Herzstein II : Stern der Brücken - Elsa Wild - E-Book

Herzstein II : Stern der Brücken E-Book

Elsa Wild

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Beschreibung

Mit Stern der Brücken erscheint der zweite fesselnde Band der mehrteiligen Herzstein-Saga. Dramatisch und vollgepackt mit Geheimnissen. Der Gestaltwandler und die Lichtprinzessin haben überlebt. Schon bald wird klar, dass der Preis dafür unsagbar hoch ist. Und nicht nur das. Um Haaresbreite entkommen sie einem grauenhaften Wesen und landen in Monadh Gruamach, dem sumpfigen Reich der Moorhexe. Doch sind sie dort wirklich sicher? Auch in anderen Welten überschlagen sich die Ereignisse. Stella, zwischenzeitlich in eine Klinik eingewiesen, stellt ihren verwirrend gut aussehenden Arzt immer wieder vor neue Rätsel … und ist sich selbst mehr denn je eine Fremde. Der Geschichtenerzähler, der alle Fäden in der Hand halten sollte, verstrickt sich in einem gefährlichen Netz aus Illusionen und steht letztendlich vor seinem eigenen Abgrund. Sünden der Vergangenheit fordern ihren Tribut in der Gegenwart. Eine Kreatur erwacht, giert nach Rache und grenzenloser Macht. Gut und Böse, Liebe, Hass und Vergeltung prallen aufeinander. Im zweiten Teil der Herzstein-Saga wird einmal mehr die Vielschichtigkeit der Roman-Reihe sichtbar. Einzelne Geschichten und Handlungen werden zu einem großen Ganzen. Komplexe Charaktere und eine mitreißende Handlung in beeindruckender poetischer Bildsprache - so wird fantastische Literatur lebendig. Kein Buch für nebenbei. Doch eines, das auf spezielle Art und Weise Mut macht, sich selbst treu zu bleiben … auch, wenn es manches Mal schier unmöglich scheint. Inklusive ©HERZSTEIN-KLANG Gratis QR Code in jedem Buch Der Soundtrack zur Saga. Empfohlen für Leseherzen im Alter von 12 bis 99 Jahren

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Elsa Wild

HERZSTEIN II

Stern der Brücken

Fantasy Roman

 

Elsa Wild

Herzstein II

Stern der Brücken

2. Band

Verlag INNSALZ, Munderfing

www.innsalz.eu

Grafik: Aumayer Druck + Verlag Ges.m.b.H. & Co KG, Munderfing

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau

ISBN 978-3-903321-90-8

1. Auflage, Oktober 2022

©Elsa Wild

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

 

Eine Wahrheit

kann erst wirken,

wenn der Empfänger für sie reif ist.

Nicht an der Wahrheit

liegt es daher,

wenn die Menschen

noch so voller Unweisheit sind.

Christian Morgenstern

 

Für einen

ganz besonderen Schutzengel

 

Prolog

Es war stets der gleiche Traum.

Er begann damit, dass sie gleichermaßen schwerelos durch den Raum schwebte. So lange sie die Augen geschlossen hielt, vermeinte sie, nur Dunkelheit zu verspüren. Soweit man Dunkelheit fühlen konnte. Doch während man schlief, war ja bekanntermaßen alles möglich. Sie stellte also ihr Empfinden nicht in Abrede. Auch nicht, wenn sie später, im wachen Zustand, über jenen wiederkehrenden Traum und dessen rätselhaften Inhalt brütete.

Nach einer Weile senkte sich ihr Körper und sie spürte festen Boden unter den Füßen. Das war jeweils der Moment, in dem sie ihre Augen öffnete und feststellte, dass die Finsternis, die sie tatsächlich umgab, gerade eben von mattem Lichtschein durchbrochen wurde. Ein paar Schritte darauf zu, und vorab geheimnisvolle Umrisse erhielten Form und Gestalt. Sanduhren, unzählige Sanduhren, tauchten vor ihr auf. Gruppiert auf Tischen, rund, eckig, klein, groß, in Regalen, oft bis an die Decke reichend, auf Kommoden, von kniehoch bis zur Nasenspitze, ja sogar am Boden selbst standen die altertümlichen Zeitmesser kreuz und quer. Nimmermüde rieselten funkelnde, blitzende Körnchen von oben durch den schmalen Durchlass nach unten. Daher wohl auch das Leuchten. Sobald der gesamte schimmernde Sand im unteren Behältnis gelandet war, kippte die Konstruktion wie durch Zauberhand und alles begann von vorne. Vorsichtig berührte sie eine dieser wundersamen Uhren, doch die ließen sich weder heben, noch auch nur um einen Zentimeter verrücken.

Ihre Augen hatten sich indessen an die Düsternis soweit gewöhnt, dass sie noch weitere, andersartige Chronometer erkannte. Diese umgaben sie in Form von Zifferblättern im steten Lauf, schwebten scheinbar in der Luft. Hier gab es gleichfalls unterschiedliche Exemplare. Überdimensionierte Scheiben mit extragroßen Zeigern bis hin zu kaum erkennbaren Formaten glitten langsam und bedächtig an ihr vorbei.

Stopp! Das stimmte nicht ganz. Denn jetzt, bei genauerer Betrachtung, fiel ihr auf, dass manche der Uhren sie extrem langsam umkreisten, während andere, schneller und schneller werdend, an ihr vorbeiwirbelten.

Mit einem Male durchflutete eine Woge des Lichts dieses sonderbare Spektakel und genau vor ihr tauchte ein Spiegel auf. Sie sah sich selbst darin, in einem bodenlangen Kleid, übersät mit Myriaden von Sternen. Ihr Haar trug sie länger als in Wirklichkeit, es reichte nun fast bis zum Boden. Barfuß stand sie inmitten einer Wiese bunter Blümchen und lächelte.

Jäh raffte das Spiegelbild seinen Rock, machte einen Schritt nach vorne, aus dem goldenen Rahmen heraus, und eilte zu den Stundengläsern. Jene, durch die die letzten Körner nach unten rieselten, stellte es energisch kopfüber und die Zeitrechnung begann von Neuem.

Auch wenn ihr das blonde Mädchen verblüffend ähnlich sah, die Träumende fühlte, dass nicht sie es sein konnte, die da aus dem Spiegel getreten war. Und tatsächlich war es kein Spiegel, sondern ein Gemälde, in das ihr Ebenbild soeben zurück stieg.

Bevor dies jedoch geschah, wandte die junge Frau sich nochmals um, stand ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Kobaltblaue Augen blickten sie beschwörend an.

Nebel wallte auf, hüllte all die pendelnden Uhren in sein filigranes Kleid.

Die einen rotierten noch schneller, die anderen wurden langsamer. Doch eines war allen gleich. Ihre Zeiger verloren die Konturen, lösten sich auf, die Ziffernblätter verschwammen. Leergefegte, winzig kleine bis riesig weiße Scheiben stierten ihr blank entgegen.

Das war genau der Augenblick, in dem Stella jedes Mal schweißgebadet erwachte. Zumindest glaubte sie das.

 

Ewerthon & Mira I

 

Morgengrauen

Miras Hals schmerzte. Sie fühlte sich wie gerädert. Was war geschehen?

Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war ihr Lied der 1000 Fragen. Das magische Lied, gesungen mit den Töchtern Poseidons für Ewerthon. Dann waren da noch die Worte der weisen Kröte, die von Verlust und Zugewinn sprachen, von Freiheit, Geduld, Vertrauen und Stärke. Doch bei Letzteren war sich Mira schon nicht mehr sicher. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Eingeschlafen an der Schulter des Tigers, gebettet auf weichem Pelz.

Wo war Ewerthon? Das Tigerfell unter ihrer Wange war verschwunden! Ihre Augenlider flatterten. Etwas, jemand, drückte sie fest zu Boden. Panisch tastete sie um sich, griff in feuchtes Moos und krümelige Erde. Harzige Waldluft füllte ihre Lungen beim nächsten tiefen Atemzug. Es fiel ihr unsagbar schwer, die Augen zu öffnen. Und doch machte es keinen Unterschied, denn als es ihr endlich gelang, umgab sie dämmrige Finsternis. Sie sah nicht viel mehr als vorher.

Schemenhaft erkannte sie die Konturen eines menschlichen Wesens, dessen Arm sich, wie sie jetzt feststellte, tatsächlich um ihre Hüfte schlang, sie umklammerte. Nun kam Leben in ihr Gegenüber. Ächzend rollte sich dieses seitwärts, weg von ihr, um dann mit einem gekonnten Sprung, wesentlich schneller als sie, auf die Beine zu kommen. Benommen versuchte sie, sich hochzurappeln.

Eine Hand wurde ihr gereicht, stützte sie, zog sie hoch. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte ihr Wunsch wirklich in Erfüllung gegangen sein? Hatte Ewerthon seine menschliche Gestalt wieder? Das hieße, ihre Unsterblichkeit wäre dahin, für immer! Gut! Sie würden gemeinsam altern. Eine tröstliche Vorstellung.

Ihm dämmerte die Erkenntnis, nicht mehr in seinem magischen Tierkörper gefangen zu sein. Das hieße, sie hätte ihre Unsterblichkeit aufgegeben, wäre verletzbar, konnte getötet werden, so wie jeder andere Mensch auch. Eine erschreckende, grausame Vorstellung!

Da standen sie nun, erahnten den anderen mehr als sie ihn sahen, umarmten sich, klammerten sich aneinander, wortlos. Ihn streifte der Duft von Kirschen und sie erfreute sich an seinem Herzschlag, den sie, geschmiegt an seine Brust, vernahm.

Schweigen dehnte sich aus, umfing sie, genauso wie die wabernde Düsternis, die sie umschloss und die ferne Silhouette des Waldes an den Rand eines geheimnisvollen Bildnisses verbannte, in dem sie beide gefangen waren. Möglicherweise für immer und ewig.

Mira griff an ihren Hals, der brannte, als hätte jemand einen glühenden Eisenring um ihn geschmiedet.

Ihre Fingerspitzen ertasteten eine feingliedrige Kette mit verschieden großen Anhängern, die allesamt loderten wie Feuer. Mit ihrem Glühen tauchten sie die beiden Gestalten in unwirkliches orangerotes Licht.

