Herzstillstand - Claus Kappl - E-Book

Herzstillstand E-Book

Claus Kappl

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Beschreibung

Kommissar Kleintalers letzter Fall Die geplante Schließung des Krankenhauses Waldkirchen läuft nicht glatt. Ein ungeklärter Todesfall jagt den anderen. Obduktionsbefund: Herzstillstand. Sogar Kommissar Kleintaler steht in dieser Zeit unter Strom.

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edition Lichtland

Für Carin

© Claus Kappl

Verlag:

edition Lichtland, Unterer Marktplatz 8, 94513 Schönberg

Deutschland

Umschlaggestaltung und Satz:

Edith Döringer, Melanie Lehner

Umschlagbild:

Klaus Vartzbed/Shutterstock.com

3. Auflage 2024

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-947171-65-1

ISBN der gebundenen Ausgabe: 978-3-947171-47-7

www.lichtland.eu

Claus Kappl

HERZSTILLSTAND

Ein Krankenhaus stirbt

Inhalt

KAMMERFLIMMERN

HERZSTILLSTAND

REANIMATION

DIE EINSAMKEIT DES WEGES

FÜHRT ZUR KLARHEIT

DES GEISTES

(Carin Kappl)

DIE BESTEN BÜCHER SIND DIE,

VON DENEN DER LESER MEINT,

ER HÄTTE SIE SELBST MACHEN KÖNNEN.

(Blaise Pascal)

Die Personen

Andreas Alaschko

Rentner

Otto Braun

Landwirt

Angelika Braun

seine Frau

Dr. Gerhard Kilian

Krankenhausdirektor, Waldkirchen

Dr. Katharina Heroldsbacher

Geschäftsführerin, „Kliniken GmbH“

Dr. Franz Stein

Chefarzt

Dr. Mikolaj Kasavery

Chirurg

Dr. Gundula Blechinger

Anästhesistin

Dr. Irmgard Fleischmann

Anästhesistin

Gerlinde Weiß

OP-Schwester

Brigitte Göppel

OP-Schwester

Dr. Otto Schmidt

Polizeipräsident

Tina Hartmann-Liggner

Polizeihauptmeisterin

Carlo Salerno

Polizeiobermeister

Monika Sauer

Polizeiobermeisterin

Georg Kleintaler

Polizeikommissar

Marianne Kleintaler

seine Frau

Michael J. Roding

Geschäftsmann

Dr. Josef Träger

Germanist

Vinzenz Lochner

Landrat

Heinrich Herzog

Bürgermeister

Alfred Eisner

Weihnachtsmarktgastronom

Willy Konzelmann

Weihnachtsmarktgastronom

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Mögliche Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen entspringen allein der Fantasie des Lesers.

Waldkirchen, Freitag, 19. September 1862

Katharina Karl schreckte hoch. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie richtete sich in ihrem Bett auf und lauschte. Was waren das für merkwürdige Geräusche? Grollender Donner, peitschendes Sturmbrausen, angsterfülltes Blöken von Vieh. Menschen schrien. Rötliches, flackerndes Licht vor dem kleinen Kammerfenster. Katharina warf einen Blick auf Johannes Weinbuch, der tief und ruhig neben ihr schlief. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, in Erinnerung an die zurückliegenden Stunden. Sie schloss das offene Mieder, stieg vorsichtig und leise aus dem Bett und kleidete sich an. Ein heftiger Windstoß rüttelte an den Fensterflügeln. Katharina warf einen Blick aus dem Kammerfenster und erstarrte.

„Hannes, wach auf!“ Sie packte den jungen Maurergesellen an der Schulter. „Hannes, steh auf, es brennt!“ Johannes Weinbuch wurde schlagartig wach. „Was? Wo brennt es?“, fragte er noch leicht benommen. Er sprang aus dem Bett, zog seine Hose an, schlüpfte in seine Stiefel und blickte aus dem Fenster.

„Um Gottes Willen, das ist ja fürchterlich!“

„Wir müssen sofort hier raus.“

Johannes nahm Katharina an der Hand und versuchte die Kammertür zu öffnen. Ein heftiger Windstoß schlug die Tür wieder zu. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen das Türblatt, dann standen beide im Freien. Starr vor Schreck. Das Brauhaus, in dem Katharina als Magd arbeitete, stand in Flammen. Obwohl es erst gegen zwei Uhr morgens war, war der Hof hell erleuchtet. Ein fürchterliches Brausen, das jämmerliche Blöken des im Stall angebundenen Viehs, beißende Rauchschwaden und das Prasseln brennender Gebäude ließen sie erstarren. Menschen rannten umher, versuchten die Feuer zu löschen, das Vieh zu befreien. Doch gegen den Sturm, der die Brände immer heftiger entfachte, kamen sie nicht an. Johannes wurde ruhig, überlegte.

„Kathi, wir müssen von hier weg. Das Brauhaus stürzt gleich zusammen. Schau zu, dass du am unteren Tor aus der Stadt kommst, ich lauf zum Büchl und sehe nach, wie es um mein Elternhaus bestellt ist.“ Beide rannten los, standen wenig später im Markt. Der Marktplatz – ein einziges Feuermeer. Sämtliche Gebäude auf der östlichen Marktseite standen in Flammen. Das Feuer hatte bereits auf die Häuser auf der Westseite übergegriffen. Funken stiegen in den nächtlichen Himmel und boten mit dem Feuerschein ein gespenstisches, zerstörerisches Bild. Eine Feuerwehrspritze am Stadtbach brannte lichterloh. Überall versuchten die Menschen das wenige Wertvolle aus ihren Häusern zu retten. Überall ohrenbetäubender Lärm, Hilferufe, verzweifelte Schreie und das Brüllen verendenden Viehs. Katharina raffte ihr Kleid zusammen, presste sich den Stoff vor Mund und Nase, um sich vor den Rauchschwaden zu schützen und rannte in Richtung Schmiedgasse. Johannes eilte zur Pfarrkirche hinauf. Er blickte sich nicht mehr nach Katharina um. Und so sah er auch nicht, dass sie, kurz bevor sie das untere Stadttor erreicht hatte, von dem brennenden Balken eines einstürzenden Dachstuhles am Kopf getroffen wurde. Die zwanzigjährige Dienstmagd war auf der Stelle tot.

