Herzstein III Strich & Faden - Elsa Wild - E-Book

Herzstein III Strich & Faden E-Book

Elsa Wild

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Beschreibung

Das bislang bekannte Weltengefüge gerät ins Wanken. Bewährte Bündnisse zerbrechen – neue Allianzen werden gebildet, Familien trennen sich. Das Namenlose schmiedet rabenschwarze Pläne und bleibt unnachgiebig in seinem Durst nach Rache. Neid und Missgunst nehmen überhand, eine verheerende Seuche breitet sich aus. Auch der dritte Teil der Herzstein-Saga verspricht wieder Spannung pur. Mira und Ewerthon finden sich in einem gemeinsamen Traum wieder und stoßen im heiligen Eibenhain auf eine wahrhaftige Überraschung. Der Psychiater Professor Doktor Thomas Stein begibt sich auf die Suche nach Stella, seiner Patientin, und erlebt schier unglaubliche Abenteuer, die seine analytische Denkweise mehr als einmal auf eine harte Probe stellen. Alexander, der Geschichtenerzähler, zweifelt am eigenen Urteilsvermögen und an Olivia. Nichts ist wie es scheint. Neue Protagonistinnen tauchen auf und entführen uns in die geheimnisvolle Welt des Orients. Im dritten Teil der Herzstein-Saga wird erneut die Vielschichtigkeit der Roman-Reihe sichtbar. Komplexe Charaktere, verschiedene Erzählstränge, eine mitreißende Handlung in beeindruckender poetischer Bildsprache - so wird fantastische Literatur lebendig. Kein Buch für nebenbei. Doch eines, das Aufmerksamkeit facettenreich lohnt.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Elsa Wild

HERZSTEIN III

Strich & Faden

Fantasy Roman

 

Elsa Wild

Herzstein III

Strich & Faden

3. Band

Verlag INNSALZ, Munderfing

www.innsalz.eu

Grafik:

Aumayer druck & media GmbH, Munderfing

Druck:

PBtisk, a.s.

ISBN 978-3-903496-28-6

1. Auflage, November 2024

©Elsa Wild

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

 

Wer vom Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht haben.

Wird im selben Kreis all sein Leben traben.

Kommt am Ende hin, wo er hergerückt.

Hat der Menge Sinn nur noch mehr zerstückt.

Wer vom Ziel nichts kennt, kann’s doch heut erfahren.

Wenn es ihn nur brennt nach dem Wirklich-Wahren.

Wenn in Eitelkeit er nicht ganz versunken

und vom Sein der Zeit nicht bis oben trunken.

Denn zu fragen ist nach den stillen Dingen,

und zu wagen ist, will man Licht erringen.

Christian Morgenstern (abgewandelt)

 

Für meine Mama und bestrickend bunte Lebensmomente

 

Prolog

Auf den ersten Blick zeigte der Teppich ein vertrautes Bild. Ein riesiges Zelt, geschmückt mit zahlreichen bunten Wimpeln, beanspruchte den Großteil des geknüpften Gemäldes. Seite an Seite tummelten sich zottige Eselchen mit ledrigen Sätteln auf ihrem Rücken und karamellbraune Kamele, die ständig mit ihren Zähnen malmten, unabhängig davon, ob deren Maul leer oder voll war. Steingraue Elefanten mit respekteinflößenden Stoßzähnen grasten auf der üppig grünen Wiese. Was nun schon etwas befremdlicher schien. Handelte es sich um eine fruchtbare Oase inmitten der trockenen Wüstenlandschaft? Hingegen, im Hintergrund gab es keine sandigen Dünen in unverwechsel­baren Ockerfarben zu entdecken. Soweit das Auge reichte, er­streckte sich die saftige Graslandschaft unter tiefblauem Himmel, dessen Azur gleichfalls exotisch anmutete. Hier, in ihrer Heimat, färbte sich der Himmel über ihnen allenfalls in verwaschenem Grau, meist mit gelblichem Schleier, den die Wüste auf alles legte, wohin der Südwind ihre Sandkörnerblies.

Das Mädchen streifte seine Pantoffel ab und nahm vorsichtig auf dem Teppich, innerhalb der bunten Kulisse, Platz. Seine Fingerspitzen fuhren andächtig über den seidigen Flor. Abertausende winziger Knoten waren vonnöten gewesen, um diese Vollkommenheit zu erschaffen. Nach unfassbaren zwei Jahren war das Kunstwerk endlich fertig. Entworfen, gezeichnet, geknüpft und geschoren lag es scheinbar stumm auf der Erde. Einzig das Kind vernahm die Stimme der Farbenpracht. Die Kleine wusste um die Mühsal der Knüpfarbeit. Sie kannte die Geheimnisse verschiedenster Herstellungstechniken, wie symmetrisch und asymmetrisch geknüpfter Knoten, die Unterschiede in der Herstellung grober und feiner Teppiche. Wobei letztere den Knüpferinnen, außer ihren speziellen Fertigkeiten, auch immense Geduld und unendlich viel Zeit abverlangten, die Rücken krumm werden und die Gelenke schmerzen ließen. Das eine war das Wissen um Technik, ihr war es außerdem gegeben, den Geschichten der Teppiche zu lauschen und jene folgten ihren Wünschen. Das war Magie.

Darum war sie die Auserwählte.

Das Mädchen blickte auf. Versuchte, sich all die Eindrücke rundum für immer einzuprägen. Das vertraute Stimmengewirr, wie in Dutzenden von Taubenschlägen, hoch auf den Dächern der Stadt. Mal verführerisches Gurren, heiseres Gekrächze, heimliches Getuschel oder lautstarkes Gezanke. Es seufzte. Sein schmaler Brustkorb hob und senkte sich unter der Bürde seiner Aufgabe. Dieser tiefe Atemzug bescherte ihm zur gleichen Zeit ein buntes Durcheinander von Gerüchen. Sandelholz, Kardamom, Nelken, Rosenöl, all dies und mehr bedeutete Heimat. Es runzelte die Nase. Schnupperte den Duft des heißen Kaffees, der soeben gebrüht wurde, und der frischgebackenen Fladen auf heißem Stein. Das Meckern und die strenge Ausdünstung der Ziegen, das Brummen fetter Fliegen, welche rohe, zur Schau gehängte Fleischstücke umschwirrten, dies alles verschmolz zum unverwechselbaren Spektrum seiner Welt. Winzigkleine Staubkörnchen, wachgeküsst von ersten neugierigen Sonnenstrahlen, wirbelten durch die Luft. Der Ruf des Mu‘adhdhin aus der blendend weißen Moschee ihres Viertels mahnte zum Morgengebet.

Schwindel erfasste das Mädchen und die Gesichter derer, die es umringten, zerflossen, wurden eins vor seinen Augen.

Das Gemurmel der Familie, an diesem bedeutsamen Tag zusammengekommen um Abschied zu nehmen, verstummte.

Nur mehr die Alte war zu hören, als sie die bedeutsamen Worte sprach und ihre Jüngste auf die Reise schickte.

Niemand konnte voraussehen, was das Mädchen erwartete. Welchen Gefahren es trotzen musste, welche Erfolge ihm beschieden waren. Soundso gab es keine andere Wahl.

Der Herzstein war gefallen, auch ihre Heimat bedroht. Und nicht nur das! Die grauhaarigen Ahninnen wussten, alle Welten wären dem Niedergang geweiht. Mit ihnen die Sterne, der Mond und die Sonne, das Leben als solches wäre erloschen.

Eine einzige Chance war ihnen gegeben. Orient und Okzident mussten sich wiederfinden. Einzig vereint konnten sie dem Feind gegenübertreten.

Die Kleine konzentrierte sich auf das bunte Zirkuszelt, die vertrauten Kamele in verschiedenen Braunschattierungen - sie selbst liebte die hellen, fast milchfarbenen, und schloss dann ihre Augen.

All unser Wissen wird dich begleiten. Irgendwann sehen wir uns wieder – vielleicht in einem anderen Leben – in einer anderen Welt. In sha’ Allah!

Das waren die letzten Worte, die sie vernahm, bevor ein Wirbelsturm sie erfasste.

 

Stellas Welt I

 

Aufbruch

Professor Doktor Thomas Stein saß zur Salzsäule erstarrt. Einige Minuten verstrichen, in denen er mit leerem Blick die hellgelb lackierte Oberfläche der verschlossenen Tür fixierte - erneut so ein farbenpsychologisch ausgefeiltes Projekt, das Heiterkeit und Vertrauen wecken sollte - bevor wieder Leben in ihn kam.

Gelb stand natürlich auch für scharfen Intellekt, und der war gerade aufs Äußerste gefordert. Zum einen verarbeitete sein nüchterner Verstand den Bericht, welchen er über seine Patientin erhalten hatte, zum anderen hing er zusätzlich an Alexanders hastig vor die Füße geworfenen Informationen fest. Ähnlich einer hängengebliebenen Schallplatte leierten ein und dieselben Gedanken durch seinen Kopf.

Es war ausgeschlossen, dass Stella di Ponti jemals ein Kind geboren hatte, geschweige denn, sie jemals schwanger gewesen war! Das ging unumstößlich aus dem ihm eben zugestellten medizinischen Befund hervor. Das Papier raschelte in seinen zitternden Händen. Ruckartig legte er die verstörenden Zeilen auf den Tisch. Fast gespenstisch weiß hob sich das einzelne Blatt vom blankpolierten dunklen Holz ab, hielt seinen Blick und Geist gefangen. Dass Stella selbst zutiefst überzeugt war, Mutter zu sein, wäre womöglich erklärbar. Zusätzlich hatten dies aber ihre Eltern bei deren Einlieferung angegeben, ja steif und fest behauptet. Wie konnte so etwas passieren?

Die Worte des hünenhaften Geschichtenerzählers schwirrten pausenlos durch den Raum … und die Synapsen seines Gehirns.

Sie ist mächtiger, als wir beide es uns vorstellen können. Sie kontrolliert die Zeitachse! Entweder es gibt irgendwo einen Zeitriss, den sie nutzt, oder die Welten kommen sich näher, und sie weiß darum. Es ist einerlei, denn deren Bedeutung ist dieselbe. Wie ich schon sagte, ihre Kräfte reichen weit über unser beider Vorstellung hinaus.

