Hexenherz. Glühender Hass - Monika Loerchner - E-Book

Hexenherz. Glühender Hass E-Book

Monika Loerchner

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Beschreibung

Er sollte einst Oberhaupt der Familie werden, jetzt gilt er weniger als nichts: Von seiner Mutter in eine männerverachtende Gesellschaft geschleppt und dann im Stich gelassen, ist der junge Kolja hin- und hergerissen zwischen dem Hass auf seine Gebärerin und dem Wunsch, endlich seinen Vater zu finden. Um seinen Zielen näherzukommen, geht er einen gefährlichen Pakt ein und stellt sich gegen die Gesetze der Hexen des Goldenen Reiches - und gegen die der Göttin. Der zweite Roman aus der Hexenherz-Welt erzählt die Geschichte aus Sicht von Helenas Ziehsohn Kolja. Wie ergeht es einem Jungen in einer matriarchalischen Welt, in der er zum schwachen Geschlecht gehört?

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Seitenzahl: 540

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Monika Loerchner

Hexenherz

Glühender Hass

Loerchner, Monika : Hexenherz. Glühender Hass, Hamburg, acabus Verlag 2019

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-636-0

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-637-7

Print: ISBN 978-3-86282-635-3

Lektorat: Sina Eilers, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: pixabay.com

Karte: © Carl Wilckens und Monika Loerchner

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2019

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Für die, die gehen mussten, obwohl sie bleiben wollten und die, die geblieben sind, obwohl sie hätten gehen können;

Antrittsrede des neuernannten Hexenministers seiner Majestät Kaiser Alexeii Cel Mare, Herrscher über das Große Moldawische Reich, Uwe Helmut de Gravenhage, Ratshaus Lybid am 20.02.1985.

Eure Majestät, meine sehr verehrten Herren!

Ich stehe vor Ihnen als der jüngste Hexenminister, den es in der Geschichte des Großen Moldawischen Reiches je gegeben hat. Ich bin mir dessen bewusst, dass einige von Ihnen der Ansicht sind, dass es mir an Erfahrung, Disziplin, Führungsqualität und Durchsetzungsvermögen mangelt.

Sie irren sich.

Ich habe bereits jetzt mehr Hexen im Kampf getötet oder gefangen genommen und unter den Pflock gebracht, als die meisten Hexenjäger in ihrer gesamten beruflichen Laufbahn.

Wie Sie wissen, stammt meine Familie ursprünglich selbst aus dem sogenannten Goldenen Reich, dessen skrupellose und teuflische Hexenherrschaft so viele Länder in den Abgrund gerissen hat. Das Land meiner Urahnen war eine niederländische Provinz namens Südholland, ein Paradies, das die dämonischen Hexenweiber 1578 mit Krieg überzogen haben. Als dann eine Provinz nach der anderen fiel, offenbarte sich erst das wahre Ausmaß der teuflischen Hexen, die das Land fortan mit Irrglaube, Mord und Terror regierten. Wie überall unter ihrer verdorbenen Herrschaft wurden gute, brave Frauen zum satanischen Hexentum verführt, sie wurden mit der Macht der unnatürlichen Magie ausgestattet und zu willigen Werkzeugen unendlicher Gräueltaten an Männern, Frauen und Kindern gemacht.

Bereits 1526 gab es Männer hierzulande, die so klug und so weitsichtig waren, sich gegen die dämonischen Furien zur Wehr zu setzen und die Ihren zu schützen: Sie taten es den Chinesen gleich und bauten eine kolossale Mauer, um ihre Familien und ihr Land zu sichern.

Mein eigener Vorfahr, Vaandrig de Gravenhage, kämpfte in zahlreichen Schlachten gegen die Hexenweiber, so auch in der berühmten Schlacht von Leparta 1571. Als die Hexen Europa endgültig in Flammen und Verdammnis aufgehen ließen, beschloss er, den Kampf von hier aus weiterzuführen. Er begründete im Großen Moldawischen Reich ein neues Geschlecht an tapferen, treuen und aufrechten Männern.

Hier stehe ich nun vor Ihnen, meine Herren, und dasselbe hexenhassende, kämpferische Blut fließt in meinen Adern. Ich dulde keine Nachlässigkeit, denn Nachlässigkeit ist Wasser auf den Mühlen der Hexen. Ich dulde keine Dummheit, denn Dummheit ist anfällig für die Einflüsterungen der teuflischen Weiber. Und ich dulde keine Schwäche, denn wer schwach ist, kann von der dämonischen Magie verführt werden.

Ich werde mit aller Härte gegen die Hexenweiber und ihre Terrorherrschaft vorgehen! Längst wütet der Feind nicht mehr nur außerhalb unserer Mauer, sondern hat bereits seine Boten ausgesandt, auch unsere Frauen zu verderben. Heimtückisch und unter dem Mantel von Rechtschaffenheit und Demut nisten sie sich bei uns ein und flüstern ihre giftigen Worte in die Ohren unserer jungen, unwissenden und leichtgläubigen Ehefrauen und Töchter.

Sie haben Europa infiltriert und sich ausgebreitet, tödlicher als die schlimmste Seuche, und brüten weitere finstere Pläne aus. Mit List, Tücke und ihrer widernatürlichen Magie ist es ihnen sogar schon gelungen, einige unserer eigenen Frauen in ihr dunkles Reich zu locken!

Das muss ein Ende haben! Nicht übermorgen und auch nicht morgen, sondern heute!

Ich als neuer Hexenminister verspreche Ihnen, dass wir alles tun werden, um das Übel der Hexerei mit Stumpf und Stiel auszurotten! Weder werden wir es in unseren eigenen Reihen dulden noch werden wir tatenlos dabei zusehen, wie sich das Übel, das sich in Europa eingenistet hat, weiter festsetzt und seine gierigen Augen auf weitere Länder wirft, um sie mit seinen verdorbenen Gedanken zu infizieren. Und auch wenn dieses Pack weiter die natürliche Ordnung, nach der die Frau unter dem Manne zu stehen hat, zu zerstören versucht, bleiben wir einig und standhaft.

Es ist an uns, liebe Freunde, den Wahnsinn der Schreckensherrschaft der Hexen aufzuhalten, den afrikanischen Norden und Europa aus ihren schmutzigen Krallen zu befreien und unsere eigenen Frauen und Kinder mit aller Härte vor den Gefahren dieser Seuche zu beschützen!

Es lebe unser Kaiser Alexeii Cel Mare, es lebe die Allianz der Ostländer und es lebe das Große Moldawische Reich!

Teil I

Großes Moldawisches Reich

Tagebuch – 18.01.2003

Es kommt mir vor wie ein Traum, dass ich dieses Versteck hier gefunden habe. Es soll ganz allein mir gehören! Niemand wird mich hier finden, ich muss nur schnell sein. Ich kann jeden Samstag herkommen, wenn ich mich beeile. Vater würde nie auf die Idee kommen, mir ausgerechnet am Überprüfungstag nachzuspionieren. Wozu auch? Keine Frau im ganzen Reich würde es wagen, nicht zur Magieüberprüfung zu erscheinen. Jeder weiß, was mit denen passiert, die unter Verdacht stehen, sich in eine Hexe verwandelt zu haben. Nein danke!

Und jetzt bin ich hier. Das ist Schicksal. Letzten Samstag war dem neuen Händler beim Einladen seiner Sachen auf unserem Hof dieses Buch hier herausgefallen. Ich hätte warten sollen, bis er weg ist, aber es war so schön, dass ich es sofort aufgehoben habe. Natürlich hat er mich dabei erwischt, so dumm wie ich mich angestellt habe. Was, wenn er mich bei Vater verpetzt hätte? Mir taten noch vom letzten Mal die Rippen weh. Aber er hat kein Wort gesagt. Hat mich nur angeschaut mit langweiligen blaugrünen Augen. Dann hat er plötzlich gezwinkert, in seine Jacke gegriffen und mir etwas zugeworfen. Einen Stift. Kaum dass der Händler vom Hof war, habe ich die Sachen schnell versteckt. Und heute dann finde ich diesen Platz hier, das kann doch kein Zufall sein! Jetzt kann ich jede Woche schreiben, was immer ich will – niemand wird es je zu lesen bekommen!