Johannes Weinbuch erreichte die Stadtpfarrkirche und bemerkte den Rauch, der bereits unter den Schindeln des Kirchendaches hervorquoll. Also hatte der Dachstuhl auch schon Feuer gefangen. Die Kirchentür war weit geöffnet, der untersetzte Kooperator Pilsl stand davor und winkte den jungen Maurergesellen heran. Er schnaufte heftig, Schweiß lief ihm über das Gesicht. Offensichtlich hatte er schwer gearbeitet.

„Hannes, komm schnell, hilf mir!“

Johannes, der den jungen Pfarrvikar schon seit seiner Kindheit kannte, winkte ab. „Matthias, ich hab keine Zeit, ich muss nach Haus, muss schauen, was meine Eltern machen.“

„Hannes, bitte hilf mir, denk an dein Seelenheil. Gott wird’s dir lohnen.“ Er packte ihn am Ärmel und zog ihn die Kirchenstufen hinauf. Widerwillig folgte er dem Kooperator, der hinter den Altar eilte, wo eine schmale Holztür offen stand. Johannes sah, wie er eine steile Treppe hinabstieg. Er hatte gar nicht gewusst, dass die Kirche an dieser Stelle unterkellert war. Neugierig folgte er ihm in einen dunklen, großen, quadratischen Raum, der mit hohen Schränken vollgestellt war. Sämtliche Schranktüren standen offen, die Schränke waren leer. Matthias Pilsl schob den Maurergesellen in die hinterste Ecke des Raumes. Dort verbreitete eine Altarkerze fahles Licht. Johannes sah eine schmale Öffnung in der Mauer, die in einen niedrigen Gang mündete. Zwei zirka drei Fuß hohe und vier Fuß lange Holzkisten, gefüllt mit silbernen Kandelabern, Messgeschirr, goldenen Kelchen, Monstranzen und Bechern standen darin.

„Was ist das, Matthias?“

„Loraghis wertvolles Kirchengut. Ich muss es in Sicherheit bringen.“

„Und wohin?“

„Hannes, frag nicht lang, siehst den Gang? Er führt von hier aus direkt unter der Ringmauer hindurch bis zur Straße nach Passau. Hilfst du mir die Kisten zu verstecken, zeige ich dir den Weg ins Freie. Dort bist du vor dem Feuer sicher.“

„Was soll ich tun?“

„Wir zerren die Kisten in einen Seitengang. Das ist nicht schwer, es geht ja immer nur bergab, denn die Kirche hier liegt viel höher als die Passauer Straße. Gib aber Obacht, der Gang ist sehr niedrig. Schlag dir nicht den Kopf an.“

Der Kooperator ergriff die Kerze, bückte sich und verschwand in dem Geheimgang. Er zog die erste Kiste hinter sich her, Johannes hörte das kratzende Geräusch auf dem feuchten Steinboden. Er folgte ihm und zerrte gebückt die zweite Kiste hinterher. Er sah im dünnen, schwankenden Licht der Altarkerze den engen, aus dem Granit herausgeschlagenen Gang, der tatsächlich stetig abwärts führte. Beide Männer keuchten ob ihrer Last. Es schien Johannes, als sollte dieser Gang nie enden. Beklommenheit erfasste ihn, die Angst, unter einstürzenden Granitmassen begraben zu werden, nahm zu. Plötzlich blieb der Kooperator stehen.

„Hannes, zehn Fuß vor uns befindet sich links der schmale Seitengang. Dort hinein schieben wir die Kisten, da ist der Kirchenschatz vor Plünderern in Sicherheit. Du folgst diesem Gang geradeaus bis ans Ende. Durch eine in den Hang eingepasste Holztür an der Passauer Straße kommst du ins Freie. Ich gehe in die Kirche zurück. Vergelte dir Gott deine Hilfe. Der Herr segne dich.“ Der Kooperator deutete ein Kreuzzeichen an.

„Mach es gut Matthias, und schau auf dich auf. Ich glaube mittlerweile steht der gesamte Markt in Flammen.“

Gemeinsam schoben die beiden Männer die Kisten in den niedrigen Seitengang. Dann trennten sich ihre Wege. Der Kooperator Matthias Pilsl kehrte in die Stadtpfarrkirche zurück, verschloss den Geheimgang und stieg die steile Treppe zum Altarraum hinauf. Beißender Qualm nahm ihm den Atem. Pilsl blieb kurz stehen, versuchte dann über die Seitentür der Kirche ins Freie zu gelangen. Ein knirschendes Geräusch ließ ihn innehalten. Erschrocken blickte er nach oben und sah den herabstürzenden Dachstuhl entgegenkommen.

Johannes Weinbuch folgte dem Gang bis an dessen Ende. Er fand die Holztür und zwängte sich durch das Gestrüpp ins Freie. Die frische Luft des jungen Morgens tat ihm gut. Er blickte hoch zur Ringmauer und begann zu weinen. Johannes Weinbuch ahnte bereits, dass der gesamte Markt ein Opfer der Flammen geworden war.

Wendelstein, Mittwoch, 1. September 2014

„Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Die Orgel verstummte in der kleinen barocken St. Nikolauskirche. Die Ministranten nahmen Aufstellung, das Kreuz voran. Der junge polnische Priester folgte. Nach ihm erhoben sich die Trauernden. Es waren nur wenige. Zuerst ein Mann mittleren Alters im schwarzen Anzug. Hinter ihm ein älteres Ehepaar, die Eltern der Verstorbenen. Nur wenige Nachbarn, nur wenige Bekannte hatten an der Trauermesse teilgenommen. Sie alle hielten Schirme in der Hand, die sie öffneten, als die Trauergemeinde ins Freie trat. Die kleine Prozession zog an der Aussegnungshalle vorbei, aus der die Bestatter den mit schwarzem Samt abgedeckten Wagen rollten, auf dem zwei Särge standen. Ein großer brauner Buchensarg, auf dem ein langes Gesteck aus weißen Rosen lag, daneben ein weiß lackierter Kindersarg mit einem Strauß roter Rosen darauf.

