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Von einem Tag auf den anderen endet die Kindheit Ewerthons auf schreckliche Weise. Die Mutter wird verbannt und er für vogelfrei erklärt. In einer Welt voller uralter Geheimnisse und magischer Wesen kämpft der junge Hüter der Tiger-Magie von nun an nicht nur gegen den verblendeten, eigenen Vater, sondern gegen weitaus dunklere Mächte. Auf der Suche nach seiner Bestimmung, erlebt er tiefstes Leid und wahrhaftiges Glück, bis er eine schier unmögliche Entscheidung treffen muss. Mythen, Göttinnen und Magier sind zum Greifen nah, genauso wie Verrat, List und Tücke, Edelmut und Ehre, eine gefährliche Liebe und ein Kind, das es nicht geben dürfte. In Welten jenseits der unsrigen verlieren sich die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft … Gutes und Böses rückt gefährlich näher. Der erste Band als bewegender Auftakt zur mehrteiligen HERZSTEIN-SAGA inklusive Soundtrack. HERZSTEIN-KLANG - der Original-Ton des Herzsteins aufgenommen und zu einer multidimensionalen Komposition vereint – exklusiv für diesen Roman erschaffen. Gratis Genuss QR Code in diesem Buch. Für Leseherzen von 14 bis 99 Jahren
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Elsa Wild
Fantasy Roman
Elsa Wild
Herzstein I
Alpha ∞ Omega
1. Band
Verlag INNSALZ, Munderfing
www.innsalz.eu
Gesamtherstellung & Druck:
Aumayer Druck + Verlag Ges.m.b.H. & Co KG, Munderfing
Printed in The European Union
ISBN gedruckte Ausgabe: 978-3-903321-19-9
ISBN Ebook: 978-3-903321-24-3
1. Auflage, März 2020
©Elsa Wild
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
Ich lebe mein Leben
in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh‘n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um ihn, den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht:
bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Rainer Maria Rilke, abgewandelt
Für Charly
den unbeirrbaren Krieger
Er war angekommen. Eine außergewöhnliche, und wohl auch eine seiner seltsamsten Reisen, lag nun hinter ihm. Endete nach schier endloser Zeit - hier und heute.
Lähmende Müdigkeit übermannte ihn. Zweifel fiel unerwartet über ihn her. Kroch aus dem Nichts, einem dunklen Schattenhund gleich, zerrte an seinen Gedanken, verbissen, wie an einem zerfetzten Hosenbein.
Wachsam trat er aus dem Dunkel der Bäume. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet, und der Mond, in der Zwischenzeit voll und rund, schickte seine milden Strahlen zur Erde.
Riesige Bäume, umsäumt von dichtem Unterholz, bildeten einen undurchdringlichen Wall. Hierher schien sich selten der Fuß eines Menschen zu verirren. Im Schutz einer mächtigen dreistämmigen Eiche, umringt von Holunderstauden, kleinwüchsigem Wacholder und unzähligen Weiden erhob er sich, direkt vor ihm und majestätisch, der Herzstein. Auf der ihm zugewandten Lichtung thronte der seltsam geformte Stein auf einer, mit zahlreichen Riefen überzogenen, grauen Platte.
Dieser Fels, von dem kaum einer wusste, wie alt er wirklich war, bedeutete sein Ziel, das Ende seiner Reise.
Es hieß, er existiere seit Anbeginn. Völker aller Welten brachten seit jeher Blumen- und Getreideopfer dar, erbaten Kraft, beteten um Weisheit, hinterlegten ihre Wünsche, vertrauten ihm ihre Hoffnungen und Geheimnisse an, erwiesen dem mystischen Platz ihre Ehre, und dies seit ewigen Zeiten. Irgendwann war sein Standort in Vergessenheit geraten, wurden keine Opfer mehr gebracht, keine Wünsche mehr hinterlegt, seiner nicht mehr gedacht.
Doch er hatte ihn gefunden!
Nur geringfügig, sein spitzes Ende nach unten zeigend, mit dem felsigen Untergrund verhaftet, schwebte der Stein scheinbar über dem Boden. Nach oben hin ging er herzförmig in die Breite und thronte, allen Regeln des Gleichgewichtes trotzend, leicht schwankend auf der massiven Felsplatte. Man meinte, ein Windstoß könnte ihn zu Sturz bringen. Nichtsdestotrotz hatte kein menschliches oder anderes Wesen es jemals geschafft, diesen Stein nur eine Handbreit zu bewegen.
Denn so stand es geschrieben in den Heiligen Schriften:
„… sollte dieser Fels jemals stürzen, so wäre dies der Niedergang jeglichen Seins. Weil von diesem Augenblick an bliebe auch kein weiterer Stein mehr auf dem anderen. Alle Welten, gegenwärtig und jenseits, ihre Bewohner mitsamt ihren Ahnenvölkern, ja sogar die Sterne, der Mond und die Sonne, wären ausweglos dem Untergang geweiht …“
Eine bedeutsame und geheiligte Stätte, seit Anbeginn.
Seine überreizten Sinne nahmen die bizarre Umgebung auf, bereit, beim geringsten Anzeichen etwaiger Gefahr Alarm zu schlagen. In der absoluten Stille, die diesem geheimnisvollen Ort anhaftete, entstand ein leises Surren. Mit gesträubten Nackenhaaren sog er den Geruch von feuchtem Laub auf. Die Zeit des Sammelns war angebrochen. Umsichtige Bauern brachten tagsüber ihre Ernte ein, Kräuterweiber waren auch nächtens am Werk, gruben wertvolle Wurzeln bei Gold- oder Schwarzmond aus. Je nach ihrer späteren Bestimmung.
Noch ein Duft lag in der Luft. Bittersüß legte er sich über Gedanken, machte träge, vereinnahmte den freien Willen. Das Summen verstärkte sich. Er fixierte den mächtigen Stein. Da war ihm, als ob die Zeit stehen blieb. Das monotone Surren verlor sich in den Bäumen. Er atmete jetzt langsamer, tiefer … aus und ein. Gegen jegliche Vernunft breitete sich in seinem Inneren vollkommener Frieden aus. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten. Die Augenlider flatterten schwer. Anspannung und Mühsal der letzten Monate forderten ihren Tribut. Endlich, endlich war er angekommen. Doch das Summen schwoll wieder an, wurde höher und höher, ließ das Herz rasen, steigerte sich, brach dann, kurz vorm Unerträglichen, schlagartig ab. Absolute Stille herrschte über der Lichtung.
Seine Beine wurden schwerer und schwerer, knickten unter ihm weg, und samtiges Sternenmoos hieß in willkommen, als er zu Boden sank. Endlich! Auf diesem weichen, einladenden Untergrund ergab er sich der lähmenden Müdigkeit, wollte nur mehr schlafen.
Es überraschte ihn nicht, als die beiden Gestalten, wie aus dem Nichts, plötzlich vor ihm standen, auf ihn niederblickten. Mit letzter Kraft hob er sein Haupt, rang um die richtigen Worte, doch dann verblasste auch ihr Bild, und Finsternis umfing ihn. Die heiser geflüsterte Bitte verlor sich im Rascheln der Bäume über ihm.
Die letzten Arbeiten waren getan. Einträchtig, alle gemeinsam, hatten sie Kartoffeln geschält, Karotten und Zwiebeln in kleine Stücke geschnitten, Lauch, Wurzeln und anderes Gemüse zerkleinert. Der große Topf wurde mit Wasser aufgefüllt, und einem Versprechen gleich, fand der Duft dieses heutigen Festmahls den Weg von der Küche bis hin zum bequemen Stuhl, wo sie Platz genommen hatte. Nun hieß es zuwarten, auch wenn der Magen bereits knurrte und die Jüngsten quengelten.
Der Raum, in dem sich alle versammelt hatten, war nicht übermäßig groß. Er bot ihnen jedoch die Wärme eines Kaminfeuers und ein gewisses Maß an Behaglichkeit. Sie hatten ein Dach über dem Kopf, während der eisige Nordwind um die Häuser strich, an Türen und Fenstern rüttelte und versuchte, durch nachlässig verstopfte Ritzen ins Innere zu gelangen. Hier waren sie sicher, … zumindest für den Moment.
Der von emsigen Händen gezimmerte Schaukelstuhl knarrte. Versehen mit bunten, bequemen Sitzkissen bot er ausreichend Bequemlichkeit, um in Ruhe die Situation zu überdenken. Ihr Blick wanderte über die kleine Gruppe, die sich zusammengefunden hatte, umfasste sie fürsorglich und liebevoll. Vis-à-vis, keine zwei Meter entfernt, erhaschte sie einen Blick in Augen, so graublau wie die ihren. Ganz plötzlich befiel sie Traurigkeit. Obwohl sie zutiefst überzeugt war, dass heute die Prophezeiung nicht eintreffen würde, nicht so, wie es die meisten Lebewesen draußen vor ihrem Haus, ja in der gesamten ihr bekannten Welt annahmen, konnte sie sich nicht wirklich darüber freuen. Die Gefahr war ja auch keinesfalls gebannt. Noch immer waren sie nicht vollzählig, und nur ein Narr könnte sich an ihrem heutigen Erfolg berauschen, sich nichtsnutzig zurücklehnen und meinen, das Unheil sei für immer aufgehalten.