Aber was soll ich schreiben? Es passiert ja nichts. Oder das: Der Sohn vom alten Rogaciov hat mir gestern Blumen geschenkt. Ich habe ihn gefragt, was ich damit anfangen soll und ob er meint, ich hätte den ganzen Tag Zeit, zu Hause irgendwelche blöden Schneeglöckchen anzuschmachten, die es nach so milden Tagen gibt wie Sand am Meer. Er ist wie immer rot geworden und weggelaufen. So ein Schwächling! Ich habe ihm hinterhergerufen, wie er denn eines Tages einer Frau Kinder machen will, wenn er ihr nicht mal in die Augen schauen kann, oder ob er sie sich dafür dann einfach andersrum hinlegt. War das ein Spaß! Mutters Ohrfeige war saftig, aber sie kann auch härter, daher weiß ich, dass sie insgeheim meine Meinung teilt. Wäre Rogaciov nicht Vaters Freund, würde sie es sicher nicht dulden, dass mich sein Sohn andauernd besuchen kommt. Und das war so ziemlich das Aufregendste, was in letzter Zeit passiert ist. Das ist so armselig! Die einzigen Veränderungen sind die, wenn Vater wieder einmal »der Politik wegen« in die Hauptstadt reist. Nächste Woche ist es wieder so weit. Dann muss ich Mutter wieder Vaters Anweisungen vorlesen und mir ihr Genöle anhören, wie gut ich es doch habe, dass ich immerhin bis ich zwölf war zur Schule gehen durfte. Ich frage mich, warum Vater immer alles aufschreibt. Er wird ja sowieso wieder Onkel Vadim sagen, dass er jeden Tag nach uns schauen soll. Ob Vater eigentlich weiß, wie gründlich Onkel Vadim dann immer nach Mutter schaut? Dabei ist Tante Zinovia ja auch andauernd schwanger. Die Arme. Vier Blagen hat sie schon und kaum hat sie eins unter Schmerzen zur Welt gebracht, schiebt ihr Onkel Vadim das nächste hinterher. Dabei kann jeder Idiot sehen, dass es mit ihrer Gesundheit langsam bergab geht. So will ich auf keinen Fall enden!

Werde ich aber: Nicht mehr lange und ich werde 16 und Vater wird mich verheiraten. Und selbst wenn mein Mann wie durch ein Wunder nicht alt oder fett oder hässlich oder grausam oder dumm oder alles zusammen ist, wird er schon am Tag unserer Hochzeit versuchen, ein Balg in mich reinzumachen. Immer und immer wieder, bis ich von all den Schwangerschaften und Geburten verbraucht und ausgeleiert bin. Außer natürlich ich habe Glück und bekomme so wie Mutter nur zwei Kinder bei sechs oder sieben Schwangerschaften.

Halt, zurück: Das Leben meiner Mutter als Glück zu bezeichnen … Mir wird schlecht. Lieber bringe ich mich eines Tages um, als so zu enden. Nur Arbeit, Vorwürfe und Schläge, wann immer es Vater in den Sinn kommt. Mutter sagt immer, vor meiner Geburt war alles besser. Da hatte sie Vater immerhin schon einen Sohn geschenkt, und es gab noch Hoffnung auf einen zweiten. Aber bei meiner Geburt ist dann etwas in ihr kaputtgegangen, und das war es dann.

Manchmal denke ich darüber nach, dass die Zeit in Mutters Bauch bestimmt die beste meines Lebens war. Weil ich die Welt da noch nicht gekannt habe und vor allem, weil mich meine Eltern da noch nicht kannten. Es muss ja eine Zeit gegeben haben, in der sie beide sich über mich gefreut haben, weil sie dachten, dass ich vielleicht ein Junge werde. Es muss also eine Zeit gegeben haben, in der sie mich geliebt haben.

Goldenes Reich

Frühjahr 2019 – Kapitel 1

Ein Mann schreit. Dann nur noch Wimmern. Dazwischen laute, aggressive Stimmen, die dem Ton nach Fragen stellen. Fragen von denen ich weiß, dass der Mann sie ebenso wenig verstehen kann wie ich.

Sie wechseln in seine Sprache, aber die Fragen bleiben unverständlich: Der Mann war sein Leben lang Förster, hat sich zusätzlich ein bisschen was mit seinem Geigenspiel dazuverdient. Er war zu keiner Zeit Staatsangestellter und erst recht nie Spion.

Sie glauben ihm nicht.

Der Mann schreit wieder.

Fast gegen meinen Willen gehe ich in Richtung des Zeltes, in dem sie ihn festhalten und befragen. Wieder ein Schrei, der abbricht und in ein Wimmern übergeht.

Als ich die Zeltplane zurückschlage und das Innere betrete, schaut der Mann zu mir auf. Er liegt auf dem Boden, doch als er mich erkennt, findet er die Kraft aufzustehen und seine Hände flehend nach mir auszustrecken.

»Hilf mir, Kolja!«, röchelt er und weint Tränen aus Blut.

Ich erwache von meinem eigenen Schrei.

»Mojserce, alles in Ordnung?«

Obwohl mein Herz rast und meine Nachtsachen klatschnass an mir kleben, muss ich lächeln. Meine Mutter mag eine Menge verloren haben, nicht aber ihren Kampfgeist: In jeder Hand ein Messer schaut sie sich misstrauisch in meinem Zimmer um, bereit, jede Einbrecherin und jede Gefahr für mich bis aufs Blut zu bekämpfen. Allein ihr Anblick lässt mein Herz wieder langsam zur Ruhe kommen; solange Mama in meiner Nähe ist, droht mir keine Gefahr. Helena Rinasdother von Smaleberg würde sich mit der Göttin höchstselbst anlegen, um mich zu beschützen.

»Es geht mir gut«, bringe ich schließlich hervor. »Es war nur ein Albtraum.«

Innerhalb eines Wimpernschlages lässt Mama ihre Messer verschwinden. Wüsste ich es nicht besser, ich würde sagen, da ist Magie im Spiel.

»Ging es wieder um deinen Vater?«

Mama kann in Menschen lesen wie keine Zweite. Wie oft schon habe ich mir gewünscht, sie wäre normaler. Doch was ist schon normal? Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der die Frauen den Männern Untertan sind – hier im Goldenen Hexenreich undenkbar! Ich war der Stolz meines Vaters, der Stammhalter, sollte eines Tages den von ihm verschmähten Platz in Opas Geschäft und überhaupt in der Welt einnehmen. Es war mir damals nicht klar, aber ich wollte hoch hinaus. Hier bin ich weniger als nichts. Ein Junge nur, schwach geboren und von der Göttin dazu verdammt, ohne Magie durchs Leben zu gehen.

»Kolja?«

Ich nicke.

Sehe den Kummer in Mamas Augen, aber auch ihren Stolz, dass ich ihr nichts vormache. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Das wird sich bald ändern.

Ich atme tief durch. Ich weiß, dass es mir nichts nützen wird zu warten. Dieser Zeitpunkt ist so gut wie jeder andere, es noch länger aufzuschieben würde es mir nur noch schwerer machen. Was ich in Erwägung ziehe, ist so gefährlich wie unvernünftig. Ich bin mir des Wahnsinns meines Vorhabens durchaus bewusst – und das meine ich ernst, eine Helena Rinasdother zieht keinen Vollidioten heran – und dass meine Mutter, wenn ich sie nicht von meinem Plan überzeugen kann, nicht zögern wird, mir den Hintern zu versohlen, obwohl ich schon fast 15 bin und wie sie es auch in zwanzig, dreißig oder sechzig Jahren noch ohne mit der Wimper zu zucken tun würde.

»Mama, ich muss mit dir reden.«

Falls meine Mutter überrascht ist, dass ich mitten in der Nacht ein Gespräch mit ihr führen will, lässt sie es sich nicht anmerken. Sie zuckt nur mit den Schultern und setzt sich dann zu mir aufs Bett. Behutsam streicht sie mir eine schweißnasse Strähne aus dem Gesicht.

»Du solltest dir erst etwas Trockenes anziehen, Kolja«, sagt sie und runzelt die Stirn. »Ich möchte nicht, dass du krank wirst, jetzt da Frau Dr. Novaczek Großmutter geworden ist.«

Sie hebt ihre Hände und macht eine bittende Geste zur Göttin.

Gute Heilmagie ist selten und die Goldene Frau, die oberste und mächtigste Hexe des Goldenen Reiches, hat unserem Dorf noch keine neue Ärztin zugewiesen. Zweifellos ihre ganz spezielle Art von Rache an meiner Mutter. Dass auch andere da­runter leiden müssen, schert die Goldene nicht, aber wann hätte es das auch je getan?

»Selbst ich kann eine einfache Erkältung heilen«, grummele ich dennoch. Im Gegensatz zu Mama bin ich in einem Land ohne Magie aufgewachsen und was ihr absurd erscheint, ist für mich noch immer normal. Ich schließe kurz die Augen und überlege, wie sich die Aussagen des großmoldawischen Merkverses auch auf Deutsch reimen lassen: »Jungsüß, Kamille, Sonnenhut / tuen bei Erkältung gut. / Kratzt der Hals, benutze scheu / dicken Saft vom Wildefeu.«

Doch so einfach lässt mich meine Mutter nicht davonkommen. Sorge steht in ihren müden Augen. »Kräuter, von mir aus, aber die können keine Magie ersetzen.«

»Bist du sicher? Immerhin leben im Großen Moldawischen Reich tausende Menschen nach wie vor ohne Magie. Ebenso in China, im Türkisch –«

»Ja«, fällt mir Mama ins Wort, »weil die Männer sich erdreisten, sich über die Schöpfung und den Willen der Göttin zu stellen und es ihren Mädchen verbieten, ihre Magie erwecken zu lassen.«

Ihr Zorn ist greifbar. Bevor sie sich noch mehr aufregt, fahre ich schnell fort: »Anis, Holunder, Thymian / nehme jede, wie sie kann / außerdem den Hals macht frei / ein schöner Sud aus dem Salbei.«

Ich habe es geschafft: Mama lacht.