Damit war Alexander aus dem Büro gestürzt und ließ ihn, den Mann der Wissenschaft, perplex am Schreibtisch sitzen.

Er war Mediziner, Analytiker. Das Denken um sieben Ecken war ihm fremd. Obgleich tagtäglich mit den Fantasiewelten seiner Patienten konfrontiert, konnte er mit Zeitverwerfungen und mystischen Kapuzenwesen wenig anfangen. In seiner Wirklichkeit existierten sie schlichtweg nicht.

Er blickte auf. Langsam beruhigten sich Hände und Herzschlag, das Vibrieren ebbte ab.

Es musste eine logische Erklärung für all die Geschehnisse geben. Irgendetwas, ein riesiges Brett vielleicht, verstellte ihm den Blick darauf. Zumindest momentan. Der Arzt erhob sich, begann im Zimmer auf und ab zu laufen. In seiner rechten Hand hielt er weiterhin den Brieföffner, der zwischen seinen Fingern kreiste. Ein Ausdruck äußerster Konzentration, sein Verstand arbeitete auf Hochtouren.

Professor Doktor Thomas Stein verfügte ebenfalls über eine Gabe. Begriffe auf zahlreichen bunten Kärtchen entstanden in seinem Kopf. Der Kartenstapel wuchs, mischte sich, driftete in verschiedene Richtungen auseinander. Vor seinem inneren Auge formte sich der Name Stella, platzierte sich in tiefblauen Großbuchstaben mittig in der Gedankenlandkarte. Die anderen bunten Kärtchen beendeten ihren Wirbel und zentrierten sich darum. Thomas Stein las sie alle. Legte Querverbindungen und löschte schlussendlich den dunkelblauen Schriftzug. Was blieb übrig, wenn man Stella aus dem Spiel nahm? Der Brieföffner stoppte abrupt. Der Lauf des Arztes ebenso.

Der Seerosenteich! Unerheblich, ob oder was seine Patientin sich zusammengereimt hatte, der Seerosenteich tauchte zumindest an einer weiteren Stelle, unabhängig von ihr, auf. Nämlich auf dem Bild der geheimnisumwitterten Malerin. Allen Anschein nach verschwanden Stella, Gutrun und Dolly zur gleichen Zeit und es existierten so gut wie keine Unterlagen von den dreien? Ein Zufall? Obwohl die Nachforschungen bezüglich der Malerin und deren Pflegerin beispiellos dürftig ausfielen, eines hatte Thomas immerhin herausgefunden. Etwas, das seine Befürchtung über Stellas Schicksal ins Unermessliche steigerte und Vorfälle aus seiner eigenen Vergangenheit ins Gedächtnis rief.

Nach dem Anzapfen verschiedenster Informationskanäle, war es ihm zu guter Letzt gelungen, an ein Verzeichnis der bisher behandelnden Ärzte Gutruns zu gelangen. Als er eine Handynummer nach der anderen kontaktierte, um nähere Informationen über die mysteriöse Klinikinsassin zu erhalten, wuchs seine Besorgnis von Anruf zu Anruf. Alle aufgeführten Ärzte der Liste waren entweder unter mysteriösen Umständen verstorben, oder spurlos verschwunden. Klang es kein bisschen mysteriös, wenn eine Ärztin von einem geheimnisvollen, unauffindbaren Einbrecher niedergestochen, ein Arzt beim morgendlichen Joggen von einem Auto mit anschließender Fahrerflucht überrollt wurde, ein weiterer Kollege am Buffet des Krankenhauses in dem er tagtäglich zu Mittag aß, aufgrund eines anaphylaktischen Schocks verstarb, wobei bis dato ungeklärt blieb, wie das auslösende Kontrastmittel in seinen Körper gelangte? Diese Aufzählung ließe sich so gut wie endlos fortsetzen, wobei ein Fragezeichen hinter dem jeweiligen Namen auf der heimlich zugespielten Liste nicht auf einen plötzlichen Todesfall, sondern auf spurloses Verschwinden hinwies.

Thomas überlegte. Gutrun und Dolly könnten sich demnach heimlich davongemacht haben, um ihre unheilbringenden Spuren zu verwischen, Stella kaum. Ihr angsterfüllter Blick hatte sich in sein Herz eingebrannt, kurz bevor er damals zu Boden ging. Vor allem war ihm Alexanders Bericht über die damaligen Geschehnisse Wort für Wort gegenwärtig. Geschehnisse, die ein Teil seiner Persönlichkeit bis heute verleugnete. Wie sollte er seine Patientin jemals wiederfinden, wenn sie von einer finsteren, amorphen Gestalt in nasskalten Nebel gezerrt worden war? Welche Chancen hatte er bei einer Entführung durch ein waberndes Phantom aus einer anderen Welt, wie es ihm Alexander geschildert hatte?

Professor Doktor Thomas Stein bevorzugte etwas Handfestes, etwas Reales, etwas, das er suchen und finden konnte. Kurzum: Fakten! Sich selbst bestätigend zunickend, zog er sein Handy aus der Hosentasche. Zwar befand sich das Bild des Seerosenteichs nicht mehr in der Klinik, doch zum Glück gab es ein Foto davon. Sofort nach dem Überpinseln der geheimnisvollen Bildnisse an den Wänden der Malerin hatte er ausnahmslos alle vorhandenen Gemälde der Ausstellung fotografiert, bevor auch diese das Haus verließen.

Er berührte den Fingerabdruck-Sensor, tippte auf das entsprechende Icon und kopierte den Seerosenteich in die Suchleiste. Ein paar Augenblicke später zeigte sich exakt eine Übereinstimmung. Eine Übereinstimmung in der realen Welt.

Ja! Das war er! Der kleine See, aus Stellas fantastischen Erzählungen und von Gutrun detailgetreu in Öl wiedergegeben. Augenscheinlich zusammenhanglos. Nichtsdestotrotz stellte dieser See, geschützt in der sonnigen Mulde, das verbindende Glied zwischen den beiden dar. Smaragdgrün schimmernd mit zahlreichen Seerosen in den unglaublichsten Farben an seiner Oberfläche, haftete ihm auch jetzt am Handydisplay nach wie vor ein Zauber an.

Thomas Stein starrte auf den Bildschirm. Danach holte er tief Luft. Dieses Ziel existierte in seiner Welt, indes nicht gleich um die Ecke, er benötigte Flugtickets.

 

Der Geschichtenerzähler I

 

Hinterlist

Durch Alexanders Inneres wirbelte soeben ein Tornado mit Windgeschwindigkeit weit über den F5-Bereich hinaus. Ein Jahrhundertereignis für Meteorologen, ein unbeschreibliches Chaos für ihn. Das tiefe Brummen der Maschine unter ihm beruhigte zwar seinen tobenden Herzschlag, seine rasenden Gedanken hielt es nur leidlich in Zaum.

Hals über Kopf war er aus der Praxis gestürzt, hatte sich aufs Motorrad geworfen und befand sich auf dem Heimweg. Das Asphaltgrau der Landstraße verlor sich im stumpfen Blei des Horizonts, wurde zu einem Einheitsbrei, der Weg zog sich endlos in die Länge. Sekunden tropften wie zähes Pech, seine Ungewissheit steigerte sich Meter für Meter ins Unermessliche.

Er war der Geschichtenerzähler! Der Mann, der Sagen und Legenden vor dem Vergessen bewahrte, Mythen wieder zum Leben erweckte. Der einen Auftrag hatte, in dieser Welt und in allen anderen. Der sich nun in seiner eigenen, verworrenen Geschichte wiederfand, haltlos verstrickt und ohne jeglichen klaren Gedanken. Gewiss, die Fäden spannten sich auch ohne ihn weiter, gewiss fände sich irgendjemand, der ein Faible für fantastische Erzählungen hegte, gleich einem begnadeten Akrobaten mit Worten jonglierte und deren wahre Magie kannte. Aber die Aufgabe war ihm übertragen worden.

Niemals hätte er gedacht, dass er derart vom Weg abkäme, dass von Olivia die Gefahr ausging. Von der Frau, die ihm eine Schicksalsfügung ungebeten vor die Füße gelegt hatte. Niemand hatte sein Einverständnis eingeholt. Olivia schoss mit der Wucht eines Feuerballs in sein Leben, wie damals der halbtote Straßenköter, der plötzlich auf der Schwelle seines Hauses lag. Auch diesen hatte er wochenlang gepflegt, bis jener, trotz seiner schweren Verletzungen, wieder auf eigenen Beinen stand. Bloß, der Hund hatte ihn niemals hintergangen, war seit dieser Zeit ein treuer Freund. Als er über Oliva stolperte, war auch sie mehr tot als lebendig. Und er hatte ihr, selbstverständlich, ohne großartig nachzudenken, dieselbe Behandlung angedeihen lassen, wie dem grauen Wolfshund, damals. Tagtäglich wickelte er ihren glühenden Leib in kühlendes, in Essigwasser getunktes Laken, um das verzehrende Fieber zu senken, salbte ihren Körper mit heilenden Cremen und flößte ihr tröpfchenweise heißen Tee ein. Sogar der Kräutersud war der gleiche wie beim drahtigen Vierbeiner in fernen Tagen.

Wenn er an sie dachte, umnebelte sofort ein Bouquet von duftenden Rosenhecken und sonnigen Zitronenhainen seine Sinne. Die Vorsehung hatte es gut gemeint, schickte ihm die Liebe seines Lebens. So hatte er gemeint, bis heute. Diese Frau hatte mit eiskaltem Kalkül ihre wahren Absichten verschleiert, sein Herz gestohlen und sich in sein Leben geschlichen. Alle, die ihm lieb und teuer waren, befanden sich mit einem Male in allergrößter Gefahr. Er selbst hatte das Unglück heraufbeschworen, die Tür für das leibhaftige Grauen geöffnet, dass jenseits jeglicher Vorstellungskraft soeben seine Krallen schärfte. Letzte Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne funkelten auf dem blankpolierten Rahmen seines Motorrads, blendeten ihn kurzfristig, mahnten zur Besonnenheit. Sollte Olivia tatsächlich das Monster sein, wogegen sich sein Innerstes kontinuierlich sträubte, musste er Ruhe bewahren. Durfte sich keinesfalls anmerken lassen, dass er ihre Hinterlist durchschaut hatte.