Wieder blickte sie in die Augen vor ihr, nahm das fein geschnittene Antlitz wahr, die kupferroten Locken, die von einem dunkelblauen Samtband zusammengehalten wurden. Bei genauerer Betrachtung fielen ihr die feinen Fältchen um Nase, Mund und diese außergewöhnlichen Augen auf. So jung, wie sie zuerst gemeint hatte, war ihr Gegenüber nicht mehr. War es allerdings vorhin Traurigkeit, so blitzte nun der Schalk aus diesen Augen. Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte jemand mit uraltem Wissen, wiewohl geschickt hinter dem anziehenden Leuchten der Augen verborgen, über so viel Heiterkeit verfügen? Exakt im selben Augenblick schüttelte nun auch die andere ihren Kopf. Wider Willen schmunzelten sie beide. Ein strahlendes Lächeln breitete sich aus, hellte den Raum auf und wärmte alle Herzen.
Bloß ein kleines Mädchen ließ sich nicht bezaubern. Dicht neben ihr stand es, die kleine Hand in der ihren, und dann auf einmal nicht mehr. Die Kleine riss sich los, lief zum goldenen Spiegel, direkt vor ihr, und warf blitzschnell ein Tuch darüber.
Nicht nur das Lächeln ihres Vis-à-vis verschwand, augenblicklich war auch die Frau, vorher noch in stillem Einverständnis ihr gegenüber, dahin.
Verwirrt und ungehalten wollte sie das Kind zur Rede stellen. Wie kam dieses dazu, ihrer Gegenseite einfach ein grobes Tuch überzuwerfen, ihre wortlose, doch herzliche Verständigung so rüde zu unterbrechen? Der kräftige Druck einer Männerhand auf ihrer Schulter ließ sie in ihrem aufsteigenden Unmut innehalten. Sie blickte auf, in Augen, so blau wie die Gletscherseen, hoch oben in den Bergen ihrer Heimat.
„Gib Acht! Du weißt, der Spiegel der Wahrheit kann schnell zum Spiegel deiner Illusionen werden. Und du wärst verloren, für immer.“
Er wandte sich der Kleinen zu und strich über ihren blonden Pagenkopf:
„Ich danke dir, dass du so gut aufgepasst hast. Du hast deine Sache gut gemacht.“
Das Mädchen lachte, wirbelte durchs Zimmer, so dass nach seinem Freudentanz ein Großteil der bunten Schleifchen, die in sein Haar geflochten waren, verstreut am Boden lag.
„Du bist gekommen! Du hast es geschafft! Ich …“, die Stimme versagte ihr den Dienst, und ihre letzten Worte erreichten, geflüstert nur, seine Ohren, nicht die der anderen im Raum, „… ich hatte fürchterliche Angst um dich.“ Sie sprang auf, klammerte sich an die Hand, die er ihr herzlich entgegenhielt. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Was hätten sie gemacht, wäre ihm etwas geschehen? Wie hätten sie weiterkämpfen können? Ihrer Mission gerecht werden, das Ende vieler Welten abwenden können, ohne ihn? Sie warf sich nun doch in seine Arme.
„Ich bin hier. Seid beruhigt“, er lächelte belustigt. Wie hatte sie seine sonderbare Ausdrucksweise vermisst. Beruhigend klopfte er ihr den Rücken, sie kam sich vor wie ein kleines Kind, das unter Schluckauf litt. Er schob sie von sich. Ihre Hände flatterten wie zarte Schmetterlinge nervös hin und her, bis er sie mit den seinen umfing. Diese bildeten einen erheblichen Kontrast zu den ihren. Ihre … zart, keinesfalls blass, doch sichtlich heller als die seinen, die sich dunkel von Wind und Sonne gegerbt, nicht direkt rau, spröde vielleicht, anfühlten wie feines Schleifleinen. Sie wusste, er achtete sehr auf seine Hände. Er liebte seine Arbeit, hielt sich hauptsächlich in der freien Natur auf. War er, aufgrund eines komplizierteren Auftrags, einmal länger als gewollt an seinen Schreibtisch gefesselt, packte ihn spätestens nach drei Tagen die Rastlosigkeit. Dann klappte er den Laptop zu, füllte seinen Rucksack mit Proviant und brachte die erforderlichen Planungsarbeiten dort zu Ende, wo er sich am wohlsten fühlte: unter einem knorrigen Baum, auf blühenden Wiesen, in der klaren Luft der Berge oder auf weichem Waldmoos, Hauptsache draußen. Ja, man sollte es kaum glauben, doch auch bei ihm hatte der Fortschritt Einzug gehalten. Er hatte sich mit der modernen Technik arrangiert, hatte Computer und Software in sein Leben gelassen. Und was anfänglich ein absolutes Chaos zu werden schien, hatte sich nach und nach, vom unvermeidbaren Übel zum widerwillig akzeptierten recht hilfreichem Instrument gewandelt.
Anfragen erhielt er größtenteils über persönliche Empfehlungen. Wenn er potenziellen Kunden die Hand reichte, sollte diese gepflegt sein und nicht mögliche Auftraggeber verschrecken. Obwohl er, wie gesagt, meist selbst Hand anlegte, im Dreck buddelte und seine Pflanzen, Sträucher und Bäume dort einsetzte, wo sie seiner Meinung nach von der Natur gedacht waren. Er ließ sich da auch nicht lange dreinreden. Sein Ruf, ein schwieriger Landschaftsarchitekt zu sein, eilte ihm wohl voraus. Und doch fanden sich ausreichend Kunden, legten die Gestaltung und Planung ihrer Gärten und Anlagen vertrauensvoll in seine Hände, wissend, dass er nie gekannte Oasen der Erholung schaffen, ihnen ein Fleckchen Paradies auf Erden zu Füßen legen würde. Nur wenn er hundertprozentig zufrieden war, durften sie das fertige Werk begutachten und in Besitz nehmen. Dann war es das Beste, was ihnen je hatte passieren können.
Die Schmetterlinge begannen wieder zu flattern. Seine Aufmerksamkeit war hier vonnöten. Leicht umschloss er ihre Hände mit den seinen, barg sie an seiner Brust.
„Seht mich an!“, leise, jedoch nicht minder beschwörend, sprach er auf sie ein, strich sachte über ihre Fingerkuppen.
„Ich bin jetzt hier! Ihr braucht euch von nun ab keine Gedanken mehr zu machen. Entspannt euch und hört, welche Nachrichten ich euch überbringe!“, sanft drückte er sie auf ihren Sessel zurück, kniete vor ihr nieder.
Am Boden zu ihren Füßen kniend, überragte er dennoch die Hälfte der Anwesenden in diesem Raum. Er war wirklich einer der größten Männer, die sie je kennengelernt hatte. Immer wieder, wenn sie neben ihm stand und er auf sie hinunterblickte, kam ihr das in den Sinn, und nun kniete er vor ihr!
Unruhig versuchte sie, sich zu erheben. Doch er hielt noch immer ihre Hände umfangen und damit war sie in ihrer Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt.
„Bleibt. Bleibt einfach sitzen. Es macht mir nichts aus, vor euch zu knien.“
Konnte er Gedanken lesen? Natürlich konnte er das nicht! Oder doch? Jedenfalls war es für alle ersichtlich, wie unwohl sie sich gerade fühlte.
„Ihr habt so viel für unsere Sache geleistet. Ihr habt den Mut einer Löwin bewiesen, habt kampferprobte Männer neben euch feige aussehen lassen, euer goldenes Herz hat zahlreichen Menschen das Leben gerettet. Euer Verstand ist wahrscheinlich schärfer als jedes Schwert dieser Welt und hat die hierher berufen, die ansonsten vermutlich schon tot wären. Ohne die wir allerdings nicht weiterkämpfen können, wir unsere Bestimmung verloren hätten!“
Tränen tropften auf seine Hände. Er sah auf. Weinte sie? Nun war es an ihm, verlegen hin und her zu rücken. Er hatte sie zum Weinen gebracht! Ihr ganzer Körper bebte.
Er räusperte sich: „mhmh … äh, ich wollte keinesfalls, bitte, es lag niemals in meiner Absicht …“
Ihre rechte Hand löste sich. Fand so schnell kein Taschentuch und langte dann nach dem Schürzenzipfel. Trocknete sich die Tränen, absolut nicht damenhaft mit einem Eck ihrer Schürze. Sie konnte so herrlich unkompliziert sein.
Unter Tränen und Lachen versuchte sie zu sprechen.
„Es tut mir leid. Ich wollte mich nicht so gehen lassen! Es war einfach ein bisschen viel in letzter Zeit für mich. Und ich bin so froh, dass du hier bist. Ich kann es fast nicht glauben. Du lebst und hast uns gefunden. Wir haben unseren Geschichtenerzähler wieder!“ Ziemlich wirr sprudelten diese Wörter und Sätze hervor. Und genau dieser letzte Satz wanderte weiter, von Mund zu Mund der Anwesenden, bis auch die letzten der hier Versammelten es vernommen hatten.
„Der Geschichtenerzähler lebt und ist unter uns. Heute, eben jetzt in diesem Raum. Er ist hier!“
Das Gemurmel schwoll an, wurde zum Cantus und floss in jedes Herz. Ganz egal, in welcher Sprache diese außergewöhnliche Information weitergegeben wurde, Muttersprache oder nicht, alle, wirklich alle, verstanden die enorme Bedeutung dieser Nachricht.
Er erhob sich.
„Nun denn, mein Magen knurrt! Ein hungriger Geschichtenerzähler ist kein guter Geschichtenerzähler. Lasst uns essen!“
Er reichte ihr galant den Arm. Wie selbstverständlich hakte sie sich unter, und gemeinsam führten sie die Meute zu Tisch. Was jetzt nicht unbedingt eine herausragende Leistung bedeutete, denn das Zimmer war mit vier, fünf Schritten rasch durchquert.