»Der Rhythmus ist grauselig, aber immerhin haben sie euch Jungs da drüben auch etwas Sinnvolles beigebracht.« Sie runzelt die Stirn. »Vielleicht wäre es gar nicht mal verkehrt, das auch hier zu machen. Eine Schule für Jungen«, sie schüttelt den Kopf und lacht. »Das klingt irgendwie absurd.«

»Tun das neue Ideen nicht immer?« Ich grinse. »Außerdem bin ich doch sozusagen schon bei dir zur Schule gegangen. Wenn du mal überlegst, was du mir alles beigebracht hast?«

»Dir beigebracht?«

»Kämpfen, mit und ohne Waffe, Wundversorgung, Geschichte, Politik und wie es in der Hauptstadt zugeht, jagen, zerlegen, kochen …«

Mama verzieht das Gesicht. »Jetzt mach mir keinen Appetit! Und sieh endlich zu, dass du trockene Sachen anbekommst. Und dann wird geschlafen, wir können auch noch morgen weiterreden. Nein, keine Widerrede, du brauchst deinen Schlaf!«

Sie schaut aus dem Fenster. »Kein Wunder, dass du Albträume hast: Die Mondin ist heute Nacht voll – in einer solchen Nacht schenkt die Göttin uns Träume, die uns Klarheit bringen sollen, heißt es.«

»Na siehst du«, grinse ich, »jetzt hast du mir schon wieder etwas beigebracht!«

Mit einem Schnauben steht Mama auf und geht zur Tür. »Pass bloß auf, du kleiner Besserwisser! Sonst mache ich dir heute Abend mal einen Tee, und zwar einen aus Melisse, Karinakraut und Lavendel!«

Ich tue so, als würde ich erschaudern.

Mama lächelt, setzt sich wieder und nimmt mich in den Arm. Ich bin der Einzige, dem gegenüber sie sich solche Zärtlichkeiten erlaubt. Aber auch nicht oft, daher sind mir solche Momente besonders kostbar. Sie riecht nach Bettwärme und Geborgenheit. Mama drückt mich einen Augenblick lang an sich, dann steht sie auf. »Ich hole dir noch schnell frisches Bettzeug. Soll ich dir dann helfen oder …?«

»Ich schaffe das schon allein«, sage ich hastig.

Mama nickt und geht dann, ohne ein weiteres Wort über meine eingenässte Decke zu verlieren. Dafür liebe ich sie. Und morgen werde ich sie fragen, ob sie während der Folter meines Vaters etwas Nützliches erfahren hat.

Keine kann Mama etwas vormachen. Sie schaut eine an und weiß sofort, wenn etwas nicht stimmt. Auch jetzt braucht sie mich nur kurz zu mustern, um dann mit einem schweren Seufzen in ihren Lieblingssessel zu sinken. Sie kann unmöglich wissen, was ich vorhabe, und dennoch weiß sie auf eine instinktive Art und Weise, dass ihr nicht gefallen wird, was ich zu sagen habe.

»Also, was gibt es?« Sie hebt die Augenbrauen. »Was ist so wichtig, dass du es gestern mitten in der Nacht mit mir besprechen wolltest, Mojserce?«

Die Härte, die in ihrer Stimme mitschwingt, versetzt mir einen Stich. Ich weiß, dass sie mit etwas Schlimmem rechnet. Mama rechnet immer mit etwas Schlimmem. Ich verstehe das vollkommen, jedoch macht mir das die Sache dummerweise nicht einfacher. Ebenso wenig, dass sie mich mit »Mojserce«, was in meiner Heimatsprache »mein Herz« bedeutet, anspricht.

»Ich heiße Kolja«, sage ich und starre an die Wand, an der Mama ein paar Bilder aufgehängt hat.

Ihr eigenes Zimmer ist recht kahl, aber hier in der Küche zieren ein paar abstrakte Bilder die Wände. Eine Künstlerin namens Vera von Ork hat sie gemalt. Mein Blick schweift zu Mutters Lieblingsbild, der »Nummer 383«, einem wilden Durcheinander aus schwarz, rot, weiß und ganz viel gelb; obschon es keinen Titel trägt – und ich beim besten Willen nichts darin erkennen kann – nennt Mama es »die Göttin«. Sie lächelt jedes Mal, wenn sie es anschaut.

Sie lächelt auch jetzt. »Ganz wie du willst, Kolja.«

Verflixt.

Ich knabbere an meiner Unterlippe. Meine Hände unter dem Tisch fühlen sich feucht an, als ich sie aneinanderreibe, meine Füße scheinen wie von einer fremden Macht gesteuert zu sein, ständig rutschen sie hin und her.

»Möchtest du etwas trinken? Einen Tee?«

»Von mir aus. Aber nicht Kamille.«

Mama geht zum Herd und öffnet so beiläufig die Hand, dass es mir weh tut. Ein winziges Stutzen, dann streckt sie den Arm aus und nimmt sich den Kessel.

Wer Helena von Smaleberg nicht kennt, hätte diesen Hauch eines Innehaltens sicher übersehen. Für Mamas Mutter Rina und deren Mutter Mamu sind dies die Momente, in denen sie stets einen gequälten Blick wechseln, während Mama versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Jede Frau kommt eines Tages in die Situation, über keine Magie mehr zu verfügen. Jedoch tritt die Magielosigkeit in der Regel erst mit den Wechseljahren ein, und die Frau konnte sich darauf vorbereiten. Mama dagegen ist gerade einmal 31 Jahre alt und sollte noch keine magielose Großmutter sein, die jede noch so alltägliche Bewegung ohne Magie ausüben muss. Sie sollte auch nicht hier sein, sondern mittlerweile Oberste der Ostgarde. Ich sollte nicht hier sein. Aber ich bin es, weil eine Frau namens Ada beschlossen hat, mich im Stich zu lassen.

»Also, Kolja, was gibt’s?« Mama stellt zwei dampfende Tassen Tee auf den Tisch und nimmt wieder mir gegenüber Platz. Aus Erfahrung weiß ich, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis das Getränk ausreichend kühl ist. Mama weiß das auch und wir wissen beide, dass sie sich jedes Mal darüber ärgert, nichtmagische Zubereitungen noch immer nicht im Griff zu haben. Fünfzehn Jahre lang hat sie sich bei fast jedem Handgriff ihrer Grundmagie bedient. Die gnadenlose Strafe der Goldenen Frau trifft Mama jeden Tag aufs Neue, malträtiert sie wie unzählige winzige Nadelstiche. Ich hasse die Goldene dafür.

»Kolja?« Ich stelle mich ihrem fragenden Blick. »Wenn du etwas zu sagen hast, sag es. Mach es nicht noch schlimmer, indem du ausgerechnet jetzt nochmal darüber nachdenkst. Das hast du schon zur Genüge getan, sonst wärst du jetzt nicht hier. Spuck’s aus und bring es hinter dich!«

Mein Mund verzieht sich von ganz allein zu einem Lächeln. So ist Mama, genau so – und ich bin ihr Sohn!

Ich hebe den Kopf und schaue ihr fest in die Augen. »Mama, ich werde von hier fortgehen.«

Sie nickt, als hätte sich ihr ein Verdacht bestätigt. Was vermutlich auch der Fall ist. Keine bringt es zur Zweiten der Ostgarde, ohne ein verdammt gutes Gespür für Menschen zu entwickeln.

»Das ist aber noch nicht alles.«

Fasziniert verfolge ich den Tanz, den der Dampf auf meinem Tee vollführt. »Woher weißt du das?«

»Du siehst keinen Millimeter erleichterter aus als vorhin.«

»Ach so.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Wusste ja gar nicht, dass die Leute hier sowas in Millimetern messen!«

Aber Mama lässt sich nicht ablenken. »Du hast etwas vor, das mir nicht gefallen wird, Mojserce. Ich weiß es, und du weißt es auch.«

Ich zucke mit den Schultern. Die Männer im Dorf sagen, das hätte ich mir von Mama abgeschaut.

»Also gut.« Dieses Mal traue ich mich nicht, ihr in die Augen zu schauen. »Ich will von hier weggehen und meinen Vater suchen.«

Mama nickt. »Ich wusste, der Tag würde kommen. Hätte nur nicht gedacht, dass es so bald sein würde.«

»Ich bin fast fünfzehn.«

»Du bist vierzehn, und du siehst jünger aus. Als ich dich damals traf, dachte ich, du wärst erst zehn.«

»Ach, Mama!« Ich spüre, wie mein Blick weich wird und meine Entschlossenheit schwindet. Ich liebe Mama so sehr, ich würde alles für sie tun!

»Kolja …« Zu meiner Überraschung dreht Mama den Kopf und schaut zur Seite. »Du weißt, dass ich alles in meiner Macht stehende getan habe, um deinen Vater ausfindig zu machen. Mutter und Mamu auch, aber …«

»Ich weiß.« Es ist nun einmal so, dass selbst der Name der einst so mächtigen Rina Linasdother keine Türen mehr öffnet; der Hass der Goldenen Frau auf Mama hat sie alle verschlossen. Niemals wird die Goldene verzeihen, dass meine Mutter versucht hat, ihre Intrige aufzudecken. Die oberste Hexe des Landes hatte vor, zumindest in einer Hinsicht unschuldige Aufständische zum angeblichen Wohl des Reiches zu opfern. Nicht nur hat Helena Rinasdother die Verräter befreit und so ihre Pläne durchkreuzt, es ist der Goldenen Garde auch bis heute nicht gelungen, die Überlebenden um Adrian Samo wieder dingfest zu machen. Dieser Umstand sitzt wie ein garstiger Dorn im Gemüt der Goldenen Frau und stachelt ihre Bösartigkeit meiner Mutter gegenüber immer wieder aufs Neue an. Es muss ihr ein geradezu perfides Vergnügen bereiten, jeden Versuch meiner Familie, etwas in dieser Angelegenheit herauszufinden, zu vereiteln.