Endlich – die letzte Kurve, dahinter die farbenfrohen Wohnwägen seiner Truppe mit all ihren funkelnden Lichtern. Von denen zur Stunde kein einziges leuchtete. Im Zirkuslager herrschte absolute Finsternis.

 

Caer Tucaron

 

Der Ring

Hand in Hand starrten Alasdair und Ouna auf das Chaos vor ihnen. Mannsgroße Steine lagen verstreut auf steinernem Untergrund, Teile der Befestigungsanlage fanden sich nur mehr als loses Mauerwerk, das Haupthaus glich einem Geröllhaufen. Noch immer erzählten dunkle Flecken am staubigen Boden von mutigen Kriegern, im Kampf gefallen. Noch immer wachten Nebelkrähen über diesen Ort des Schreckens. Den Ort, an dem Ouna durch die Hand Cathcorinas ihren Tod gefunden hatte, um im Anschluss, gewandelt zur königlichen Nebelkrähe, zu neuem Leben zu erwachen.

Leichtes Frösteln überfiel beide, als sie der schaurigen Geschehnisse vergangener Zeiten gedachten. An die Befreiung Ewerthons aus dem ewigen Kerker, an das Aufeinanderprallen von Bruder gegen Bruder, Schwester gegen Schwester, Mutter gegen Sohn, bis sich Alasdair zu erkennen gab. Der hasserfüllte Blick der Kriegsgöttin hatte sich für immer in Ounas Herz eingebrannt. In das Herz, das getroffen vom todbringenden Pfeil der Königin der Nebelkrähen, zu schlagen aufgehört hatte und wenig später wiedererweckt wurde. Eine Entscheidung seiner Mutter, die Alasdair bis heute in keiner Weise hinterfragte, da diese ihm die Liebe seines Lebens zurückbrachte. Eine Entscheidung, die Ouna bis heute äußerst suspekt erschien, die sie allerdings, aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, dankerfüllt akzeptierte. Sie lebte! Indes, an den Beweggrund reinster Mutterliebe konnte Ouna kaum glauben. Auch wenn Alasdair keinerlei Kalkül an Cathcorinas Handeln wahrhaben wollte.

Ihre Tage als Caer Tucarons Königin an der Seite Kelaks waren wohlbehütet und überschaubar gewesen, abgesehen vom bitteren Ende, das nicht einmal die fähigsten Wahrsagerinnen des Landes voraussagen hätten können.

Selbst sie hatte über die Jahre vergessen, dass beim Tod ihres letzten Bruders die Magie der Cuor an Cogaidh auf sie übergegangen war. Im zarten Kindesalter wurde ihr in jenen Tagen diese tonnenschwere Last auf die Schultern gelegt und ein undurchdringlicher Schleier schützte sie seitdem vor dieser Erinnerung. Lange Zeit hütete sie unwissend die Tiger-Magie ihrer Linie. Bis Ewerthon nach vier Töchtern als einziger Sohn das Licht der Welt erblickte. Bis seine Fähigkeit des Gestaltwandelns zum Vorschein kam, der kleine Junge sich, völlig unbeabsichtigt und unvorbereitet, vor versammelter Dienerschaft in einen Tiger wandelte. Abgesehen davon, dass ihr Sohn zutiefst erschrocken und verwirrt gewesen war, Kelak, den sie bis dahin als fürsorglichen, ja liebevollen Ehemann und Vater kennen und lieben gelernt hatte, wandelte sich ebenfalls - in einen zornigen, verblendeten, rachsüchtigen König, der seine Gemahlin samt den vier Töchtern verstieß, den eigenen Sohn aller Rechte beraubte und ihn für vogelfrei erklären ließ. Ein bitteres Kapitel, an das sie ungern zurückdachte.

Heute lag es an ihr, den Ring zu finden. Ihren Ring, der die Macht der Königin Caer Tucarons in sich barg, der ihr gebührte und den sie gerne an Mira weitergeben wollte. Auch wenn die einst so stolze Burg in Trümmern niederlag, Ewerthon wollte sie aufbauen, dem verwaisten Land ein guter König sein. Das war Grund genug für diese Suche. Das Schicksal spann oft wirre Fäden, wob bizarre Muster, deren Sinn sich oftmals in späteren Tagen oder vielleicht nie offenbarte. Heute stand sie nun an der Seite des Krähenprinzen, trotzte Gefahren, erlebte Abenteuer über Abenteuer und sehnte sich, zugegebenermaßen, das eine oder andere Mal nach etwas mehr Beschaulichkeit. Sie seufzte.

Morgendlicher Dunst verhüllte fast zur Gänze den Rest des Wachturms, dessen einzelne Zinnen sich mahnend in den wolkenverhangenen Himmel reckten. Über ihnen kreisten schwarzgraue Vögel und beäugten sie aufmerksam. Die Garde des Krähenprinzen wachte über ihren Herrn.

„Wir sollten es ihnen nachmachen. Von dort oben hätten wir einen besseren Überblick.“ Ouna sprach aus, was sie ohnehin beide dachten. Wie des Öfteren.

Alasdair nickte, fächerte seine Flügel und stieß sich von der sandigen Erde ab. Ouna folgte ihm. Mit einer eleganten Schraube glitt sie empor, schwang sich über den Rest von Nebelfetzen und breitete ihre Schwingen aus. Sie genoss dieses Gefühl jedes Mal aufs Neue. Die Sonne, die oberhalb der Wolkenbank ihr Gefieder wärmte, der Wind, der sie trug, die scheinbare Schwerelosigkeit ihres Körpers, die rasende Schnelligkeit, mit der sie durch die Luft schoss. Das tägliche Training unter Alasdairs gestrengen Augen hatte sich bezahlt gemacht, sie zu einer ausgezeichneten Flugkünstlerin werden lassen. Langsam drosselte sie das Tempo, zog eine ausgedehnte Schleife über den Geröllhaufen und blickte nach Westen. An einem mannshohen Mauerrest lehnte eine windschiefe Hütte aus Holz. Augenscheinlich die letzte Zuflucht Kelaks, des vormals so mächtigen Königs.

„Wir wollen dort beginnen. Was meinst du?“ Alasdair flog auf selber Höhe mit ihr und sie nickte ihm zu.

Gekonnt landeten die zwei knapp neben dem Holzverschlag, als mehr konnte man diese Bretterbude nicht mehr bezeichnen, und sahen sich um. Mehr schlecht als recht hatte sich Kelak eine notdürftige Behausung eingerichtet. Ouna musste sich bücken, um ins Innere zu gelangen. Alasdair blieb im Freien. Für ihn war es ein Ding der Unmöglichkeit, diese Unterkunft zu betreten, ohne alles niederzureißen. Egal, ob als Krähenprinz mit gefächerten Flügeln oder in Menschengestalt, er war schlichtweg zu groß. Ouna rang mühsam nach Luft und Alasdair machte sich trotz aller Widrigkeiten sprungbereit, um ihr beizustehen.

„Es ist alles in Ordnung. Du kannst dich entspannen, Liebster.“ Das Bild, das sich Ouna bot, hatte spontan entsetztes Keuchen hervorgerufen. Die königlichen Hundezwinger bargen mehr Wohnlichkeit, als das Loch, in dem Kelak letztendlich sein klägliches Dasein fristete. Direkt an der halbzerfallenen Wand lag ein zerschlissener Strohsack, überzogen mit giftgrüner Fäulnis. Darauf krabbelte Ungeziefer jeglicher Art, sodass Ouna beim bloßen Anblick heftiger Juckreiz befiel, und sie beschloss, dieser unwirtlichen Schlafstätte auf keinen Fall näherzukommen. Gleich daneben befanden sich eine umgestülpte Kiste und ein grobbehauener Holzklotz, offenkundig als Tisch und Sessel nutzbar gemacht. Dem gegenüber gab es eine dürftige Feuerstelle. In einem Steinkreis lehnte ein rostiger Kessel, aus dem bestialischer Gestank strömte. Ouna erblickte eine undefinierbare, zähe Masse, die sich wie von selbst hin und her zu bewegen schien. Beim Nähertreten erkannte sie fette, weiße Maden, windend im dreckigen Kochgeschirr. Das war der Augenblick, in dem sie ein zweites Mal angewidert nach Luft schnappte. Saurer Geschmack legte sich auf ihre Zunge und nur mit Mühe gelang es ihr, den Brechreiz zu unterdrücken. Als wenn dies nicht schon genug des Ekelerregenden wäre, entdeckte sie eine Unmenge blanker, winziger Knochen in einer Ecke dieses grauenhaften Unterschlupfs. Offenbar handelte es sich um kleine Nager, Mäuse und Ratten, die Caer Tucarons Herrscher als Hauptbestandteil seines kärglichen Speiseplans gedient hatten. Das Bild des abgezehrten Leichnams in überweiten, zerfetzten Lumpen kam ihr in den Sinn. Welch niederschmetterndes Ende für einen stolzen, unbeugsamen Mann!