Flugs wurden Stühle geschoben, Schemel gerückt, Besteck verteilt und die Suppe vom Herd zum Tisch geschleppt. Stille senkte sich über den Raum, ab und zu unterbrochen von einem gar zu kräftigen Schmatzen und dem darauffolgenden Gekicher der Kinder. Alle langten tüchtig zu, wer wusste schon, wann ihnen das nächste Mal eine so wunderbare Mahlzeit, und vor allem gemeinsam, beschieden war.
Während die einen, die jüngeren, noch ihre Schüsseln ausleckten, machten sich die anderen mit gebotener Eile über den Abwasch. Der, der mit Worten verzaubern konnte, war in ihrer Mitte. Das verhieß einen spannenden Abend, … nach getaner Arbeit!
Auch sie hatte ihre Mahlzeit beendet und ließ ihren Blick über die Ansammlung von sonderbaren Gestalten wandern. Neben Menschen befanden sich noch weitere Lebewesen an diesem Zufluchtsort. Edle Wesen, mit reinem Blut und nachgewiesenen Ahnentafeln, bis fast an den Anfang der Zeiten, genauso wie Mischwesen, die durch teilweise unbekannte Ahnen glänzten, hatten sich hier gefunden. Das Zusammenleben verlief beileibe nicht immer in Eintracht und Harmonie, doch stets wurden respektvoll die Andersartigkeit und Einzigartigkeit der anderen geachtet, entstandene Streitigkeiten wieder behoben, verband sie doch ein gemeinsames Ziel.
Waren hier wirklich die Retter der Welten an einem Tisch versammelt? Sie wusste, einige hatten die Fähigkeiten dazu. Doch es fehlten noch immer so viele. Sie mussten erst entdeckt werden. Eine hatten sie verloren, die mussten sie unbedingt wiederfinden, und zwar so schnell wie möglich. Ansonsten endete deren Verschwinden in Kürze in einer Katstrophe unvorstellbaren Ausmaßes.
Während sie der einen gedachten, die sie verloren hatten, rückten alle näher zum Feuer.
Sie ahnte, mit welcher Geschichte ihr Begleiter beginnen würde. Tatsächlich, nachdem sich das Gemurmel gelegt hatte, alle bequem saßen oder lagen, und die frisch nachgelegten Scheiter im Kamin prasselten, nahm der Geschichtenerzähler sie mit auf eine Reise, eine Reise in längst vergangene Zeiten. In ihrer aller Vergangenheit, von einigen bereits vergessen, schlummernd in einem Winkel jeden Herzens, nun vom hünenhaften Erzähler mit beschwörender Stimme und funkelnden Augen wieder zum Leben erweckt.
Ewerthon erblickte als fünftes Kind nach vier Schwestern das Licht der Welt. Nicht nur bei seinen Eltern Kelak und Ouna, dem Herrscherpaar über Caer Tucaron, war die Freude unbeschreiblich. Das ganze Reich feierte von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang ausgelassen die Geburt des Stammhalters. Ewerthon wurde von den Dienerinnen verhätschelt und seinen Schwestern gehasst. Sechs Jahre lang drehte sich das Rad der Welt, zumindest in Caer Tucaron, um den kleinen Thronfolger. Kelaks ganze Hoffnungen ruhten auf seinem Sohn. Sobald der Kleine laufen konnte, wurde er in allem unterwiesen, was das strenge Hofprotokoll für einen angehenden König vorschrieb. Reiten, Schwimmen und die Ausbildung in verschiedenen Kampftechniken, waren ebenso Bestandteil seines täglichen Unterrichts wie die Unterweisung in fremden Sprachen, Astrologie, Astronomie und der höfischen Etikette. Obwohl Ewerthon, gerade mal sechs Jahre alt, ständig an seine Grenzen herangeführt wurde, zeigten sich bereits in diesem Alter sein Wagemut und ein unbeugsamer Wille. Er wuchs so zum ganzen Stolz seines Vaters heran, der ihn, wann immer sich die Gelegenheit bot, an seiner Seite hatte.
Wie groß der Schock gewesen sein musste, als sich Ewerthon im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal wandelte, lässt sich nur unzureichend beschreiben.
Sein ungezügeltes Temperament gepaart mit kindlicher Sturheit, gipfelte an diesem schicksalsträchtigen Tag in einem tosenden Wutanfall. Und so kam die zweite bis zu jenem Zeitpunkt verborgene Persönlichkeit des kleinen Prinzen ungewollt zum Vorschein.
Wenn ein Prinz von sechs Jahren trotzig in den Boden stampft, ist das eine Sache. Wenn plötzlich ein Tiger brüllend sein vermeintliches Recht einfordert, eine andere. Nach dem ersten Moment von ungläubigem Staunen, in dem den Dienstboten allesamt die Münder offenstanden, nahmen alle, einfach alle, kreischend Reißaus und waren nimmer gesehen.
Ouna, alarmiert von dem Geschrei, eilte auf schnellstem Wege zu ihrem Sohn. Sie kam gerade noch recht, um die Rückverwandlung des kleinen Tigers in ihren Jungen mitzuverfolgen. Beschützend legte sie beide Arme um den Kleinen, der selbst nicht wusste, wie ihm geschehen war. Tränen kullerten über seine weichen Wangen, die sie sanft mit ihrem parfümierten Seidentüchlein trocknete. Tröstende Worte, die ihr auf den Lippen lagen, blieben ihr im Halse stecken. Denn in diesem Augenblick stürzte Kelak in den Raum. Dieser schäumte nun seinerseits vor Wut, riss die Mutter dem Sohn davon und zerrte sie in ihr Gemach. Dem weinenden Jungen, der kaum mit ihnen Schritt halten konnte, warf er die Türe vor der Nase zu.
Die Scharniere krächzten, als die schwere Eichentüre mit lautem Knall ins Schloss fiel. Kelak bebte, sein Blut floss glühend heiß durch seine Adern.
„Was hast du dir dabei gedacht?!“
Er stieß Ouna so heftig von sich, dass sie vornüber auf den Boden stürzte. Ein weiches Fell, ausgebreitet auf den Holzdielen, minderte ihren Sturz. Weder nahm er das Schluchzen Ewerthons auf der anderen Seite der Tür wahr noch den stummen Vorwurf in den Augen seiner Frau.
„Mit wem hast du mich betrogen? Wer hat es gewagt, mich zu hintergehen. Wer trägt die Verantwortung für diesen Bastard?“
Ouna zuckte zusammen.
War es ihr Schuldbewusstsein?
Des Königs Welt lag in Trümmern. Einander schon in der Wiege versprochen, hatte er, im heiratsfähigen Alter, um sie gefreit. Ihre beiden Länder grenzten aneinander, eine kluge und vorteilhafte Entscheidung. Mit Bedacht arrangierten die Ratsherren solche Hochzeiten schon seit vielen Generationen.
Eine dienliche Verbindung für jedermann.
Was nicht heißen sollte, dass er unwillig darüber gewesen wäre. Sein Herz hatte sich mit der Zeit immer mehr für seine junge Gemahlin geöffnet. Sie war nicht nur schön anzusehen. Auch die Dienstboten mochten sie, war sie doch erfahren in allen Haushaltsdingen und hatte immer ein offenes Ohr für die großen und kleinen Probleme der Dienerschaft. Verstand sich auf die schönen Künste der Musik und Stickerei, der empfindsamen, ja bisweilen heiklen Konversation mit willkommenen und weniger willkommenen Besuchern. Gerne beobachtete Kelak sie aus der Ferne. Mensch und Tier suchten ihre Nähe. Besonders die Nebelkrähen, die ständig um die Türme kreisten, waren sich ihrer Fürsorge gewiss. Immer wieder sammelte sie deren unvorsichtigerweise aus dem Nest gefallenen, kleinen, hilflosen Jungen ein. Hegte und pflegte sie, bis sie sich selbst versorgen konnten und sodann in die Lüfte schwangen. Ja sogar gebrochene Beinchen heilten unter ihren kundigen Händen, und es kam nicht selten vor, dass eine Nebelkrähe, als ständiger Begleiter seiner Königin, mit geschientem Flügel hinterher flatterte oder auf ihrer Schulter saß. Das eine oder andere Mal schien es ihm sogar, als fände eine stillschweigende Verständigung zwischen den verletzten Krähen und ihr statt.
Es gefiel ihm, wie sie gleichfalls mit Klugheit und Geschick Belange des Alltags selbst in die Hand nahm und ihm dadurch den Rücken freihielt. In partnerschaftlicher Harmonie herrschte jeder über sein Reich, nach außen und innen. Frohsinn und Herzensgüte der Königin zauberten Sonnenschein und Wärme, nicht nur, in alle Räume der Burg. Sein Herz erwärmte sich bei dem Anblick seiner Frau, wenn sie an ihrem Lieblingsplatz vor dem Kamin die Nadel für komplizierteste Stickmuster ansetzte. Hier, im privaten Gemach, hochkonzentriert mit offenem Haar, Etikette und Gewand gelockert, nicht ahnend, welch intensive Gefühle sie in Kelak entfachte, mit ihrer achtlosen und ungenierten Aufmachung.
Eine Bewegung riss ihn aus seinen Überlegungen.
Ouna erhob sich mühsam. Hatte sie sich verletzt? Er schüttelte den Kopf und blieb, wo er stand. Zwar war sie ihm in all den Jahren eine gute Frau gewesen, und nachdem endlich der ersehnte Sohn geboren war, schien das Glück vollkommen. Doch es war nicht sein Sohn. Blinder Zorn übermannte ihn wiederrum. Er verspürte das Züngeln von hundert Giftschlangen in seinem Inneren. Sie würde auf dem Scheiterhaufen brennen! Für den begangenen Ehebruch einer Königin stellte dies durchaus eine gerechtfertigte Strafe dar. Das sollte auch dem Hohen Rat klar sein. Ja, sein Entschluss war gefasst. Sie auf den Scheiterhaufen und der Balg gleich mit dazu.