Vor einem offenen Grab in der dritten Reihe des kleinen Friedhofs machte die Prozession Halt. Das Kreuz wurde in den aufgeworfenen Erdhaufen gesteckt. Es regnete in Strömen. Es war, als weinte der Himmel über die Verstorbenen und aus Mitleid mit dem einsamen Hinterbliebenen, der von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Der Priester trat hervor und begann laut und in gebrochenem Deutsch zu beten: „In deine Hände, gütiger Gott, befehlen wir die Seele unserer verstorbenen Schwester Johanna und ihrer Tochter Katharina, gestützt auf die Hoffnung, dass sie, wie alle, die in Christus gestorben sind, mit Christus auferstehen werden am Jüngsten Tag.“ Er segnete die Särge mit Weihwasser und fuhr fort: „Lasset uns beten. Herr Jesus Christus, du hast drei Tage im Grab geruht und die Gräber aller, die an dich glauben, so geheiligt, dass sie als Ruhestätte für unsere Toten auch die Hoffnung auf Auferstehung vermehren. Gewähre gnädig, dass in diesem Grab deine Dienerinnen in Frieden ruhen, bis du sie auferweckst und erleuchtest, denn du bist die Auferstehung und das Leben. Lasse sie das ewige Licht schauen, der du lebst und herrschst in alle Ewigkeit.“

Die Bestatter begannen die beiden Särge in das offene Grab zu senken. Als der weiß lackierte Kindersarg in der Tiefe verschwand, schluchzte der Ehemann laut auf. Der polnische Priester segnete das Grab mit Weihwasser, nahm eine kleine Schaufel mit Erde und sprach: „Staub bist du und zu Staub kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken. Wir übergeben den Leib der Erde. Christus, der von den Toten auferstanden ist, wird auch unsere Schwester Johanna und ihre Tochter Katharina zum Leben erwecken. In der Taufe seid ihr mit Christus begraben worden und habt in ihm neues Leben empfangen. Der Herr vollende an euch, was er in der Taufe begonnen hat. Der Herr nehme euch in das himmlische Jerusalem auf.“ Er warf das Erdreich in das Grab, drehte sich um und reichte dem Ehemann die Hand. „Ich wünsche Ihnen Gottes Kraft und Stärke für die kommende schwere Zeit. Der Herr segne Sie. Wenn Sie das Gespräch mit mir wünschen, ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“ Dann wandte er sich um und verließ mit seinen Ministranten den Friedhof.

Die wenigen Trauergäste erwiesen den beiden Verstorbenen die letzte Ehre, warfen Blumen oder Erdreich in das offene Grab, kondolierten den drei Verwandten. Die Eltern der Verstorbenen verließen langsam und gesenkten Hauptes den Friedhof. Der allein gelassene Ehemann verharrte noch lange Zeit weinend an der Grabstätte.

KAMMERFLIMMERN

Waldkirchen, Montag, Allerheiligentag 2017

Erschöpft, zutiefst erschüttert und aufgewühlt von dem, was ich miterleben musste, habe ich erst jetzt die Kraft gefunden, das Geschehene in der richtigen zeitlichen Reihenfolge aufzuschreiben. Dabei sind mir die von Kommissar Kleintaler und seinen Mitarbeitern hinterlegten Aufzeichnungen, die Aussagen der Beteiligten, Kopien wichtiger Dokumente, aber auch meine eigenen Erinnerungen sowie die Gesprächs- und Gedächtnisprotokolle, die ich vorgefunden habe, eine große Hilfe. Vermutlich werde ich manches überarbeiten und korrigieren müssen, aber am Ende – so hoffe ich – wird der Leser im Besitz der völligen Wahrheit sein. Zu der bin ich schon von Rechts wegen verpflichtet, da ich selbst im Polizeidienst tätig bin. Mein Name ist Tina Hartmann-Liggner. Vor neun Jahren konnte ich Kommissar Georg Kleintaler behilflich sein, den Mord an dem Waldkirchner Bauern Johannes Behr aufzuklären. Ich war damals Polizeimeisterin zur Anstellung, und Waldkirchen meine erste Dienststelle. Ich konnte sehr viel von Kommissar Kleintaler lernen. Nach meiner Verbeamtung heiratete ich zwei Jahre später den Tischler Felix Liggner, meinen damaligen Freund. 2014, im selben Jahr, als die merkwürdigen Ereignisse ihren Anfang nahmen, brachte ich unseren Sohn Thomas zur Welt. Ein lebhafter Junge, ein vollbeschäftigter Handwerker-Ehemann, Bauboom in Waldkirchen – ein Kapellenfeld folgte dem anderen – ich hatte alle Hände voll zu tun. Unser Betrieb in Oberndorf wuchs, die Auftragslage war ausgezeichnet und Felix musste zwei weitere Tischler anstellen, um alle Aufträge bewältigen zu können. Angebote, Materialbestellungen, Abrechnungen und Muttersein, das nahm mich völlig in Anspruch. Mitte dieses Jahres kehrte ich – teilzeitbeschäftigt – in den Polizeidienst zurück, denn es musste ja noch etwas anderes geben als Haushalt, Wäsche waschen, Kindergartenbasteleien und Büroarbeit. Aufgrund der schrecklichen Ereignisse hätte ich meinen Entschluss von damals fast bereut. Ich merke, dass ich schon jetzt beginne abzuschweifen, also kehre ich an den Anfang zurück, dem Tag, an dem alles begann.

Waldkirchen, Freitag, 3. Januar 2014

„Schos, was hältst du davon, wenn ich wieder berufstätig werde?“ Marianne Kleintaler sah ihren Ehemann erwartungsvoll an. „Seit dem Tod von Tante Martha im vergangenen Frühjahr habe ich nur noch dich, um den ich mich kümmern muss, und du bist ja fast nur am Wochenende zuhause, und das auch nicht immer. Die einzige Entscheidung, die ich noch zu treffen habe, ist die Frage nach dem Mittagessen: Schweinebraten oder Pizza Hawaii. Sehr abwechslungsreich ist mein Leben nicht mehr. Ich bin jetzt schon fast sechsundvierzig, mit fünfzig brauche ich nicht mehr anfangen, da gehöre ich dann schon zum alten Eisen.“