Alasdair räusperte sich vor der Hütte. „Ein Unwetter naht. Wir sollten uns sputen und baldigst diese unwirtliche Stätte verlassen.“

Ouna überlegte. Wo mochte ein kranker Geist wie Kelak ein derart wertvolles Kleinod versteckt haben? Dazu mit der Absicht, dass niemand, und sie im Besonderen, es fände. Entschlossen packte sie das nächstbeste Holzscheit, steuerte auf den Haufen abgenagter Skelette und begann, diesen energisch auseinander zu teilen. Aber so sehr sie auch suchte, der Ring blieb unauffindbar. Wind kam auf, pfiff durch das lecke Dach und wirbelte Staub hoch. Er rüttelte an den losen Brettern, die zwar ächzten, sich dabei nur matt zur Wehr setzten und jeden Moment einzustürzen drohten, mit ihr mittendrin. Frustriert schleuderte Ouna das nutzlose Holz von sich, das an der brüchigen Mauer abprallte und in Folge mit voller Wucht den rostigen Topf traf. Der kippte scheppernd zur Seite und dessen lebendiger Inhalt ergoss sich genau vor ihre Füße. Ouna gehörte sicherlich zu jenen Frauen, die keineswegs rasch die Fassung verloren. Als sich die fetten Maden indessen in ihre Richtung bewegten, wich auch sie zurück. Eventuell sollte sie sich mit dem Gedanken anfreunden, unverrichteter Dinge zur Hochzeit ihres Sohnes zurückzukehren? Ohne Ring für die Braut. Donner grollte, dunkle Wolken sammelten sich, verdeckten zusehends den blauen Himmel. Ein paar letzte Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg in die Düsternis rund um sie, verfingen sich in den raupenähnlichen Körpern, die sich aus dem rostigen Behältnis schälten und auf sie zukrochen. Plötzlich überfiel Ouna ein Tagtraum. Klar und deutlich erfasste sie die zerlumpte Gestalt, welche mit hämischem Grinsen den funkelnden Ring in das besudelte Kochgeschirr warf. Sah, wie das glitzernde Schmuckstück zwischen weiß glänzendem Getier versank, bedeckt wurde von der brodelnden Masse nimmersatter Maden. Donner zerfetzte dieses Bild und gleich darauf schlug ein Blitz in unmittelbarer Nähe ein. Die Erde bebte unter ihren Füßen und der Kessel mit seinem glitschigen Inhalt rollte weg von ihr. Rasches Handeln war vonnöten. Mit einem Sprung hechtete sie nach dem grausigen Gefäß und packte es. Einen Wimpernschlag später stand sie draußen neben Alasdair vor dem Holzverschlag, wobei die ohnehin losen Bretter soeben mit lautem Getöse in sich zusammenfielen. Die Wendigkeit einer Krähenkriegerin war durchaus von Vorteil. Der Krähenprinz freilich betrachtete entsetzt das Mitbringsel in den Händen seiner Gemahlin.

„Was hast du denn damit vor?“, würgte er angewidert.

„In diesem Topf befindet sich mein Ring!“, verkündete Ouna mit siegesgewissem Lächeln.

Alasdair spähte in den abschreckenden Kessel. „Wieso bist du dir da so sicher?“

Ouna dachte an ihre Vision. „Ich weiß es eben!“

„Und wer holt ihn heraus?“, fragte Alasdair trocken.

„Du! Du mein allerliebster Gemahl wirst ihn für mich retten!“ Ouna lächelte honigsüß und kippte Alasdair den Inhalt vor die Füße.

„So geht es besser“, meinte sie süffisant.

Die Maden, nun endgültig aus ihrem engen Behältnis befreit, krochen in alle Richtungen davon.

„Du bist der Prinz der Nebelkrähen! Ekelst du dich tatsächlich vor fetten weißen glitschigen Würmern? So etwas fresst ihr doch zum Frühstück? Ich tische dir soeben einen Leckerbissen auf“, Ouna grinste über das ganze Gesicht.

Man konnte sagen, was man wollte. Alasdair war der Krähenprinz. Ein Krieger durch und durch, der weder Risiko noch Kampf scheute, an der Spitze seiner Männer für Gerechtigkeit sorgte, die Seinen schützte und vielleicht – irgendwann in sehr weiter Zukunft - das Zepter seiner Mutter übernähme … aber Maden!

„Ich hasse diese Dinger und werde nie verstehen, was daran ein Leckerbissen sein soll“, missbilligend schüttelte er seinen Kopf.

Eine heftige Windbö fuhr ihnen durchs Gefieder, dumpfes Grollen hallte über die zerstörte Burg und ein weiterer Blitz zuckte vom Himmel. Fünf Krähenkrieger landeten neben ihm und seiner Gemahlin, blickten besorgt in die Runde. Wieder und wieder zerschnitten feurige gezackte Flammen das düstere Himmelszelt, Donner auf Donner rollte in Wogen heran, der Boden bebte erneut unter ihren Füßen. Selbst die letzten stehenden Gemäuer Caer Tucarons gerieten ins Wanken.

„Irgendetwas Übles geht vor sich. Ich fühle es. Ewerthon bedarf meiner Hilfe. Wir müssen sofort los!“ Beunruhigt sprudelten die Sätze hervor. Ouna blickte sorgenvoll hoch.

Just in diesem Moment wanden sich die letzten Maden davon und im Schein des nächsten Blitzschlages funkelte der Siegelring golden auf.

Resigniert bückte sich Alasdair, packte kurzentschlossen das mit Schleim überzogene Kleinod und barg es in seiner Brusttasche. Zum rechten Zeitpunkt, denn schlagartig klaffte ein riesiger Riss im Felsgestein und verschlang die restlichen Würmer samt rostigem Kessel.

Alasdair und Ouna fassten sich an den Händen. Ein letztes Mal blickten sie auf die verwüstete Burg, gedachten der gefallenen Krieger und vergangener Geschehnisse. Ihre Flügel fächerten sich, mahnenden Statuen gleich standen sie am Rand der Geröllhalde, fühlten mehr als sie ihn sahen, den dunklen Schatten, der auf sie zukam, stießen sich von der erzitternden Erde ab. Schaurig heulte der Wind, zerrte an ihrem Gefieder, drückte sie gegen den Boden, so als wollte er sie mit aller Macht am Fliegen hindern. Regentropfen, groß wie Wachteleier, prasselten vom düsteren Himmel, tränkten ihre grauschwarzen Federn und flossen bereits unter Hemd und Kragen. Sie saßen fest, klebten sozusagen am Boden.

Alasdair warf seiner Garde einen Blick zu. In Gedankenschnelle transportierte er sich, Olivia und seine Soldaten zurück in die Burg der ewigen Herzen, zurück zu Ewerthon und Mira.

Ein jäher Aufprall stoppte dieses Vorhaben. Sie knallten hart an eine Wand und fielen vom Himmel. Ziemlich unsanft landeten sie vor Cuor a-Chaoids Mauern. Sie konnten von Glück sagen, außer ein paar Prellungen gab es keine gröberen Verletzungen zu verzeichnen.

Direkt vor ihnen erhob sich eine unsichtbare Barriere und umschloss mit eisernem Griff Ilros Burg, respektive das, was davon übrig war. Denn das Bild, das sich innerhalb der durchsichtigen Kuppel bot, ließ allen das Blut in den Adern gefrieren.

 

Unter uns I

 

Konspekt

Lange betrachtete das Wesen im weiten Umhang die Wand vor ihm. Hier, in diesem grauen Gestein, war seine Geschichte verewigt. Zunächst unbeholfen, hingegen von Mal zu Mal gewandter, ritzte es mit scharfen Krallen Ereignis für Ereignis ein.

Zunächst gedacht als Erinnerung für sich selbst - allein, es glaubte ohnedies kaum, jemals nur irgendetwas von dem, was einst geschehen war, vergessen zu können - später als Grundlage für Rachepläne, die langsam und stetig in ihm wuchsen. Anfangs verschwommen, unstet, gleich Nebelfetzen, vom Wind hierhin, dann wieder dorthin getrieben, gewannen diese mit der Zeit immer mehr an Form. Fein säuberlich hatte es alles notiert. Geheimnisvolle Symbole, deren Bedeutung nur ihm bekannt, kennzeichneten Begebenheiten, so belanglos sie vorab auch sein mochten. Pfeile und Linien verbanden Geschehnisse, mal gradlinig, mal in verworrenen Konturen, konnten nur von ihm enträtselt werden. Neues traf auf Altes, Vertrautes auf Fremdes, wurde von ihm kategorisiert und entsprechend in das große Ganze eingefügt. So sehr es nach Rache dürstete, diese Wand vor ihm war der sichtbare Beweis für seinen messerscharfen Verstand, das Kalkül, jede noch so winzige Kleinigkeit zu bewerten und zu berücksichtigen, und vor allem für Geduld. Riesig, von einer Ecke zur anderen, spannte sich das Werk über den rauen Felsen. Das, was als Strich und Punkt begonnen hatte, war so viel mehr geworden. Ein sichtbares Indiz für die wahrhafte Kunst meisterlich strategischen Denkens.

Nachdem es ihm, wie seit Unendlichkeiten geplant, schließlich gelungen war, den Herzstein wanken zu lassen, dieses Sinnbild der Macht zu Sturz zu bringen, stand die Ordnung der Welten auf dem Kopf. Oben war unten und unten wurde zu oben. Der Rest war ein Kinderspiel.

Nun wollte es abermals seinen Sieg in aller Ruhe auskosten. Den Fall des gewichtigen Symbols immer und immer wieder erleben. Langsam wandte sich die schwarzgekleidete Gestalt vom gigantischen Resümee ihres bisherigen Seins ab, setzte behutsam Fuß für Fuß auf den kühlen Fliesen in Richtung goldener Spiegel. Trotz aller Achtsamkeit dröhnte jeder Schritt im kahlen Raum, brach sich an den Wänden und fügte unsäglichen Schmerz zu. Obzwar sie sich frei von allen Qualen wähnte, dieser Fluch bestand bis zum heutigen Tage. Nach wie vor verursachte jedwedes Geräusch ein Donnergrollen in ihrem Inneren, peinigte die empfindsamen Ohren und malträtierte den nach Stille lechzenden Geist.

An ihrem Ziel angekommen, glitt sie sachte auf den mächtigen Stuhl davor. Das glatte, mit flirrendem Schimmer überzogene Holz der Armlehnen schmiegte sich an ihre Hände. Intarsien, einst von kundigen Händen entworfen, schmückten dieses besondere Möbel, erzählten ihrerseits eine Geschichte. Von Frevel, Verrat und Verdammnis, von Macht, die gestohlen, vom Thron, der ihr zustand. Auf dem sie nun saß und zum goldumrahmten Spiegel blickte. Auch dieses Inventar war nicht der reinen Zweckmäßigkeit gewidmet. Zumindest was den herkömmlichen Sinn betraf.

Dieser Spiegel zeigte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gleichwohl nur für jene, die darin lesen konnten. Die Kreatur konnte! Sie war eine Meisterin darin.

Schwarzes Haar mit einer einzelnen aschgrauen Strähne löste sich aus der halbzurückgeschlagenen Kapuze, als sich das Monster, in dessen Gestalt sie sich bislang zeigte, nach vorne beugte. Mit einem Wisch zog es den seidigen Schleier auf der Spiegeloberfläche zur Seite. Ein Blick in die siegreiche Vergangenheit wäre durchaus angebracht. Glühende Augen stierten auf das Geschehene, während sich triumphierendes Grinsen über sein narbiges Gesicht ausbreitete.