„Du bist sein Vater!“
Ounas Stimme drang durch seine düsteren Pläne. Etwas zittrig, doch deutlich zu vernehmen. Sie hatte ihn noch nie belogen. So hatte er bisher geglaubt. Bereits auf dem Weg zur Tür, kehrte er um. Die untergehende Sonne tauchte den Raum in rotschimmerndes Licht. Ihn fröstelte. Erst jetzt nahm er die Kälte wahr, die aus den Ritzen der steinernen Mauern kroch. An anderen Tagen würden jetzt die Dienerinnen schwatzend und lachend das Gemach für die Nacht bereiten. Knisterndes Feuer im Kamin, eine warme Bettstatt und seine Königin bei ihm. So waren die Abende bisher verlaufen. Ein liebgewordenes Ritual. Er, vertieft in Regierungsdokumente, sie, über ihre Stickerei gebeugt. Das eine oder andere Mal verstrickt in angeregte Diskussionen oder ihren lebhaften Schilderungen des vergangenen Tages lauschend, jedenfalls immer seine Sinne beflügelnd. So oder so.
Ouna sah in regungslos an. Strähnen ihres kastanienbraunen Haares, tagsüber ordentlich zu einem Zopf geflochten, hatten sich gelöst. Wie gerne hatte er sich in diesen seidenweichen Locken verloren. Ihr Kleid, passend zu ihrem Haar in rötlichen Schattierungen gehalten, betonte ihre weiblichen Rundungen. Diese Frau hatte ihm fünf Kinder geschenkt und dennoch umgab sie ein Hauch von sinnlicher Unschuld, dass sein Herz sich schlichtweg weigerte, ihr Böses zuzutrauen. Wie gerne wollte er ihr glauben! Die Sonne schwand endgültig am Horizont. Dämmerung lag nun über dem Raum und Kälte in seiner Stimme. Siegte der Argwohn über die Liebe?
„Wie kommt es, dass unser Sohn ein Gestaltwandler ist? Keiner meiner Vorfahren war dies jemals. Unser Geschlecht ist in vielen Schriften und bis in unzählige Generationen dokumentiert.“
Er ahnte mehr, als er es sah, dass sie sich einen Stuhl zurecht schob. Das Knarren des Stuhls, das Rascheln ihres Kleides und das fahrige Zupfen an ihren Zopfbändern verrieten ihm, dass sie saß. Auch er tastete sich zu einem Sessel ihr gegenüber und nahm Platz. Zunehmende Dunkelheit und Stille füllten den Raum zwischen ihnen. Bis sie, nach mehrmaligem Räuspern, zu sprechen begann.
„Ewerthon ist dein Sohn. Er hat diese Fähigkeit, weil meine Familie schon seit jeher die Hüterin der Tiger-Magie ist.“
Kaum hatte sie diesen ersten Satz beendet, da polterte ein Stuhl. Kelak war aufgesprungen.
„Was erzählst du da! Diese Fähigkeit wird immer nur an Söhne vererbt, die sie dann an ihre Söhne weitergeben. Du bist kein Mann, du – besitzt - diese – Magie - nicht!“ Im letzten Satz betonte er jedes einzelne Wort.
Schweigen folgte diesem Ausbruch. Er sah nichts und er hörte nichts. Sein Fuß stieß an den umgekippten Stuhl. Er stellte ihn wieder auf. Mit einem Schnauben setzte er sich.
„Wie erklärst du dir das?“
„Ich habe keine Erklärung dafür“, klang es aus ihrer Ecke. „Ich bin die Tochter eines Gestaltwandlers, der der Sohn eines Gestaltwandlers ist. Die Dynastie der Tiger-Magie reicht bis in die Anfänge zurück und ist überaus mächtig. Als Schwester von drei Brüdern musste ich mir keine Gedanken um deren Fortsetzung machen. Doch sie sind alle gestorben, ohne Nachkommen zu hinterlassen. Es gibt keine männlichen Erben - und somit wäre die Tiger-Magie für immer verschwunden.“
Der Hall ihrer Worte verklang. Sie stand auf, bewegte sich im Zimmer, mit äußerster Vorsicht. Er konnte es an ihren Schritten erkennen, sie näherte sich ihm. Sein Unbehagen nahm zu. Was erzählte dieses Weib? Hielt sie ihn für so wirr zu glauben, Frauen könnten Bewahrer der Tiger-Magie sein? Und sie sprachen nicht von irgendeiner Magie. Die Tiger-Magie zählte erwiesenermaßen zu den mächtigsten Gestaltzaubern und wurde, zumindest hier auf dieser Insel, seit Generationen nur an männliche Nachkommen in direkter Linie vererbt. Seines Wissens nach gab es nur mehr zwei, drei Linien, die über die Tiger-Magie herrschten. Er wandte sich in die Richtung, aus der er den zarten Duft von Rosen verspürte, da er sie dort vermutete.
„Wieso wurde dem Hohen Rat nichts über dieses wichtige Detail berichtet? Dein Vater hätte die Pflicht gehabt, ihn davon in Kenntnis zu setzen!“
„Was hätte sich geändert? Du wolltest den Besitz meines Vaters. Meine Brüder waren tot und du erhieltst mich als Draufgabe“, die Antwort klang bitter. „Wir hatten keine Veranlassung das Ende unserer Dynastie lauthals zu verkünden.“
Kelak erhob sich. Er könnte sie jetzt einfach erwürgen. Hier in der Stille des Zimmers. Niemand würde ihn zur Rechenschaft ziehen. Er müsste ihr nicht einmal in die Augen sehen, wenn er ihr die Luft zum Leben nahm, ihr den Hals zudrückte, bis sie tot am Boden lag. Es war nun so dunkel, dass er die eigene Hand vor Augen nicht erkennen konnte. Seine Finger zuckten. Schwindel packte ihn und vernebelte seine Sinne. Wie zähflüssige Schlammblasen stieg Bitterkeit aus seinem Innersten empor und deren Geschmack lag ihm schal auf der Zunge. Zutiefst entsetzt schaute er in seinen eigenen, tiefen Abgrund, auf dessen Boden sich reinste Mordlust begierig rekelte. Ein letztes Aufbegehren von Ehre und Anstand, von Liebe zu seiner Gattin, hielt dieses abscheuliche Getier in Zaum.
Er musste weg! Weg von seiner Königin, weg von seinen mordlüsternen Gedanken! Ohne ein weiteres Wort hastete er zur Tür, riss sie auf und wankte nach draußen. Seine Hände zitterten, als er die Kammer verschloss. Kein Feuer und kein König sollten Ouna jemals wieder wärmen, sie war nicht mehr seine Gemahlin, ihr Gemach sollte von nun an ihr Gefängnis sein! Den Jungen, der zusammengekauert und tränenüberströmt am kalten Steinboden neben der Tür lag, übersah er geflissentlich. Sollte er sich doch den Tod holen, es war ihm nur recht, er hatte keinen Sohn mehr.
Mit diesem schrecklichen Tag endete Ewerthons Kindheit. Die Mutter, gefangen gehalten in ihrer eigenen Kammer, wurde, nach dem Hohen Ratschluss, samt seinen Schwestern verbannt. Er, als Bastard, aller Sohnes- und Erbrechte beraubt, wurde der Ächtung übergeben. Von nun an war er vogelfrei, schlief heimlich im Kuhstall, weil ihn eine mitleidige Stallmagd gewähren ließ, ging dieser zur Hand und erhielt dafür ein Schälchen Milch und ein paar Brocken Brot. Nachts, zwischen den dampfenden Leibern der Kühe wärmte er seinen Körper, sein kleines Kinderherz dagegen gefror.
An einem klaren, eiskalten Wintermorgen zerrten die Schergen des Königs den Kleinen unter Hohngelächter aus dem Stall, übergossen ihn mit Eimern frostigen Wassers, um den penetranten Geruch nach Kuhmist zu vertreiben, und schleppten ihn, nass wie er war, vor Kelak. Dieser würdigte ihn keines Blickes, sondern zwang ihn zuzusehen, wie seine Mutter die Burg verließ. Als Hab und Gut wurden ihr nicht mehr als ein paar löchrige, kratzige Decken, verrostete Töpfe und einige Scheite Holz vor die Füße geworfen. Seine wunderschöne Mutter packte alles auf den winzigen Karren und zog das wackelige Gefährt, einer einfachen Bauersfrau gleich, über den holprigen Steinboden. Nebenher seine vier Schwestern, alle fünf in dürftige Lumpen gehüllt, zitternd und bebend in der eisigen Kälte.
Auf Geheiß des Königs hatten sich alle Dienstboten und Soldaten versammelt, um die Schmach der verstoßenen Königin mitzuerleben.
An den Mienen der Männer und Frauen konnte man ablesen, dass nicht alle eins waren, mit diesem hartherzigen Urteil. Manch einer meinte zwar, dass die Strafe zu milde ausgefallen sei. Auf Ehebruch stand immerhin der Tod auf dem Scheiterhaufen. Doch die Mehrheit der Bevölkerung war sich einig, dass die Königin ein reines Herz hatte, und wollte ihr keine Untreue zutrauen.