Georg Kleintaler legte die Wochenendausgabe seiner Heimatzeitung zur Seite und unterbrach den Monolog seiner Gattin. „Marianne, du hast ja Recht, und ich gebe auch zu, dass unser Alltag ein wenig langweilig geworden ist. Mir geht es ja ähnlich. Seit zweieinhalb Jahren bin ich jetzt Dienststellenleiter, und was tut sich? Nichts! Meine zwei besten Leute sind nach Freyung versetzt worden, Tina ist in Elternzeit, und außer ein paar Einbrüchen habe ich nichts mehr aufzuklären. Aber jetzt mal Nägel mit Köpfen oder Butter bei die Fische: Was möchtest du denn beruflich tun?“

„Bevor wir geheiratet haben – und du weißt schon, Schos, dass wir im nächsten Jahr Silberhochzeit haben – war ich eine Zeit lang als Verwaltungsfachangestellte am Krankenhaus in Wegscheid tätig, bis mir die Fahrerei zu viel wurde. Ich habe im letzten Jahr meine Computerkenntnisse aufgefrischt. Du erinnerst dich doch noch an meine Volkshochschulkurse in Word und Excel. Ich dachte mir, vielleicht fragst du mal den Franz Stein, ob nicht im Waldkirchner Krankenhaus eine Stelle frei wäre. Vielleicht habe ich Glück und mit Krankenhausverwaltung kenne ich mich ja aus.“

„Das ist eine wirklich gute Idee. Ich ruf ihn gleich an, ich muss ihm sowieso noch ein gutes neues Jahr wünschen. Vielleicht hat er tatsächlich einen Job für dich. Ich hoffe nur, dass er keinen Wochenenddienst hat.“ Georg Kleintaler nahm sein Smartphone vom Küchentisch und wählte die Nummer des Chefarztes am Waldkirchner Krankenhaus. Während es klingelte, erinnerte sich der Kommissar daran, wie lange er und Franz Stein sich schon kannten. Sie hatten sich vor vielen Jahren bei der Skigymnastik in der Turnhalle des Johannes-Gutenberg-Gymnasiums kennengelernt. Kleintaler konnte Dr. Stein überreden, Mitglied in der Bergwacht zu werden. Als dann das Golf spielen in Mode kam, hatten sie sich auf dem Green in Dorn regelmäßig getroffen und festgestellt, dass sie beide am ersten Mai Geburtstag hatten und außerdem noch gleich alt waren. Der Arzt hatte Kleintaler bei vielen seiner Fälle erfolgreich beraten. Franz Stein lebte allein in einem großen Haus am höchsten Punkt der Frischecker Straße, fast schon mitten im Wald. Er betonte immer wieder, dass er nur mit seinem Beruf verheiratet sei und daneben kein Platz für eine Frau wäre, die er sowieso nur vernachlässigen würde.

„Schos, guten Morgen, was verschafft mir die Ehre deines frühen Anrufs?“ Der Kommissar wurde jäh aus seinen Erinnerungen gerissen. „Guten Morgen und vor allem dir ein gesundes und erfolgreiches neues Jahr. Ich hoffe es gilt noch, denn ich habe noch kein Sauerkraut gegessen.“ Hätte man Kleintaler gefragt, worin der Zusammenhang zwischen einem noch geltenden Neujahrsgruß und dem Sauerkraut bestand, er hätte es nicht gewusst. Aber dieser Spruch war in Waldkirchen halt so üblich.

„Danke, das wünsche ich dir und Marianne auch. Viel Gesundheit und dass alle eure Wünsche in Erfüllung gehen mögen. Aber was hast du denn sonst noch auf dem Herzen, denn zum Schneegolfen wolltest du dich doch sicher nicht mit mir verabreden.“

„Weißt du, Marianne hatte gleich zu Beginn des neuen Jahres eine tolle Idee: Sie will wieder berufstätig werden, weil es ihr zuhause so langweilig sei. Das bisschen Haushalt fülle sie nicht mehr aus, sagt meine Marianne-Maus.“ Kleintaler musste plötzlich an einen alten Schlager aus den 70er Jahren denken, in dem dieses Problem aber ganz anders dargestellt worden war. „Aber vielleicht hat sie Recht, vielleicht bringt Büroarbeit sie auf andere Gedanken und führt zu etwas mehr Abwechslung in unserem etwas eingefahrenen Ehe-Alltag.“

„Du sollst den Franz fragen, ob er eine Stelle für mich hat und ihn nicht mit einem Psychogramm unserer Ehe langweilen.“ Marianne Kleintaler hatte sich aus dem Hintergrund in das Gespräch eingemischt.

„Sag mal“, unterbrach nun Franz Stein Kleintalers Abschweifungen, „was für eine Ausbildung hat denn Marianne? Vielleicht habe ich wirklich was für sie.“

„Sie hat eine komplette Ausbildung als Verwaltungsfachangestellte. Vor unserer Ehe war sie am Krankenhaus in Wegscheid angestellt.“

„Das ist ja super! Eine meiner Mitarbeiterinnen ist zum ersten Januar in Mutterschutz gegangen und wird nach der Entbindung erst einmal ein paar Jahre in Elternzeit gehen. Ich brauche Ersatz. Aber gib mir bitte mal deine Gattin, dann kann ich alles Wesentliche gleich mit ihr besprechen, aber dich brauche ich dann auch noch einmal.“

Der Kommissar reichte das Smartphone seiner Frau. „Hallo, Franz, dir noch ein gutes neues Jahr. Hast du wirklich eine Stelle für mich?“

„Neujahrsgrüße zurück! Ich brauche eine Kraft mit sicheren Computerkenntnissen, die sich mit Qualitätsmanagement und Hygienesicherung auskennt. Wenn du dir das zutraust, kannst du schon am Montag anfangen. Allerdings kann ich dir nur vierundzwanzig Wochenstunden anbieten, du weißt ja, der Landkreis muss sparen. Aber vielleicht ist das mehr als du erwartest.“

„Meine Computerkenntnisse sind auf dem neuesten Stand, mit Hygienesicherung war ich in Wegscheid betraut, aber das ist schon eine Zeitlang her. QM ist neu für mich, aber wenn du mir ein paar Wochen Zeit zur Einarbeitung gibst, tue ich mein Bestes. Und drei Tage in der Woche passen genau, du weißt doch, mein geliebter Ehegatte will ja auch noch etwas zu essen bekommen.“

„Dann, Frau Kleintaler, willkommen im Team!“, beglückwünschte sie Franz Stein, und er erinnerte sie dabei an den Chefarzt in der einst so berühmten „Schwarzwaldklinik“. „Marianne, komm am Montag um zehn Uhr in mein Büro, ich lasse bis dahin den Vertrag fertigmachen.“

„Danke, Franz, ich freue mich riesig, tschüs bis Montag“, jubelte Marianne und gab das Smartphone ihrem Ehemann zurück.