 

Cuor a-Chaoid I

 

Unter einem Dach

„Sie benötigen unsere Hilfe!“ Ouna schlug mit beiden Fäusten verbissen auf die unsichtbare Barriere ein, die sie so vehement am Weiterkommen hinderte, sie von ihren Liebsten fernhielt.

Im Inneren der schimmernden Kuppel erkannte sie ein Wirrwarr von Menschen, die panisch in alle Richtungen stoben, scharenweise Körper, die sich schmerzerfüllt am Boden wälzten, der Irrsinn ging um und flackerte in den Augen der hilflosen Opfer. Sie sah die schwarze ätzende Masse, die sich von oben auf alle ergoss, die nicht rechtzeitig Unterschlupf fanden. Weder Ilro und seine Krieger noch Keylam und sein Heer waren im innersten Ring der Burg zu erkennen.

Zwischenzeitlich hatte Alasdair das rätselhafte Hindernis abgetastet, versucht mit dem Schwert eine Bresche zu schlagen, sogar seine blauschwarzzüngelnden Kräfte herbeibeschworen. Keine ihm zur Verfügung stehende Macht konnte diese scheinbar filigrane, trotzdem undurchdringliche Wand überwinden.

„Hinter diesem Zauber steckt eine enorm mächtige Magie. Soviel ist sicher …, wenn sie selbst meiner standhält.“ Alasdair war ratlos, Ouna verzweifelt. In dem Getümmel, das vor ihnen herrschte, blieben sowohl Ewerthon als auch Mira vor ihren Blicken verborgen. Sie waren so nah am Geschehen und ihnen waren die Hände gebunden, konnten nicht eingreifen, nicht zu Hilfe eilen! Es war zum Verrücktwerden.

Derart von ihrer Bekümmernis abgelenkt, hatte sie sich, ohne es zu wollen, von allein, zur Krähe gewandelt und stürmte ein letztes Mal gegen die durchsichtige Mauer. Plötzlich spürte sie einen leichten Ruck und fand sich inmitten des Kampfgetümmels wieder. Kurz flatterte sie über den pechgetränkten Boden, bevor sie zu stehen kam.

Perplex starrte sie auf Alasdair und seine Krieger, die sich weiterhin außerhalb der schillernden Grenze befanden. Alasdair zögerte kurz. Sollte es tatsächlich so einfach sein? Konnte man diese undurchlässige Hürde im Federkleid einer Nebelkrähe problemlos passieren?

Geschwind wandelte er sich. Bevor er losflog, pickte er eilig das goldene Ringlein seiner Herzensdame auf, das natürlich in keiner Brusttasche mehr Platz fand. Samt seiner Garde landete er als Vogel, mit dem Ring im Schnabel, neben Ouna. Jähes lautes Kreischen ließ sie zum Himmel blicken. Ein Schwall der klebrigen, beißenden Klumpen schoss direkt auf sie zu. Im allerletzten Augenblick, wieder in ihrer Gestalt als Krähenkrieger, rissen sie ihre Schilde hoch. Zähes Pech tropfte an dem derart geschaffenen Schutzdach wirkungslos ab, versengte den Boden zu ihren Füßen. Alasdair nutzte diesen kurzen Moment, um ihre Lage neu zu bewerten. Jetzt, wo sie sich im Inneren der Kuppel befanden, beschwor er seine königliche Krähenmagie. Blauschwarze Flammen züngelten auf, die Luft flirrte, als er seine Arme hob. Blitze zuckten aus seinen Händen, fraßen Löcher in die amorphe dunkle Masse und gaben, außerhalb des Kriegsgeschehens, den Blick frei auf einen grauverhangenen Himmel. Allein, so sehr er sich mühte, die Lücken, die er schuf, wurden erschreckend schnell wieder geschlossen. Denn sobald sich ein Durchschlupf auftat, flatterten unzählige Krähen heran und riegelten diesen mit ihren tiefschwarzen Körpern hermetisch ab. Und wieder floss es pechschwarz nach unten und wieder traf der ätzende Schleim auf verletzliches Menschenfleisch.

„Es ist ausweglos! Die Überzahl ist zu groß!“, Ouna befiel eine besorgniserregende Stimmung. Die ansonsten ruhige und besonnene Kriegerin war kurz davor, sich in ein Nervenbündel zu verwandeln. Zu groß waren die Ängste, die sie wegen Ewerthon und Mira peinigten, und die überschwappenden Hormone sorgten für den Rest der emotionalen Turbulenzen.

Jäh loderte unbändiger wilder Zorn in ihr hoch. „Drache! Verdammter, unnützer Drache, wo bist du, wenn es gilt, meinen Sohn zu schützen? Er benötigt deine Hilfe hier! Also hebe dich in die Lüfte und erfülle deine Aufgabe!“

Sie schleuderte ihre Angst und Wut gegen das Himmelszelt. Natürlich in dem Wissen, dass ihre Worte niemals die Ohren des Drachen erreichten. Nun, nachdem sie ihr Grauen und die Verzweiflung in den Äther hinausgeschrien hatte, fühlte sie sich wesentlich besser. Gefasst blickte sie zu Alasdair.

„Ewerthon hat mir nämlich von seinem Totemtier zur Linken berichtet. Findest du nicht auch, es wäre nun die rechte Zeit, sich blicken zu lassen?“, fügte sie lächelnd hinzu. Regen und Sonnenschein lagen demnach auch bei schwangeren Nebelkrähen eng beieinander.

Liebevoll blickte Alasdair auf seine Frau. Ja, da war sie wieder, die direkte Nachkommin der Gefährten von bodb catha, eine Cuor an Cogaidh durch und durch. Diese Kriegerherzen waren bekannt für ihren Mut, ihre Todesverachtung, mit der sie ihren Widersachern gegenüberstanden und in den Krieg zogen. Zärtlich küsste er sie.

Ihre Blicke trafen sich. Tief im Inneren keimte die Gewissheit, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Alasdairs Kräfte nachließen. Niemand konnte unendlich auf Magie zurückgreifen. Dieses eherne Gesetz galt selbst für den Krähenprinzen.

So hob er ein letztes Mal die Hände, zog einen Halbkreis vom Boden zum Firmament und verschränkte sie fest über seinem Haupt. Er neigte den Kopf, während er eine Urgewalt beschwor. Dunkle Flammen züngelten hoch, legten sich wie eine zweite Haut um Alasdair. Er ballte die Fäuste, Schweiß trat auf seine Stirn, das Glühen verstärkte sich, dehnte sich in alle Richtungen aus, löste sich von seinem Körper und legte sich letztendlich als filigranes Gewebe an die Innenseite der fluoreszierenden Kuppel, verschloss sie vor den Gefahren von oben. Bot Schutz vorm ätzenden Schleim, der nun daran wirkungslos nach unten floss.

Er blickte hoch. „Wir schaffen das ohne Ewerthons Drache“, meinte er bestimmt.

Kaum waren die Worte ausgesprochen, verdunkelte ein riesiger finsterer Schatten die mattschimmernde Sonne außerhalb und warf einen Mantel des Entsetzens über alle Lebewesen innerhalb der Halbkugel.

 

Der Geschichtenerzähler II

 

Im Nebel

Kaum stand das Motorrad, sprang Alexander von der Maschine. Eben wollte er blindlings losstürmen, als ihn drohendes Knurren stoppte. Ein mächtiger grauer Hund stand plötzlich vor ihm und versperrte den Weg. Die messerscharfen Zähne gefletscht, glich er mehr einem riesigen Wolf denn seinen domestizierten Artgenossen. Blut triefte von der Schnauze, die Nackenhaare sträubten sich und das verfilzte Fell schien zusätzlich struppiger als üblich.

Vorsichtig streckte Alexander seine Hand aus. Obgleich ihm dieses wilde Geschöpf sein Wohlsein verdankte, schien dessen Verhalten in gewissen Momenten unkalkulierbar. Dies war so ein Moment. Irgendetwas musste das belfernde Tier bis aufs Äußerste provoziert haben, denn unberechenbar hin oder her, nie hatte es fest zugeschnappt. Weder beim unbeschwerten Spiel mit den Kindern noch beim ungestümen Gerangel mit ihm. Nun liefen ihm rote Rinnsale aus dem Maul, tropften dunkle Spuren in den schneebedeckten Boden. Plötzlich verstummte das Grollen und der Hund kam wedelnd näher. Aus dem Blutrausch erwacht, erkannte er Alexander, wandelte sich von einer Sekunde auf die andere in den treuen Gefährten und seine Augen verloren das irre Glitzern.

Behutsam fuhr ihm der Geschichtenerzähler durch das raue Fell. Feuchte, verklebte Stellen erzählten von einem Kampf auf Leben und Tod.

„Was ist geschehen, Hund?“, Alexander hatte, nachdem ihm nach längerem Überlegen kein passender Name für den Findling eingefallen war, diesen der Einfachheit halber nur Hund gerufen. Der Wolf oder Wildfang hörte auf diesen Namen, und so blieb es dabei.