Sie lösten sich voneinander, stumm, auf Armeslänge getrennt, standen sie da. In der Mimik des anderen zu lesen war ein sinnloses Unterfangen, sie sahen ja nicht einmal die eigene Hand vor Augen. So viel gab es zu sagen, zu bereden und doch kam kein Wort über ihre Lippen.

Ewerthon erstarrte. Obwohl sich momentan sein gesamtes Fühlen, sein Denken, alles Sein um Mira drehten, hatte er eine flüchtige Bewegung in dieser unheimlichen Umgebung ausgemacht. Eine Bewegung, die anders war, die nicht hierhergehörte. Woher wollte er wissen, was in diese schaurige Umgebung gehörte? Aber seine Sinne funktionierten noch, auch in menschlicher Gestalt verfügte er über ein Netzwerk an feinen Sensoren, das momentan Alarmglocken in den höchsten Tönen schrillen ließ.

Er packte Mira am Handgelenk und zog sie mit einem Ruck hinter sich. Sie ächzte, ihr Hals schmerzte mehr denn je und sie wollte sich von diesem glühenden Etwas, das ihr fast die Luft abschnürte, endlich befreien. Doch so sehr sie sich auch abmühte, sie konnte den Verschluss der Kette nicht lösen. Ihre Finger glitten über heißes Metall, fühlten dabei weder Haken noch Öse, und sie musste unverrichteter Dinge ihr Vorhaben aufgeben, um nach diesen erfolglosen Versuchen ihre brennenden Fingerspitzen abzukühlen.

Was war plötzlich in Ewerthon gefahren? Sie spürte, wie sich all seine Muskeln anspannten, er machte sich kampfbereit. Hatte er sich nicht gerade schützend vor sie gestellt? Ohne Schwert, ohne Schild, nicht einmal einen Knüppel in Sichtweite, mit dem man sich bewaffnen konnte. Abgelenkt durch ihre wirkungslosen Befreiungsversuche, hatte sie ihre Umgebung außer Acht gelassen. Doch jetzt bemerkte auch sie den unsichtbaren Beobachter, der vor ihnen Stellung bezogen hatte und mit der Umgebung verschmolz. Eins wurde mit dem blauschwarzen Grauen, das sie umschloss.

Noch etwas wurde ihr bewusst, sie verspürte zum ersten Mal in ihrem Leben pure Angst. Eiskalte, irritierende Todesangst, die sie schlagartig überfiel, sich durch ihren Körper fraß, das Blut zum Stocken brachte, die Luft noch mehr abschnürte. Angst, in der sich ihr Geist verfing, wie in einem tödlichen Geflecht, aus dem es kein Entrinnen gab. Doch es war nicht nur ihr Leben, um das sie bangte, sondern sie fürchtete auch um Ewerthon. Niemand wusste, wie sich letztendlich die vollzogene Wandlung in Menschengestalt auswirkte. Über welche Gaben er noch verfügte? Konnte er auf seine Tigermagie zurückgreifen, oder war er genauso wie sie in einem zerbrechlichen, menschlichen und insbesondere sterblichen Körper gefangen?

Rücken an Rücken standen sie da, während unsichtbare, entsetzliche Wesen sie belauerten. Denn, dass in diesem Dunkel nichts Gutes bestehen konnte, waren sich beide gewiss.

Trüber Dunst wogte näher, langte formlos nach ihnen, zog sich schlürfend zurück. Bei jedem Male begann Miras Halskette zu glühen, fast schien es so, je näher die dunklen Fetzen kamen, desto mehr brannte das Geschmeide an Miras Hals.

„Sie beschützt uns!“, die Worte drangen lautlos in Miras Kopf.

Ewerthon hatte wohl bemerkt, dass das Leuchten um Miras Hals ihre furchtbaren Schmerzen verstärkte, allerdings auch das gräuliche Wabern um sie in Schach hielt.

Die kleine Prinzessin hinter ihm – sie würde auf ewig seine Prinzessin bleiben, egal was alle Welten davon hielten – nickte. Demnach war ihr das Zurückweichen der amorphen Wesen, die sie zwischenzeitlich kreisförmig eingekesselt hatten, nicht entgangen.

„Ich werde es ertragen, so lange es uns die Biester vom Leib hält.“ Klar hallte ihre stille Botschaft in ihm nach.

Ihre wortlose Verständigung funktionierte also noch! Doch die Freude darüber währte nur kurz. Immer enger zog sich der Ring der körperlosen Schatten, immer unerträglicher wurde Miras Qual. Lange würde sie nicht mehr durchhalten, die glühend heißen Symbole brannten bereits blutige Abdrücke in zarte Haut.

Miras Gedanken wirbelten. Die besondere Art von Kommunikation zwischen Ewerthon und ihr glückte weiterhin, auch unter diesen bizarren Umständen.

Vielleicht!? Es war jedenfalls einen Versuch wert …

… „Morgengrauen!“

Ewerthon war kurz abgelenkt.

„Hast du soeben Morgengrauen gekrächzt?“, halb wandte er sich ihr zu. Das war ein Fehler. Denn sofort schnappte ein hungriges Etwas nach seinem Bein.

Mira atmete tief durch. Nein, es bedurfte keiner Worte. Sie konnte ihren Hals schonen, musste nicht leidvoll einen Namen herauswürgen. Sie musste sich bloß konzentrieren.

Morgengrauen war die Lösung all ihrer Probleme! Sorgfältig formte sie jeden einzelnen Buchstaben, schickte die leise Nachricht durch die abstruse Schwärze, hinaus in eine andere Welt. In eine Welt voller Licht und Hoffnung, die es irgendwo da draußen geben musste, eine heile Welt, in die sie mit aller Kraft zurückwollte.

Beiden war bewusst, dass sie nicht mehr lange ihre Stellung halten konnten. Der Ring um sie wurde stetig enger, sie verloren an Boden und die Kette an Miras Hals würde sich in Bälde in flüssiges Metall verwandeln.

Schlagartig öffnete sich die bislang undurchdringliche, nebulose Wand, gab den Blick frei … auf einen gleißend hellen Tunnel, der sich vor ihnen auftat. Geblendet hefteten beide ihren Blick auf die Gestalt am Ende des Schachtes, die sich ihnen langsam näherte. Pechschwarz, riesengroß, furchteinflößend und vorab lautlos.

Doch, je näher diese kam, desto lauter wurde das Kreischen. Ein grässliches Geräusch, scheinbar nicht von dieser Welt, verursacht durch gigantische Flügel, die an den engen Wänden des Stollens streiften. Funken stoben in alle Richtungen, sobald die eisenharten Federn der Riesenflügel mit dem dunklen Felsen in Berührung kamen.

Der Platz rund um Ewerthon und Mira war mittlerweile hell erleuchtet. Sie sahen sich in die Augen. Das erste Mal seit dieser besonderen, magischen Nacht versanken sie in den Blick des anderen, verschmolzen moosgrün und blaugrau zu einer Einheit, nahmen jedes Detail des anderen wahr.

Mira erkannte, wieso ausgerechnet der letzte Herrscher der Tiger-Dynastie ihr Herz im Sturm erobert hatte. Sein rotblondes Haar wallte um einiges länger als in ihrer Erinnerung, kratzige Bartstoppeln waren einem Vollbart gewichen, doch der kühne Schwung seines Kinns und sein Blick verrieten Entschlossenheit, und auch den Starrsinn in manchen Dingen. Ewerthon erging es ähnlich. Ungeachtet der lebensgefährlichen Situation nahm ihn ihr Aussehen wie eh und je gefangen. Sein Puls ging schneller beim Anblick ihrer kupferbraunen, widerspenstigen Locken, die mehr über ihren Charakter verrieten, als manches andere. Noch immer schimmerte in ihren Augen das sanfte Grün von weichem Sternenmoos mit goldenen Bernsteinsprenkeln um die Wette. Doch nicht nur sie selbst sahen sich jeweils im Blick des anderen, jetzt gerade schob sich eine finstere, riesige Gestalt dazwischen, verdrängte die Spiegelbilder.

„Warst du das? Hast du dieses Monster gerufen?“

Mira schüttelte vehement den Kopf. Was veranlasste Ewerthon zu solch absurder Idee? Doch die, die sie gerufen hatte, war bislang noch nicht eingetroffen. Die Zeit wurde knapp, verdammt knapp!

Sie lösten ihre Blicke voneinander, sahen nun dem sicheren Untergang entgegen. Schützend legte Ewerthon seinen Arm um sie. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Trotz aller anderweitigen Erwartungen und Vereinbarungen, letztendlich erlöst von seiner magischen Gestalt, mit Mira an seiner Seite, und gleichzeitig dem Tod so nahe wie schon lange nicht mehr.

Denn das, was gerade auf sie zukam, war unbesiegbar. Noch dazu, bar jeder Magie und ohne ihre Waffen.

Der Enge des Tunnels entkommen, schossen gewaltige Flügel in die Höhe, breiteten sich in voller Spannweite aus. Ächzend bogen sich uralte Bäume unter dieser plötzlichen Druckwelle. Mannsdickes Holz befand sich in Gefahr, wie Kinderspielzeug auseinanderzubrechen. Das Licht der stobenden Funken war erloschen und die Lichtung abermals in unheimliche Düsternis gehüllt.

Mira und Ewerthon wurden gleichfalls vier, fünf Schritte nach hinten gedrückt. Hand in Hand schlitterten sie an den gegenüberliegenden Rand des Kreises, wo noch immer tiefste Dunkelheit herrschte und Böses lauerte.

Es gab kein Vor und Zurück. Ein Blick aus kohlschwarzen Augen traf sie, mordlüstern und gnadenlos. Geschmückt mit dämonischen Schwingen näherte sich der Tod. Glänzendes Gefieder, scharf wie Messerklingen, blitzte auf, mähte mit einem Schwung wuchtige Stämme, die im Weg standen, nieder.

In diesem Moment brach hinter den beiden die Hölle los. Donner grollte, Blitze zuckten, nervenzerreißendes Geschrei gellte in ihren Ohren. Der Weltenuntergang war angebrochen.

