetischt wurde, als Mama dieses Rosamunde-Pilcher-Kochbuch anschleppte.

In dieser Zeit ging unser ganzes Taschengeld für Döner drauf, sonst wären meine Geschwister und ich gnadenlos verhungert. Papa meinte damals, es sei kein Wunder, dass all diese Lovestorys in Leid und Wahnsinn gipfeln, Liebe gehe schließlich durch den Magen. Und zum Glück für uns fing er dann irgendwann an, den Kochlöffel zu schwingen.

Heute allerdings hat er nur belegte Brote gemacht und mich dazu verdonnert, Gemüse für eine Rohkostplatte zu schneiden. Dann ist er zur Arbeit gegangen. Seit er diesen neuen Job hat, muss er nicht nur nachts arbeiten, sondern oft auch am Wochenende.

Da ich Hunger hatte, beschloss ich, die Auseinandersetzung mit meiner kleinen Schwester auf später zu verschieben. Aber sobald sie und Mama sich an den Tisch gesetzt hatten, musste ich mich schwer beherrschen, nicht gleich über sie herzufallen.

Kiki scheint sich der Gefahr, in der sie schwebt, überhaupt nicht bewusst zu sein. Jedenfalls plappert sie ununterbrochen, erzählt von den Büchern, die sie ins Schaufenster gelegt hat, von den wunderbaren Covern, von dem grünen Kunstrasen mit Gänseblümchen, den sie in irgendeiner Kiste gefunden haben, und von Mamas Idee mit dem Picknickkorb zwischen den Büchern.

Ich greife zu meinem Glas Wasser, um die Reste der Tomate runterzuspülen.

»Und dann haben wir über dem Ganzen noch eine Lichterkette aus gläsernen Schmetterlingen aufgehängt«, schwärmt Kiki und ich verschlucke mich.

Ich spucke das Wasser über den Tisch, es läuft mir aus der Nase, tränt aus meinen Augen, und ich huste und huste, bis Colin mir kräftig auf den Rücken schlägt.

»Überlebst du es oder soll ich den Notruf wählen?«, fragt mein großer Bruder, während ich nach Luft ringe.

»Isa, was soll das denn? Kannst du dich nicht benehmen?« Mama sieht missbilligend zu mir rüber.

Ich röchele immer noch, aber Kiki plappert schon weiter. Und deshalb kriege ich auch gar nicht mit, dass das Telefon klingelt. Erst als ich meinen Namen höre, schaue ich auf.

»Ja sicher, Isa ist da. Sie kämpft nur gerade gegen eine dieser lästigen Killertomaten. Du weißt schon, sie greifen immer dann an, wenn man gar nicht damit rechnet.«

Colin steht mit dem Hörer am Ohr neben mir und grinst. Ich will gerade nach dem Telefon greifen, als ich schon wieder husten muss.

»Ist … das … Nina?«, ächze ich, aber Colin denkt gar nicht daran, das Gespräch zu beenden.

»Nur für den Fall, dass meine kleine Schwester nicht überlebt, kann ich dann bei euch im Brennpunkt eine Traueranzeige aufgeben?«, höre ich ihn sagen. »Und bekomme ich als Familienangehöriger eigentlich Prozente?«

»Colin«, ich springe auf und entreiße ihm den Hörer.

»Hallo? Nina, ich …« Wütend funkele ich meinen Bruder an. »Ach so, Luke, du bist es.«

Colin grinst und verdreht die Augen. Ich ramme ihm meinen Ellenbogen in die Seite.

»Isa!«, ruft Mama streng.

Ich werfe ihr nur einen finsteren Blick zu, dann verlasse ich mit dem Hörer am Ohr die Küche.

»Hi, Luke«, fange ich noch einmal an. »Was gibt es denn?«

»Hast du es überlebt?«, will Luke wissen.

»Was denn? Den Angriff der Killertomaten?«

»Das Video deiner Schwester. Nina hat mir davon erzählt.«

Ich stöhne auf. Reicht es nicht, dass so ziemlich jedes Mädchen an unserer Schule Kikis Vlog verfolgt? Muss mich Nina jetzt auch noch bei den paar Jungs, die ich kenne, lächerlich machen?

»Wenn hier einer froh sein kann, diese Aktion zu überleben, dann ist das Kiki. Und jetzt: anderes Thema«, bitte ich Luke.