Ein Blick auf Ewerthon sollte dem König doch genug sein! Das rotblonde Haar, blaugraue Augen, der kühne Schwung des edlen Kinns und ein starrer Wille, das nannten beide ihr Eigen. Eben letzterer wurde dem König zum Verhängnis. Hätte er nur diesen einen Blick auf Ewerthon geworfen, die Ähnlichkeit wäre, auch für ihn, nicht zu übersehen gewesen.
Doch Kelak kümmerte es nicht. Stur blickte er nach unten, seine Hand lastete mit eisernem Griff auf Ewerthons Schulter, machte diesen bewegungsunfähig. Plötzlich bückte sich Kelak und hob einen glänzenden Kamm vom Boden. Eine letzte Erinnerung an seine untreue Gemahlin?
Jäh flatterte eine Krähe hoch, nahm Platz auf den Zinnen der Burgmauer, blickte ihm mit tiefschwarzen Augen in die Seele.
Er wandte sich um, den silbernen Kamm barg er in seiner Brusttasche, knapp über seinem Herzen. Dieser sollte ihm als ständige Mahnung an Verrat und Untreue dienen. Ein unnachgiebiger und tyrannischer Herrscher war es, der den weinenden Jungen in der Kälte stehen ließ und ab sofort mit harter Hand Caer Tucaron regierte.
Mit dem Lachen der vier Mädchen und der Herzensgüte seiner Frau war die Wärme aus den Kammern der Burg und aus seinem Herzen verschwunden.
Ein Schwarm Nebelkrähen zog in immer enger werdenden Kreisen um die Burgzinnen, ließ sich knarzend auf dem alten Kirschbaum in der Ecke des Burghofs nieder. Auch die eine, die den König zuvor ins Visier genommen hatte, mischte sich unters Krähenvolk, landete auf einem der dürren Äste. Ihr heiseres Gekrächze mahnte an das schaurige Lachen einer alten, boshaften Hexe.
Ewerthons kleines Herz wollte vor Leid zerspringen. So sehr er seine Augen anstrengte, die Umrisse von Mutter und Schwestern entfernten sich immer mehr, waren irgendwann nur mehr als Punkte weit, weit weg erkennbar, bis sie sich schlussendlich in den aufziehenden Nebelschwaden verloren.
Er rührte sich nicht von der Stelle, das nasse Gewand in Fetzen war zwischenzeitlich gefroren, harrte in der frostigen Kälte aus, hoffte auf eine Umkehr seiner geliebten Mutter.
In seinem Rücken bog sich der knorrige Baum unter all den schwarzgrauen Vögeln, die sich, dick aufgeplustert, auf ihm breitgemacht hatten. Aufmerksam beobachteten sie mit ihren dunklen, glänzenden Augen den Jungen.
Dieser beachtete sie nicht. Er konnte nicht verstehen, was geschehen war. An ein und demselben Tag wurden ihm Vater, Mutter und seine Schwestern entrissen. Gleichwohl sich der Streit seiner Eltern, durch die dicke Eichentüre gedämpft, seinem Wissen entzog, so fühlte er sich aus unerfindlichen Gründen am Leid seiner Mutter schuldig.
Die Tränen wollten nicht aufhören zu fließen. Der gnadenlose Nordwind blies ihm ins Gesicht, färbte seine Lippen blau und ließ die Tropfen auf den weichen Kinderwangen gefrieren. Der kleine Körper bebte und zitterte, doch er rührte sich nicht vom Fleck. Er würde hier ausharren, bis entweder seine Mutter zurückkehrte oder er selbst einen eisigen Tod fand.
Die Leibdienerin seiner Mutter, endlich durch das heisere Geschrei der Krähen angelockt, entdeckte ihn, halberstarrt in der frühen Abenddämmerung und holte ihn von der Burgmauer.
Nun erst, nachdem sie den Jungen in Sicherheit wussten, erhoben sich die Krähen und zogen laut kreischend in die Nacht.
Die Alten an den Nachtfeuern wussten wohl, dass Nebelkrähen Unheil verkündeten. Verhielt man sich klug und schenkte ihnen Gehör, so ließ sich das eine oder andere Missgeschick vielleicht noch abwenden. Verschloss man jedoch die Ohren vor den Nachrichten dieser schwarzäugigen Boten, so brach die Kümmernis unaufhaltsam über die Unglücklichen herein. Die weisen Ahnfrauen, die mit dem gebeugten Rücken und den langen weißen Haaren, wisperten an diesem Abend bei ihrer täglichen Suppe so manches Schutzwort.
Zu dieser dunklen Stunde war es gefährlich, mehr Weisheit als der König zu besitzen und vor allem dies kundzutun. Denn niemals und unter keinen Umständen durfte ein silberner Kamm, scheinbar achtlos von einer hübschen Dame fallengelassen, aufgehoben werden. Doch diese Warnung erreichte niemals die Ohren des Königs. Dafür fehlte es all den gelehrten Männern in den roten Kutten an Mut, und die alten Frauen waren klug genug, ihren Mund zu halten.
Die Warnung wäre auch zu spät gekommen. Tür und Tor hatten sich bereits geöffnet für finstere Zeiten.
Kiara, die Dienerin, nahm den Kleinen heimlich bei sich auf. Sie verstieß damit gegen den ausdrücklichen Befehl ihres Königs und war heilfroh, als nach unzähligen Tagen ein Bote Ounas eintraf.
Die Mutter holte ihren Sohn von diesem kalten Schloss und schützte ihn vor den Rachegedanken seines verblendeten Vaters.
Das Knacken der letzten Scheite im Kamin war das einzige Geräusch im Zimmer, holte den Erzähler und sein Publikum gleichermaßen zurück in die Wirklichkeit. Die Jüngeren lagen bereits zusammengerollt wie flauschige Katzenbabys auf den wärmenden Fellen, dicht beieinander, nuckelten ab und zu im Schlaf am Daumen, hatten das bittere Ende der Geschichte nicht mehr mitbekommen.
Einigen standen Tränen in den Augen, ob des traurigen Schicksals des kleinen, unschuldigen Prinzen und seiner vertriebenen Mutter, deren Los manche an ihr eigenes Schicksal erinnern mochte. Denn, dass die Königin zu Unrecht beschuldigt wurde, davon waren sie allesamt überzeugt.
Der Geschichtenerzähler erhob sich vorsichtig. Auch zu seinen Füßen lagen, in weiche Decken gehüllt, ein paar der Kleinsten. Stumm sah er sich um. Der Raum war wahrlich nicht groß, doch hier waren sie sicher, … für eine kleine Weile zumindest.
Achtsam wurden die kleinen Bündel hochgehoben und vor den Kamin getragen. Die Älteren nahmen sie in die Mitte, bildeten schützend einen Kreis um ihr wertvollstes Gut, ihre Nachkommen. Kinder unterschiedlicher Hautfarben, Menschen oder Mischgeister, junge Wesen und Gestalten, sie alle trugen die Hoffnung in sich, auf ein siegreiches Ende, auf einen erfolgreichen Neuanfang. Doch nicht nur die Hoffnung trugen sie als unerbittliches Erbe. In jedem Einzelnen verbargen sich Fähigkeiten, die bewahrt und beschützt werden mussten. So war es seit jeher und galt für ewig. Für ihre eigene persönliche Zukunft, sofern ihnen eine bevorstand, und für die Zukunft aller Bewohner aller Welten. Trotz unbestreitbarer Divergenzen hatten sie nur gemeinsam eine Chance.
Die Glut würde bald erlöschen, der Kälte Platz machen und ihre Glieder würden klamm werden. In ein paar Stunden, bei Sonnenaufgang, wollte er sich auf die Suche machen, nach in dieser Gegend rarem Holz oder anderem brennbaren Material. Bis dahin mussten sie ausharren.
Er schloss die Augen, spürte die Gegenwart der Frau, die auf der gegenüberliegenden Seite ihren Platz gefunden hatte. Dachte an den seidigen Glanz ihrer kupferroten Locken, die graublauen Augen und den sinnlichen Duft ihres Parfüms. Ein Bouquet von Rosen und Zitrusfrüchten, das ihm jedes Mal die Sinne schwinden ließ, wenn er sich zu lange in ihrer Nähe aufhielt. Er wusste um jeden Zentimeter ihrer, heute unter losen Kitteln versteckten Figur. Konnte es blind beschreiben, dieses verwirrende weibliche Wesen, das sich in seine Träume stahl, ihm oftmals den Schlaf raubte. Als diese Frau mit dem Tod rang, er tagtäglich den glühenden Leib in kühlendes Laken wickelte, um das rasende Fieber zu senken, ihre geschundene Haut mit heilenden Cremen salbte, belebende Kräuter braute, sie ihr auflegte oder einflößte, waren ihm solch aufwühlende Empfindungen fremd gewesen. In seiner Erinnerung war sie einfach nur ein Mensch, der so verbissen um sein Leben kämpfte, wie er es bis dahin selten gesehen hatte. Nachdem sie dieses unerbittliche Ringen für sich entschieden und er, lange Zeit später, ihr Vertrauen gewonnen hatte, erfuhr er um das Geheimnis ihrer Stärke. Dieses Geheimnis war bei ihm sicher aufbewahrt, wie einige weitere. Sie vertraute ihm zu Recht.
Abermals schweiften seine Gedanken ab. Sie hatte sich heute in seine Arme geworfen, etwas, das sie bis jetzt noch niemals gemacht hatte. Nicht einmal, als sie erfuhr, dass er es war, der wochenlang nicht von ihrer Seite gewichen war, kam sie ihm so nahe. Eher war es ein abwesender Blick, den sie ihm flüchtig zuwarf. Ein Blick, so weit entfernt von der Gegenwart, dass er nicht sicher war, ob sie seine Anstrengungen im Kampf um ihr Leben würdigte. Überhaupt froh über ihr wiedergewonnenes Leben war. Ein kühler Händedruck, den er heute noch spürte, war alles, als sie sich bei ihm bedankte.
