Hidden Enemy - T. Jefferson Parker - E-Book
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Hidden Enemy E-Book

T. Jefferson Parker

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Beschreibung

Sie singt von Frieden und Hoffnung – und wird brutal entführt … Chuck Frye, kalifornische Surflegende und schwarzes Schaf einer wohlhabenden Immobilien-Familie, lebt sorglos in den Tag hinein, immer auf der Jagd nach der perfekten Welle. Doch als seine Schwägerin, die vietnamesische Sängerin Li Frye, bei einem Konzert im Stadtteil »Little Saigon« von maskierten Angreifern mit roher Gewalt von der Bühne gerissen wird, beschließt er, sein Aussteigerleben zu pausieren. Er kann nicht tatenlos zusehen, wie die ahnungslose Polizei im Dunkeln tappt und seine Familie Li ihrem schrecklichen Schicksal überlässt. Noch weiß Chuck nicht, dass er sich auf eine gefährliche Mission aus Korruption und Gewalt begeben hat, die ihn bis in den undurchdringlichen Dschungel Vietnams führen wird ... Und dass er dort einem Geheimnis auf die Spur kommen wird, das tödlicher ist als jede Kugel.  »Parker schreibt präzise und bündig wie Raymond Chandler: Seine Bilder sitzen, die Dialoge sind clever, das Milieu ist stimmig bis ins letzte Detail.« – Kirkus Reviews Ein atmosphärischer, fesselnder und gut durchdachter Thriller im Kalifornien der 90er Jahre – für Fans von Michael Connelly und James Ellroy.

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Seitenzahl: 626

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Chuck Frye, kalifornische Surflegende und schwarzes Schaf einer wohlhabenden Immobilien-Familie, lebt sorglos in den Tag hinein, immer auf der Jagd nach der perfekten Welle. Doch als seine Schwägerin, die vietnamesische Sängerin Li Frye, bei einem Konzert im Stadtteil »Little Saigon« von maskierten Angreifern mit roher Gewalt von der Bühne gerissen wird, beschließt er, sein Aussteigerleben zu pausieren. Er kann nicht tatenlos zusehen, wie die ahnungslose Polizei im Dunkeln tappt und seine Familie Li ihrem schrecklichen Schicksal überlässt. Noch weiß Chuck nicht, dass er sich auf eine gefährliche Mission aus Korruption und Gewalt begeben hat, die ihn bis in den undurchdringlichen Dschungel Vietnams führen wird ... Und dass er dort einem Geheimnis auf die Spur kommen wird, das tödlicher ist als jede Kugel.

eBook-Neuausgabe August 2025

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1988 unter dem Originaltitel »Little Saigon« bei St. Martin’s Press, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1990 unter dem Titel »Die Saat des Drachen« im Wilhelm Goldmann Verlag, München.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1988 by T. Jefferson Parker

Copyright © der deutschen Erstausgabe Ausgabe 1990

by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Copyright © der  Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Pixel Park; AdobeStock/Textures & Patterns

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (ma)

 

ISBN 978-3-98952-990-8

 

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected] .

 

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T. Jefferson Parker

Hidden Enemy

Thriller

Aus dem Amerikanischen von W. M. Riegel

 

Für meinen Bruder Matt

Ob seines Endes schaudern die im Westen,

und die im Osten packt ein Graus.

Hiob 18

Kapitel 1

 

Chuck Frye, einstmals zweitbester Surfer von Laguna Beach, spähte durch die Windschutzscheibe, erblickte aber keine Sechs-Fuß-Wellen. Stattdessen sah er nichts als die Canyon Road, die aus der Dunkelheit auf ihn zuschoß und unter ihm mit ihren zittrigen gelben Streifen wegflog, während zu beiden Seiten die Eukalyptusbäume im Strahl seiner asymmetrischen Scheinwerfer vorüberhuschten.

Die Ereignisse der letzten achtundvierzig Stunden gingen ihm noch einmal durch den Sinn – Fragmente eines zügellosen Wochenendes, dessen Ausschweifungen eigentlich weit über die Grenzen des noch Vertretbaren hinausgegangen waren. Als niedliche kleine Orgie hatte es begonnen und bald alles Maß und Ziel verloren. Es war genau das gewesen, was er gesucht hatte. Höchste Zeit, dachte Frye jetzt, daß ich mich wieder zusammenreiße.