»Okay, akzeptiert. Wir müssen uns treffen, dringend. In zwei Wochen soll die nächste Ausgabe erscheinen und uns fehlen immer noch einige Beiträge. Die Leserbriefe lassen auch mal wieder auf sich warten und bis jetzt hat kein einziger Schüler irgendein selbstverfasstes Gedicht abgegeben. Ich dachte, vielleicht fällt uns zusammen was ein, wenn wir ein bisschen brainstormen.«

Uns zusammen? Wo kommt das denn auf einmal her?

Vor meinem geistigen Auge sehe ich Luke, mit seinen roten Haaren und seinen Sommersprossen. Hätte er nicht dieses Faible für Star Wars, könnte er glatt als Ron Weasley durchgehen. Wieso ist Ron – pardon, Luke – plötzlich so anhänglich?

»Was meinst du mit ›uns zusammen‹?«, frage ich und hätte mir am liebsten sofort auf die Zunge gebissen. Luke muss mich ja jetzt für total bescheuert halten. Aber er tut so, als hätte er diese Frage gar nicht gehört.

»Nina hat in den nächsten Tagen keine Zeit und die Brennpunkt ist noch halb leer. Wir müssen uns was einfallen lassen.«

»Ja, klar. Ich hab heute auch schon nach ein paar aktuellen Themen gesucht«, sage ich und versuche, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen.

»Kannst du morgen? Wir könnten uns im Kappes treffen.«

Moment mal. Luke will sich mit mir in einem Café treffen? Was wird das denn jetzt? Bisher haben wir unsere Redaktionssitzungen immer in der Schule abgehalten. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich mit Luke Händchen haltend vor zwei dampfenden Tassen Kakao sitzen. Schnell schüttele ich dieses Bild wieder aus meinem Kopf.

»Wieso im Kappes? Wir sehen uns doch morgen in der Schule?«

Gott, Isa, wie dämlich willst du eigentlich noch klingen?

»Nur so. Dachte, eine andere Umgebung bringt vielleicht frischen Wind in unsere Redaktionssitzung.«

Mit dem Wort Redaktionssitzung hat Luke sich gerade noch mal gerettet. Ich habe schon befürchtet, er könnte anderes im Sinn haben, wenn er sich mit mir in einem Café treffen will. Und warum muss ich ausgerechnet jetzt an Kikis ultimative Flirtregeln denken? Erneut schüttele ich den Kopf, bis mir einfällt, dass Luke mich ja gar nicht sehen kann.

»Lass uns morgen drüber reden, okay? Ich weiß noch nicht, wann ich überhaupt Zeit habe. Ich muss erst noch meine Hunde-Termine checken.«

»Wir können auch zusammen mit den Hunden spazieren gehen und brainstormen«, schlägt Luke sofort vor. Meine Güte, ist der heute hartnäckig. So weit kommt es noch, dass ich Luke mitnehme, wenn ich mit den Hunden Gassi gehe.

Die Hunde gehören nicht mir. Aber da meine Eltern nach unserem Umzug das Taschengeld drastisch zusammenstreichen mussten, brauchte ich dringend einen Job. Und da kam ich auf die Idee mit dem Hundesitterdienst. Aktuell habe ich nur einen Hund, mit dem ich regelmäßig spazieren gehe. Nicht täglich, das würde ich neben der Schule auch gar nicht schaffen. Aber eben immer dann, wenn sein Frauchen nur wenig Zeit für längere Spaziergänge hat. Es ist kein Traumjob, aber es ist okay. Und das Geld, das ich damit verdiene, kann ich mehr als gut gebrauchen.

»Ich sag dir morgen in der Schule Bescheid, ja?«

»In Ordnung. Dann warte ich bis morgen«, lenkt Luke ein. Irgendwie klingt er enttäuscht. Oder bilde ich mir das jetzt nur ein?

Als ich zurück in die Küche komme, starren mich drei Augenpaare erwartungsvoll an.

»Was guckt ihr so? Das war Luke von der Schülerzeitung.«

Kiki seufzt. »Luke … wie romantisch.«

»Ich wüsste nicht, was daran romantisch sein soll.«

»Luke. Wie Luke Skywalker. Vielleicht will er dich zu seiner Prinzessin Leia machen und mit dir zu den Sternen fliegen.«

»Ganz sicher nicht.« Genervt greife ich zu einer Scheibe Brot. »Erstens ist Prinzessin Leia Lukes Schwester, nix mit Romantik also«, – irgendwie freut es mich zu sehen, dass Kiki sich über ihren Fehler ärgert –, »und zweitens heißt Luke eigentlich Lukas, wie du ja wohl weißt. Und drittens will er mit mir nicht zu den Sternen fliegen, sondern Kaffee trinken gehen.«

»Hört, hört«, feixt Colin, und ich spüre, wie ich rot werde. Warum kann ich auch nicht einfach die Klappe halten.