»Ich mache euch keinen Vorwurf, wirklich nicht«, beeile ich mich daher zu sagen. »Aber ich muss wissen, was mit Papa geschehen ist. Vielleicht …«

»Vielleicht ist er noch am Leben. Ja, das könnte sein.« Mama seufzt, dann sagt sie leise: »Während seiner … Befragung hat er immer nur wiederholt, dass er aus einem kleinen Dorf im Großen Moldawischen Reich kommt und sich hier mit Ada und dir ein neues Leben aufbauen wollte. Zumindest ist es das, was Nihan mir übersetzt hat. Wie du weißt, hatte ich zu dem Zeitpunkt keine Magie und konnte deinen Vater nicht verstehen. Ich gab Anordnung, ihn zum weiteren Verhör nach Annaburg zu bringen. Franzi hat deinen Vater ohne Frage hart angefasst, aber nicht verletzt. Du solltest also bei deiner Suche nach ihm in der Hauptstadt beginnen. Ebenso, was Ada betrifft. Wen von beiden möchtest du überhaupt zuerst suchen?«

Ich zögere kurz. Bislang habe ich nicht darüber nachgedacht, ebenfalls meine Gebärerin aufzuspüren, aber ja, Mama hat natürlich recht: In meinem Kopf, in meiner Erinnerung, in meinem Schmerz kann ich meinen Vater nicht sehen, ohne auch an sie zu denken, sie, die uns all das angetan hat. Wir hatten ihr vertraut, sie hatte uns ein besseres Leben im Goldenen Reich versprochen. Doch der einzige Grund, weshalb Ada mit Papa und mir hierher fliehen wollte, war, dass sie ihre Magie erwecken lassen wollte. Während Ada damals von den Hexenfrauen des Goldenen Reiches willkommen geheißen wurde, hatten sie Papa wie einen feindlichen Spion behandelt. Es war natürlich Pech, dass Mama ausgerechnet an diesem Tag in eine Falle geriet und weggeschickt wurde, sodass sie nicht mehr über Papas Verbleib erfahren konnte.

»Also Ada«, sagt Mama und verzieht das Gesicht. »Soweit wir wissen, ist es gut möglich, dass sie inzwischen zu einer sehr einflussreichen Frau aufgestiegen ist.« Daran, dass im Goldenen Reich der Begriff »Frau« gleichbedeutend mit »Hexe« ist, habe ich mich inzwischen gewöhnt.

»Umso besser. Sie wird mir helfen, Papa zu finden.«

Mutter lacht bitter. »Mächtige Frauen haben viele Vorzüge, aber Hilfsbereitschaft gehört nicht dazu!«

Meine Stimme ist ruhig, aber ich spüre eine Kälte in mir, hart und fest wie Eis, die keinen Raum für Zweifel lässt. »Dann werde ich sie dazu zwingen.«

»Hm.« Mama lehnt sich zurück und mustert mich. Es ist unser altes Ritual, wenn ich sie um etwas bitte: Wir schauen einander tief in die Augen, erneuern unsere Verbundenheit. Plötzlich frage ich mich, was ich für ein Idiot gewesen bin, mich vor dem Gespräch mit ihr zu fürchten. Sie ist meine Mama, die alles für mich gegeben hat, die alles außer mir verloren und dennoch weitergemacht hat. Meine Mama, der ich als einziger Grund weiterzuleben ausgereicht habe. Ihre Liebe für mich ist grenzenlos, und Göttin, ebenso ist es meine für sie. Damals, als sie wegen einer Intrige ihrer Konkurrentin vor ihren eigenen Gardeschwestern fliehen und mich dabei durch Zufall mitnehmen musste, hat sie mich genauso wenig im Stich gelassen wie später. Stattdessen hat sie mich adoptiert und mir ein Zuhause gegeben.

Mama greift nach meinen Händen. »Ich verstehe deinen Wunsch sehr gut, keine Frage. Nur sag mir, wie du das anstellen willst, Kolja? Selbst wenn du eine Ahnung hast, wo sich dein Vater und Ada aufhalten könnten – wie willst du an sie herankommen? Du bist schließlich …«

»Nur ein Junge«, ergänze ich. »Ich weiß.«

»Du bist mein Junge!« Mamas Augen sind hart. »Und so wie du körperlich jünger aussiehst, bist du geistig deinem Alter weit voraus. Du besitzt die Bildung, die Intelligenz und die Stärke, für dich allein zu sorgen.« Mamas Stolz ist unüberhörbar, dann wird ihre Stimme sanft. »Du bist mein Sohn, Mojserce. Aber du hast nun einmal nicht die Möglichkeiten, die eine Frau hat.«

»Was soll ich denn tun, hm? Warten, bis meine Cousinen zu Frauen herangewachsen sind und mir helfen können?« Ich schüttele den Kopf. »Selym ist jetzt drei. Erwartest du allen Ernstes von mir, dass ich vielleicht noch neun oder zehn Jahre warte? Du weißt selbst ganz genau, dass, sollte mein Vater noch am Leben sein, die Chancen mit jedem Tag schwinden.«

Mama nickt langsam. »Du hast recht, Kolja, du kannst nicht so lange warten. Außerdem glaube ich nicht, dass mein Bruder damit einverstanden wäre, seine Töchter auf so eine gefährliche Mission zu schicken. Sie sind alles, was ihm von Jessica geblieben ist. Aber warte noch zwei Jahre, wenigstens eins. Noch hast du den weichen Körper eines Kindes, du warst ja noch nicht einmal im Stimmbruch. Dein Geist ist der eines Kämpfers, aber dein Körper ist noch nicht so weit. Eines Tages wirst du auch körperlich zum Mann werden – aber jetzt? Göttin, die richtigen Klamotten und das Haar zusammengebunden, und ich könnte dich glatt für eine junge Frau halten!«

Jetzt ist er da, der Moment, in dem ich mein gesamtes Leben hinter mir lassen werde. Seltsamerweise verspüre ich weder Aufregung noch Furcht. Ich schaue Mama ruhig in die Augen. Ich spüre, wie sie meine Hände fester drückt.

»Nein.« Sie schüttelt den Kopf. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Doch, Mama. Das ist genau das, was ich vorhabe: Ich werde mich als Hexe ausgeben.«

»Bist du verrückt geworden?« Mama lässt meine Hände los, springt auf und beginnt, in der Küche hin und her zu gehen. »Ein Junge, der sich als Frau verkleidet, hast du sie nicht mehr alle? Wie soll das gehen?«

Sie hält kurz inne, um mich zu mustern. »Die Äußerlichkeiten sind Schnickschnack, das wäre ja vielleicht sogar noch machbar. Aber der Rest?« Kurz scheint es, als hätte sich Mama beruhigt, aber da ich sie kenne, weiß ich, dass das noch nicht alles gewesen ist. Sie lacht ungläubig. »Hast du eigentlich schon mal was von Magie gehört? Jener Fähigkeit, über die nach dem Willen der Göttin nur Frauen verfügen? Oder willst du die auch vortäuschen?«

Mama schaut mich herausfordernd an, doch ich begehe nicht den Fehler, ihren Vortrag zu unterbrechen.

Sie schüttelt den Kopf, geht noch ein paar Mal auf und ab und bleibt dann an den Herd gelehnt stehen. »Oder willst du dich als Fräulein tarnen, ist es das? Wenn das so ist, könnte das sogar klappen, Kolja. Aber das würde dir auch nicht viel weiterhelfen. Nie und nimmer wirst du es als eine, die ohne Magie geboren wurde, weit bringen. Du weißt doch wie die sind, vor allem in den Städten. Alles was da zählt, ist die Macht der Magie, die du hast. Ob du da als Junge Nachforschungen anstellen willst oder als Fräulein, das ist gehopst wie gesprungen, nur mit einem einzigen Unterschied: Wenn sie dich dabei erwischen, wie du dich als weiblicher Mensch ausgibst, werden sie dich töten.«

»Ich werde mich nicht als Fräulein, sondern als Frau verkleiden«, sage ich sanft. »Und du wirst mir dabei helfen.«

»Ich?« Mama schnaubt. »Wie sollte ausgerechnet ich dir dabei helfen können? Ich weiß ja nicht, ob du’s vergessen hast, aber die Goldene Frau hat mir meine Magie genommen.«

Bei diesen Worten legt Mama eine Hand auf ihren Unterleib, eine unbewusste Geste, die ich an ihr schon öfter beobachtet habe und die mir jedes Mal einen Dolch ins Herz jagt. Schnell rede ich weiter.