Leises Winseln folgte als Antwort auf seine Frage und Alexander schloss sich dem Vierbeiner an, der langsam und vorsichtig auf die zum Kreis gezogenen Anhänger zutrabte. Er musste unbedingt zum Waffenarsenal gelangen. Tatsächlich befand sich dieses im sogenannten Requisitencaravan. Nichts war einfacher, als zwischen allerhand belanglosen Zirkusutensilien, scheinbar nutzlosem Gerümpel und Trödel, richtige Waffen zu verstecken, die er gerade schmerzlich vermisste. Als hätte der raubeinige Genosse seine Gedanken gelesen, schwenkte er nach links und steuerte exakt auf diesen Wagen zu. Bisher war es gespenstisch still im Lager. Eine Stille, die in den Ohren rauschte und an den Nerven zerrte, die unheimlicher als alles andere anmutete. Geräuschlos öffnete Alexander das Vorhängeschloss, stieg die dreistufige Treppe empor, schlich ins Innere und griff mit nachtwandlerischer Sicherheit im Stockfinstern nach Pfeil und Bogen. Diese Waffe schien ihm die beste Wahl. Sie verursachte keinen Lärm und war tödlich, falls es vonnöten wäre. Wieder draußen durchbohrte er mit seinen Blicken die Schwärze der Nacht. Wo sollte er seine Suche beginnen, wenn all die Menschen und Wesen seines Trosses scheinbar spurlos verschwunden waren? Wo war Olivia in drei Teufels Namen? Stumm fluchte er in sich hinein. Beklemmende Düsternis lag über den Wiesen rundum, kaum, dass er den gezackten Waldsaum ausmachte. In der Mitte der Wagenburg brannte kein einziges Feuer, kein Hauch von Glut oder kalter Asche lag in der Luft. Hätte er nicht mit Bestimmtheit gewusst, dass bislang gut hundert seiner Gefolgsleute an diesem Ort lagerten, er hätte gemeint, dieses Camp wäre seit ewigen Zeiten verlassen. Sowohl der Duft der frisch gewaschenen Wäsche, auch die Leinen, die üblicherweise unter deren Last knarzten, fehlten. Kein schmatzendes Nuckeln der Kleinsten an ihren Däumchen, kein Röcheln oder Schnarchen von jenen die am Rücken schliefen, ja nicht einmal das Schnauben von Pferd oder Esel. Kein Laut drang an sein Ohr. Selbst in einem Grab konnte es nicht stiller sein. Unbehagen schlich ihm unters Hemd, kroch entlang der Wirbelsäule nach unten und verursachte eiskaltes Frösteln. Wieso kamen ihm Gräber in den Sinn? Konzentriert hörte er sich um. Das Schlagen zahlreicher Herzen war gleichfalls verstummt. Was absolut nichts Gutes verhieß. Er kannte nur eine Person im Lager, die dies vollbringen konnte. Kurz tauchte ihr Antlitz auf. Er dachte an den seidigen Glanz von kupferrotem Haar und ein strahlendes Lächeln, das die Sonne aufgehen ließ. Das Lächeln, das sich jäh in teuflisches Grinsen verwandelte, das liebliche Gesicht zur Fratze werden ließ.

In diesem Augenblick knurrte der Hund und presste sich flach auf den Boden. Er witterte Gefahr. Alexanders Nackenhaare richteten sich auf, er spannte den Bogen und hielt den Atem an. Eine Gestalt huschte aus dem Dunkel des Waldes, verharrte für einen Moment und blickte in seine Richtung. Trotz seines ausgezeichneten Sehvermögens, zeigte sich das Bild äußerst verschwommen. Der Dunst knapp über der Wiese wallte hoch, verbarg die nächtliche Erscheinung gänzlich hinter dicken Schwaden. Zur gleichen Zeit, da der Nebelschleier sich verdichtete, kam weitere Bewegung in den Waldsaum. Gedrungene Geschöpfe auf vier Pfoten schlichen geduckt hervor, folgten schnüffelnd dem Unbekannten, das in einer trüben Wolke auf Alexander zukam.

Die Situation spitzte sich zu. Plötzlich stoppte die weiße Wand und lichtete sich. Grelles Licht blendete ihn. Er blinzelte und erhaschte einen kurzen Blick auf … Olivia! Die Augen weit aufgerissen, von oben bis unten mit Blut besudelt, ein Messer in der Hand, von dem kleine, rote Perlen nach unten tropften, ein bizarres Muster in den frischgefallenen Schnee zeichneten, stand sie da, setzte sich wieder in Bewegung. Das zum Leben erweckte Grauen kam tatsächlich auf ihn zu. Alexander atmete sachte aus. Fast automatisch lösten sich sein Finger und der Pfeil schnellte in die Nacht. Er schloss die Augen und verharrte bewegungslos. Sein Herz brach entzwei. Er wusste, er verfehlte niemals sein Ziel.

Er opferte soeben das Liebste auf der Welt. Wofür? Für die Wahrheit? Für eine Lüge? Ohne Grund, sinnlos? Wer war Olivia? Es war so und so ohne Belang, es war zu spät.

 

Cuor a-Chaoid II

 

Wogen der Schlacht I

Einen Moment lang schien es, als bliebe die Zeit stehen. Aller Lärm verstummte. Die Schreie der gepeinigten Menschen rundum, das heisere Krächzen der Krähen über ihren Köpfen, Ouna und Alasdair nahmen dies nur mehr gedämpft wahr. Sogar der Geruch des geronnenen Blutes und der bissige Gestank der gestockten pechähnlichen Klumpen verlor an Intensität.

War dies das Ende? Nicht allein die Krähenkrieger blickten angestrengt nach oben. Einzelne Menschen wagten sich aus ihren Unterständen hervor, legten den Kopf in den Nacken und sahen hoch. Das Wimmern der Verletzten schwoll erneut an und die Ausdünstung nach Schweiß, Blut, den kleistrigen Batzen zu ihren Füßen, stach allen in die Nase.

Ein Brüllen, dumpf, wütend, hallte über den Himmel, brachte die Erde zum Vibrieren. Zerfetzte die Anspannung unten am Boden und entfesselte einen Feuersturm außerhalb der Kuppel. Unzählige schwarze Vögel flatterten zu Tode erschrocken mit heiserem Gekreische hoch. Feurige Flammen fraßen sich durch die amorphe, dunkle Masse und verbrannten sie samt und sonders zu staubiger Asche. Asche, die langsam an den gekrümmten Außenwänden nach unten rieselte. Ein grauweißer Schleier legte sich auf Alasdairs Schutzschild, ließ diesen ansonsten unangetastet.

Verwirrung breitete sich aus. Was hatte das zu bedeuten? Ein Schrei, der vorerst durch Mark und Bein ging, wich haltlosem Wehklagen. Die schwarzen Leiber der Krähen und das damit verbundene leidbringende Unheil waren verschwunden. Tosender Lärm fauchte durch die Welt draußen, ließ das letzte Seufzen verstummen. Wind frischte auf, trug die Ascheschicht ab und gab die Sicht frei auf …?

Hoch über ihnen zeichnete sich die Silhouette eines gewaltigen Drachens vor dem nun strahlend blauen Firmament ab. Ein mächtiger Feuerstoß versengte eben einige der orientierungslos herumflatternden Krähen, der Rest stob panisch davon.

„Der Purpurdrache! Ewerthons Drache, er ist gekommen!“, Ouna schrie es fassungslos.

Alasdair nahm nach kurzem Zögern seinen Schutzschild zurück. Er war ohnehin am Ende seiner Kräfte. Kaum zu glauben. Es war tatsächlich Ewerthons Totemtier zur Linken, das sich in diesem Moment vom Himmel herabschwang. Nicht nur die Erde bebte, als der purpurne Koloss aufsetzte. Einzelne Steine kullerten über planen Boden, eine Böe wirbelte den Baumriesinnen durch die Wipfel und letzte Mauerreste ächzten. Rotgolden glänzten seine Schuppen im hellen Sonnenlicht, das die dämmrige Düsternis vertrieben hatte, tauchten die folgenden Geschehnisse in ein mystisches Flammenmeer. Selbst die tapfersten Männer wagten sich nur zögernd aus ihren Verstecken. Unzählige Geschichten rankten sich um das sagenumwobene Tier. Indes, wer von ihnen war je einem dieser Wesen tatsächlich gegenübergestanden? Den Wächtern über Weisheit, Intelligenz, Edelmut und magische Begabungen ebenso wie über Luft, Erde, Wasser und Feuer, den Beschützern aller Geheimnisse und der Tore zu allen Zeiten.

Der Krähenprinz trat vor, rammte sein Schwert in den Boden und neigte sein Haupt. Drachenmagie war uralt, älter als jede andere Magie, das war ihm bewusst. Jene besonderen Geschöpfe bewahrten die Schätze aller Wesen in sich und standen als Begleiter durch alle Dimensionen zur Verfügung. Selbstredend ausnahmslos für Erwählte. Dies allein barg ausreichend Anlass für Alasdair, dem edlen Tier seine Ehrerbietung zu erweisen; dessen ungeachtet, dass der Drache gerade ihrer aller Leben gerettet hatte. Auch Ouna eilte heran. Doch anstatt respektvoll Abstand zu halten, warf sie sich an die breite Brust des Drachen und umarmte ihn voller Inbrunst. Das heißt, sie versuchte ihn zu umarmen. Was natürlich bei seiner Stattlichkeit ein erfolgloses Unterfangen darstellte. Versehen mit den sensiblen Sinnen einer Krähenkriegerin fühlte sie allerdings, hinter dem ehernen Panzer, das gütige Herz des Drachen pochen. Das just in diesem Augenblick ein bisschen heftiger schlug.

„Danke. Ich stehe für ewig in deiner Schuld“, flüsterte sie.

„Du schuldest mir keinen Dank. Ich stehe in deiner Schuld“, brummte das Totemtier ihres Sohnes. „Drachen schlafen gerne, vor allem tief und fest. Ohne deine in den Äther gesendete - äußerst energische Botschaft - wäre ich zu spät auf diesen Schlamassel aufmerksam geworden.“

Belustigtes Lächeln huschte über sein Antlitz, das sofort darauf wieder ernst wurde. „Hätte meine heilige Pflicht nicht erfüllt“, fügte er hinzu und blickte sich um.

Cuor a-Chaoid,die Burg der ewigen Herzen, lag in einem einzigen großen Trümmerhaufen zu seinen mächtigen Füßen. Zwischen dem Geröll kletterten Männer und Frauen auf der Suche nach Angehörigen, oder um sich der zahlreichen wimmernden Opfer anzunehmen. Dort, wo Menschenkraft versagte, schafften Elfen Gesteinsbrocken zur Seite, betteten Verletzte auf mit weichem Moos gepolsterte Tragen. Kleine Kinder weinten nach ihren Eltern und wurden von heraneilenden, schimmernden Lichtwesen beruhigt. Bestialischer Gestank nach verbranntem Gefieder, blutgetränktem Dreck und geschmolzenem Pech lag in der Luft, es herrschte Chaos.

„Ich spüre weder Ewerthon noch Mira?“ Der Drache schnaubte gereizt und sandige Schwaden wirbelten orkanartig über das Gelände. Menschen duckten sich entsetzt und Elfen stießen lautstarke Flüche aus.