Unruhig wälzte er sich auf die andere Seite. Diese Umarmung heute setzte ihm gründlich zu. Ihm schien, als wären die Konturen ihrer Silhouette in sein Innerstes eingebrannt. Es war mehr als ein flüchtiger Moment, als sie in seinen Armen lag. Er wusste es, denn sein Atem stockte in dem Moment, als ihr Körper sich an den seinen schmiegte.
Um seine Nachtruhe war es jetzt endgültig geschehen. Sein Herz raste und er fühlte sich wie eingesperrt in der Enge dieses Raumes. Fühlte ihre Gegenwart so übermächtig, dass er meinte, sie läge neben ihm.
Ein leises Rascheln ließ ihn aufhorchen, verdrängte seine Träumereien, lenkte seine Aufmerksamkeit in den stockdunklen Raum. Die Glut war bereits erloschen, er sah die eigene Hand vor Augen nicht, fühlte, wie sich irgendwer näherte. Auf leisen Sohlen, fast nicht vernehmbar, bewegte sich etwas in seine Richtung. Obwohl er es nicht glauben konnte, dass ihr Versteck so rasch entdeckt worden war, war er auf der Hut, bereit jeglichem Widersacher Paroli zu bieten, der eine Gefahr für ihn oder die seinen darstellte. Er spürte mehr, als dass er es bewusst wahrnahm, dass sich jemand, etwas, zu ihm nach unten beugte. Blitzschnell schoss seine rechte Hand vor, packte den Eindringling und zog ihn zu sich heran. Eine halbe Rolle zur Seite, und der Feind lag bewegungslos unter ihm. Spielte ihm seine Fantasie einen Streich? Ein Hauch von Rosen und Zitrusfrüchten breitete sich aus, ließ ihn kurz zögern. Unvorsichtigerweise, denn diese unverhoffte Pause nutzte der Angreifer, wand sich geschmeidig unter ihm hervor und warf sich nun seinerseits mit vollem Körpereinsatz auf ihn. Wieder streifte das verwirrende Duftbouquet seine Sinne. Er überlegte nicht lange, der Gegner war kampferprobt und schnell, doch wesentlich kleiner und nur halb so kräftig wie er. Wenn er ihn bezwingen wollte, dann musste er diesen Vorteil nutzen, bevor ihm der Unbekannte ein Messer an die Kehle setzte. Entschlossen griff er ins Dunkle und fasste …
„Würdest du bitte deine Hände von mir nehmen!“, ihre Stimme klang etwas heiser, doch nicht minder bestimmt.
Hastig nahm er die Hände von der bekrittelten Stelle. Sie brannten, als hätte er ins Feuer gelangt. Die Rundungen ihres Pos, auch wenn unter einigen Lagen Stoff verborgen, würden ihm wahrscheinlich auf ewig im Gedächtnis eingebettet bleiben.
Sie saß noch immer rittlings auf ihm, was eine Unterhaltung nahezu unmöglich machte. Zumindest für ihn, denn seine Konzentration litt erheblich unter dem Eindruck der letzten Sekunden und ihrer gegenwärtigen Stellung.
„Würdest du dich bitte von mir herunterbemühen?“, er bemerkte sehr wohl, dass er vom förmlichen „Ihr“ auf das vertraute „Du“ umgestiegen war. Gleichwohl die moderne Zeit auch bei ihm Einzug gehalten hatte, noch immer konnte er sich nicht entschließen, vertraute Relikte seiner Herkunft, völlig aus seinem Sprachschatz zu entfernen.
Elegant schwang sie sich seitwärts, und statt ihres, vom Kampf erhitzten Körpers, umfing ihn mit einem Mal unangenehme Kühle, die ihn frösteln ließ. Sie nahm neben ihm Platz.
Er richtete sich auf.
„Hchm Hchm. Was in aller Welten sollte das?“
Sie lächelte im Finstern, er spürte es. Sein Räuspern und die raue Stimmlage verrieten ihr wesentlich mehr, als ihm lieb war.
„Du hast mir noch nicht erzählt, wie es meinen Töchtern geht“, leise flüsterte sie, und dachte zur selben Zeit an das zerknitterte Foto in ihrer Kitteltasche. Eine der wenigen und liebgewordenen Erinnerungen an ihr früheres Leben, die ihr geblieben waren. Jede Einzelheit der Aufnahme hatte sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Die zwei kleinen blonden Mädchen im Vordergrund, mit bunten Schleifen im Haar, roten Bäckchen und strahlendem Lächeln, eines mit Zahnspange, eines mit Zahnlücke. Im Hintergrund der Vater, augenscheinlich von südländischer Herkunft, mit schwarzem Haar und dunklem Teint. Daneben die blonde Mutter mit bereits sichtbar gewölbtem Babybauch, beide stolz auf ihre Mädchen blickend. Alle hübsch gemacht für den Fotografen, dem es gelungen war, dieses wahrhaftige Familienglück gekonnt einzufangen, für die Ewigkeit festzuhalten.
Denn, eines ihrer Geheimnisse, waren ihre Kinder, die es zu schützen galt. Vor allem ihre Töchter, die sie schweren Herzens hatte ziehen lassen, um dem Wohl aller nicht im Wege zu stehen. Jeder, der heute Anwesenden, zahlte seinen eigenen persönlichen Preis für ihre gemeinsame Mission. Ihr Preis waren die speziellen Fähigkeiten ihrer Töchter, die nur die beiden besaßen, auf die sie allesamt dringend angewiesen waren. Die ihre beiden Mädchen so besonders machten, sie jedoch zugleich von ihrer Seite gerissen und in Gefahr gebracht hatten. Doch taten sie das nicht alle? Sich in Gefahr bringen für die Bewohner der Welten, die oftmals nicht einmal wussten, dass sie existierten, real waren? Während die Unwissenden selig in ihren Betten schlummerten, trotzte diese kleine Gruppe von Eingeweihten dem Schicksal. Sie hatten sie zur Anführerin bestimmt, gegen ihren ausdrücklichen Willen. Nie mochte sie sich in den Vordergrund stellen, obwohl der Mann neben ihr, diese Bestimmung schon lange in ihr entdeckt hatte, bevor sie nur davon ahnte.
Ihr Leben, ihr vorheriges Leben, war so ganz anders, als das, das sie jetzt an seiner Seite führte. Einige Außenstehende nahmen an, dass sie ein Paar wären, und sie war sich selbst nicht ganz sicher, wie ihre Beziehung am besten zu beschreiben wäre. Sie verdankte ihm ihr Leben, das war gewiss. Anfangs hasste sie ihn dafür, haderte mit dem Schicksal, nicht endlich den Frieden gefunden zu haben, den sie für sich erhofft hatte. Wenn er ihr das eigene, zähe Ringen um ihr Leben schilderte, so sprengte dies ihre Vorstellungskraft. Sie wusste, damals wollte sie sterben, wollte die schwere Last ihrer Schuld abgeben, die düsteren Zeiten hinter sich lassen. Hatte keine Kraft mehr, nicht einmal der Gedanke an ihre Kinder konnte sie halten. War es doch ihr grauenhaftes Schicksal, dass sie mitverschuldet hatte.
Sie spürte, wie hässliche Erinnerungen nach ihrer Seele krallten. Noch heute überfiel sie ein Schauder, wenn sie an damalige Ereignisse dachte. Noch heute musste sie darauf achten, nicht zu sehr in die Vergangenheit abzugleiten.
Er legte seine Hand auf ihren Arm, spürte die aufgestellten, feinen Härchen auf ihrer Haut, wusste, womit sie sich quälte.
„Es geht ihnen sicherlich gut. Gewiss sind sie wohlauf und werden wohl auch bald fündig werden. Binnen kurzem werden sie zu uns stoßen und du kannst sie wieder in deine Arme schließen, davon bin ich überzeugt.“ Zumindest für eine kurze Weile, bis sie sich wieder auf die Suche machen, fügte er in Gedanken hinzu.
Dann tat er etwas, was für ihn selbst sehr überraschend kam. Er zog sie sanft zu sich. Ohne Zögern bettete sie ihren Kopf an seine Brust, lag in seinen Armen und er hielt den Atem an.
Während sie hin und her rutschte, nach einer bequemen Stellung suchte, hörte er sie murmeln:
„Du solltest unbedingt ab und zu ein- und ausatmen. Auch du kannst auf Dauer nicht ohne Sauerstoff überleben.“
Langsam atmete er aus. Er strich zärtlich über ihr seidiges Haar. Wie oft hatte er von diesem Augenblick geträumt. Er fühlte, wie sie im Dunkeln zu ihm hochsah. Es war noch immer stockfinster. Und als hätte ein Fremder die Regie über sein Tun übernommen, senkte er seinen Kopf. So sehr er von diesem Moment geträumt hatte, genauso fürchtete er ihn. Was, wenn sie nicht dasselbe empfand wie er? Was setzte er alles aufs Spiel? Doch da war es bereits zu spät. Ihre Lippen trafen sich, … zu einem sanften, behutsamen Kuss. Es fiel ihm nicht schwer, seine Leidenschaft zu zügeln, denn diese würde sie endgültig verschrecken.