»Meinst du nicht, dass ich an alles gedacht habe?«

»Ich denke, dass du den Verstand verloren hast«, schimpft Mama. »Ein Junge, der sich als Frau ausgibt, das habe ich ja noch nie gehört. Eine Frau mag sich als junger Mann ausgeben, ein Fräulein auch, ist ja nicht viel dabei, aber andersherum? Wie zu den Sieben Finsterhexen willst du das anstellen?«

Jetzt, da ich den ersten Schritt gemacht und Mama von meinem Vorhaben erzählt habe, spüre ich die Aufregung wie winzige Ameisen durch meine Adern krabbeln. »Es geht! Nur weil es noch keine gemacht hat, bedeutet das nicht, dass es unmöglich ist.« Ich grinse.

Mama schnappt nach Luft und will etwas sagen, aber ich fahre ihr schnell dazwischen. »Du hast doch selbst gesagt, dass meine Stimme noch nicht tief geworden ist. Das wird sich bald ändern. Und wenn ich erst mal im Stimmbruch bin, werde ich vielleicht auch einen riesigen Mannsstopfen bekommen, und den werde ich unmöglich verstecken können. Es muss also jetzt sein!«

Die Vorstellung, wie ich magerer Bursche mit einem übergroßen Mannsstopfen aussehen würde, entlockt uns beiden ein Lächeln. Dann werde ich wieder ernst.

»Mama«, ich gehe zu ihr hin und strecke meine Hand nach ihr aus. Ihre Miene wird weich, als sie sie nimmt. »Ich habe an alles gedacht, ehrlich. Ich werde mir so ein Oberteilding für untendrunter nähen, das ich mit zehn Kilo Wolle vollstopfe.«

»Besser nur mit einem Kilo, du bist zu zierlich für Riesenhupen«, kommentiert Mama trocken. »Außerdem ist Watte das völlig falsche Material, viel zu leicht und viel zu weich.«

In diesem Moment weiß ich, dass ich sie auf meiner Seite habe.

»Alles klar, wir können ja verschiedene Sachen ausprobieren«, sage ich eifrig. »Außerdem brauche ich Unterhosen aus steifem Leder, um …«

»… gewisse Formen zu verbergen, schon klar.« Mama seufzt. »Das alles ist ja gut und schön, Kolja, und ich denke auch, dass wir das äußerlich hinbekommen könnten. Vor vielen Jahren habe ich mal eine Aufführung im Fleet Theater in Hamburg gesehen. Ohne die gelben Stirnbänder, die als Frau verkleidete Männer laut dem Goldenen Gesetz tragen müssen, hätte ich so manchen Schauspieler dem weiblichen Geschlecht zugeordnet, machbar ist das also. Vor allem, solange du noch so ein junges, glattes Gesicht hast. Ich kann dir beibringen, wie eine Frau zu gehen: viel schwungvoller und energischer! Dass du im Großen Moldawischen Reich aufgewachsen bist, könnte dir zum Vorteil gereichen: Tief in deinem Inneren hältst du immer noch die Männer für das herrschende Geschlecht und bist daher nicht so zurückhaltend und sanft wie es sich eigentlich für einen Mann gehört. Ich kann dich lehren, dich zu verstellen, ein Lügennetz zu entwerfen, ohne dich darin zu verfangen. Ich kann dir beibringen, einer Folter zu widerstehen oder selbst eine Befragung durchzuführen. Doch du kannst dich ohne Magie nicht dauerhaft als Frau ausgeben, das ist absolut unmöglich! Du kannst dich verkleiden und ich werde dir dabei helfen. Wenn du bereit bist, dieses Risiko einzugehen, um deinen Vater zu finden, ist es das Mindeste, dass ich alles tun werde, um dieses Risiko so klein wie möglich zu halten. Aber nie und nimmer wirst du dich über einen längeren Zeitraum als Frau ausgeben können. Denn was dir kein Mensch auf der Göttin Erdboden geben kann, ist Magie.«

Ich bin ganz ruhig. »Oh doch: Du kannst es.«

Großes Moldawisches Reich

Tagebuch – 25.01.2003

Ich wünschte, es würde endlich etwas passieren, worüber ich schreiben kann. Woraus ich eine Geschichte machen kann. Sonst muss ich mir einfach etwas ausdenken.

Ich hatte mal eine Lehrerin, die ich sehr gern hatte, Frau Viira. Sie kam nicht aus dem Großen Moldawischen Reich, sondern aus irgendeinem fremden Land. Sie hatte ein Buch aus ihrer Heimat mitgebracht, und auf dem Buchdeckel war eine wunderschöne Prinzessin mit langen goldenen Haaren abgebildet, ihr kostbares Kleid war von demselben Grün wie ihre Augen. Weil sie lächelte, sah man ihre weißen Zähne. Sie trug goldenen Schmuck und sah unfassbar glücklich aus. Hinter ihr standen ihre Eltern, König und Königin eines reichen Landes. Beide hatten jeweils eine Hand auf die Schulter der Prinzessin gelegt und schauten lächelnd auf ihre Tochter herunter.

Frau Viira hütete dieses Buch wie ihren Augapfel, und keine von uns durfte darin lesen. Die anderen nahmen das einfach so hin, aber ich fragte mich, warum sie das Buch dann überhaupt mit in die Schule gebracht hatte. Aus Angst, dass ihr Mann es ihr sonst wegnehmen würde? Bis zu dem Tag hatte ich lesen immer langweilig gefunden, aber jetzt wollte ich unbedingt wissen, was in dem geheimnisvollen Buch stand.

Ich wurde die beste Leserin der Klasse und nervte Frau Viira so lange, bis sie nachgab und mir erlaubte, jeden Tag ein wenig unter ihrer Aufsicht in dem Buch zu lesen.

Die Geschichte begann mit der Geburt der Prinzessin. Niemand schämte sich dafür, dass sie nur ein Mädchen war, im Gegenteil, sie war für das Königreich besonders kostbar, weil alle Prinzen und Helden sie heiraten wollten und sich der König somit einen Verbündeten verschaffen konnte. Der Geburtstag der Prinzessin wurde sogar zum landesweiten Feiertag erklärt.

Kein Wunder, dass meine Lehrerin dieses Buch in der Schule versteckt hielt! Allein dass es Menschen gibt, die ein Mädchen als so kostbar ansehen, verschlug mir die Sprache. Nicht, dass ich da vorher groß drüber nachgedacht hätte, aber irgendwie war ich immer davon ausgegangen, dass es überall auf der Welt so wäre wie bei uns. Außer natürlich im finsteren Hexenreich jenseits der Mauer.

Was habe ich dieses Buch geliebt! Jeden Tag sehnte ich die letzte Schulstunde herbei, in der ich, sofern ich mich benommen und alle Aufgaben gewissenhaft erledigt hatte, weiterlesen durfte. Im Nachhinein ist die Geschichte der schönen Prinzessin schnell erzählt, aber damals kam es mir vor wie eine Ewigkeit. Die Prinzessin wuchs heran und lernte nach und nach all die Dinge, die von einer Prinzessin erwartet wurden. Dann kam der Tag, an dem ein böser Zauberer die Königin tötete und das Königreich mit einem furchtbaren Fluch belegte: Keine Frucht und keine Pflanze, keine Beere und keine Wurzel, kein Fleisch und kein Getreide, kein Vogel und kein Fisch im gesamten Königreich sollte fortan die Menschen sättigen können. Der böse Zauberer hatte es natürlich auf den Thron abgesehen, dazu forderte er die Hand der Königstochter. Der König weigerte sich, denn er wollte sein Volk nicht einem grausamen Herrscher überlassen. Genauso wenig aber wollte er es hungern lassen. Also verkündete er, dass derjenige seine Tochter heiraten und das Land erben würde, der den bösen Fluch brechen und den Zauberer besiegen würde.

Angetan von der Schönheit und Tugendhaftigkeit der Prinzessin wagten sich viele Helden in den Kampf, aber alle scheiterten. Dann trat ein Krieger aus einem fernen Land vor den König und seine Tochter. Er sah die Prinzessin, und als er die Farbe ihrer Zähne mit Milch und die ihrer Haare mit Honig verglich, kam ihm der rettende Gedanke: Der böse Zauberer hatte nämlich vergessen, Milch und Honig ebenfalls zu verfluchen. Mithilfe der Kuhbauern, Ziegenhirten und Imker gelang es dem Krieger nicht nur die Menschen vor dem Verhungern zu retten, sondern auch die Soldaten des Königs so weit zu stärken, dass sie mit ihm an der Spitze den bösen Zauberer schließlich in einer großen Schlacht besiegen konnten.

Der Krieger bekam die Prinzessin zur Frau, wurde fortan »der Honigprinz« genannt und sollte nach dem Tod des Königs über das Land herrschen.

Und die Königstochter? Die wurde zur »Milchprinzessin« und hatte nach der Hochzeit nichts weiter zu tun, als Kinder zu bekommen, um die Thronfolge zu sichern. Das tat sie dann auch und das Buch endete damit, dass sie einen Sohn zur Welt brachte.