„Sachte, edler Freund.“ Alasdair trat näher. Die Überreste der einst so wunderschönen Burg schimmerten im feuerroten Licht der untergehenden Sonne, die sich in den gleißenden Schuppen des Drachen widerspiegelte. Ouna lehnte sich an ihren Gemahl und er legte seinen Arm um ihre Schultern, zog sie zu sich heran. Schweigend betrachteten sie die unwirkliche Szenerie.

„Ich fühle weder Ewerthon noch Mira!“, wiederholte das schillernde Geschöpf an ihrer Seite.

„Wir werden sie finden. Dessen bin ich mir gewiss!“ Der scharfe Blick des Krähenprinzen schweifte in die Ferne, tastete prüfend die Reste der äußeren Brüstung und den dunklen Wald dahinter ab. „Und bei dieser Gelegenheit werden wir sicher auch auf Keylam und Ilro stoßen.“

Von den beiden Heerführern samt deren Mannen fehlte jede Spur.

„Der Ring. Mein Ring wird uns den Weg weisen!“ Ouna dachte an die Kraft, die mit dem Ring untrennbar verknüpft war, die Vision, die sie in der schäbigen Hütte Kelaks heimgesucht hatte, sie nach dem rostigen Kessel mit dessen grausigen Inhalt greifen ließ.

„Der Ring findet immer zu seiner Besitzerin. Und hier, auf diesem Land ist es eindeutig Mira, der er zugehört!“

Alasdair griff in seine Brusttasche. Er griff ins Leere. „Er ist weg!“ Verzweifelt grub er seine Finger tiefer. Nichts! Er tastete ins Leere.

„Wie kann das sein?“ Ouna erinnerte sich genau. Ihr Gemahl hatte den Siegelring im allerletzten Augenblick gerettet und sicher über seinem Herzen verwahrt.

„Verdammt!“ Es kam äußerst selten ein Fluch über Alasdairs Lippen. „Als ich mich in eine Krähe wandelte, um die Barriere zu überwinden, fehlten mir die Möglichkeiten, ihn anders zu transportieren … ich trug ihn in meinem Schnabel und …“

„Und wo ist er jetzt?“ Missbilligend sah sie zu Alasdair hoch, der sich in der Bredouille befand. Es kam äußerst selten, genaugenommen nie vor, dass ihn Ouna mit einem derart vorwurfsvollen Blick aus ihren wunderschönen Augen bedachte, deren Blaugrau sich soeben verdunkelte. In dem Chaos, das im Inneren der Kuppel herrschte, war der Ring in Vergessenheit geraten, er hatte ihn verloren! Selbst als sich die Garde des Prinzen der Suche anschloss, Fingerbreit für Fingerbreit des niedergetrampelten Erdreichs abging, das Kleinod blieb unauffindbar.

„Sollten wir uns nicht um Wichtigeres kümmern?“

Der Drache peitschte nervös mit seinem Schwanz, brachte einiges lockeres Mauerwerk zum Kippen und damit Elfen zum wiederholten Male zum Fluchen. Er warf besorgt einen Blick nach Norden. Dort, auf der Kuppe des Hügels über den gezackten Wipfeln der Bäume, nur für besonders scharfe Drachenaugen erkennbar, türmte sich nasskalter Nebel auf. Eine finstere Schattengestalt, die rapide an Größe gewann, schälte sich aus dem Dunst, raste auf sie zu.

Und noch etwas näherte sich. Silberglänzend schoss ein Streif über den Himmel, neigte sich nach unten. Über die gleißende Brücke galoppierte Alba in rasendem Tempo und kam einige Fußbreit vor ihnen zu stehen. Aus der aufgewirbelten Staubwolke schritt Sirona. Die Kleidung über und über mit dunklen Flecken übersät, das blonde Haar wüst verheddert, das Gesicht dreckverschmiert, immerhin ansonsten unbeschadet. Ihre kobaltblauen Augen schimmerten vor Entsetzen, als sie einen Blick auf die Geröllhalde geworfen hatte, die einstmals ihr Zuhause war.

„Das wird dieses Monster büßen! Ich schwöre ewige Rache. Nicht eher werde ich ruhen, bis mir sein Kopf zu Füßen liegt!“ Blanke Wut verschlang ihre Sanftmut, wischte ihre Vernunft zur Seite. Sie legte die linke Hand zum heiligen Eid der Lichtwesen auf ihr Herz und hob den Kopf. Sie war Sirona, die Prinzessin der Lichtwesen und die Herrin der Gestirne. Das ganze Himmelszelt stand ihr zur Verfügung. Kein Ort, unerheblich wie abseits gelegen, konnte die bestialische Kreatur, die so viel Leid über ihre Familie und ihr Volk gebracht hatte, vor ihr verbergen. In diesem Moment fasste sie einen verwegenen Plan. Ein Vorhaben, das weit tieferen Schmerz verursachen würde, als bereits zugefügt. Freilich, davon hatte sie keine Ahnung. Und hätte sie es gewusst, sie hätte sich soundso nicht davon abbringen lassen.

 

Wogen der Schlacht II

Schritt für Schritt kämpften sich Ilros und Keylams Mannen vorwärts. Die äußere Burgmauer war überrannt worden. Erst im Innersten der Feste war es Keylam und dem Elfenheer gelungen, das Knochenvolk nach zähem Ringen zurückzuschlagen. Unterstützt von Ilro mit seinen Kriegern glückte es ihnen im letzten Moment, die grausigen Skelette abzuwehren. Mit vereinten Kräften hieben sie auf den Feind ein und trieben die letzten klapprigen Gestalten in die modrig kalten Tiefen des Waldes, aus denen sie hervorgekrochen waren. Als sie kehrtmachten, um wieder in die Burg zu gelangen, geschah etwas Eigenartiges. Sie prallten auf ein Hindernis. Unvermittelt ragte eine unsichtbare Barriere auf, versperrte ihnen den Weg zurück. Tatenlos mussten sie mitansehen, wie die Bewohner von Cuor a-Chaoid, voller Panik vor dem ätzenden Schleim, der vom Himmel triefte, verzweifelt nach Schutz suchten. Auch der Rest der verbliebenen Elfen hatte dieser Elementargewalt wenig entgegenzusetzen, musste sich genauso verschanzen wie das Menschenvolk.

Die Soldaten außen versuchten mit allen Mitteln, diese sonderbare Barrikade zu überwinden. Sie droschen mit ihren Äxten, stachen mit Messern und blankgeschliffenen Schwertern, schossen spitze Pfeile ab, keine der verzweifelten Anstrengungen führte zum gewünschten Erfolg. Die durchsichtige Hülle blieb undurchdringlich.

Keylam wandte sich kurz vom vergeblichen Bemühen seiner Mannen ab und schickte eine weitere stumme Nachricht an Oonagh. Wieso kam keine Antwort? Befand sie sich in Gefahr? Sie wollte zu Cathcorina. Was hatte die allerhöchste Kriegsgöttin seiner Gemahlin angetan?

Derart in Gedanken versunken, achtete er vorerst nicht auf die gespenstische Stille, die mit einem Male herrschte. Die Krieger hatten ihre fruchtlosen Bemühungen aufgegeben und starrten mit offenen Mündern auf das Geschehen vor ihnen. Auch Keylam blickte auf.

Alasdair und Ouna war gelungen, was ihnen verwehrt gewesen. Denn sie und ihre Garde standen plötzlich im Hof der uralten Baumriesinnen. Ein weiterer Schwall der ätzenden Klumpen schoss nach unten und die Krähenkrieger rissen ihre Schilde hoch. Alasdair hob seine Hände, aus denen plötzlich blauschwarze Blitze zuckten und Löcher in die amorphe Masse oberhalb fraßen. Die Männer außerhalb der Barriere hielten den Atem an, als sie mitansahen, wie der Krähenprinz seine Magie zu Hilfe rief. Dunkle Flammen glühten auf, er ballte die Fäuste und dann, Stück für Stück, verfinsterte sich die klare Oberfläche der Barriere und nahm ihnen jegliche Sicht.

„Irgendwo muss es einen Eingang geben!“, Ilro schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Wir teilen uns auf!“ Keylam war seiner Meinung. „Dies sollte keine sonderliche Herausforderung darstellen. Wir starten linker Hand und Ihr rechter. Wer als erster den Durchschlupf findet, bläst das Horn!“

Soeben wollten sie das Gesagte in die Tat umsetzen, da ging ein Raunen durch die Soldaten. Einige von ihnen deuteten nach Osten, andere verrenkten sich die Köpfe, um in eben diese Richtung zu sehen.

Die nächste Bedrohung befand sich ihm Anflug. Gigantischer, furchterregender, bedrohlicher als alles bisher Dagewesene. Rotfunkelnd schoss ein riesiger Drache auf sie zu. Die wenigsten unter ihnen hatten jemals einen Drachen gesehen. Genaugenommen nur Keylam und die Ältesten der Elfen. All dem ungeachtet, sie alle waren sich gewiss, es konnte sich nur um eines der legendären Wesen handeln, das in atemberaubender Geschwindigkeit näherkam.

Schon hatten die ersten ihre Bögen gespannt, bereit zum Abschuss auf diese neu aufgetauchte Gefahr, allein der König der Lichtwesen gebot ihnen Einhalt.

„Die Beweggründe, welche es hierhergeführt haben, liegen im Dunklen. Ein derart mächtiges Tier wollen wir uns nicht unbedacht zum Feind machen!“

Die Anspannung wurde greifbar, als sie beobachteten, wie der Drache die mit Pech bedeckte Kuppel umkreiste, unter der sich ihre Mitstreiter mit Alasdair und Ouna befanden.

Ein dumpfes Brüllen erfüllte die Luft, verursachte den Mutigsten unter ihnen weiche Knie. Dann, ganz plötzlich, fuhr ein orangeroter Feuerstoß aus dem riesigen Maul des Drachen und versengte einen Großteil der pechschwarzen Hülle. Einige Krähen flatterten mit erschrockenem Krächzen hoch. Glühende Flammen erfassten die flüchtenden Vögel und die klebrige Masse, die sich wie eine zweite Haut auf die Kuppel gelegt hatte, verbrannte ausnahmslos alles zu Asche, zu flockigem Staub, der langsam an den gekrümmten Außenwänden nach unten rieselte. Ein grauweißer Schleier versperrte nach wie vor die Sicht nach innen. Bis der Wind aufkam und zur selben Zeit Alasdairs Schutzschirm mit sanftem Zischen in sich zusammenfiel.