Mira riskierte einen Blick über ihre Schulter. Ewerthon trat indes einen Schritt vor, stellte sich der grauenhaften Kreatur in den Weg. Dann sollte es so sein. Wenn sie Glück hatten, verschonte diese Ausgeburt der Nachtgeister Mira, wenn es seine Krallen an ihm gewetzt hatte, oder Miras Kette schützte sie auch vor diesem Ungetüm. Er selbst machte sich keine falschen Hoffnungen, dass dieser ungleiche Zweikampf günstig für ihn ausgehen könnte.

Mira suchte seine Hand, riss ihn zurück aus dem Dunstkreis der spitzen Federklingen, die haarscharf an ihm vorbei schrammten.

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. Das Gewitter hatte wohl seinen Höhepunkt erreicht, warf flackerndes Licht auf ihr Antlitz, und ein Donnerschlag nach dem anderen ließ die Erde beben. Doch anstatt Angst und Panik in ihren Augen zu finden, blitzten diese triumphierend auf.

„Sie ist unterwegs!“

Mehr las er es in ihren Gedanken, als dass er ihre mühsam herausgepressten Worte verstand.

Er zog sie an sich. Zärtlich, ohne Eile, ein erstes und letztes Mal. Entgegen jeglicher Vernunft, denn hinter ihm spreizte das schaurige Ungetüm soeben seine messerscharfen Klingen, holte zum vernichtenden Schlag aus. Er wollte Mira zumindest einmal in seinem Leben geküsst haben, mit dem Geschmack von reifen Kirschen in dieses aussichtslose Gefecht ziehen.

Doch Mira erwartete weder seinen Kuss, noch schmiegte sie sich innig an ihn. Im Gegenteil. Wie eine aufgebrachte Wildkatze zappelte sie in seinen Armen. Riss sich los.

Wütend stampfte sie auf. Was hatte dieser starrsinnige Mann denn jetzt im Sinn? Rund um sie toste ein Weltenkrieg und er dachte ans Küssen.

„Los, wir müssen in diese Richtung. Lauf, als ginge es um Leben und Tod!“ Aufgeregt zeigte sie in das Zentrum des Unwetters.

Ihm entging das belustigte Funkeln ihrer Augen keinesfalls. Was sollte das heißen … als ginge es um Leben und Tod? Es ging um Leben und Tod! Sie musste sich ihrer Sache sehr sicher sein, um über ihre momentane Situation Witze machen zu können.

Ihm blieb so und so nicht viel Zeit für Überlegungen. Sie rannte los und er hinterher. Noch einmal streifte ihn ein tödlicher Luftzug, als spitze, scharfe Federn hauchdünn an seinem Rücken vorbeizischten.

Nun sah auch er, worauf sie wie besessen zuraste. Über den nachtblauen Himmel spannte sich eine funkelnde Brücke, schimmernd im Licht unzählbarer Sterne. Mit jedem Blitzschlag dehnte sich der silberne Bogen mehr und mehr aus, reichte bereits knapp über die Erde.

Mira hetzte ohne Zögern in dessen Richtung. Die wabernde Finsternis verschmolz zu einem großen Ganzen, griff mit nasskalten Fingern nach Ewerthon, quoll über den Waldboden, umklammerte seine Beine, machte ein Fortkommen unmöglich.

„Mira!“, dieses Mal schrie er. So laut er konnte! Er steckte fest. Verzweifelt versuchte der derart Gefangene, sich aus der schleimigen, pechschwarzen Masse zu befreien. Doch je mehr er sich bemühte, desto mehr sank er ein.

„Du darfst dich nicht bewegen! Bleib einfach ruhig stehen, das verschafft mir Zeit!“, ohne sich nach ihm umzudrehen, sandte Mira ihre Gedanken und rannte unbeirrt weiter.

Was hatte sie vor? Wollte sie ihn opfern, um ihr eigenes Leben zu retten? Ewerthon erschauderte. Von Oskar hätte er so etwas nie angenommen! War das Liebe? Sie küssen zu wollen, und sie schmiss ihn zum Fraß vor?

Silberner Rauch wallte unmittelbar vor Mira auf, ein Donnern von ehernen Hufen erschütterte die Erde. Sogar der quallige Schleim um Ewerthon zitterte. Täuschte er sich, oder zog sich dieser soeben ein Stück zurück, nahm Reißaus vor dem glänzenden Nebel, der jetzt auch in seine Richtung floss?

Mira war verschwunden.

Da war es wieder, dieses Surren, bei dem sich all seine Nackenhaare aufstellten. Er wandte den Kopf, sah direkt das hasserfüllte Funkeln von rotglühenden Augen, sah wie die tödlichen Schwingen, die schrill durch die Luft schnitten, gerade auf ihn herabsausten.

Durchdringendes Wiehern ließ ihn für einen Moment nach vorne blicken. Schmale Fesseln eines Pferdes zeigten sich, alles andere verbarg sich hinter gleißenden Schwaden. Nervös tänzelte dieses an seine Seite, eine Hand langte nach ihm und ohne viel nachzudenken, griff er danach.

Das Pferd stieg hoch. Mit einem Ruck lösten sich Ewerthons Füße vom zähen Untergrund und er landete hinter Mira auf dem Pferderücken. Kaum saß er, galoppierten sie bereits im halsbrecherischen Tempo auf die glimmende Sternenbrücke zu. Wutentbranntes Kreischen drang ihnen durch Mark und Bein, und all die körperlosen Schatten, die sich zuvor zu einem wabernden Ganzen vereint hatten, trennten sich wieder voneinander. Den zahllosen formlosen Gebilden wuchsen spitze Schnäbel, armlange Flügel und sichelförmig gekrümmte Fänge. Eine Armee von Nebelkrähen, vorab noch unbeholfen, hob sich in die Lüfte, setzte zur Verfolgung des geheimnisvoll schimmernden Pferdes an.

Kaltes Grauen kroch durch Ewerthons Adern. Der Aufgang zur rettenden Silberbrücke lag zwar direkt vor ihnen, jedoch was dann? Gegen Nebelkrähen hatten sie keine Chance. Wenn diese Vögel zum Heer der Kriegsgöttin gehörten, dann könnten sie bis zum Sternenzelt flüchten, die Krähen würden ihnen folgen.

„Vertraue auf Alba!“ Miras Botschaft erreichte ihn klar und deutlich. „Alba – meine einzigartige, wunderbare Stute, sie wird uns retten!“

Mit einem gewaltigen Sprung erreichte diese gerade den leuchtenden Bogen, der sich noch immer von der Erde bis in den nachtschwarzen Himmel empor spannte. Unter ihren Hufen sprühten Blitze und donnernd flogen sie über glänzenden Untergrund. Wurde eine der zornigen Nebelkrähen von den silbrigen Funken getroffen, zerbarst der Vogel mit lautem Knall in zig Stücke.

Aber … die Krähen lernten dazu. Vorsichtig geworden, vergrößerten sie den Abstand zu den drei Flüchtenden. Alba eilte schneller als der Wind, flog fast über ihren glitzernden Steg, trotzdem konnte sie die Verfolger nicht abschütteln. Zusätzlich scharten sich für jedes explodierende Federbündel zwei neue Angreifer hinzu.

Mira tätschelte den Hals des funkelnden Pferdes und flüsterte ihm zu. Alba schnaubte gewaltig, schüttelte ihre dichte Mähne. Aus den Nüstern strömte silbergrauer Rauch, verbarg nicht nur die drei und die strahlende Brücke, sondern verhüllte ihre gesamte Umgebung.

Die Armee der Krähen kam sich nun orientierungslos und blind selbst in die Quere, die Vögel prallten mit heiserem Geschrei unbeholfen gegeneinander, trudelten hilflos zu Boden.

Den gezackten Waldsaum im Rücken beobachtete eine hoch gewachsene Gestalt das Geschehen. Dunstig wie das Morgengrauen über brachliegenden Feldern zog sich eine undurchsichtige Nebelwand bis hin zum Horizont.

Wer konnte denn damit rechnen, dass es Mira gelingen würde, Hilfe zu holen? Ein magisches Wesen, und darum musste es sich augenscheinlich handeln, in diese Welt zu lotsen. In ihr ureigenes Reich, das sie sich im Geheimen, fernab von allem, geschaffen hatte. In dem sie, umgeben von absolut Ergebenen, ihrer wahren Natur frönen konnte, so sein konnte, wie sie tatsächlich war. Abgrundtief böse und voller Hass ihr Ziel verfolgend.

Voller Zorn wandelte sich die Kreatur. Wurde zur Gänze ein grauschwarzer Vogel, breitete die gewaltigen Flügel aus und stieß sich mit kraftvollem Schwung von der felsigen Erde. Knapp unter dem Sternenzelt wies unheildrohendes Krächzen nicht nur den Getreuen den Weg aus dem rauchigen Nebel zurück an ihre Seite, sondern jagte Mira und Ewerthon zusätzlich einen eiskalten Schauer über den Rücken.

 

Cuor a-Chaoid

Am selben Tag zu einer früheren Stunde betrat die Stiefmutter Miras Kammer. Ein Windstoß musste das Fenster entriegelt haben und durchs Zimmer gefegt sein. Etliche der Schnitzereien, von der Prinzessin liebevoll gefertigt und sorgsam in Regalen sortiert, lagen unordentlich über den ganzen Boden verstreut.

Sirona tauchte hinter der Stiefmutter auf und schaute auf das heillose Durcheinander. Miras Schwester erfasste die Situation mit einem Blick.

„Morgengrauen fehlt! Das Windpferd ist weg, Mutter!“

Fia sah sie fragend an. „Woher weißt du das so sicher? Ich sehe hier mehr als ein Dutzend Pferde, kaum voneinander zu unterscheiden.“

„Ganz einfach. Es ist das einzige Pferd, das Sternenzauber besitzt, das habe ich am liebsten!“, damit drehte sie sich um und jagte jauchzend Ryan, ihrem kleinen Bruder nach, mit dem sie gerade Verstecken spielte.