„Du hast meine Frau sehr glücklich gemacht, Franz, danke, aber was gibt es denn noch?“

„Ich wollte nur deine Meinung zu der kommenden Kommunalwahl hören. Bleibt Fritz Keppler Bürgermeister oder hat der junge Banker aus dem Gäuboden eine realistische Chance?“ Franz Stein spielte auf den jungen Herausforderer Heinrich Herzog an, der als Überraschungsgegenkandidat zu dem Amtsinhaber von einer Wählergemeinschaft aus dem Hut gezaubert worden war.

„Normalerweise, Franz, müsste es Fritz Keppler noch einmal schaffen, immerhin gehört er so zu sagen der bayerischen Staatspartei an, aber er hat sich halt in den vergangenen sechs Jahren schon einiges geleistet. Schau dir nur meine Dreisesselstraße an. Wir wohnen hier schon seit Jahrzehnten, aber das einzige, was sich ändert, sind die Schlaglöcher. Die werden von Jahr zu Jahr größer und tiefer. Sparen und nur sparen kann nicht das Allheilmittel sein. Er ist in der vergangenen Legislaturperiode nicht nur immer grauer geworden, sondern auch dünnhäutiger. Frag mal seine Mitarbeiter, was da im Rathaus für ein Ton herrscht. Also für frischen Wind würde der junge Herzog schon sorgen. Aber ich glaube, dass die Waldkirchner ihr Kreuzchen dorthin setzen, wo sie es schon immer hingesetzt haben. Gemäß dem Wahlspruch: „Der Herrgott wird´s schon richten“. Aber, Franz, du bekommst ja auch einen neuen Chef. Der stets mallorcabraune Matthes Mandl tritt ja nicht mehr an. Stattdessen soll‘s ein junger Schullehrer, der Vinzenz Lochner richten, auch von der bayerischen Staatspartei. Der soll ja mit dem Freyunger Bürgermeister dick befreundet sein. Ich fürchte, dass aus der Stadt mit dem Ypsilon noch einiges auf uns zukommen wird.“

„Ich glaube, dass du Recht haben könntest, und mir ist nicht sehr wohl dabei. Du weißt ja, drei Krankenhäuser sind in unserm Landkreis effektiv zwei zu viel. Das ist so, und das Kostendämpfungsgesetz hat schon 2008 und erst im letzten Jahr die Schließung kleiner Krankenhäuser gefordert. Allerdings schreibt das meine – im Gegensatz zu den beiden anderen – noch immer schwarze Zahlen. Aber blicken wir positiv in die Zukunft: Der Stadtrat hat gerade beschlossen, in diesem Jahr die Gebühren für Strom, Wasser und Abwasser nicht zu erhöhen. Ob das was mit der Kommunalwahl zu tun hat?“, kicherte Franz Stein. „Ich wünsche euch noch ein schönes Wochenende, und jetzt besuche ich mal mein Krankenhaus.“

Nachdem das Gespräch beendet war, nahm Georg Marianne in den Arm, sah ihr tief in die Augen, gab ihr einen dicken Kuss auf den Mund und sagte leise: „Glückwunsch, Marianne, jetzt wirst du Landkreis-Angestellte. Hoffentlich hast du dich richtig entschieden.“

Waldkirchen, Sonntag, 16. März 2014

Kommissar Kleintaler hatte Wochenenddienst und entsprechend schlecht war seine Laune. Der Tag hatte aber auch schon wirklich mies begonnen. Morgens um zehn Uhr hatte ihn der Hausmeister des Johannes-Gutenberg-Gymnasiums angerufen und ihm eine größere Sachbeschädigung gemeldet. Er hatte beim Schneeräumen festgestellt, dass die beiden Regenrinnen im Innenhof des Gymnasiums massiv beschädigt worden waren. Die Täter hatten eine Holzbank aus ihrer Verankerung gerissen und damit die Regenrinnen platt geschlagen. Als Kleintaler zum Tatort kam, traf er neben dem Hausmeister des Gymnasiums auch den der Förderschule an. Der hatte eine besondere Überraschung bereit, denn die beiden jugendlichen Täter hatten ihre Schandtaten auch noch gefilmt und die Bilder in ein soziales Netzwerk gestellt. Kleintaler kannte die beiden Intelligenzbestien schon von früheren kleinkriminellen Handlungen, ließ sie von zwei Streifenbeamten festnehmen und verhörte sie anschließend. Da sie sich gegenseitig ein – zwar offensichtlich falsches – aber dennoch ein Alibi gaben, musste er sie vorerst wieder ihren Eltern übergeben.

Am frühen Nachmittag erhielt er von einem Waldkirchner Wahlhelfer, der sich gerade auf dem Weg in sein Wahllokal im Bürgerhaus befand, einen Anruf, dass ein betrunkener junger Mann auf dem Marktplatz Spaziergänger anpöbelte und sogar vor die Tür des Traditionswirtshauses „Meindl“, in das schon der Schriftsteller Hans Carossa eingekehrt war, gepinkelt hatte. Da seine zwei diensthabenden Streifenbeamten gerade dabei waren, den dreisten Diebstahl eines Buchenstammes zu bearbeiten, war er selbst in den Markt gefahren, hatte den Betrunkenen festgenommen und zur Ausnüchterung in der Dienststelle behalten.