Er setzte sich steif auf und atmete tief und so kräftig ein, daß ihm fast schwindlig wurde. Wie viele motorisierte Seelen, überlegte er, sind auf dieser Straße hier wohl schon ihrem Schöpfer begegnet? Allein zu seinen Lebzeiten mußten es schon bald eine Million sein. Ganze Busse, die in Betonmischmaschinen krachten. Schnelle Sportwagen, die sich frontal ineinander bohrten. Motorradraser, die in solchem irren Tempo gegen Bäume oder Telefonmasten prallten, daß sie sich buchstäblich um sie wanden, während ihre Feuerstühle ihrem Namen Ehre machten und funkensprühend die Steilhänge hinabstürzten. Und immer das gleiche Ende: die orangefarbenen Körperumrißlinien, die die Polizei auf die Straße malte, um die Stelle zu markieren, wo die teuren Hingeschiedenen von dieser Welt abgehoben hatten.

Er blinkte voller Zerknirschung und bog nach links auf den Canyon Oaks Drive ab.

Sein alter Mercury rumpelte am Kinderhort und an einigen Läden vorbei, dann vorüber an den windschiefen kleinen Häusern, die sich in der Dunkelheit aneinanderdrängten. Der Mond und eine Straßenlaterne in der Ferne schienen auf verbeulte Autos, bizarre Werkstattbuden und schlaff durchhängende Wäscheleinen. Eine Katze lief durch drei verschieden dunkle Schattenstreifen und verschwand dann unter einem Lieferwagen. Eine Platanen-Baum- gruppe stand so müde da, als hätte sie Malaria, während neben ihr eine ganze Wand von Heckenrosen einen Duft ausströmte, der die Luft ringsum noch wärmer erscheinen ließ, als sie ohnehin schon war. Laguna Beach – Künstlerkolonie, Touristennepp, Versuch eines künstlichen Paradieses, eingezwängt zwischen Berg und Meer. Hippies in den sechziger, Kokain in den siebziger, Aids in den achtziger Jahren. Mit einem Wort, eine repräsentative Stadt am Strand von Südkalifornien.

Frye schnitt geschickt eine Haarnadelkurve an und trat aufs Gas. Sein Mercury schien auf der folgenden, schier senkrecht steilen Strecke direkt in den Himmel zu fahren, während die Nadeln auf den Instrumenten des Armaturenbretts wie wild rotierten und zitterten. Dann fielen die Sterne zurück an ihren gewohnten Platz; er war wieder in der Waagerechten; nur um Haaresbreite verfehlte er den Briefkasten, den er vor Monaten schon umgefahren hatte und der jetzt umgestürzt im Efeu vor seinem Höhlenhaus lag. Er arbeitete sich aus dem Auto heraus, zerrte die Post aus dem Kasten und ging zur Haustür. »Endlich zu Hause. Frye rein, Gäste raus.«