Am Ende war also auch die hübsche Prinzessin nichts weiter als eine ganz gewöhnliche Frau, die ihrem Gatten gefälligst ein Kind nach dem anderen zu gebären hatte, am besten natürlich Söhne. Dabei hätte sie ihr Leben im Gegensatz zu mir doch so einfach selbst in die Hand nehmen können! Sie hätte weglaufen können. Ihren Schmuck verkaufen und sich woanders ein Leben aufbauen. Oder sie hätte sich selbst etwas einfallen lassen können, um gegen den Zauberer zu kämpfen. All die Jahre, in denen sie Unterricht bekommen hatte – wozu? Wenn ihr dann doch nichts einfiel! Sie hätte sich auch zum Schein dem Zauberer ausliefern und ihn dann in der Hochzeitsnacht umbringen können, so hätte ich es gemacht. Aber nein. Sie saß einfach nur da mit ihrer Schönheit und in ihren kostbaren Kleidern, als wäre sie eine Puppe, sie saß da und lächelte und wartete, bis der König einen Mann fand, der das Königreich rettete und sie bis an ihr Lebensende schwängern würde. Sie würde ein Kind nach dem anderen bekommen, bis ihr alle Zähne und Haare herausgefallen wären und sie alt und verschrumpelt auf den Tod warten würde, wenn sie nicht schon vorher im Kindbett gestorben wäre.

Ich habe das Buch zerrissen. Meine Lehrerin war entsetzt. Es war ihr letztes Erinnerungsstück an ihre Heimat gewesen. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie die zerrissenen Seiten an sich drückte, aber schließlich lächelte sie und verzieh mir. Von dem Tag an habe ich sie verachtet, denn sie war genauso wie die Prinzessin in ihrem Buch, sie lächelte und tat nichts.

Goldenes Reich

Kapitel 2

Mama erstarrt. »Was?«

»Das heißt nicht ›Was?‹, sondern ›Wie bitte?‹«, grinse ich, doch Mama sieht nicht so aus, als hätte sie derzeit viel Humor.

»Ich meine das ernst«, füge ich schnell hinzu. »Du wirst mir die Magie beschaffen, die ich benötige, um mich als Frau auszugeben.«

»Und wie soll ich das anstellen, Herr Oberschlau? Soll ich als nächstes Fische auf Bäumen wachsen lassen, die Jahreszeiten umkehren und – wenn ich schon dabei bin – mir die Zweite der Goldenen Garde, die schöne Heidrun, ins Bett zaubern?«

Wann immer eine Mama auf ihre Vergangenheit anspricht, wird sie bestenfalls einsilbig. Es gibt Wunden, an denen besser keine rührt. Und so wie sie respektiert, dass ich so selten wie möglich über Ada, die Frau, die mich geboren, vor dreieinhalb Jahren von zu Hause weggebracht und zusammen mit meinem Vater im Stich gelassen hat, reden möchte, akzeptiere ich, nicht über unsere Zeit bei Adrian und seinen Leuten zu sprechen. Doch jetzt muss es sein. »Erinnerst du dich an Frenjas Anhänger?«

Mama zieht zischend die Luft ein. Allein Frenjas Namen zu nennen fühlt sich an, als würde ich eine Frau mit Luftmagie provozieren: Ein falscher Wimpernschlag jetzt, und mir werden eine Menge Dinge um die Ohren fliegen! Auch für mich ist es nicht einfach: Immerhin ist Frenja durch meine Hand gestorben.

Wir waren damals von Glenna und Gero gefangen genommen worden und Mama hatte es irgendwie geschafft, sich für uns eine glaubwürdige Tarnung auszudenken. Hätten die Aufständischen nämlich gewusst, dass Mama Zweite der Ostgarde war, hätten sie sie sofort getötet. Als Mama von Frenja durchschaut wurde, kam es zum Kampf. Frenja gewann und wollte Mama töten. Mit dem Mut der Verzweiflung stieß ich mit meinem Messer nach der Rebellin und traf sie in den Hals. Ich weiß bis heute nicht, wie ich das geschafft habe. Ich war noch so jung, dazu halb wahnsinnig vor Angst. Ich kann nicht sagen, dass es mir leidtut. Es war Notwehr. Dennoch wache ich selbst heute noch ab und zu auf, das Herz klamm vor Angst und vor meinem inneren Auge das schmerzverzerrte, blutige Gesicht der einst so lebensfrohen Rebellin. Schnell rede ich weiter.

»Du weißt, dass es geht, Mama, du hast es getan! Es ist möglich, die Magie einer Frau zu speichern und von einer anderen benutzen zu lassen. Also warum sollte das nicht auch mir möglich sein?«

Mama hatte Frenja nach ihrem Tod eine Kette mit einem ganz besonderen Anhänger, einem Netz aus reinem Silber mit einem Stein darin, abgenommen, nicht wissend, damit die mächtigste Waffe der Rebellion gegen die Hexenherrschaft in den Händen zu halten. Erst später entdeckte sie, dass der Stein in dem Anhänger in der Lage war, Magie aufzunehmen und zu speichern. Jede Frau kann Magie aus dem Stein ziehen, sofern sie darauf achtet, dass diese nicht in ihrer Beschaffenheit zu widersprüchlich zu ihrer eigenen steht. Mama, die einst über eine sehr mächtige Eismagie verfügt hatte, hatte diese Lektion auf die harte Weise gelernt, als sie sich bei dem Versuch, sich einer Amphibienmagie zu bedienen, fast selbst vergiftet hätte. Da ich als Junge über gar keine eigene Magie verfüge, mache ich mir in dieser Hinsicht allerdings keine Sorgen.

»Du weißt ja nicht, was du da redest«, herrscht Mama mich an. »Allein sich als Frau zu verkleiden, wird mit dem Tod bestraft. Aber nein, das reicht meinem lieben Sohn ja nicht. Er muss ja noch eins draufsetzen und sich in Dinge einmischen, die unsere gesamte Familie zerstören könnten. Allein das Wissen darum, was es mit Frenjas Anhängern auf sich hat«, der Schmerz in ihrem Gesicht lässt mich zusammenzucken, »hat mich meine Magie gekostet.«

Ich nicke. »Trotzdem. Ich muss es einfach versuchen.«

Mama dreht sich zu mir um, die Hände zu Fäusten geballt und rot im Gesicht. »Dir ist aber schon klar, dass sie mich nur hat leben lassen, weil die Goldene Frau der Ansicht ist, dies sei die größere Strafe für mich und dass sie mich für immer gebrochen hätte?« Mamas Stimme ist gefährlich leise. »Und dir ist auch klar, dass sie wegen dieser Sache, wegen dieses einen Anhängers, ein ganzes verdammtes Dorf ausgerottet hat?«

»Was soll ich denn sonst tun, Mama?« Ich stehe auf. Zornestränen schießen mir in die Augen. »Was verdammt nochmal soll ich denn tun? Ich bin hier in diesem verfluchten, beschissenen Goldenen Reich gefangen, in dem ich ein Nichts bin! Hier gelte ich als Junge einen Dreck! Meine Zukunft? Lass mich raten: Die Minen oder ein Bauernhof. Oh, oder ich gehe in die Hauptstadt und lasse mich als Kanonenfutter ausbilden, dann können sie mich in die erste Reihe stellen, wenn wieder mal wer mit Schusswaffen daherkommt. Weißt du was? Ist mir egal, ist mir alles egal. Oder auch nicht. Immerhin hast du mir viel beigebracht. Sagst doch selbst immer, was ich für ein helles Köpfchen bin. Nur habe ich da leider nichts von, nicht wahr? Weil ich ein Mann bin und zu nichts tauge als zu Drecksarbeit, vor anderen zu buckeln oder meiner Zukünftigen die Kinder großzuziehen. Denkst du, so habe ich mir mein Leben vorgestellt? Ich bin woanders aufgewachsen, weißt du? Drüben, im ach so bösen Patriarchat des Großen Moldawischen Reiches. Aber da war ich wer! Scheiß auf die Magie und scheiß auf alles, aber da bin ich wer gewesen! Der ganze Stolz meines Vaters, das war ich! Mein Großvater, meine Onkel, alle haben in mir etwas Besonderes gesehen, das zukünftige Familienoberhaupt. Und nicht bloß ein unnützes Maul mehr, das es zu füttern gilt. Aber das alles ist mir scheißegal, verstehst du das, wenn ich dafür nur meinen Papa wiederbekomme!«

Ich muss Luft holen und mache den Fehler, Mama dabei anzuschauen. Sie ist kreidebleich und starrt mich entsetzt an.

»So also siehst du dein Leben hier?«, flüstert sie. Eine Stimme in mir mahnt mich, meine harschen Worte zurückzunehmen, doch auf einmal möchte ich ihr einfach nur noch wehtun.

»Ja, genauso sehe ich es!« Ich drehe mich um und stürme aus der Küche.

Als Mama einige Zeit später zu mir kommt, habe ich mich längst beruhigt. Ich sitze an unserem Lieblingsplatz, draußen am Abhang, und starre hinaus auf die bewaldeten Berge, grübele über die Geheimnisse, die sie verbergen und die Menschen, die in ihnen Zuflucht suchen. Zum Beispiel Adrian. Ich verstehe bis heute nicht, warum Mama und ich nicht mit ihm gegangen sind, als er sie darum gebeten hat. Adrians vorherige Partnerin Mirja war tot, aber das spielte auch keine Rolle, denn er hätte sich sowieso von ihr getrennt, um mit Mama zusammen zu sein. Das hatte Adrian gesagt und keine, die ihn kennt, würde auch nur eine Sekunde lang an seiner Aufrichtigkeit zweifeln. Nicht mal Mama konnte das, nicht zuletzt, weil sie Adrians Worte mit Hilfe der Magie einer Lügenleserin auf die Probe gestellt hatte. Dennoch hatte sie ihn ziehen lassen.