Dieser Kuss besiegelte ein Versprechen, bewahrt als Geheimnis dieser besonderen Nacht. In der ein Weltuntergang prophezeit worden war, und sie sich soeben für die Liebe entschieden hatten, die nach Verheißung, Rosen und Zitrusfrüchten schmeckte. Die eine Zukunft in sich barg. Auch wenn das Krieg bedeutete.
Tagelang war der Fremde mit ihm bereits unterwegs und Ewerthon noch immer nicht bei seiner Mutter. Wie weit konnte sie zu Fuß, mit vier Kindern im Schlepptau, gekommen sein? Der Bote, der eines Abends so unverhofft in der Hütte der Dienerin stand, war ein wortkarger Bursche. Hätte er nicht das Schriftstück, dem noch das Parfum seiner Mutter anhaftete bei sich gehabt, er wäre keinesfalls mit ihm gegangen. Die Dienerin konnte nicht lesen, doch Ewerthon erkannte augenblicklich den liebevollen Schwung dieser Schrift. Es war ein beliebtes Spiel zwischen Mutter und Sohn gewesen. Eine Art Geheimschrift entwickelte sich, Buchstaben, Zeichnungen und Zahlen, so lernte Ewerthon das Schreiben, Rechnen und Lesen. Kleine, lustige und kniffelige Rätsel, von der Mutter auf Pergament gekritzelt, mussten von Ewerthon gelöst werden. Oft genug wurde deren Lösung mit kleinen Leckereien belohnt. Deshalb entzifferte Ewerthon aufmerksam Wort für Wort der Mitteilung.
Seine Mutter war bei einem entfernten Verwandten untergekommen. Es ginge ihr gut, so versicherte sie ihm. Der Verwandte, ein ehrenwerter und hilfsbereiter Edelmann, hätte ihr und seinen Schwestern Unterschlupf gewährt. Dessen Gattin wäre vor kurzem gestorben und so käme ihm die Anwesenheit einer agilen, tatkräftigen Frau, die auch die Dienstboten befehligen könne, gerade recht. Ouna schilderte ihn als duldsam und entgegenkommend, der auch mit ihren vier Töchtern gut zu Rande kam.
Der Schluss der Nachricht lautete:
„Ewerthon, mein innig geliebter Sohn, vertraue dem Boten, den ich zu dir gesandt habe, und folge bedingungslos seinen Weisungen. Es wird zu deinem Besten sein. Ich trage dich allzeit in meinem Herzen. Für immer deine Mutter.“
Als Ewerthon die Botschaft fertig durchgelesen hatte, wurde sein Herz schwer. Obwohl er seine Mutter über alles liebte, wollte er seinen Vater nicht im Stich lassen. Es ging über seine kindliche Vorstellungskraft, dass er nun, mit einem Federwisch, seinen Vater für immer verloren hatte. In seiner unschuldigen Erinnerung sah er nicht die starre Kälte, die sich ins Herz des Königs eingenistet hatte. Für ihn war er immer noch der gütige Herrscher, der voller Stolz auf ihn, seinen Thronerben, blickte.
Rupur, so der Name des Boten, war kein Freund von vielen Worten. Er erkannte sofort das Dilemma, indem sich sein kleiner Schützling befand. Ohne viel Federlesens packte er die wenigen Habseligkeiten des Jungen, nahm ihn an der Hand und setzte ihn aufs Pferd. Dann hieß er ihn mit strengem Blick zu schweigen und führte die Pferde vorsichtig aus dem Burgtor. Bevor Ewerthon wusste, wie ihm geschah, befand er sich auf einer Reise, die sein Leben für immer verändern sollte. Jedoch! Das wurde ihm erst lange Zeit später klar.
Meist trieb Rupur sein Pferd ein paar Längen voran, um den bohrenden Fragen des Jungen von vornhinein aus dem Weg zu gehen. Ewerthon trabte auf seinem Klepper hinterdrein. Er konnte sich noch gut erinnern, wie geschockt er gewesen war, als er das erste Mal dieses Pferd sah. Doch er musste Rupur Recht geben. Sie erregten mit ihren klapprigen Pferden eher Spott als Bewunderung. Damit schütze er sie beide vor Räubern und neugierigen Blicken. Wiewohl Kelak das Schicksal Ewerthons nicht kümmerte, so hatte er doch Ouna verboten, ihn je wieder zu sehen. Eine Vereinigung von Mutter und Sohn wäre demnach Hochverrat. So war es wohl angebracht, möglichst wenig Aufhebens um ihre Identität und ihr Reiseziel zu verursachen.
Soundso sollte es noch Jahre dauern, bis Ewerthon seine Mutter wieder in die Arme schließen konnte. Doch das wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht.
Jeden Morgen erwachte er mit dem sicheren Gefühl, nun endlich müsse die Reise ein Ende haben. So abenteuerlich es war, abseits der Wege auf verschlungenen Pfaden durch die Wälder zu streifen, er sehnte sich nach Ouna und sogar nach seinen Schwestern. Und wie jeden Morgen gab ihm Rupur einige Augenblicke für sich, in denen Ewerthon seinem Pferd einfach die Zügel ließ und in Wehmut an Ouna und seine Schwestern dachte. So hatte er bereits Längen Vorsprung, bis der schweigsame Bote hinter ihm herkam. Wenn dann die Sonne mehr und mehr hinter dem Horizont verschwand, schwand mit ihr auch seine Hoffnung, heute noch in Ounas lächelndes Gesicht zu blicken. Hatten sie ihr Nachtlager aufgeschlagen, holte er in aller Heimlichkeit ein Tüchlein aus seinen Taschen. Das Tüchlein, mit dem seine Mutter einst seine Tränen trocknete. Noch immer haftete der süße Duft von Rosen an ihm. Die Erinnerung an Abende, an denen seine Mutter über ihre komplizierten Stickereien gesessen hatte, er spielend zu ihren Füßen, wurde lebendig. Geschichten, erzählt vor dem Einschlafen, zärtliches Glätten des Bettzeugs, sanfte Gute Nacht Küsse und ein Lächeln, wärmer als die Sonnenstrahlen, all dies beschwor der Duft ihres Parfums herauf. Nun war das Kleinod zerknittert und von seinen vielen heimlichen Tränen unansehnlich geworden. Doch um nichts in der Welt hätte er sich davon getrennt. In vielen einsamen Nächten war es sein Schutz vor bösen Träumen, tagsüber die einzige Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Der Mond, der zu Beginn ihrer Reise noch voll und rund gewesen war, nahm merklich ab. Bis seine Sichel, silbern glänzend, die nahende Schwarzmondnacht ankündigte. Sie hatten Berge erklommen, Flüsse durchquert und waren über weites Wasser gesegelt. So hoch im Norden war Ewerthon noch nie gewesen. Unzählige Tage und Nächte ohne ein Dach über dem Kopf, und es wurde kälter und kälter.
Ewerthon konnte nicht mehr glauben, dass Rupur ihn zu seiner Mutter führte. Wäre nicht die zerknitterte Botschaft gewesen, die er immer und immer wieder betrachtete, er wäre auf der Stelle umgekehrt. Ja, er hatte es bereits aufgegeben, Rupur nach dem Ziel ihrer Reise zu fragen. Außer brummigen Tönen kam nichts über die Lippen des wortkargen Boten.
So war er dann nicht minder überrascht, als Rupur eines Abends mit klarer Stimme das Wort an ihn richtete. Sie hatten eben ein kleines Feuer entfacht und Wasser für ihre Mahlzeit aufgesetzt, da brach Rupur sein Schweigen.
„Morgen sind wir da, junger Herr.“
Ewerthon war über diesen einen plötzlichen Satz so verblüfft, dass es einige Zeit dauerte, bis er den Sinn desselben verstand.
„Morgen werde ich meine Mutter sehen!“, er konnte es kaum fassen.
„Nein, junger Herr, morgen werden Sie Gillian sehen“, berichtigte ihn der Bote.
„Gillian, wer ist Gillian?“ Er konnte sich an den Namen des freundlichen Verwandten, der seiner Mutter Unterschlupf gewährt hatte, nicht mehr erinnern. Hatte Ouna ihn Gillian benannt?
„Gillian ist der oberste Lehrmeister der Gestaltwandler. Sie werden ihn morgen kennen lernen.“ Und mit dieser Auskunft war die Redseligkeit von Rupur für den Rest des Abends erschöpft.
So sehr Ewerthon auch in ihn drang, sein Begleiter hatte sich wieder in den brummigen Boten verwandelt, der kein Wort zu viel sprach. Auf seinem Schlaflager wälzte sich Ewerthon unruhig von einer Seite auf die andere. Natürlich hatte er von diesen Wanderern gehört, den sogenannten Gestaltwandlern. Geschichten über sie verbreiteten meist Angst und Schrecken unter dem einfachen Volk. Gerade Gestaltwandler, die sich in bedrohliche Tiere verwandelten, und nicht mehr zu ihrem menschlichen Dasein zurückfanden, waren gefürchtet. Doch aus welchem Grund sollte er deren obersten Lehrmeister kennenlernen? Was hatte sich seine Mutter dabei gedacht? War Rupur wirklich der, für den er sich ausgab, oder ein verdingter Scherge des erzürnten Königs? Vielleicht sollte er ja den Gestaltwandlern morgen zum Fraße vorgeworfen werden und so zu Tode kommen?
Dass seine Mutter ihn, vor der momentan noch erschreckenden Erinnerung seiner unbeabsichtigten eigenen Verwandlung, durch ihre Berührung geschützt hatte, entzog sich seinem Bewusstsein.