Ilro, der soeben um die Ecke biegen wollte, verharrte regungslos. Immer noch klang es für ihn seltsam, wenn seine jüngere Tochter die Frau vor ihm mit „Mutter“ ansprach. Doch, wer konnte es ihr verdenken? War doch seine über alles geliebte Schura, Sironas leibliche Mutter, bei ihrer Geburt gestorben. Und hatte sich nicht die neue, zweite Frau an seiner Seite von Beginn an fürsorglich um die kleine Halbwaise gekümmert?

„Das ist ja außerordentlich interessant“, mit diesen Worten verriegelte Fia das Fenster und danach die Kammertür, drehte den großen Schlüssel gleich zweimal im Schloss, um ja sicher zu gehen.

„Unsere Welt ist voller Geheimnisse, meinst du nicht auch?“, lächelnd hakte sie sich bei Ilro, dem sie plötzlich gegenüberstand, unter. Der Saum ihres Gewandes, gewebt aus feinstem Tuch, raschelte knisternd über die kunstvoll geknüpften Teppiche. Der darunterliegende Steinboden blieb kühl, hier in den unendlich langen Gängen von Cuor a-Chaoid, der Burg der ewigen Herzen, an der Grenze zum Reich der Lichtwesen.

Fia summte zufrieden vor sich hin … es gab noch viel zu tun, dieser Tage.

 

Unter uns I

 

Zeitlosigkeit

Leere – Kälte – Moder! Nichts anderes herrschte an diesem Ort. Ein nackter grau in grau gehaltener endloser Saal erschloss sich dem neugierigen Zuschauer. Bloß … hier gab es keine Zuschauer. Es gab niemanden.

Und doch! Auf den zweiten Blick schien irgendjemand schon dagewesen zu sein. Denn, vergessen auf dem kalten Steinboden, lag etwas in der Mitte des Raumes. Zu einem lockeren Bündel aufgehäuft, scheinbar ein Umhang, in Eile ausgezogen und achtlos fallen gelassen.

Sah man genauer hin, erkannte man, dass es sich um ein weitgeschnittenes schwarzes Cape aus feinstem Gewirk handelte. Seidig schimmernd, jedoch nicht, wie aus der Ferne vermutet, durchlässig, sondern von festem Material, schlummerte es vor sich hin. Diese besondere Beschaffenheit war natürlich nur spürbar für den, der dieses säumig hingeworfene Bekleidungsstück mit eigenen Händen berührte.

Stimmen wisperten durch den kahlen Saal. Körperlos, zischelnd, flüsternd, unsichtbar. Nach einer ewig langen Zeit kam Bewegung in den zerknüllten Haufen auf der Erde. Ein Luftzug geisterte durch den Raum, plusterte den schwarzen Stoff auf. Er hob und senkte sich, regte sich, gewann an Leben, richtete sich auf, kam zum Sitzen, in Folge ächzend zum Stehen. Schüttelte sich wie ein räudiger Hund, sog die modrige Luft ein, blähte die Nüstern … rief sich das Geschehene in Erinnerung.

Vorab waren die beiden in seinem Reich gelandet … und ihm wieder entflohen!

Eine einzelne tiefschwarze Feder segelte zu Boden, als das gestaltgewordene Wesen sich mit Schwung um die eigene Achse drehte und anschließend durch den einsamen Raum eilte.

Niemals würde es aufgeben!

Was bedeutete Niemals in der Zeitlosigkeit?

 

Stellas Welt I

 

Dornröschens Traum

Er beobachtete sie schon eine ganze Weile. Tagelang, auch nächtelang, wenn man es ganz genau nahm. Ihre Augenlider flatterten. Das Ende eines langen Schlafes kündigte sich an, sie würde aufwachen.

Seine Gedanken wanderten mehrere Wochen zurück. An jenen verregneten Nachmittag, als das Telefon auf seinem Schreibtisch nimmer endend klingelte, die monotone Abgeschiedenheit beharrlich mit schrillem Ton durchdrang, und er letztendlich den Hörer doch abnahm. Obwohl er sich geschworen hatte, nie wieder einen derartigen Auftrag anzunehmen, lehnte er diesen doch nicht ab. Im Nachhinein betrachtet, wusste er nicht einmal, was ihn letztendlich dazu bewogen hatte, seine selbst gewählte Abstinenz zu beenden.

Hätte er Stella vor seiner Zusage gesehen, dann wäre es ein Leichtes gewesen, sein Interesse ihrer fast überirdischen Ausstrahlung zuzuschreiben. Auch jetzt noch, in ihren Träumen gefangen, zog sie alle Aufmerksamkeit auf sich.

Er war ihr allerdings vorher noch nie begegnet. Es musste also doch die seltsam anmutende Schilderung seines Gesprächspartners gewesen sein, die ihn in das nächste Flugzeug steigen ließ.

Seine Zelte waren schnell abgebrochen. Er schätzte die Anonymität einer großen Stadt. Niemanden kümmerte das Schicksal seines Nachbarn und noch weniger dessen Vorleben. Ein Nachsendeauftrag ausgefüllt und unterschrieben, dazu eine kurze Notiz an den Hausverwalter, und er brauchte sich um Post und Appartement keine Sorgen zu machen, und … mehr ließ er nicht zurück … jetzt nicht mehr.

Wie Haie, von frischem Blut angelockt, kreisten seine Gedanken plötzlich um Gewesenes. Mit enormer Willenskraft vertrieb er diese sogar für ihn angsteinflößenden Ungeheuer, scheuchte ungebetene Erinnerungen zurück in den verborgensten Winkel seiner Seele, barg sie dort in der eigens dafür vorgesehenen hölzernen Truhe und schlug den Deckel zu. Nein, er würde jetzt nicht in seine Vergangenheit eintauchen, keine düsteren Hintergründe durchleuchten, die ihn, einen erfolgreichen Mediziner, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, zu einem eigenbrötlerischen Egozentriker werden ließen.

Die ihm übertragene Aufgabe erforderte vollste Konzentration, dessen war er sich nach jenem ersten Telefonat bereits bewusst.

Je länger er sich mit der Geschichte der jungen Frau beschäftigte, desto intensiver wurde sein Ansinnen, das Geheimnis seiner Patientin zu lüften. Das klang seltsam, sogar nur in Gedanken, unausgesprochen … seine Patientin. Eigentlich wollte er niemals wieder welche haben.

Der Kontrollblick auf den Monitor zeigte, dass Dornröschen noch nicht bereit war, in die Gegenwart zurückzukehren. Ja, auch sie bewahrte tiefer Schlaf vor der Konfrontation mit der Wirklichkeit. So zumindest die allgemein gültige Überzeugung.

Die Mappe im gelben Umschlag schimmerte im Licht der Lampe auf sorgsam poliertem Holz. Es handelte sich um einen wunderschönen, alten Schreibtisch, im Kontrast zu all den modernen Geräten in diesem Raum. Er griff nach der Patientenakte, zog sie heran. Komprimiert auf nicht ganz fünf Seiten hielt er alles Wissen, das es momentan über diese mysteriöse, junge Frau gab, in Händen. Sorgsam blätterte er, bereits zum wiederholten Male, die wenigen Bögen durch. Es musste doch einen Hinweis geben, der ihm weiterhalf, der Licht in diese rätselhafte Angelegenheit brachte, irgendetwas, das er bis jetzt übersehen hatte. Einige medizinische Gutachten, die aus welchen Gründen auch immer fehlten, hatte er bereits angefordert, waren jedoch noch nicht eingetroffen.

Konzentriert über das dicht beschriebene Papier gebeugt, auf der Jagd nach verwertbaren Informationen, schenkte er dem Kontrollmonitor keinerlei Beachtung.

Darum übersah die momentan wohl bedeutendste Kapazität auf dem Gebiet der Neuropsychologie respektive Neurophysiologie Folgendes …

Erhöhte Aktivitäten in Gehirnarealen seiner Patientin, die es so, in ihrem gegenwärtigen Zustand der Teilnahmslosigkeit, gar nicht geben durfte.

 

Ewerthon & Mira II

 

Alba

Fast gleichzeitig öffneten Mira und Ewerthon ihre Augen. Die Stute graste friedlich in unmittelbarer Nähe, zupfte da und dort saftige, grüne Büschel, kaute diese voller Hingabe, bevor sie geräuschvoll verschluckt wurden.

Nicht nur der Stand der Sonne verriet ihnen die nahende Mittagszeit, ihre Mägen knurrten wie der eines Bären nach dem Winterschlaf.

Alba schritt langsam näher, stupste Mira mit ihrer weichen, dunklen Schnauze an, schnaubte auffordernd.

Ewerthon hatte sich zwischenzeitlich aufgerappelt und reichte Mira seine Hand. Fürsorglich half er ihr hoch, ließ sie nicht los, obwohl sie bereits sicher auf eigenen Beinen stand. Da waren sie nun, sahen jeweils den anderen das erste Mal nach jener magischen Nacht wahrhaftig bei Tageslicht. Knapp dem Tode entkommen, hatten sie keinen Schimmer, wo sie sich befanden; wussten in gewisser Art und Weise auch nicht, wer oder was sie waren, und es fehlte ihnen an Worten.

Jäh wurde Mira von einer unsagbaren Welle der Traurigkeit erfasst. Diese kam aus ihrem tiefsten Inneren, schwappte über die seichten Ränder des Herzens, stieg höher und höher, bis sie sich in einer Flut von Tränen den Weg ins Außen bahnte.

Ewerthon zog Mira an sich, bettete ihren Kopf an seine Brust und sie lauschte Vergangenem. Dumpfes Pochen erzählte von unerschrockenem Mut, verzweifelter Hoffnung, von einer Reise, die fantastischer nicht hätte sein können, von Freundschaft und überstanden Abenteuern, von Leben und Tod. In seinen Armen weinte sich Mira alles von der Seele. Die Geschehnisse der letzten Monate wirbelten durcheinander, sogen sie in einen Strudel der Verwirrung, raubten ihr die letzten verbliebenen Kraftreserven. Sie dachte an Oskar, dessen vergifteter Körper ihr eigenes Leben in Gefahr gebracht hatte; an Ewerthon, dessen verloren geglaubten Geist es aus seiner magischen Tiergestalt zu befreien galt; die Angst, die trotz aller zur Schau gestellten Tollkühnheit ständig im Hintergrund lauerte, die Ungewissheit, die unablässig nach Mira griff, oder war es Oskar, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, schluchzte hemmungslos, bis irgendwann die Tränen versiegten.