»Hast du schon mal Frauen beobachtet? So richtig aufmerksam?« Mama setzt sich neben mich und schaut ebenfalls in die Ferne. Ihre Stimme ist leise und wiegt sich im Wind. »Wenn sie frisch erweckt sind und dann später, wenn sie sich an ihre Magie gewöhnt haben – was ist dir aufgefallen?«

Ich weiß, dass sie von mir keine Antwort erwartet. Noch nicht.

»Sie verwenden für jede Kleinigkeit Magie«, fährt Mama fort. Noch immer sieht sie mich nicht an, aber sie rückt dichter an mich heran, sodass sich unsere Arme fast berühren. Auch ich rutsche ein Stück näher und als zwischen uns Körperkontakt besteht, höre ich Mama erleichtert seufzen. Plötzlich schäme ich mich. Warum muss ich immer so aufbrausend sein, warum immer so wütend? Ich hebe an, etwas zu sagen, aber Mama redet schnell weiter. Helena von Smaleberg regelt die Dinge lieber jetzt und sofort. Als sie fortfährt, ist ihre Stimme weich und ich weiß, dass sie meine wortlose Bitte um Entschuldigung angenommen hat.

»Ab einem gewissen Aufwand wird keine Frau etwas so verrichten, wie du es gewohnt bist«, erklärt Mama, beugt sich vor und zupft ein Haar von ihrer Hose. »Selbst dieses Haar hätte ich mit meiner Magie aus der Handgelenkbewegung heraus weggewischt, verstehst du? Das ist eine Selbstverständlichkeit, die dir in Fleisch und Blut übergehen muss!«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß. Aber ich werde vorgeben, grade erst erweckt worden zu sein.«

Mama lächelt. »So wird sich keine etwas dabei denken, wenn du mal vergisst, Magie zu benutzen, sehr gut. Aber vergiss nie, dass ein Mädchen, das zur Frau geworden ist, so oft wie nur irgend möglich ihre Magie benutzen möchte, sie ist ganz wild darauf!«

»Oh ja!« Ich verziehe das Gesicht. Es ist nicht nötig, Mama davon zu erzählen, aber ich durfte schon oft genug für die jungen Frauen im Dorf als Versuchsobjekt ihrer frisch erweckten Fähigkeiten herhalten. Zweifelsohne – Großmutter hin oder her – hätte Mama die jungen Frauen zur Rede gestellt, wenn sie davon erfahren hätte. Früher hätte es keine gewagt einen Sohn der Helena von Smaleberg, Zweite der Ostgarde, zu triezen, aber die Zeiten haben sich geändert. Ich hatte einfach Angst, dass die jungen Frauen nicht davor zurückschrecken würden, Mama mit Magie anzugreifen, sollte sie versuchen, diese blöden Kühe um meinetwillen übers Knie zu legen. Also hatte ich nichts gesagt.

»Das kann ich mir gut vorstellen.«

Mama lacht. Dann wird sie wieder ernst und trommelt mit den Fingern auf die angezogenen Knie. Das tut sie oft, wenn wir über Magie reden. »Wenn es wirklich klappt, dass du Magie benutzen kannst – und ich sage nicht, dass es klappt, ich ziehe nur die Möglichkeit in Betracht, auch wenn es sich noch so verrückt anhört – dann wirst du sie ständig benutzen müssen. Es gibt viele Anwendungsmöglichkeiten der Magie, die auch Kindern, Fräulein und Männern auffallen. Aber ebenso gibt es unzählige, die ihr gar nicht bemerkt, weil ihr nicht von ihnen wisst.«

»Zum Beispiel?«

Mama überlegt kurz. »Die Sprache. Es ist für eine Frau selbstverständlich, reines Hochdeutsch zu sprechen.«

Ich gönne mir ein zufriedenes Grinsen. »Das kann ich auch ohne Magie!«, doch Mama schüttelt den Kopf. »Nicht akzentfrei. Eine Frau spricht immer und überall und in jeder Sprache ohne einen Akzent. Zumindest außerhalb ihrer magiefreien Tage.«

Neugierig schaue ich sie von der Seite an. »Und wie macht ihr das?«

Schulterzucken. »Du lenkst deine Magie in deine Stimme, deinen Kopf, deinen Hals … dein Ich. Und gehst dann mit dem, was du sagen willst, einfach auf die Linie deiner Gesprächspartnerin. Auf die Schwingung und Farbe ihrer Worte. Ach, keine Ahnung. Du machst es halt. Und sprichst dann ihre Sprache. Irgendwie und ganz instinktiv, verstehst du? So wie atmen.«

Mama seufzt, streckt die Beine und lässt sich nach hinten in das kühle, nasse Gras sinken. Sie verschränkt die Arme hinter dem Nacken und starrt in den Himmel. »Und wenn du auf eine triffst, die eine andere Sprache spricht, dann ist das so, als würdest du rennen, du atmest zwar weiter, aber anders. Schneller. Ach Göttin, ich kann es nicht besser beschreiben.«

Einen kurzen Moment wird mir klamm in der Brust. Mama hat recht: Ich habe eine ganze Menge zu lernen, sollte das mit der Magie hinhauen. Falls.

Ein anderer Gedanke drängt sich mir über die Zunge. »Mama, mal ernsthaft: Bist du eigentlich nie auf die Idee gekommen, dir auf diese Art das wiederzuholen, was sie dir genommen haben? Du weißt, dass du dir aus Gegenständen Magie nehmen kannst. Hast du nie darüber nachgedacht?«

Ruckartig setzt sich Mama wieder auf. »Ich wäre mein Leben lang auf andere Frauen angewiesen.«

»Bist du’s jetzt nicht?« Das wollte ich nicht sagen, aber es stimmt: Ohne das Geld, das uns verwandte Frauen von Mama aus allen Teilen des Reiches monatlich zukommen lassen, kämen wir nicht über die Runden.

»Vielleicht. Die Göttin weiß, ich würde einen Weg finden, uns auch so zu ernähren.«

»Ich weiß«, grinse ich. »Zur Not würdest du uns alle mit deiner bloßen Sturheit ernähren!«

Ich tauche nicht schnell genug zur Seite weg, und Mamas sanfter Watschen trifft mich hinterm Ohr. »Aua.«

»Stell dich nicht so an.« Wieder seufzt Mama, aber dieses Mal klingt es anders. Schicksalsergeben, aber auch irgendwie aufgeregt. »Also schön, ich werde dir helfen. Ich habe eine alte Bekannte in Annaburg, Irene Tamarasra, die mir noch einen ziemlich großen Gefallen schuldet; dort könntest du wohnen. Und wegen allem anderen … Versprechen kann ich nichts, aber ich werde Kontakt mit deinem Onkel Richard herstellen, er soll ein Treffen mit Adrian Samo vereinbaren.«

Irre ich mich, oder zittert Mamas Stimme beim Gedanken daran, Adrian wiederzusehen?

Mama steht auf und schaut mich ernst an. »Eine Sache musst du dir unbedingt merken, mein Sohn. Es wird einmal die Zeit kommen, zu der du dich entscheiden musst, was für dich wichtiger ist: Die Vergangenheit und alles, was dir passiert ist, oder die Zukunft und der Mensch, der du einmal sein willst. Vergiss das bitte nie, Mojserce. Das ist der beste Rat, den ich dir geben kann.«

Sie dreht sich um und lässt mich allein und nachdenklich zurück. Der Wind wird stärker, und erste Tropfen zerplatzen auf meinen von Gänsehaut überzogenen Unterarmen. Ich lege den Kopf in den Nacken und beobachte, wie immer mehr dunkle Wolken über das Tal getrieben werden. Ein Sturm wird über mich hereinbrechen, ich spüre es genau. Und ich werde derjenige sein, der ihn gerufen hat.

Ich strecke meine Hand aus. Ich weiß, dass es anders ist, anders gewesen sein muss, aber ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem daraufhin nicht Mamas Hand die meine genommen und festgehalten hätte. Vor uns steht ihr Bruder, Onkel Richard. Er hat sich schon vor vielen Jahren einer Gruppe Aufständischer – nicht Adrians, sondern einer anderen – angeschlossen und wird seither von den Garden gesucht. Ich kenne ihn kaum, habe ihn seit ich in Smaleberg lebe nur ein paar Mal getroffen. Immer nur nachts, immer nur heimlich und unter Wahrung sämtlicher Vorsichtsmaßnahmen. Nicht an hohen Feiertagen, nicht zu Selyms oder Kires Geburtstagen. Das wäre ja auch zu einfach gewesen, welcher Vater wäre nicht gern an so einem Freudentag dabei? Wobei es sich beim Tag von Kires Geburt auch um den Tag handelt, an dem Onkel Richard seine Frau Jessica verloren hat.