Noch während er einen Fluchtgedanken nach dem anderen ersann, fiel er in einen traumlosen Schlaf. Früh morgens, ohne dass er seine wirren Ideen in die Tat umgesetzt hatte, löschten sie das Lagerfeuer, brachen ihre Zelte ab und sattelten die Pferde. Nun war es Ewerthon, der gedankenverloren und in Schweigen gehüllt das letzte Stück der Reise zurücklegte.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Rupur sein Pferd zum Stehen brachte. Im Schritttempo trotteten sie nun weiter und Ewerthon vermutete, dass sie in unmittelbarer Nähe ihres Zieles angelangt sein mussten. Das grüne Moos dämpfte jedes Geräusch und je tiefer sie in das Unterholz vordrangen, desto schwieriger kamen sie voran. Ewerthon benötigte all sein Können, um sein Pferd zum Weitergehen zu bewegen. Sogar das Vogelgezwitscher in den Bäumen verlor sich, und das immer dichter werdende Gestrüpp wurde undurchdringlich. Rupur glitt vom Pferd und band es an einem kleinen, knorrigen Gehölz fest. Er deutete Ewerthon, es ihm gleichzutun. Reichte der Wall, der vor ihnen liegenden Sträucher bloß bis zum Bauch des Hünen, so verschwand der kleine Junge fast vollkommen in den filzigen Zweigen des Immergrüns. Doch bevor er nur einen Atemzug machen konnte, spürte er die starke Hand Rupurs, die ihn mit einem Ruck aus dem Dickicht befreite. Plötzlich saß er hoch oben auf dessen Schultern und blickte von dort auf die Welt unter sich.
„Das ist ein Siebenbaum. Alles an ihm ist giftig. Hätte nur eines der Blätter Ihren Mund berührt, wären Sie jetzt tot. Hab mir nicht gedacht, dass Sie noch so klein sind. Ich bitte Sie um Entschuldigung für meine Nachlässigkeit.“ Ewerthon schauderte. Eigentlich war er groß für sein Alter. Doch er hielt seinen Mund, so erschrocken war er über dieses unbekannte und lebensgefährliche Gewächs.
„Dieser Ring ist das letzte Hindernis. Ich werde Sie tragen, sofern ich Ihre Erlaubnis habe.“
So hielt der kleine Gestaltwandler sicher verwahrt auf den Schultern Rupurs Einzug in Stâberognés.
Er schlug die Augen auf. Der große Tag war angebrochen. Fünfzehn Jahre war es her, seit er in Stâberognés ein Heim gefunden hatte. Aus dem schmächtigen Jungen von einst, war ein kräftiger junger Mann geworden. Ouna würde stolz auf ihn sein. In seinen Händen hielt er ein Tüchlein. Man mochte es kaum glauben, doch noch immer barg es den vertrauten Duft von Rosen, dem Lieblingsparfum seiner Mutter. All die Jahre über trug er diese letzte Erinnerung an glückliche Kindheitstage an seinem Herzen. Bald nun würde er seine Mutter und seine Schwestern wiedersehen. Heute, mit dem Beginn seines 21. Lebensjahres würde er die letzte Prüfung ablegen. Danach war er frei, frei zu gehen, wohin immer es ihm beliebte. Doch noch lag der schwierigste Teil vor ihm. Das vierte und letzte Sonnenfest des Jahres wurde heute gefeiert, die Nacht der Wintersonnenwende. Eine weiße Schneeschicht bedeckte den Wald rund um die geheime Ausbildungsstätte der Gestaltwandler. Bereits jetzt, in den frühen Morgenstunden, schwebten dicke Flocken vom grauen Himmel. Eine klare Nacht versprach bessere Sichtverhältnisse, doch brachte sie auch klirrende Kälte mit sich, vielleicht wäre ein bedeckter Himmel besser. Seine Gedanken wanderten zurück, an eine längst vergangene Winternacht. Vor fünfzehn Jahren.
Von Rupur sicher durch den giftigen Schutzwall des Siebenbaums getragen, fielen ihm bereits von weitem die unzähligen kleinen Hütten auf, die sich, unter dem dichten Dach von Bäumen, an deren Stämme schmiegten. Später würde er wissen, dass es sich um Kraftbäume der Gestaltwandler handelte. Jeder Gestaltwandler besaß einen speziellen Baum. So, wie sie in ihren Gaben unterschiedlich waren, so existierten auch die Bäume individuell, unter denen sie hausten. Mit der Zeit war eine beeindruckende Vielzahl von Gewächsen entstanden, und zu einer bunten Einheit verschmolzen. Der stolze Ahorn, neben dem schlanken Nussbaum. Kleinwüchsige Ebereschen, silbrig glänzende Birken, Pappeln, so hoch, dass deren Wipfel für seine Augen unsichtbar im Dunkel über ihm verschwanden, Haselnusssträucher, Ulmen und sogar Apfelbäume wuchsen einträchtig neben-, vor- und hintereinander. Einträchtig, doch nicht zu knapp. Beim genaueren Hinsehen bemerkte er den gebührenden Abstand, der zwischen den Hütten herrschte. Eine Hecke von Schwarzdornsträuchern hatte sich zum Beispiel kreisförmig um eine elegante Birke gescharrt, die etwas abseits stand. Fast schien es, als wollten deren spitzen Dornen davon abhalten, den Bewohner dieser Hütte ungebeten aufzusuchen. Es passierte just in dem Augenblick, als sein Blick zur nächsten Hütte wandern wollte. War es eine Täuschung seiner Sinne? Zwischen den neun Büschen um die Birke war ein Durchgang entstanden. Unten etwas breiter und nach oben hin spitz zulaufend. Aus diesem Portal schritt nun ein Hüne von Mann. Sein roter Mantel streifte den Waldboden und allerlei dürres Kleinzeug verfing sich in ihm. Das störte den mit raschen Schritten Herannahenden nicht im Geringsten. Das weiße Gewand, so schlicht es unter dem Mantel auch sein mochte und der Stab aus einfachem Holz geschnitzt, verrieten ihn als Träger von hohem Rang. Obwohl Ewerthon noch auf den Schultern Rupurs thronte, blickten ihm fast auf gleicher Höhe zwei stahlblaue Augen bis tief in seine Seele. Wie eine heiße Woge spürte er etwas Unbekanntes durch seinen Körper fließen, das vom Scheitel bis zur Sohle sein innerstes Wesen ergründete.
„Sei gegrüßt in Stâberognés, ich bin Gillian, der oberste Lehrmeister der Gestaltwandler“, so die Begrüßungsworte des Obersten.
Allerdings, dessen Lippen hatten sich nicht bewegt! Rupur setzte ihn am Boden ab. Ewerthons Gedanken überschlugen sich. Der ferne Wald! Natürlich, es gab nur diese eine Möglichkeit. Er befand sich inmitten des heiligen Waldes, dem Randsaum am Ende der Welt, die letzte Grenze zur großen Leere. Niemand, der einigermaßen bei Verstand war, hatte sich jemals bis hierher gewagt. Und von den wenigen Unbesonnenen wusste man, dass sie niemals zurückgekommen waren. Bruchstückhaft fielen ihm die grausamen Geschichten ein, die sich um diesen verwunschenen Wald rankten. Von Fabelwesen war die Rede, von grausamen Blutritualen, menschenfressenden Bestien. Er war verloren. Eine Berührung an seiner rechten Schulter ließ ihn unversehens zusammenzucken.
„Nochmals herzlich willkommen in deiner neuen Heimat.“ Dieses Mal bewegte der blonde Hüne neben ihm die Lippen und lächelte ihn an. Ewerthon konnte nicht umhin dieses Lächeln zu erwidern. In seiner kindlichen Weisheit spürte er, dieser Mensch, was immer er auch sein mochte, hatte ein gutes Herz. Jäh sprang ihn die Traurigkeit an. Auch seine Mutter besaß ein reines Herz und es hatte ihr nichts gebracht. Bis plötzliche Klarheit ihn durchdrang. Vom Scheitel bis zur Sohle. Der Schutzzauber, den Ouna fürsorglich über ihn gelegt hatte, fiel ab, wie altes Gewand.
„Was bin ich?“, tiefste Verzweiflung lag in dieser geflüsterten Frage.
Gillian blickte wohlwollend auf ihn herab.
„Du bist einer der mächtigsten Gestaltwandler, die diese Welt je erlebt hat.“
Ewerthon wollte kein Gestaltwandler sein.
„Ich will es nicht. Bitte, ich will nur zurück zu meiner Mutter, lasst mich gehen.“
Flehend sah er zu Gillian hoch.
Dieser kniete sich nieder und blickte in seine Augen.
„Hör, kleiner Tigermann. Nicht ich habe dich ausgesucht, sondern du hast mich gefunden. Du warst es, der jeden Morgen die Richtung angegeben hat. Rupur ist dir nur gefolgt, nicht du ihm. Doch bin ich froh, dass du mich gefunden hast. Nur ein Wanderer, der reinen Herzens ist, findet unbeschadet seinen Weg hierher.“
Ewerthon verstand sofort. Er erinnerte sich. Jeden Morgen war er es, der los geritten war, Rupur war erst nachgekommen, wenn er, Ewerthon, die Richtung eingeschlagen hatte.
„Wann werde ich meine Mutter wiedersehen?“
Und obwohl er sie herauswürgte, die Frage, er musste sie stellen: “Wieso hat mein Vater uns verstoßen?“
Gillian richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Sinnend sah er in die Ferne.
„Du wirst deine Antworten erhalten, zur rechten Zeit, am rechten Ort. Das ist gewiss.“
Er blickte zu ihm hinab und lächelte. „Darf ich dir nun deine neuen Brüder und Schwestern vorstellen?“