Ihr Blick fiel nach unten. Konnte man vertrocknen, wenn man zu viel geweint hatte?

Ewerthon strich behutsam über den Schopf von widerspenstigen Locken. Er ahnte, wie es um Mira stand. Oft genug war es so. Die besten und härtesten Kämpfer brachen nach überstandener Schlacht zusammen, mussten sich haltlos den Geistern der Vergangenheit stellen. Früher oder später forderte die Seele ihren Tribut, wollte sich in Sicherheit wissen und heilen. Dann war es gut, einen Kameraden an seiner Seite zu haben. Nun wollte er dies für Mira sein, ein Fels in der Brandung.

Sie hob ihren Kopf. Sanft wischte er über ihr tränennasses Gesicht, suchte nach tröstenden Worten.

„Du hast keine Schuhe an!“, krächzte sie.

„Ähmmm, ja, da könntest du recht haben. Meine Stiefel stecken wahrscheinlich in diesem ekeligen Morast fest“, er konnte es nicht fassen. Eben noch bebten ihre Schultern unter der Last der Erinnerungen und im nächsten Moment warf sie ihm vor, sein Schuhwerk verloren zu haben? Noch dazu, wo sie die Verantwortung dafür trug! Wer hatte ihn denn mit einem kräftigen Ruck aus dem Schlamm gezogen und schwungvoll aufs Pferd gehievt?

„Du weißt, ich kann deine Gedanken lesen?“, Mira schmunzelte, während sie ihm die Botschaft schickte.

„Ich denke, wir werden unsere Verständigung momentan auf diese Ebene beschränken. Mein Hals brennt wie Feuer“, dachte sie weiter.

Das Maß war voll. Entschlossen umfasste er ihr Kinn, zwang sie damit, ihn direkt anzusehen.

„Wie geht es dir?“, aufmerksam betrachtete er sie. Das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, erreichte nicht die geröteten Augen. In deren Glanz spiegelte sich Ratlosigkeit.

„Ich habe keine Ahnung, wie es mir geht. Ich weiß nicht, wer oder was ich bin. Ich bin sterblich, das nehme ich an. Ich fühle mich gefangen in einem fremden Körper, obwohl es mein eigener ist, nicht einmal bei Oskar empfand ich derart. Verfüge ich noch über Magie? Meine Mutter behielt ihre magischen Fähigkeiten. Wieso will die Krähenkönigin unseren Tod und wo sind wir überhaupt?“

Obwohl lautlos formuliert, flutete diese Botschaft konfus auf Ewerthon ein.

Sie hatte Recht. Es gab einen Berg von Fragen, die auch ihn beschäftigten. Die Stute stand unmittelbar neben ihm. Ein wunderschönes Tier, das ihn mit dunklen Augen abwartend musterte, dessen Fell silbern im Sonnenlicht glänzte. Es war ihnen zu Hilfe geeilt, doch wie war das möglich?

Mira nahm seine Hand und legte sie an die Flanken des Pferdes.

Sie erinnerte sich genau an Albas Geburtsstunde, ganz oben auf dem höchsten Turm von Cuor a-Chaoid, der Burg der ewigen Herzen, wo sie sich am liebsten aufhielt. Hier bot sich eine einzigartige Aussicht. Sie sah nach unten, auf das emsige Treiben der Bediensteten, die klitzekleinen Ameisen ähnelnd frühmorgens ihrer Wege eilten. Blickte zur einen Seite über die endlose Weite des Meeres und entgegengesetzt tief ins Landesinnere. Versteckt unter molligem Nebel ließen sich grüne Wälder, üppige Getreidefelder und blaue Berge erahnen, die Herrschaftsgebiete ihres Vaters und ihrer Mutter, einträchtig nebeneinander. Deren Erbe sie hätte antreten sollen.

Wie so oft in jenen Tagen widmete sie sich ihrer Lieblingsbeschäftigung, der Schnitzerei. Unter ihren geübten Händen entstand soeben eine wunderbare Pferdegestalt. An dieser Stelle, in luftiger Höhe, umgab sie Ruhe. Ruhe, die sie brauchte, um jedes noch so winzige Detail sorgfältig aus dem kleinen Holzstück zu arbeiten. Ein Habicht umstrich den rundgemauerten Turm, beäugte sie scharf und stieß einen heiseren Willkommensgruß aus. Gewöhnlich landete er in ihrer Nähe, erhielt ein paar Leckerbissen und es entspann sich ein angeregter Dialog. Der schiefergraue Greifvogel kam weit umher, wusste von Neuigkeiten und oftmals Geheimnissen, die er gerne mit seiner Prinzessin teilte. Aber heute nicht.

Es war der Tag ihrer Abreise von Cuor a-Chaoid, der Abschied von Zuhause. Der Tag, an dem sie zur Ausbildung bei Wariana, Königin aller Königinnen, der obersten und weisesten Hexe aller Hexen, geschickt wurde. Verbissen schnitzte sie weiter und ignorierte den Vogel. Zu groß war ihre Trauer. Der Habicht flog unverrichteter Dinge weiter.

Die feinbearbeitete Figur war fertig, doch Mira blieb noch eine Weile, wartete auf den Sonnaufgang. Immer wieder schweifte ihr Blick zur feinen Kontur in der Ferne, dort, wo sich Meer und Himmel trafen. Ein letztes Mal wollte sie das rotglühende Funkeln erleben, das ihre Mutter über alles geliebt hatte. Doch an besagtem Tag blieben nicht nur ihre Gedanken düster. Fahler Dunst legte seine Schleier über die aufgehende Morgensonne.

Mira zuckte erschrocken zusammen. Das passierte, wenn man sich ablenken ließ! Sie war abgerutscht und das scharfe Schnitzmesser ritzte die Innenfläche ihrer linken Hand. Blut tropfte auf das filigrane, hölzerne Kunstwerk, das sie vor Schreck fallen gelassen hatte. Behutsam hob sie es vom Boden, wischte Erde und die roten Blutspuren von der Figur. Tränen benetzten das Kleinod, das verloren in ihren Händen lag. Zitternd hielt sie das winzig kleine Abbild einer wunderschönen Stute gegen das trübe Licht. Gerade in diesem Augenblick gelang es einigen unermüdlichen Sonnenstrahlen, die Nebelbank zu durchbrechen. Sie tauchten das Pferd in ein glänzendes Flammenmeer. Nicht nur die weißen Schwaden am Firmament, auch die endlose See mit ihren tanzenden Schaumkronen erstrahlte in gleißendem Silber, vom blitzenden Himmelszelt lediglich durch die feine Linie eines geheimnisvollen, rauchgrauen Horizonts getrennt. So entstand Alba. Deren Name, entlehnt aus der Sprache der durchs Land ziehenden Gaukler, nichts anderes als Morgengrauen bedeutete. Wind kam auf und hauchte der Stute Leben ein. Das Windpferdwar geboren.

Ewerthon wusste bereits um die besondere Verbindung zwischen Mira und ihren Schnitzereien, diese Entstehungsgeschichte war ihm neu.

Beide vermuteten, dass Miras unbeabsichtigte Bluttaufe dieses Band noch engmaschiger geknüpft haben musste, als üblich. Wie sonst hätte es ihr gelingen können, Alba zu sich zu rufen, an einen Ort, von dem sie selbst nicht wusste, wo er sich befand?

Das Knacksen eines dürren Zweiges, behutsame Schritte die sich leise näherten, ließen beide aufhorchen. Die Stute spitzte gleichfalls ihre Ohren, blickte aufmerksam in Richtung Waldrand.

Schemenhaft zeichneten sich dort abstruse Gestalten ab. Huschten in das Dunkel des Waldes, tauchten als verschwommene Silhouetten hie und da wieder auf, beobachteten sie aus der Ferne.

Alba schüttelte ihre Mähne, wieherte und schritt über die grünen, weichen Graspolster an das gegenüberliegende Ende der kleinen Lichtung.

 

Das freie Volk

„Lass sie gewähren. Ich glaube nicht, dass uns von dort drüben Gefahr droht“, Mira blickte der Stute versonnen nach.

Ewerthon war davon nicht ausnahmslos überzeugt. Dort in der Deckung von niedrigem Gestrüpp und mannsdicken Bäumen konnte jeglicher Schrecken lauern.

Trotz allem bewunderte er die einzigartige Zeichnung des Pferdes. Das Fell silbergrau, schimmerten dessen Mähne und der Schweif in dunklerem Rauchgrau. Diese Färbung fand sich an seinen eleganten Fesseln und der weichen Schnauze wieder.

Stolz, mit erhobenem Haupt und anmutigem Gang hielt Alba auf das erste dichte Buschwerk zu. Bis auf ein paar Schritte näherte sie sich, dann beugte sie ihre Vorderbeine, knickte die Hinterbeine und legte sich vor das Gestrüpp.

Ewerthon vermeinte, einer Sinnestäuschung anheimzufallen. Geblendet von der Sonne, erblickte er nun tatsächlich reihenweise kleine Gestalten, die aus dem Gebüsch krochen und sich vorsichtig der Stute näherten. Begleitet von Kichern, Gemurmel und zahllosen weiteren undefinierbaren Geräuschen, umringten die etwa kindsgroßen Geschöpfe das Pferd, das ruhig auf seinem Platz verharrte. Gelassen ließ es die achtsamen Berührungen der tastenden kleinen Händchen über sich ergehen. Erst als die ersten voreiligen Fingerchen ihre sensible Schnauze zupften, schüttelte die Stute warnend ihre dunkle Mähne. Die kleinen Wesen stoben quietschend in alle Richtungen davon.

Indessen hatten sich Mira und Ewerthon soweit genähert, dass die ersten Flüchtenden blindlings gegen sie prallten, voller Schrecken zu ihnen aufsahen, erneut wie Ferkelchen quiekten, bevor sie in eine andere Richtung rannten.