Auf jeden Fall unterlagen seine seltenen Besuche immer der strengsten Geheimhaltung. Seit einiger Zeit kann er nicht mal mehr seine ältere Tochter Selym besuchen, die mit ihren dreieinhalb Jahren zwar mittlerweile wunderbar plappern, aber leider kein Geheimnis für sich behalten kann. Mama sagt, dass es sein kann, dass er auch Kire demnächst für ein paar Jahre nur noch dann besuchen kann, wenn sie schläft. Und dass es nicht das Schlimmste auf der Göttin Erdboden sei, sich die kleinen Quälgeister nur im Schlaf anschauen zu müssen. Auch wenn es gemein ist das zu sagen, glaube ich sowieso nicht, dass die beiden ihren Vater groß vermissen. Sie kennen es ja nicht anders: Richard hatte die hochschwangere Jessica damals zur Entbindung zu seiner Familie gebracht – und sie war geblieben. Ein Leben auf der Flucht ist nichts für ein Baby, hatten sie schweren Herzens entschieden.

»Sie müssten bald hier sein, Lena«, sagt Onkel Richard, ohne den Kopf zu bewegen.

Mama nickt knapp. Erst jetzt, da nicht wie sonst Oma Rina, Opa Ernst oder Mamu dabei sind, fällt mir auf, wie wenig die beiden miteinander sprechen. Seltsam.

Mama seufzt, dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, wenden sie und Onkel Richard ihre Köpfe nach rechts. Ich lausche angestrengt, aber da ist nichts. Dennoch treten einen Moment später vier Menschen aus dem dichten Gebüsch.

»Adrian!«, schreie ich glücklich und renne auf den Anführer zu. Er schließt mich in seine starken Arme, die genau wie früher nach Moos, Erde, Tannennadeln und etwas Unbestimmtem riechen, und wuschelt mir dann über den Kopf. »Kolja, wie schön, dich zu sehen! Göttin, bist du groß geworden!«

Wenn mich die alten Tratschkerle in der Stadt damit nerven, ist das so eine Sache; Adrian dagegen hat mich jetzt seit über zwei Jahren nicht gesehen. Und überhaupt: Er dürfte mir das jeden Tag sagen!

Ich drehe mich ein bisschen in seinen Armen und beobachte Mama. Wie zu erwarten, hat sie ihren grimmigen Blick aufgesetzt: Sie beißt die Zähne so fest zusammen, dass ihre Kiefermuskeln vortreten und ich könnte schwören, dass sie exakt einen Zentimeter an Adrian vorbeischaut. So schaut sie auch Oma Rina an, wenn sie wütend auf sie ist, aber nichts sagen will.

»Hallo Helena!« Eine freundlich lächelnde Rebellin – ob Frau oder nicht, kann ich noch nicht sagen – löst sich aus der Gruppe und geht auf Mama zu. Es folgt eine herzliche Umarmung, der sich kurz darauf eine weitere Rebellin anschließt.

»Simone Brunhildsdother und Marzena Mariolanka!« Mama ist sichtlich gerührt. »Ihr seht großartig aus. Es tut so gut, euch wiederzusehen!«

Jetzt, da ich ihre Namen gehört habe, erinnere ich mich wieder an die beiden Frauen: Simone lernte ich als Teil von Adrians Gruppe kennen. Marzena hatte wie Mama einst zur Ostgarde gehört und hatte ihr geholfen, Adrian, Simone und die anderen zu befreien, um sie vor einer ungerechtfertigten Hinrichtung zu bewahren. Dafür war Marzena selbstverständlich von der Goldenen Frau verstoßen und für vogelfrei erklärt worden. Obschon keine Verräterin im klassischen Sinne, scheint sie sich an ihr Leben auf der Flucht gewöhnt zu haben.

»Nun mach mal halblang«, lacht Marzena. »So lange ist das nun auch wieder nicht her.«

Mamas Blick wird düster. »Zwei Jahre und –«

»Helena.« Wie immer ist Adrians Stimme eher sanft als fordernd. Was nicht heißen soll, dass sich keine Klinge darin verbirgt.

»Ja bitte?«

»Hör auf.«

Und Mama hört auf, ich fasse es nicht.

»Hätte ich vorher gewusst, dass es so einfach ist, dass du die Klappe hältst …«, grummelt der jüngere Rebell, der bislang geschwiegen hat.

»Corey! Wie schön dich zu sehen!« Mamas Stimme ist so süß wie Honig. Mich schaudert. »Hätte ich gewusst, dass du hier bist, hätte ich mir doch glatt ein Blümchenkleid angezogen und mir eine Rose ins Haar gesteckt.«

Corey fletscht die Zähne, Mama lacht.

»Lass das, Corey.« Dieses Mal höre ich deutlich, welche Macht Adrian über die anderen hat: Sein Wort ist Gesetz, da kann Corey noch so sehr die Hände zu Fäusten ballen.

»Und du, Lena, bleib gefälligst friedlich«, lacht Marzena und versetzt Mama einen freundlichen, aber nicht besonders sanften Hieb.

»Aua!« Mama reibt sich die Schulter. Dann zieht sie ihre Stirn kraus. »Seit wann haust du denn wie ein Junge?«

Marzenas Lächeln verblasst kurz, sie sieht zu ihrer Gefährtin Simone.

»Ach Lena…« Die Frau zuckt mit den Schultern. »Du weißt doch, wie das bei uns ist, hast ja immerhin selbst eine Weile bei der Bande gewohnt.«

»Unfreiwillig.«

»Naja, wir auch.« Marzena grinst breit. »Da du ja unbedingt die Goldene Frau verärgern musstest und die schöne Heidrun gleich mit, weil du vor ihrer Nase Gefangene befreit hast, blieb mir ja nichts anderes übrig als zu fliehen. Und wo hätte ich sonst auch hingesollt?«

»Jaja, schon gut«, wiegelt Mama ab. »Ist schon klar. Und weiter?«

Ihre ehemalige Gardeschwester verdreht die Augen. »Als ob du das nicht wüsstest! Solange Magie allein Frauen vorbehalten ist, bemühen sich Adrians Leute, alle Arbeiten möglichst gleich zu verrichten. Daher verzichten die meisten Frauen da­rauf, Magie zu benutzen, und das hat eben irgendwann auf mich abgefärbt.«

»So ein Blödsinn!« Mama schnaubt. »Heißt das etwa auch, dass sich muskulöse Männer extra schwach anstellen und schwerere Lasten mit Absicht zu zweit oder zu dritt tragen, obwohl sie es auch allein könnten?«

»Nein, natürlich nicht, das wäre ja …«

»Blödsinn, sag ich doch!«

Da ich mit dem Rücken zu Adrian stehe, kann ich sein Lächeln nicht sehen, wohl aber spüren. Obschon ich damals noch kein Deutsch konnte, habe ich mitbekommen, wie oft er und Mama sich unterhalten haben. Und auch, dass diese Gespräche dem Tonfall nach eher den Charakter von spielerischen Wortgefechten hatten. Adrian schätzt Mama also noch immer auf eine Weise, die mich hoffen lässt. Vielleicht …

»Wie dem auch sei.« Mama seufzt betont theatralisch. »Wenn du meinst, wie ein Junge hauen zu müssen, dann mach du mal. Aber dann beschwer dich hinterher nicht, wenn du dann ordentlich was auf die Nase bekommst.«

»Na, von dir ja wohl nicht, Großmutter!«

»Corey!« Adrian schiebt mich zur Seite und geht einen Schritt auf den Rebell zu. Sofort senkt dieser den Kopf, nuschelt eine Bitte um Entschuldigung. Adrian schüttelt den Kopf. Ich kann seine Wut deutlich spüren, und obwohl er wieder nur mit dem Rücken zu mir steht, weiß ich ganz genau, wie seine Augen jetzt aussehen: Fahlgrün und dumpf. Manchmal, wenn Mama wieder einen ihrer bösen Träume hat, fleht sie die Göttin an, wieder die goldenen Funken in Adrians Augen zu schicken.

Der Schockmoment ob Coreys Äußerung ist vorüber, Simone, Marzena und Richard schicken sich gleichzeitig an, etwas zu sagen, aber Mama bedeutet ihnen mit einer Geste zu schweigen.

»Ja, ich bin eine Großmutter, daran gibt es nichts zu beschönigen.« Das Lächeln, das sie Corey schickt, erinnert mich daran, wie sie einst mit all ihrer Eismagie gegen die Rebellin Frenja gekämpft hat. »Ausgeweidet auf Anordnung der Goldenen Frau höchstpersönlich. Weil ich euch geholfen habe zu fliehen. Jede hier weiß das, Corey-Schätzchen, ich werde nie wieder über Magie verfügen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich mir deine Frechheiten gefallen lassen muss. Und wenn du noch so viel mit deinen Freunden über die angebliche Gleichwertigkeit der Geschlechter faselst, in meinen Augen bist du nichts weiter als ein schwacher, kleiner Mann und ob mit oder ohne Magie, stehe ich nach dem Willen der Göttin über dir. Also noch so eine Frechheit, Schnuckie, und ich zeige dir, dass ich einen Mann auch ohne Magie in seine Schranken zu weisen weiß!«