Auf ein Zeichen hin gingen die Soldaten hinter der bröckelnden Burgmauer in Deckung. Keylam wertete zwar das Einschreiten des mythischen Tierwesens als Rettungsaktion, hingegen auch er hielt es für angebracht, weiterhin Vorsicht walten zu lassen.

Oonagh war verschwunden, genauso wie Sirona, Kenneth, Ryan und Fia, die sich, nach seinem Dafürhalten, außerhalb der Burg befinden mussten. Wo sich Ewerthon und Mira aufhielten, war ungewiss. Ausreichend Gründe, um abzuwarten.

Verdeckt durch das Geröll des äußeren Rings, konnten sie miterleben, wie der monumentale Drache im Burghof landete. Der Krähenprinz ihm seine Ehrerbietung erwies und Ouna sich an die mit purpurnen Schuppen gepanzerte Brust warf. Einige Augenblicke später wurden sie Zeugen der funkelnden Brücke aus tausenden von Sternen, die ihren Bogen vom Himmelszelt bis zur Erde zog, auf der Alba mit der Prinzessin aller Lichtwesen am Rücken nach unten donnerte. Weitab vom Geschehen blieb unhörbar, was Sirona, wieder festen Boden unter den Füßen, sprach. Nur Keylam, aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten, vernahm ihre Worte, verspürte das Entsetzen und die blinde Wut seiner Enkelin. Als sie die Hand zum heiligen Eid hob, befürchtete er das Schlimmste. Denn einmal ausgesprochen, band dieser Schwur für die Ewigkeit.

Nichtsdestotrotz, spätestens zu diesem Zeitpunkt waren sich beide Herrscher einig, hier drohte keine Gefahr.

Mit ihren Mannen gerade im Aufbruch, schwang sich der Drache von einem Augenblick auf den anderen mit einem Riesensatz in die Lüfte und raste gen Norden. Dorthin, wo in diesem Moment über der Kuppe des Hügels etwas bedrohlich Dunkles heranwuchs. Blitzartig erkannten Keylam und seine Elfenkrieger mit ihrer Scharfsicht, was der Drache erkannt hatte. Konturlosen Nebel der die gezackten Wipfel der Bäume mit seiner aufwallenden Düsternis verschluckte. Ein finsteres Gebilde formte sich, gewann rasch an Größe und steuerte rasant auf die Burg der ewigen Herzen zu. Jedenfalls auf die kümmerlichen Reste, die noch standen. Der König der Lichtwesen und Elfen zögerte keinen Augenblick und sandte Ilro seine Warnung.

Überdies fragte er sich zum wiederholten Male, wo Gillian geblieben war. Denn die Unterstützung des obersten Lehrmeisters aller Gestaltwandler wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt mehr als willkommen gewesen.

Nun, sie hatten den Krähenprinzen an ihrer Seite, obzwar, Krähenmagie währte nicht endlos, das wusste Keylam und augenscheinlich auch der Feind.

Mit dem gemeinsamen Schlachtruf auf den Lippen stürmten die Krieger los.

 

Stellas Welt II

 

Die Ankunft

Professor Doktor Thomas Stein durchquerte die lärmende Ankunftshalle. Mit wirrem Kopf, was ihn angetrieben hatte, sein spärliches Hab und Gut zusammenzupacken, um gefühlt ans andere Ende der Welt zu reisen. Auf der Jagd nach …, ja wonach genau eigentlich?

Der Leiter der Klinik war mehr als erleichtert gewesen, als ihm der ungeliebte Arzt seine eventuell etwas länger andauernde Abwesenheit mitteilte. Thomas Auftraggeber bezahlte ohne viel Aufhebens den Flug und für Alexander hatte er, nach mehrmaligen erfolglosen Versuchen ihn zu erreichen, eine Sprachnachricht hinterlassen. Sollte er sich Sorgen machen? Ihr letztes Gespräch endete ja ziemlich abrupt und mehr als abstrus.

Thomas straffte die Schultern. Nein, er machte sich keine Sorgen um Alexander. Für den Augenblick hatte er ausreichend mit sich selbst zu tun. Er, eine bedeutende Kapazität auf dem Gebiet der Neuropsychologie respektive Neurophysiologie, benahm sich gerade nicht wie ein renommierter Wissenschaftler, sondern eher wie Indiana Jones auf der Suche nach einem geheimnisumwitterten Schatz. Ein See, der in der Fantasie einer jungen Frau existierte und daneben von einer scheinbar unheilbringenden, vielleicht gefährlichen Malerin in Öl verewigt worden war. Das bedeutete eine der wenigen Spuren zu seiner verschwundenen Patientin. Nun ja, strenggenommen momentan die einzige Spur. Und … die war mehr als vage … und bei näherer Betrachtung, Indiana Jones war gleichfalls Wissenschaftler, wenn auch auf einem anderen Gebiet. Er grinste. Zumindest sein Spleen der gedanklichen Selbstkorrektur war zurückgekehrt. Wenngleich er diese extravaganten Zwiegespräche ablegen wollte, kam ihm die Marotte nun entgegen. Etwas Vertrautes an diesem ungastlichen, kühlen Ort.

Er trat vor das Flughafengebäude. Eiskalter Wind pfiff ihm um die Ohren, Wolken, dick wie vollgesogene Schafswolle, hingen schwer vom Himmel. Erste Tropfen klatschten auf das Monument, unübersehbar am ansonsten kahlen Asphaltplatz, benetzten das Gefieder der schwarzgrauen Vögel, die teilweise davor, teilweise darauf saßen und ihn aus dunklen Augen aufmerksam musterten. Widerwillig fächerten sie ihre Flügel, flatterten hoch und schraubten sich mit heiserem Krächzen empor, lösten sich vor seinen Augen auf, wurden eins mit dem milchigen Grau über ihm.

Thomas sog die feuchte Luft ein und schlug den Mantelkragen hoch. Den Kragen des Mantels, der in allerletzter Sekunde quasi von allein in den Seesack gesprungen war, beide Überbleibsel aus längst vergangenen Tagen, gelagert auf einem staubigen Speicher, gerade deswegen wieder voll im Trend.

Alle weiteren Passagiere waren bereits weg und mit dem Abflug der Krähen hatte sich der Vorplatz endgültig geleert. Einzig ein Taxi wartete einsam am Standplatz in unmittelbarer Nähe und er steuerte darauf zu. Der Motor des Wagens sprang an, die Scheibenwischer huschten über die Windschutzscheibe, der Regen nahm zu und Thomas konnte von Glück sagen, dass überhaupt ein Taxi zur Verfügung stand. Dort angekommen streckte der Arzt seine Hand nach der Beifahrertür aus. Thomas empfand sich keineswegs als Snob, aber aus welchem Grund stieg der Fahrer nicht aus, um ihm zumindest den Kofferraum zu öffnen?

Plötzlich bewegte sich die Klinke unter seiner Hand. Das Auto machte einen Ruck vorwärts, fuhr los, auf und davon. Sprachlos starrte er den roten Rücklichtern nach, die sich in der schummrigen Düsterkeit verloren. Das fing ja gut an! So etwas war ihm tatsächlich noch nie passiert. Zwischenzeitlich goss es in Strömen und Thomas machte kehrt. Im Flughafengebäude wollte er Schutz vor dem unwirtlichen Wetter suchen und sich erstmal bei einer Tasse heißen Kaffees aufwärmen. Er dachte an Indiana Jones. Ein verpasstes Taxi stellte zu keiner Zeit eine unüberwindbare Barriere dar. Verpasst konnte man sein Erlebnis kaum nennen. Ein geflohenes Taxi, berichtigte er sich in Gedanken. Es war eine unerfreuliche Begebenheit und Punkt. Dieser innere Dialog amüsierte ihn so sehr, dass er wider Willen schmunzeln musste.

Seine Heiterkeit verflog exakt in dem Augenblick, in dem er frontal gegen die festverschlossene, üblicherweise sich automatisch öffnende Glastür prallte. In völliger Dunkelheit lag das riesige Gebäude vor ihm. Dort, wo vor kurzem hektische Betriebsamkeit den Ton angegeben hatte, herrschte jetzt Totenstille. Ohne jegliche Lichtquelle präsentierte sich die große Halle samt ihren Ankunfts- und Abflugschaltern, still und verlassen das Gepäckausgabekarussell, nicht einmal die Notbeleuchtung verströmte ihren ansonsten milden Schein. So sehr er auch gegen die dicken Glasscheiben des Eingangs drückte, sie bewegten sich keinen Zentimeter. Wohin auch, da sie ja grundsätzlich seitwärts aufgingen. Der Flughafen befand sich außerhalb der Stadt. Umgeben von brachliegenden Äckern, mitten in der Einöde. Am Ende der Welt. Das hatte Thomas sowohl im Internet recherchiert, als auch beim Anflug festgestellt. Der Mantel, unter anderen Umständen eine treue Seele, triefte bereits vor Nässe und legte sich zentnerschwer auf seine Schultern. Zentnerschwer lastete mit einem Male auch die vorgenommene Aufgabe auf denselben.

Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Eine naive Vorstellung, die ihn da befallen hatte. Setz dich einfach mal ins Flugzeug und finde Stella in null Komma nichts. Wieso lag ihm so viel an dieser Patientin? Weil sie seine einzige Patientin war? Er den Auftrag erhielt, sie zu finden? Hatte er seinen Beschluss nicht bereits im Vorhinein gefasst? Sich auf die Suche zu machen, egal wie die Antwort seines Auftraggebers dazu ausfiele?

Honigbraune Augen blickten ihm tief ins Herz, das soeben wie wild zu rasen begann. Im selben Tempo, in dem sich plötzlich eine Armada feuriger Lichter, untermalt von Höllenlärm in tosender Fahrt auf ihn zubewegte.

 

Unübliche Entscheidungen