Mira bückte sich, hob vorsichtig eine der hysterisch Entfliehenden hoch. Mit beiden Händen von sich gestreckt, betrachtete sie die zappelnde und sich windende Gestalt.

Als Prinzessin aller Lichtwesen wusste sie um so gut wie jede Lebensform dieser Welten.

„Du gehörst zum Freien Volk“, meinte sie heiser und stellte den wild um sich schlagenden Winzling mit Bedacht zurück auf die Erde.

Verdutzt blickte dieser zu ihr hoch. „Du sprichst unsere Sprache? Das können nur … “

„Sie spricht unsere Sprache. Sie versteht uns! Bleibt hier Leute!“, schrie das kleine Wesen in Folge lauthals über die ganze Lichtung und in das Dunkle des Waldes, wohin sich ein Großteil der Meute bereits verzogen hatte.

Ewerthon hatte nichts von diesem Dialog und auch nicht das darauffolgende Geschrei des auf und ab hüpfenden Geschöpfs verstanden. Gleichfalls verstand er weder ein Wort von dem, was sich nun die Kleinen in einer ihm unbekannten Sprache untereinander zuriefen, noch das Gespräch, das Mira sichtlich unter Schmerzen mit ihnen führte.

„Wolltest du nicht deine Stimme schonen?“, sanft legte er seine Hand auf ihre Schulter.

Voller Begeisterung wandte sie sich ihm zu. „Wir sind beim Freien Volk gelandet!“

Er betrachtete Mira und daraufhin die herumwuselnden Gestalten. Ihn befiel eine vage Vorstellung, was ein FreiesVolk darstellte. Nach der Reaktion Miras zu schließen, zumindest keine Gefahr.

Und so kam es, dass eine Schar plappernder Wesen sie in ihre Mitte nahm und durch den Wald führte. Die Größten von ihnen reichten Mira gerade mal eine Handbreit über den Bauchnabel, die Kleineren tummelten sich um ihre Knie. Dort, wo die lebhafte Meute ohne Schwierigkeiten durchs dichte Niederholz schlüpfte, hatten Ewerthon, Mira und Alba die Wahl. Entweder sie mühten sich durch undurchdringliches Gestrüpp, das sich mit spitzen Nadeln und borstigen Zweigen in ihr Fleisch bohrte, mit Widerhaken an Fell und Haare krallte, oder sie mussten sich andere Pfade suchen und somit einen häufig ausgedehnten Umweg einschlagen. Offensichtlich kamen sie nicht so schnell voran, wie ihre Begleiter gehofft hatten, denn mit einem Mal hob der Anführer die Hand und der ganze Zug stoppte.

„Hier werden wir unser Nachtlager aufschlagen!“ Dieser Befehl klang ausgesprochen deutlich in Ewerthons Ohren.

„Er wählt dir zuliebe unsere Sprache“, Mira lächelte. „Offenbar, weil er meine Schmerzen bemerkt hat.“

„Oder, weil er mich für die Arbeit benötigt.“

Ewerthon konnte diese Nachricht nicht mehr aufhalten, zu schnell war sie ihm in den Sinn gekommen. Er hoffte im Stillen, dass das Freie Volk, wie Mira es nannte, nicht auch noch die Kunst des Gedankenlesens beherrschte. Ein Lächeln von Mira und er ließ alle Vorsicht außer Acht.

Doch Ewerthon irrte sich. Während er noch mit dem Sammeln geeigneter Äste für den Unterstand beschäftigt war, hatte das rührige Völkchen bereits das gesamte Lager am Rande eines kühlen Baches aufgestellt.

Und nicht nur das. Wasser war geschöpft, mehrere Lagerfeuer loderten, Abendsuppe war in metallenen Kesseln erhitzt oder Kleinwild gegart, gesteckt auf Spießen, gewendet von fleißigen Händen. Rundum herrschte emsiges Treiben, begleitet von lauthalser Unterhaltung des kleinen Volkes.

Mira saß abseits auf einem querliegenden Stamm. Ihr Blick ging ins Leere. Er nahm an, dass sie nicht einmal die enorme Geräuschkulisse wahrnahm, so versunken starrte sie in die Ferne.

„Gut, dass wir die Krähenkönigin los sind, uns gerade vor niemanden verstecken müssen.“

Ewerthon grinste, Mira war folglich doch nicht so abwesend, wie es den Anschein machte, dachte das Gleiche wie er. Mit solcherart geschwätziger Krieger an ihrer Seite wäre jede klammheimliche Flucht so oder so zum Scheitern verurteilt. Er nahm neben ihr Platz. Schweigend beobachteten sie das geschäftige Treiben der kleinen Geschöpfe und hingen ihren Gedanken nach.

Ewerthon nahm seinen ganzen Mut zusammen, sprach aus, was ihm seit geraumer Zeit auf der Zunge lag und noch nicht herauskommen wollte.

„Wir haben noch nie darüber geredet, was in dieser magischen Nacht passiert ist. Wie es mit uns weitergeht.“

„Nun, es hat sich auch nie wirklich die Gelegenheit dazu geboten. Wir waren stets gut beschäftigt“, murmelte Mira.

Sie dachte mit Grauen an ihr finsteres Erwachen. Nur knapp war es ihnen gelungen, wieder einmal, dem Tod von der Schippe zu springen.

Er nahm ihre Hand. „Ich stehe in deiner Schuld. Du hast für meine Wandlung deine Unsterblichkeit aufgegeben, unter Umständen sogar deine magischen Fähigkeiten. Und wenn mir ungezählte Leben zur Verfügung stünden, ich könnte diese Schuld niemals tilgen“, ernst sah er ihr in die Augen.

Miras Augen glänzten, nicht nur vom Widerschein der Lagerfeuer.

„Ich wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden, hätte ich nicht getan, was ich getan habe. Es war unabdingbar. Lieber sterbe ich an deiner Seite, als für alle Ewigkeit unglücklich zu sein.“

Kaum hatte Mira zu Ende gedacht, schoss lautlos ein Pfeil durch die Luft und blieb surrend knapp neben ihr im Holz stecken.

Beide warfen sich blitzschnell zu Boden, robbten hinter dem massigen Baumstamm in Deckung. Ewerthon griff nach seinem Schwert und ins Leere. Er war unbewaffnet! Genauso wie Mira, die plötzlich nach dem Bogengeschoss hechtete, es packte und gekonnt das hintere Ende abbrach.

Vorsichtig löste sie die winzige Rolle vom erbeuteten Schaft und begann zu lesen. Heftig schüttelte sie ihren Kopf, sodass die kupferfarbenen Locken in alle Richtungen stoben. Hernach sprang sie auf, die Hände auf die Hüften gestützt und setzte zu einer Tirade krächzender, fremdartiger Laute an. Weit kam sie nicht, denn erstens versagte ihr die Stimme und zweitens erklang triumphierendes Geheul aus dem Lager der kleinen Wichte.

Indes stand auch Ewerthon wieder auf den Beinen und blickte in Richtung lärmender Meute. Die eifrigen Gesellen winkten sie voller Begeisterung in ihre Mitte. Das Essen war fertig! So lautete nämlich die Botschaft, die sie mit Pfeil und Bogen verschickt hatten.

„Auch, wenn sie uns scheinbar nichts Böses wollen, äußerst verschroben sind diese Verrückten dennoch!“

Ewerthon konnte nur hoffen, dass die Kleinen nicht seine Gedanken lesen konnten.

Still gab ihm Mira recht. Ihr Herz klopfte jetzt noch bis zum Hals, wenn sie an den überstandenen Schrecken von soeben dachte.

„Trotz alledem, ich habe Hunger. Lass uns der überaus freundlichen Einladung folgen.“

„Befremdlich, die Einladung scheint mir eher befremdlich als freundlich“, noch während Ewerthon ihr stumm widersprach, setzte er sich in Bewegung, Richtung brodelnder Suppen und knuspriger Fleischstückchen. Über das gesamte Areal lag ein verführerischer Duft, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, dazu knurrte sein Magen vernehmlich.

Freundliche Hände reichten ihnen Schüsselchen, die bis zum obersten Rand gefüllt waren.

„Wir müssen uns unbedingt bewaffnen“, war das Letzte was er dachte, bevor er mit Genuss die Suppe löffelte und in das köstlichste Stück Wildbret biss, das er jemals gekostet hatte.

 

Die Reise nach Monadh Gruamach

Miras Nachtruhe verlief traumlos. Tief und fest schlief sie bis in den frühen Tag, fühlte sich das erste Mal seit langem geborgen, … und vor allem frisch und munter. Mit einem Sprung kam sie auf die Beine. Das war etwas unbedacht. In Folge verhedderte sie sich nämlich in den losen Falten ihres absolut unpraktischen Kleides und brachte fast das zwergenhafte Zelt, ihr Nachtquartier, zum Einsturz. Entschlossen bückte sie sich, packte fest mit beiden Händen den Saum des jadegrünen, feinen Gewebes und riss diesen mit Vehemenz bis über das linke Knie. Das gleiche geschah mit der rechten Seite und sie atmete erleichtert auf. Jetzt lief sie nicht mehr in Gefahr, bei jeder abrupten Bewegung von Stoffbahnen gefesselt zu werden, über ihre eigenen Füße zu stolpern oder vom Pferd zu fallen.

Solchermaßen konnte sie, im gebückten Zustand halb kriechend, ihr Lager verlassen. Die Vorstellung, wie sie gestern mit vollem Bauch ihre Bettstatt unbeschadet erreichen konnte, fehlte in ihrer Erinnerung.

Draußen angekommen empfing sie arbeitsames Treiben. Das kleine Volk wuselte herum, einmal dorthin, einmal dahin, dieses Mal in gedämpfter Lautstärke. Augenscheinlich nahmen sie Rücksicht auf die beiden Langschläfer. Doch jetzt, wo Mira für alle sichtbar unter ihnen stand, entstand ein Spektakel sondergleichen. Schnell war sie umringt von zahlreichen Gestalten, die eifrig auf sie einredeten.

„Haltet ein! Auch wenn ich eurer Sprache kundig bin, sobald ihr euch alle gleichzeitig mit mir unterhalten wollt, verstehe ich keinen einzigen von euch“, krächzte sie heillos überfordert.