»Bei der Redaktionssitzung der Schülerzeitung«, schiebe ich schnell nach, in der Hoffnung, noch etwas zu retten.

»Ach, Redaktionssitzung nennt man das heute«, säuselt Colin und verdreht die Augen. »Zu meiner Zeit hieß das noch Date.«

»Wenn du willst, kann ich dir ein paar von den Flirttipps schon vorab geben. Dann musst du nicht auf mein neues Video warten«, fügt Kiki hinzu.

Ich packe meine Gabel fester, aber meine Mutter rettet meiner Schwester das Leben.

»Kinder, Schluss jetzt. Lasst Isa in Ruhe.«

»Ich finde ja nur, dass sie mal von was anderem reden könnte als immer nur von ihrer dämlichen Schülerzeitung«, mault Kiki.

»Die Brennpunkt ist nicht dämlich«, wehre ich mich. »Vielleicht ist sie zu anspruchsvoll für dich, weil unsere Artikel sich noch um andere, wesentlichere Dinge drehen als nur um Herz-Schmerz-Liebesgeschichten!«

Kiki schnaubt.

»Das sagst du nur, weil du von der Liebe keine Ahnung hast!«

»Mehr als du«, kontere ich. »Ich weiß zum Beispiel, dass mich ganz bestimmt nicht irgendein Möchtegern-Prinz davon abhalten wird, Journalistin zu werden und die Welt kennenzulernen.«

»Und ich weiß, dass du auch gar keinen Prinzen abbekommen wirst, so dämlich, wie du dich aufführst. Dich will ja nicht mal ein Frosch!«

Langsam wird mir das echt zu blöd hier. Vor meiner kleinen Schwester muss ich meine Zukunftspläne ganz bestimmt nicht rechtfertigen. Und jetzt mischt sich auch noch meine Mutter ein.

»Der Lukas ist doch ein lieber Kerl. Triff dich ruhig mal mit ihm.«

Ich fasse es nicht.

»Ich will mich aber nicht mit Luke treffen. Es geht um eine Redaktionssitzung für die Schülerzeitung! Ist das eigentlich so schwer zu verstehen?« Zornig springe ich auf.

Colin zieht missbilligend eine Augenbraue hoch.

»Beherrschung lernen du musst. Aus dir sonst nie ein echter Jedi werden wird«, murmelt er. Ich knalle ihm meine Serviette an den Kopf und fange an, den Tisch abzuräumen.

Später in meinem Zimmer fahre ich mein Notebook hoch, um mich bei Facebook einzuloggen. Vielleicht kann ich jetzt endlich noch ein bisschen mit Nina chatten. Vor allem will ich wissen, ob sie tatsächlich nächste Woche keine Zeit für eine Redaktionssitzung hat oder ob Luke diese Ausrede nur benutzt hat, um sich mit mir allein treffen zu können.

In dem Moment steckt meine Mutter den Kopf zur Tür rein. Ohne anzuklopfen natürlich.

»Isa, guck mal, ich glaube, das ist für dich.«

Sie wedelt mit einem großen braunen Briefumschlag herum und setzt sich damit auf mein Bett.

»Was ist das?« Neugierig nehme ich ihr den Brief aus den Händen.

»Das lag noch in der Küche unter einem ganzen Stapel von Zeitungen und Werbeprospekten. Muss wohl gestern bei der Post gewesen sein und ist dann irgendwie aus Versehen dazwischengeraten.«

Ich drehe den Umschlag in meinen Händen und starre auf den Absender. Vom Stadtanzeiger. Sofort beschleunigt sich mein Puls. Beim Stadtanzeiger habe ich mich für einen Praktikumsplatz beworben. In zwei Wochen sollen wir unser Schülerpraktikum anfangen und fast alle aus meiner Klasse haben schon ihre Zusage. Sogar Nina weiß seit über einer Woche, dass sie den begehrten Platz beim Tierarzt bekommen hat. Nur ich warte immer noch auf eine Antwort.