Das Beste sollte aber noch folgen. Kurz vor Dienstende erschien ein junger Mann in seinem Büro, um Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten. Der 16-Jährige hatte schon im Herbst des vergangenen Jahres eine Freundschaftsanfrage in seinem sozialen Netzwerk erhalten, offensichtlich von einer sehr attraktiven US-Amerikanerin. Im Laufe der Zeit hatte diese Internetbekannte eine emotionale Bindung zu dem Auszubildenden aufgebaut. Als sie kurze Zeit später Geld für eine angebliche Erbschaft brauchte, überwies der Azubi ihr 1000 Euro. Kurz darauf wollte die Internet-Liebe des Jugendlichen angeblich nach Deutschland auswandern. Und erneut überwies der verliebte junge Mann ihr 1000 Euro. Am Tag der Auswanderung hatte sie jedoch einen Autounfall, und zum dritten Mal überwies der Azubi 1000 Euro. Das Geld hatte er angespart, um damit seinen Führerschein zu finanzieren. In den letzten Wochen war er misstrauisch geworden, weil er längere Zeit nichts mehr von seiner Liebsten gehört hatte. Er wollte deshalb sein Geld zurückfordern und Anzeige erstatten. Da er jedoch keine Kontonummer und auch keinen richtigen Namen der Dame nennen konnte und er außerdem das Geld nicht per Überweisung, sondern als iTunes-Gutscheine geschickt hatte, konnte ihm Kommissar Kleintaler wenig Hoffnung machen, das Geld und die Internet-Bekanntschaft jemals wiederzusehen.

Kommissar Kleintaler hatte diesen Sonntag gerade zum „Welttag der individuellen Dummheit“ erhoben, als kurz nach 19 Uhr das Telefon klingelte. Franz Stein war am Apparat. Er klang sehr aufgeregt. Grüß dich, und jetzt rate mal, wer der neue Bürgermeister in Waldkirchen ist“, platzte er los. Noch bevor der Kommissar überhaupt antworten konnte, fuhr der Arzt fort: „Der junge Gäuboden-Banker, der Heinrich Herzog hat es tatsächlich geschafft. Einhundert und eine Stimme hat er mehr bekommen als der Fritz Keppler. Ich war gerade auf ein schnelles Bier beim Sonntagsstammtisch, was meinst du, wie die Mitglieder der bayerischen Staatspartei fluchen. Vor lauter Entsetzen haben die sogar das Trinken vergessen. Es wird natürlich kein leichtes Regieren für den Neuling, vermutlich wird er auf die Stimmen der Staatsparteiler im Stadtrat angewiesen sein, aber wenn er es schlau anstellt, schmiedet er ein Bündnis mit den Stadträten der kleineren Fraktionen. In der Landkreis-Staatspartei herrscht schierer Unglaube, sie wollen die Niederlage von Fritz Keppler einfach nicht wahrhaben. Dabei hätten sie doch allen Grund zum Jubeln. Mich hat vor wenigen Minuten erst ein Kollege aus dem Freyunger Krankenhaus angerufen. Der Vinzenz Lochner ist neuer Landrat. Aber er und sein Freyunger Bürgermeisterfreund müssen vor Wut geschäumt haben, weil die Waldkirchner so unverschämt gewählt haben. Schos, Waldkirchen geht spannenden Zeiten entgegen. Und gewusst hat das alles im Voraus der Heimatverein Auerbach, denn die geben momentan das Stück „Der Schöne und das Biest“. Ich bin gespannt wie die Rollenverteilung aussieht.“ Franz Stein lachte über seinen gelungenen Witz. „So, und jetzt wünsche ich dir einen geruhsamen Feierabend, denn dein Dienst müsste ja langsam zu Ende sein. Und grüß mir Marianne recht schön.“

„Stichwort Marianne! Wie macht sich meine Frau denn so in ihrem neuen Beruf? Mit mir spricht sie ja kaum darüber. Allerdings macht sie auf mich einen sehr zufriedenen Eindruck.“

„Sie macht das alles wirklich sehr gut. Sie hat sich schnell und umfassend in den Bereich Qualitätsmanagement eingearbeitet, und Hygienesicherung war für sie ja nichts wirklich Neues. Sag ihr einen schönen Gruß, und trink ein Weißbier auf den neuen Bürgermeister.“

Kommissar Kleintaler nahm sich vor, dem Rat seines Freundes Folge zu leisten, es aber nicht bei einem Weißbier bewenden zu lassen.

Waldkirchen, Dienstag, 19. August 2014

Georg Kleintaler betrat morgens gegen sieben Uhr sein Büro in der Polizeistation im Ratzinger Weg und fuhr seinen Rechner hoch. Er studierte die am Vortag eingegangenen Meldungen. Vormittags gegen zehn Uhr hatte ein PKW-Fahrer beim Abbiegen von der Bahnhofstraße in Richtung Marktplatz die Straße noch zügig überqueren wollen. Dabei war er in einem zu engen Bogen und deutlich zu schnell abgebogen und war gegen die Fußgängerampel gegenüber eines Fast-Food-Lokals gestoßen. Diese wurde durch den Aufprall aus ihrer Verankerung gerissen, und da alle Ampeln miteinander vernetzt sind, fiel die gesamte Anlage aus. Die Kollegen hatten den Vorfall sehr ordentlich protokolliert.

Ein weiterer Fall entlockte dem Kommissar ein Lächeln. Vor einigen Wochen hatte ein Richardsreuter Bürger angezeigt, dass ihm aus seinem Garten eine zirka einen Meter hohe Kiefer und ein rund einen Meter fünfzig hoher Kugelahorn ausgegraben und entwendet worden waren. Beide Bäume hatte er mit einem gelben Band an einem Pflanzstock befestigt. Bei einem Spaziergang durch Erlauzwiesel hatte er am vergangenen Sonntag in einem Vorgarten die beiden Bäume stehen sehen und sie anhand der gelben Bänder erkannt. Auf seine Anzeige hin waren zwei Kollegen ausgerückt, um den Vorfall zu klären. Da der neue Edelbaumbesitzer nicht nachweisen konnte, dass er die beiden Bäume rechtmäßig erworben hatte, droht im nun eine Anzeige wegen Diebstahls.

Über dem nächsten Fallprotokoll befand sich ein roter Vermerk: Unfallhergang noch nicht geklärt. Gegen 18 Uhr war ein aus Richtung Jandelsbrunn kommender PKW mit hoher Geschwindigkeit mit einem aus Wollaberg kommenden, in die Staatsstraße 2131 einbiegenden Traktor zusammengestoßen. Dabei wurden die beiden Insassen, Johanna Nebel und ihre Tochter Katharina schwer verletzt. Sie wurden mit dem Notarztwagen in das Krankenhaus nach Waldkirchen gebracht. Der Fahrer des Traktors, der 41-jährige Landwirt Otto Braun aus Wollaberg, der den PKW offenbar völlig übersehen hatte, blieb unverletzt, konnte aber, da er unter Schock stand, noch nicht vernommen werden. Gegen ihn wurde Anzeige erstattet.