Eine der Frauen drückte ihr ohne viel Federlesens einen schimmernden Becher in die Hand. Mit freundlichem Nicken forderte sie Mira auf, dessen Inhalt zu trinken. Mira schnüffelte kritisch an dem dampfenden Gebräu. Sie roch nichts Besorgniserregendes und kostete vorsichtig. Schleimig süßer Tee wies auf Eibisch und Honig. Eine gute Wahl. Schluck für Schluck sollte das heilsame Getränk ihre noch immer fürchterlichen Halsschmerzen lindern. Da handelte jemand wohlüberlegt und hatte auch die erforderlichen Ingredienzien bei der Hand.

Mit einer Handbewegung wurde sie eingeladen, sich zu setzen. Mira nahm Platz auf einem der Baumstümpfe, die als Hocker dienten.

„Ich heiße Anmorruk. Ihr braucht mit mir nicht zu sprechen, ich verstehe Euch auch auf diesem Wege“, sanft berührte die Überbringerin des Tees ihre Hand und sandte auf eigene Weise ihre stumme Botschaft.

Einerseits war Mira froh über die Gelegenheit einer schmerzlosen Verständigung. Andererseits musste sie, so lange Anmorruks Hand auf der ihren lag, besonders auf ihre Gedanken achten. Vor allem …? Ihre kundige Gesprächspartnerin, so hilfsbereit sie war, bedachte sie mit der höflichen Anrede!

„Ihr dürft Vertrauen zu uns haben. Wir wissen alle von Euch. Von Euch, der Prinzessin aller Lichtwesen, und Ewerthon, dem Gestaltwandler“, beruhigend drückte jene ihre Hand.

„Wenn Ihr soweit seid, dann wollen wir uns unterhalten und Ihr könnt selbst von Euren Abenteuern berichten, von denen alle Welten sprechen. Lasst mich noch kurz auf Euren Hals schauen“, mit diesen Worten unterbrach die kleine Frau die Verbindung. Sie hob Miras Halskette behutsam an, um die malträtierte Haut darunter zu untersuchen. Mira zuckte zurück. Sie fühlte den lodernden Schmerz noch, den die Kette vor nicht allzu langer Zeit verursacht hatte. Doch nichts passierte. Das Metall blieb kühl und Anmorruk warf einen flüchtigen Blick auf die geröteten Stellen unterhalb der Symbole.

„Das ist eine Aufgabe für unsere Heilerin“, meinte sie, „gut, dass wir soundso auf dem Weg zu ihr sind. Zwischenzeitlich trage ich diese Salbe auf, sofern Ihr damit einverstanden seid?“ Wie von Zauberhand hielt sie ein glänzendes Tiegelchen in Händen. Mira beobachtete es fasziniert. Je nach Lichteinfall schimmerte es in mannigfaltigen Farben, gleich dem Becher, aus dem sie den Tee getrunken hatte. Lange schon hatte sie keine solche Kostbarkeit zu Gesicht bekommen.

„Das Material nennt sich Perlmutt und kommt aus meiner Heimat. Zudem ist es bestens geeignet als Behältnis für diesen entzündungshemmenden Balsam“, erklärte die Kräuterfrau beflissen, während sie den Tiegel öffnete und vorsichtig die gerötete Haut um Miras Hals betupfte. Mira fand sich plötzlich in der Vergangenheit wieder. Der Geruch und das geheimnisvolle Schimmern, beides erinnerte sie an sorglose Tage mit ihrer Mutter und später mit Wariana. Auch sie besaßen eine unüberschaubare Anzahl von Tinkturen, Cremen und Kräutermischungen, sorgsam beschriftet, achtsam verschlossen und aufbewahrt in den unterschiedlichsten Gefäßen, akkurat sortiert in Regalen, darauf wartend, ihrer jeweiligen Aufgabe gerecht zu werden.

„Anmorruk, ich danke dir für deine Fürsorge.“ Miras Augen glänzten. Es war nicht nur die selbstlose Pflege dieser Fremden, die sie zu Tränen rührte. Der Blick in ihr früheres Leben gemahnte mit voller Wucht an die Gegenwart, machte bewusst, dass es kein Zurück gab und der Weg in die Zukunft ungewiss vor ihr lag.

Ein letztes Mal drückte die kleine Frau ihre Hand. „Es wird alles gut. Ihr werdet sehen. Ich achte auf Euch!“, damit machte sie sich auf, um gleichfalls ihr Zelt abzubrechen.

Die Mittagssonne stand schon im Zenit, als Ewerthon und Mira im Kreise ihrer rührigen Begleiter aufbrachen.

Diese späte Abreise konnten sie sich leisten, da sie dem Wohnsitz des Freien Volkes bereits nahe waren, berichtete ihnen Anmorruk, die sich zu Miras persönlicher Gesellschafterin auserkoren hatte. Hin und wieder fasste sie ihren Arm, machte auf purpurblühendes Bienenkraut aufmerksam, zupfte an zartrosa Blüten des Augenwurz, kostete vom bitterscharfen Wassersenf am Bachlauf, schnupperte an diesem und jenem Kraut und schwatzte munter darauf los. Miras trübe Gedanken verflogen, während sie und Ewerthon nicht nur erfuhren, dass ihre Reisebegleiterin über enormes Wissen von Heilpflanzen und deren Verwendung verfügte, sondern auch, dass sie acht Kinder, vierunddreißig Enkel, eine unübersichtliche Menge an Urenkeln und weiteren Nachkommen ihr zugehörig nannte; zusätzlich erhielten sie Kenntnis von Anmorruks ferner Heimat, die sie im zarten Alter von fünf Jahren verlassen musste, weil sie von ihren Eltern als Pfand in die Hände des Freien Volkes übergeben wurde; außerdem in Kürze ihren zweihundertfünfzigsten Geburtstag feierte und – noch immer – die Hoffnung hegte, irgendwann in naher oder ferner Zukunft ihre Eltern und Geschwister wiederzusehen!

Während ihnen aufgrund der Informationsflut schön langsam der Kopf schwirrte, folgten sie weiterhin dem klaren Bächlein. Den dichten Wald mit dem harzigen Duft der Nadelbäume hatten sie vor einer guten Weile hinter sich gelassen, als Ewerthon auffiel, dass der Boden unter seinen Füßen bei jedem Schritt erkennbar nachfederte. Alba, die ihnen bis jetzt geduldig nachgetrottet war, wieherte leise, und Mira griff sachte nach den Zügeln. Die Landschaft hatte sich verändert. Zuerst unmerklich, doch jetzt war klar der Bruchwald beidseits ihres schmäler werdenden Pfades erkennbar. Der Bach hatte sich in viele kleine Rinnsale verzweigt. Den bislang mit trockenem Reisig bedeckten Waldboden durchbrachen jetzt schlammige Pfützen. Dicke Stämme, die schwarzbraune Borke aufgerissen, lagen kreuz und quer in dunklen Tümpeln. Rote Flüssigkeit quoll aus den frischeren Bruchstellen, vermittelte den Eindruck von wunden, blutenden Bäumen. Hatte sie bis vor wenigen Augenblicken fröhliches Vogelgezwitscher begleitet, herrschte nun beklemmende Stille. Obwohl Mira es besser wusste, überfiel sie leichtes Grauen, ließ es sie trotz der warmen, dumpfen Luft frösteln. Schwarzerlen lagen als Totenholz im sumpfigen Wasser; graugrüne Aschweiden, die in Büschen zusammenstanden, verwachsene Birken, knorrig mit silbergrauen Stämmen, dickfleischiger Drachenwurz am Rande des matschigen Bodens, der Geruch von modrigem Gewässer, … ihr standen die Haare zu Berge.

Es war unübersehbar. Sie näherten sich Monadh Gruamach, dem Herrschaftsgebiet der Moorhexe.

Anmorruk fasste ihre freie Hand. „Ihr braucht euch nicht zu ängstigen. Unsere Heilerin gebietet über all dies hier. Sie will Euch gewiss nichts Böses.“

„Ist sie nicht die Hüterin des Knochenvolkes?“

Ewerthon folgte gebannt der lautlosen Verständigung. Er versuchte tunlichst, an nichts zu denken, damit seine Anwesenheit in Miras Gedankenwelt nicht auffiel. Dies gestaltete sich allerdings äußerst schwierig, noch dazu, wo er sich eben jetzt Gedanken machte, was ein Knochenvolk wohl sein könnte.

Anmorruk sah nach hinten. „Ihr könnt gerne zuhören. Dann muss ich nicht zweimal dasselbe erzählen. Tatsächlich ist es unmöglich, an nichts zu denken, ohne zu denken“, meinte sie mit einem Schmunzeln, bevor sie sich wieder Mira zuwandte.

„Auch, wenn Ihr der Meinung seid, ihr begebt Euch in Gefahr. Ich kann Euch versichern, dass unsere Herrin als eine der größten Heilerinnen der Welten gilt. Sie kann Euren Schmerz lindern, höchstwahrscheinlich sogar heilen“, sprach sie ihre Gedanken laut aus, so dass auch Ewerthon sie ohne weiteres verstehen konnte. „Es stimmt, sie befehligt das Knochenvolk, doch sie ist auch unsere Königin“, fuhr sie resolut fort.

Mira, eben konzentriert, Alba in der schmalen Schneise, die sich durch dichtstehende Binsen und mannshohes Schilfrohr schlängelte, zu führen, blickte erstaunt auf.

Ewerthon sprach ihre Frage laut aus: „Wie kann das sein?“

Die kleine Frau seufzte. „Das ist eine lange Geschichte und Ihr habt großes Glück, in mir eine der Letzten gefunden zu haben, die noch aus eigener Erinnerung die Vorkommnisse über die Entzweiung des Wilden Volks schildern kann. Jene, die selbstredend die Wahrheit über das Knochenvolk beinhalten.“

Miras Gedanken schlugen Purzelbäume.

„Du bist nicht ihre Kräuterfrau! Du bist die Geschichtenbewahrerin!“

Konnte es tatsächlich sein, dass hier vor ihnen eine leibhaftige Bewahrerin stand? Einst, als Schura das erste Mal von diesen mystischen Frauen erzählte, hatte sie sich inniglich gewünscht, irgendwann in ihrem Leben auf eine zu treffen. Eine jener Frauen, die nichts vergaßen, uraltes Wissen ihr Eigen nannten, denen Chroniken unzähliger Generationen innewohnten.