»Beim Stadtanzeiger bewerben sich immer so viele«, hatte mein Vater gesagt, »da kann es sein, dass du keinen Platz bekommst. Aber dann kannst du immer noch zu uns kommen und mit mir auf Streife gehen.«

»Oder du kommst zu uns in den Buchladen«, hatte Mama damals ergänzt und damit war für meine Eltern das Thema Schülerpraktikum erledigt gewesen.

Die Vorstellung, mein Praktikum bei einem meiner Eltern abzuleisten, war so schrecklich, dass ich diese Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen hatte. Lieber schaute ich täglich in den Briefkasten, um möglichst bald die Zusage in den Händen zu halten. Am Samstag habe ich den Gang zum Briefkasten doch tatsächlich zum ersten Mal vergessen.

Ich starre weiter auf den Umschlag in meiner Hand. Warum ist der so groß? Für eine einfache Zusage hätte doch ein ganz normaler kleiner Briefumschlag gereicht. Mir wird ganz schlecht vor Angst.

»Jetzt mach doch mal auf.«

Ich zucke zusammen. Mama sitzt immer noch da und schaut mich erwartungsvoll an. Kann man in dieser Familie denn niemals allein sein?

Da meine Mutter nicht so aussieht, als ob sie jetzt durch irgendetwas dazu zu bewegen wäre, das Zimmer zu verlassen, fange ich vorsichtig an, den Umschlag aufzureißen. Tatsächlich. Das Erste, was mir entgegenrutscht, ist meine Mappe mit der Bewerbung und dem Lebenslauf. Enttäuscht ziehe ich sie heraus und lege sie auf den Schreibtisch.

Ein Brief ist auch dabei, den ich nun aus dem Umschlag fummele. Eigentlich will ich ihn gar nicht mehr lesen, aber wenigstens überfliegen sollte ich ihn wohl.

…und hoffen, Sie am Montag, den 9. Juni, in unseren Räumen begrüßen zu dürfen.

»Und?« Mama steht auf und rückt mir so dicht auf die Pelle, dass mir der Brief fast aus der Hand fällt.

»Jetzt warte doch mal.«

Aufgeregt fange ich weiter oben noch einmal an zu lesen.

…nehmen wir Bezug auf Ihre Bewerbung um einen Praktikumsplatz in unserem Haus.

Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass ein solcher Platz bei uns zu dem von Ihnen gewünschten Zeitraum frei ist, und hoffen, Sie am Montag, den 9. Juni, in unseren Räumen begrüßen zu dürfen. Wegen der Einzelheiten setzen Sie sich bitte mit Herrn Redakteur Werner Fischer telefonisch unter folgender Nummer in Verbindung…

»Jaaa!!!«

Ich umarme meine Mutter so fest, dass sie zurück aufs Bett fällt und nach Luft schnappt. Lachend ziehe ich sie wieder hoch. »Ich muss jetzt erst mal telefonieren.«

Zum Glück nickt Mama nur verständnisvoll und schließt die Tür hinter sich.

Ich greife nach meinem Handy. Geh ran, los, bitte, bitte geh ran. Besetzt. Enttäuscht werfe ich das Handy auf mein Bett. Mit wem telefoniert Nina bloß, wenn nicht mit mir? Da habe ich einmal die wichtigste aller Neuigkeiten mitzuteilen und meine beste Freundin ist nicht zu erreichen. Es ist nicht zu fassen.

Vorsorglich überfliege ich noch mal das Schreiben vom Stadtanzeiger. Eigentlich kann ich es noch gar nicht richtig glauben.

Endlich, endlich, endlich kann ich damit anfangen, eine richtige Journalistin zu werden. Kiki und Colin werden sich noch wundern.

Vor meinem inneren Auge sehe ich schon eine fette Schlagzeile auf unserem Stadtanzeiger prangen und darunter meinen Namen. Dass die Schlagzeilen unserer Zeitung sich meistens auf die Jahreshauptversammlung des Kaninchenzuchtvereins oder bestenfalls den Brand eines Müllcontainers beschränken, verdränge ich in diesem Moment gekonnt.

Blöd nur, dass ich diese Neuigkeit jetzt nicht mit Nina teilen kann. Irgendwann muss sie mit ihrem Telefonat doch mal fertig sein. Ich greife wieder zu meinem Handy und wähle ihre Nummer. Besetzt.