Der Kommissar betrachtete die Bilder von der Unfallstelle. Es war nicht der erste schwere Unfall, der sich dort ereignet hatte. Die junge Mutter und ihre Tochter hatten noch Glück im Unglück gehabt. Die Fahrerin hatte das Lenkrad offensichtlich im letzten Augenblick herumgerissen, so dass sie nur gegen das große Hinterrad des Traktors und nicht gegen die Frontschaufel gestoßen war. Kleintaler sah auf die Uhr, es war Viertel vor acht. Er beschloss, zunächst den Wollaberger Landwirt zu vernehmen und sich dann im Krankenhaus nach dem Zustand der beiden Verletzten zu erkundigen. Vielleicht könnte er anschließend mit Marianne zu Mittag essen.

Kleintaler stieg in seinen alten VW-Passat und rollte vom Hof der Polizeidienststelle. Er bog links in die Bannholzstraße ein und anschließend, unterhalb des Fachgeschäftes für Tiernahrung, rechts in Richtung Jandelsbrunn ab. Der Kommissar hatte das Seitenfenster heruntergelassen und genoss die noch kühle Morgenluft. Es würde heute wieder ein sehr heißer Tag werden. Das bereits gelbe Laub und die vollen roten Früchte der links und rechts den Zubringer eskortierenden Ebereschen kündigten bereits den nahenden Herbst an. Kleintaler genoss die Fahrt, genoss den Anblick der landwirtschaftlich genutzten Natur. Der Mais stand bereits sehr hoch, bald würden die Grünflächen das letzte Mal im Jahr gemäht und das Grüngut als Silofutter eingetütet werden. Nach den „Ertrunkenen Wäldern“, nach der Reichermühle steuerte er den Wagen nach Wollaberg. Er sah die deutlichen Kreidemarkierungen seiner Kollegen an der Unfallstelle. Der Kommissar kannte den Braun-Hof gut. Es war der letzte große Bauernhof, rechts am Ortsausgang gelegen. Kleintaler parkte seinen Wagen kurz nach der Toreinfahrt im großen Innenhof des Jahrhunderte alten Vierseithofes. Er stieg aus und ging auf das Bauernhaus zu. Kurz bevor er an der alten Eingangstür anklopfen konnte, öffnete sich diese und eine junge Frau trat heraus. Kleintaler zog seinen Dienstausweis hervor.

„Guten Morgen, mein Name ist Kleintaler, Kommissar Kleintaler, kann ich bitte Herrn Otto Braun sprechen?“

„Guten Morgen, ich bin die Angelika Braun, der Otto ist mein Mann. Ich weiß, warum Sie hier sind. Es ist alles so fürchterlich. Die Frau und ihre Tochter tun mir so leid. Hoffentlich sind sie nicht zu schwer verletzt. Ich will sie heute noch im Krankenhaus besuchen, wenn ich darf.“ Die junge Frau begann leise zu weinen. „Müssen Sie meinen Mann jetzt mitnehmen?“, fragte sie nach einem kurzen Schweigen, das nur von leisem Schluchzen unterbrochen wurde. „Wissen Sie, der Otto hat heute Nacht kein Auge zugemacht, und jetzt sitzt er in der Stube und sinniert. Und ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Der Schlepper wird noch untersucht und muss dann repariert werden, und wir sind mitten in der Ernte. Die Nachbarn haben mir heute früh – Gott sei Dank – schon beim Füttern geholfen. Fünfundachtzig Kühe fressen schon was weg.

Kleintaler sah sich um, und ihm wurde jetzt klar, was ihm beim Einfahren in den alten Bauernhof aufgefallen war. Es war der neu erbaute Boxenlaufstall mit dem sich in Richtung Heindlschlag erstreckenden Freilaufgelände.

„Frau Braun, ich werde Ihren Mann nicht mitnehmen, ich muss nur ein Protokoll aufnehmen. Er hat den Unfall ja nicht mutwillig verursacht und er hatte auch keinen Alkohol im Blut, das steht bereits fest. Aber er stand ja gestern Abend unter Schock und war nicht vernehmungsfähig, deshalb möchte ich ihn jetzt befragen. Würden Sie mich bitte zu ihm bringen.“

„Kommen Sie bitte mit, Herr Kommissar.“ Angelika Braun wandte sich um, und Kleintaler sah eine sehr weibliche Figur, die ihre blauen Jeans und ihr gelbes Poloshirt gut ausfüllte. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem dicken Zopf geflochten, der bis tief in den Rücken reichte. Ihre Füße steckten barfuß in gelben Crocs. Sie öffnete die Eingangstür und anschließend auf der rechten Seite die Tür in eine große und niedrige Bauernstube. An einem massiven, quadratischen Holztisch saß Otto Braun, den Kopf in die Hände gestützt. Er hatte die Eintretenden noch nicht bemerkt. Seine Frau streichelte ihn mit einer zärtlichen Geste an der Schläfe. „Otto, das ist Kommissar Kleintaler, er will dich sprechen.“

Der Landwirt drehte sich zu Kleintaler um. „Nehmen Sie bitte Platz, Herr Kommissar. Sie wissen gar nicht, wie entsetzlich leid mir dieser Unfall tut. Ich würde alles geben, ihn ungeschehen zu machen.“

Angelika Braun hatte Kleintaler einen Stuhl hingeschoben und fragte nun: „Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Ich habe gerade einen frischen aufgebrüht. Willst du auch einen, Otto?“ Ihr Mann nickte stumm und wenig später standen zwei große Haferl dampfenden Kaffees auf dem alten Bauerntisch. Kleintaler nahm sein Smartphone aus der Gesäßtasche seiner Hose, stellte die Diktierfunktion auf Aufnahme und begann die Befragung:

„Montag, 19. August 2014, 08.15 Uhr: Befragung: Otto Braun zum Unfallhergang vom 18.8.2014. Aktenzeichen …“

„Herr Braun, bitte schildern Sie mir, wie es gestern Abend zu dem Unfall kam.“ Stockend und leise begann der Landwirt zu sprechen.