Wedelnd verjagte Anmorruk herumschwirrende, verblüffend große Stechmücken, die unaufhaltsam zudringlicher wurden.

„Auch mein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Ihr, die Prinzessin aller Lichtwesen und der Herrscher über die letzte Tiger-Dynastie, seid mir über den Weg gelaufen. Ich bin gespannt auf Eure Schilderungen und es wäre mir eine Ehre, sie ewig im Gedächtnis der Welten lebendig erhalten zu dürfen.“

Mit zusammengekniffenen Augen fasste sie Ewerthon prüfend ins Visier. „Ihr habt doch von abenteuerlichen Ereignissen zu berichten, so hoffe ich?!“ Ein strenger Blick traf ihn.

Dem derart Überrumpelten kam prompt ihr lebensgefährlicher Kampf mit der Cor Hydrae, der bestialischen Wasserschlange, in den Sinn.

„Nun, ich kann mit einem verfluchten Drachenherz aufwarten. Ist das spannend genug?“

„Ihr seid dem Untier augenscheinlich gewachsen gewesen. Das ist jedenfalls erwähnenswert! … würde ich meinen“, setzte die Bewahrerin aller Erzählungen nach einer kurzen Pause augenzwinkernd hinzu und ging ihres Weges.

Mira zappelte vor Aufregung.

„Ich kann es kaum erwarten, ihre Geschichten zu hören. In ihrer Obhut befinden sich eine Unmenge von tatsächlichen Begebenheiten, Sagen und Legenden, nicht nur die ihres Volkes. Sie hütet alle Geschichten dieser Welten. Und das Einzigartige ist, diese sind nirgendwo niedergeschrieben. Sie befinden sich alle hier“, Mira klopfte mit ihrem Zeigefinger auf die Stirn.

Ewerthon war beeindruckt. „Was passiert mit ihren Erinnerungen, wenn sie stirbt?“

Er konnte nur vermuten, wie alt solch spezielle Geschöpfe wurden. Anmorruk zählte immerhin 250 Jahre.

Grübelnd sandte Mira eine weitere, stille Botschaft.

„Soweit ich mich entsinne, gibt es eine besondere Übergabezeremonie. In dieser wird das Wissen an eine von ihr bestimmte Person übertragen.“

Sie blickte ihn mit großen Augen an. „Ich glaube, der oder die Auserwählte isst dabei ihr Gehirn“, setzte sie zögernd fort.

Ewerthon schauderte es unwillkürlich. Selbstredend hatte er von solch befremdlichen Riten vernommen, doch diejenigen derart nah zu wissen, ging ihm doch tief unter die Haut.

Alba wieherte erschrocken auf und riss sie beide aus ihren bangen Überlegungen. Ein faustgroßer Riesenflügler hatte sich in der dichten Mähne verfangen und surrte erbost. Die Stute stieg panisch hoch und versuchte auszubrechen. Mira hatte alle Hände voll zu tun, das geängstigte Tier soweit zu beruhigen, dass es stillhielt, um das zornige Insekt aus ihrem rauchgrauen Schopf zu befreien. Behutsam setzte sie es auf ihre Handfläche und blies vorsichtig unter seine Flügel, die etwas lädiert am schwarzmatten, keilförmigen Körper herabhingen. Totenähnlich erstarrte der Käfer mit ausgestreckten Beinen, bevor er, wieder zum Leben erwacht, schwirrend das Weite suchte. Zurück blieb ein unangenehmer Geruch auf Miras Handfläche.

„Ein Totenansager!“, ihre Stimme krächzte, während sie angewidert ihre Hände rieb, „doch so ein riesiges Exemplar habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.“

„Kein gutes Omen für den Besuch einer Moorhexe“, fügte sie lautlos hinzu, sah sich besorgt nach Ewerthon um.

Der grinste und deutete mit dem Daumen nach oben. Er als Gestaltwandler verlor keine Gedanken über Tiere, die angeblich Unheil brachten. Totenansager waren für ihn einfach nur Käfer. Käfer, die sich unter anderem von Aas ernährten und grausig rochen. Nicht mehr und nicht weniger.

Mira wünschte sich zeitweise die pragmatische Sichtweise Ewerthons. Durch ihre Ausbildung und bisherigen Erfahrungen blieb ihr dieser Zugang allerdings verwehrt. Alleine die gigantische Größe des Flüglers war besorgniserregend genug, ohne sich über weitreichendere, unheilvolle Orakel den Kopf zu zerbrechen.

Ihr Gedankengang wurde abrupt gebremst. Albas Riemen strafften sich, schnitten schmerzhaft in die rechte Hand und zogen ihren Arm nach hinten. Die Stute stand jäh still, weigerte sich noch einen Schritt zu gehen und wieherte widerwillig. Sie schüttelte störrisch den Kopf, dass ihre Mähne silbern aufblitzte und glitzernde Funken stoben. Mira musterte aufmerksam die Umgebung. Die schlammigen Pfuhle, struppigen Büsche und der finstere Erlenbruch waren verschwunden; hatten Platz gemacht für eine weite, gut überschaubare Ebene von grünbraunen Graspölstern, auf der einige krumme Birken ihr Dasein fristeten, begrenzt von dichtem Röhrichtgürtel, dessen Halme sich raschelnd hin und her wiegten. Eintöniges Schnarren, melodische Pfeiftöne und kurzes Knarzen erzählten von vereinzelt tagaktiven Rohrsängern. Der moderige Geruch war einer frischen Brise gewichen. Die Sonne, die sie im sumpfigen Wald verlassen hatte, strahlte über dieser harmlosen Idylle.

„Was gibt es, meine Schöne?“, zärtlich streichelte Mira die dunkelgezeichnete Schnauze ihres Pferdes. Alba scharrte nervös mit dem rechten Vorderhuf und blähte die Nüstern.

Ewerthon und Mira tauschten sich stumm aus. Doch außer Alba schien sich niemand an der friedvollen Landschaft zu stören. Ein Großteil des Freien Volkes hatte sie bereits tratschend überholt und winkte ihnen fröhlich zu.

Als auch die letzten der kleinen Gestalten an ihnen vorbeigeschlüpft waren, zog Mira deshalb sachte an Albas Zügel. Sie vertraute deren Instinkt, doch sie konnte beim besten Willen keine Gefahr erkennen. Ihre kleinen Reisegefährten hatten es sich unter den Moorbirken im hohen Gras bequem gemacht und erweckten den Anschein, als würden sie gleich ihre Proviantsäcke öffnen, um in aller Ruhe eine der häufigen, über den Tag verteilten Mahlzeiten einzunehmen.

Widerstrebend folgte ihr die Stute, Hals und Kopf steil aufgerichtet, beide Ohren zuckten aufgeregt.

Kaum waren sie einige Schritte in Richtung lagernder Gesellschaft zugegangen, ruckelte der Boden unter ihnen. Alba wieherte schrill auf, stieg hoch und stampfte beim Niederkommen auf die weichgepolsterte Erde.

Doch es war nicht der Aufprall des Pferdes, der das gesamte Torfmoos bis hin zu den schiefgewachsenen Bäumchen erzittern ließ.

Das hohe Schilfrohr neigte sich zu Boden, die silbergrauen Bäume ächzten, sämtliche Binsen und all die braungrünschattierten Gräser duckten sich unter dem Druck einer plötzlichen Sturmböe, die heftig über sie hinwegfegte.

Mira meinte, einer Sinnestäuschung zu erliegen. Denn nicht nur der Boden unter ihren Füßen wankte, ihr schien, als setze sich die gesamte Grünfläche, einschließlich des einfassenden Schilfgürtels, in Bewegung.

Anmorruks Hand lag plötzlich in der ihren. Die Bewahrerin lächelte sie beruhigend an.

„Nehmt mich hoch, Prinzessin. Ich denke, Euer Pferd benötigt dringliche Informationen.“

Ewerthon hatte den Wunsch der Geschichtenerzählerin ebenfalls vernommen.

„Ihr gestattet“, meinte er mit unschuldigem Grinsen, fasste Anmorruk um die Taille und hob sie empor.

Diese langte nach dem Kopf der Stute, deren Augen vor Schreck geweitet waren. Sachte zog sie den Kopf abwärts und legte ihre Hand auf deren Stirn. Alba schnaubte noch immer aufgewühlt, blieb jedoch ruhig stehen. Die kleine Frau beugte sich vor und unterhielt sich flüsternd mit dem Pferd. Im Laufe dieses Dialogs schüttelte Alba mehrmals ihre Mähne und wieherte verhalten. Doch Anmorruk ließ sich nicht beirren, sprach weiter im sanften Ton auf das Tier ein und hauchte ihm schlussendlich einen Kuss auf die dunkelgefärbte Schnauze.

„Ihr könnt mich jetzt wieder absetzen“, meinte sie mit hochgezogener Braue, und Ewerthon beeilte sich, dieser Bitte, die mehr einem Befehl ähnelte, nachzukommen.

Der Sturm, so überraschend er gekommen war, hatte sich wieder gelegt. Das Schilf stand aufrecht wie einst, die kniehohen Gräser wiegten sich in einer sanften Brise und dennoch hatte sich etwas Wesentliches verändert.

Mira und Ewerthon konnten nicht glauben, was sich vor ihren Augen abspielte. Langsam entfernte sich der finstere Bruchwald mitsamt seinen Rändern aus struppigem Strauchwerk von ihnen und dann … war da nur mehr Wasser. Die vollständige Fläche der moosigen Graspölster, samt Birken und Binsen, hatte sich gänzlich vom Festland gelöst, zu einer schwankenden Pflanzendecke gewandelt, entfernte sich gemächlich, jedoch unaufhaltsam vom sicheren Ufer.

„Wir befinden uns auf einer schwimmenden Insel!“

Ewerthon schrie diese Worte fast, so sehr schockierte ihn diese Erkenntnis.

---ENDE DER LESEPROBE---