„Ich habe am späten Nachmittag noch Grünfutter auf meiner Wiese am Kreuholz geschnitten und es dann mit dem Ladewagen hierher zum Stall gebracht. Kurz nach dem Melken habe ich festgestellt, dass mir das Silofutter nicht reicht. Also habe ich kurz vor 18 Uhr den Ladewagen abgehängt und wollte zu meiner Wiese in Richtung Zimmermandling fahren, denn dort lagere ich meine Silo-Binkel. Sie wissen was ich meine?“ Kleintaler nickte und Otto Braun fuhr fort. „Bei der Auffahrt zum Zubringer hat sich plötzlich der Frontlader gesenkt. Vermutlich bin ich mit dem Knie an den Schalthebel gekommen. Ich bin erschrocken und deshalb schon zu weit in den Zubringer gerollt. Dann sah ich den PKW auf mich zurasen und ich hab Gas gegeben, um auf die Gegenfahrbahn auszuweichen. Aber da hat es schon gekracht. Und dann weiß ich nichts mehr.“

Kleintaler schaltete das Diktaphon ab und nahm einen Schluck Kaffee. „Herr Braun, zunächst einmal vielen Dank für die ehrliche Darstellung des Unfallhergangs. Ich weiß, ich kann Sie nicht trösten, aber vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich Ihnen sage, dass die Fahrerin und ihre Tochter zwar schwer, aber nicht lebensbedrohlich verletzt sind. Vielleicht hilft Ihnen auch die Ablenkung durch die Arbeit. Das ständige Nachdenken über das Geschehene macht den Unfall leider nicht rückgängig.“

„Herr Kleintaler, was passiert jetzt mit meinem Mann?“ Angelika Braun war leise an den Tisch herangetreten.

„Wenn alle Protokolle und die Sachverständigengutachten eingegangen sind, geht die Sache an die Staatsanwaltschaft in Freyung und dort wird sich ihr Mann einem Verfahren stellen müssen. Über das Strafmaß entscheidet dann der zuständige Richter, aber ich denke, er wird Milde walten lassen.“

Kleintaler bedankte sich für den Kaffee, verabschiedete sich und fuhr in seine Dienststelle zurück. Nachdem er die Aussage Otto Brauns protokolliert hatte, war es kurz vor Zwölf. Er hatte Recht behalten, es war ein heißer Sommertag geworden, denn mittlerweile war die Außentemperatur auf 29 Grad gestiegen, wie dem Kommissar ein Blick auf das Thermometer vor seinem Bürofenster bestätigte. Er rief Marianne an und fuhr zum Krankenhaus, um sie zum Mittagessen abzuholen. Ihre Stimme hatte irgendwie merkwürdig geklungen. Er parkte seinen Wagen an der alten Förderschule und begab sich zum Eingang. Als er durch die sich automatisch öffnende Glastür ins Krankenhaus eintrat, wurde er von einem mittelgroßen, schwarzhaarigen Mann angerempelt, der ohne sich zu entschuldigen davon rannte. Kleintaler sah ihm nach und hörte, dass er ständig den Satz wiederholte: „Oh Gott, das darf doch nicht wahr sein! Diese Mörder! Diese verdammten Mörder!“ Dann kam auch schon Marianne. Sie sah betrübt aus. Sie hauchte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, nahm ihn an der Hand und sagte: „Lass uns schnell gehen, Schos, ich muss dir was Schreckliches erzählen, wir hatten heute Nacht zwei Todesfälle“.

Auf dem Weg in „Meindls“ Biergarten schluchzte sie mehrmals laut auf und schüttelte verständnislos ihren Kopf. Erst am Marktbrunnen vor dem großen Modehaus schien sie sich langsam wieder beruhigt zu haben. Als die Getränke vor ihnen auf dem Tisch standen, senkte sie ihre Stimme und begann zu erzählen.

„Stell dir vor, wie gesagt, bei uns hat es heute Nacht zwei Todesfälle gegeben. Gestern Abend sind eine junge Frau und ihre kleine Tochter nach einem Unfall auf dem Zubringer bei uns eingeliefert worden. Die Gerlinde Weiß, die OP-Schwester, hat mir heute Morgen noch erzählt, dass die Verletzungen bei beiden nicht lebensbedrohlich waren. Sie wurden beide ins künstliche Koma versetzt, und dann hat der Franz Stein die Frau operiert und der Mikolaj Kasavery, der neue polnische Chirurg, das fünfjährige Mädchen. Irgendetwas muss dann schief gegangen zu sein, denn beide sind kurz nach der OP oder vielleicht schon während der Operation verstorben. Ist das nicht entsetzlich?“ Marianne Kleintalers Augen füllten sich mit Tränen. „Mit dem Franz will ich nicht darüber sprechen und die Gerlinde redet ja nicht aus. Ich werde mich heute Nachmittag mal vorsichtig umhören, schließlich bin ich ja für die Hygienesicherung zuständig. Vielleicht erfahre ich, was genau passiert ist.“

„Ich war heute Morgen noch bei dem Unfallverursacher. Er war fix und fertig. Oh Gott, er weiß noch gar nicht, dass die beiden tot sind. Hoffentlich verkraftet er das. Ich muss nach der Mittagspause gleich die Frau Braun anrufen, die will die Unfallopfer heute Nachmittag besuchen.

Der Kommissar brachte seine Frau nach der Mittagspause zum Krankenhaus zurück und fuhr selbst in seine Dienststelle. Er rief die junge Bäuerin in Wollaberg an und überbrachte ihr die traurige Nachricht. Sie versprach diese ihrem Mann schonend beizubringen. Er verbrachte den restlichen Arbeitstag schwitzend mit dem Papierkram, der ja auch erledigt werden wollte. Der Vorfall im Krankenhaus ging ihm jedoch nicht mehr aus dem Kopf.

Endlich war Feierabend. Kleintaler saß im Schatten seiner Markise auf der Terrasse und genoss die allmählich einsetzende abendliche Kühle. „Marianne, bringst du mir bitte noch ein Weißbier aus dem Kühlschrank mit?“ Marianne kam mit einem Glas Weißwein und einem frischen Weißbier aus der Küche und nahm neben ihm Platz. „Und, hast du etwas rausgebracht? Weißt du, warum die beiden gestorben sind?“