Das Höhlenhaus stand vor ihm wie ein dunkler Klumpen vor dunklem Himmel. Es war in den Berg im Westen über der Stadt hineingebaut. Während er nach seinem Schlüssel suchte, dachte er, wie stets, wieder an die verrückte Geschichte dieses Hauses und daran, wie er zu dieser Behausung gekommen war. Ein gewisser Skippy Sharp hatte einen Bauunternehmer beauftragt, in den Sandstein des Berges eine Höhle zu schlagen, die man bewohnen konnte. Aber als die Arbeiten erst zur Hälfte gediehen waren, ging Sharp das Geld aus. Trotzdem wohnte er ein paar Monate in dem Höhlenhaus, ehe er auf Nimmerwiedersehen nach Mexiko verschwand. Der Bauunternehmer beanspruchte es zunächst für sich selbst, bis Skippy Sharps Mutter das Geld aufbringen konnte. Seither hatte sie die Höhle nacheinander an einen Maler, einen Architekten, einen Fischzüchter, einen Kinderverführer, eine Krankenschwester und schließlich an den einstmals zweitbesten Surfer von Laguna Beach vermietet. Und nicht lange nach seinem Einzug erfuhr Frye, daß das ganze Grundstück von seinem eigenen Vater, dem ehrenwerten Edison Frye, aufgekauft worden war, der damit dieses Stückchen Land seinem riesigen Vermögen und der Firma Orange County Frye Ranch einverleibte. Mrs. Sharp verwaltete die Immobilie jedoch auch weiterhin. Ihre Hauptaufgabe sah sie vor allem darin, daß sie die Miete regelmäßig und mit Lust erhöhte. Frye war überzeugt, daß sie glaubte, sie könne ihren Wucher mit dem Vermögen seiner Familie rechtfertigen. Es war tatsächlich ein richtiges Höhlenhaus. Die hinteren Zimmer waren wenig mehr als dunkle, unregelmäßig behauene Räume. Wohn- und Schlafzimmer, Küche und Bad im vorderen Bereich hatten jedoch ordentliche Wände, Strom und einen völlig freien atemberaubend schönen Ausblick auf den Pazifik. Fryes Freunde pflegten zu sagen, das Höhlenhaus sei exakt wie er selbst: halbfertig und mit vielen dunklen Stellen im Hintergrund. Nun ja – jedenfalls war es jetzt sein Zuhause.

Er stand im Wohnraum und hatte wieder das Gefühl, als drehe sich der Fußboden unter ihm. Dieses Phänomen erklärte er sich selbst als Effekt der Erdrotation. Frye ging direkt zum automatischen Anrufbeantworter. Er hörte ihn in der Hoffnung, es möge sich Großes zugetragen haben, mit Hingabe ab.

Linda hatte angerufen. Sie hatte am Freitag die Klage eingereicht.

Dr. Redkens Büro benachrichtigte ihn, daß die Röntgenaufnahmen da waren.

Bill Antioch hatte sich aus dem MegaShop gemeldet. In Huntington Beach gab es ein Einladungsturnier für Surfer-Champions.

Der letzte Anruf war von Bennett. »Hoffentlich hast du die Geburtstagsgeschichte im Wind nicht vergessen. Li hat ein Lied für uns geschrieben. Also, Bruderherz, dann bis um zehn Uhr dort. Saigon Days – diese Bürgerparty – ist immer noch im Gange. Ich halte dir also einen Platz frei. Das ist heute, Sonntag! Falls du’s vergessen haben solltest.«

Frye wollte auf seine Armbanduhr sehen. Aber sie war nicht mehr da. Er suchte nach einem Lichtschalter, stolperte dabei über einen Stapel Lebensläufe, die er kopieren mußte, und warf dann einen Blick auf seinen MegaShop-Surfkalender. Er war beim Februar aufgeschlagen und zeigte noch immer das Foto von der riesigen Hawaii-Brandungswelle, die so perfekt war wie Jack Lords Haartolle. Der Bursche in Hollywood, der diesen wahren Hauptsendezeit-Stunt besetzt hatte, mußte ein Genie sein. Frye blätterte zum August und vergewisserte sich, daß heute tatsächlich Sonntag war – Bennetts Geburtstag. Und seiner natürlich auch.

Er sammelte seine Lebensläufe zusammen. Würde die Register sich vielleicht melden? Die Times hatte ihn schon abgelehnt. Wegen Mangels von fünf Jahren Berufserfahrung als Nachrichtenreporter. Er hatte einen Lebenslauf samt flottem Begleitbrief an sämtliche Zeitungen in bequem erreichbarem Umkreis geschickt, aber er haßte das Schreiben von Bewerbungen wie die Pest.

Er kochte sich Kaffee, goß etwas Milch dazu und ging hinaus. Etwas Feierstimmung war immerhin angebracht. Es war schließlich sein dreiunddreißigster Geburtstag. Er öffnete das Kabriodach und fuhr los. Nach Little Saigon.

 

Von der Laguna Canyon Road bog er zum San Diego Freeway ab. Es war noch immer eine warme Sommernacht voller Gerüche, nach Blumen, Orangen und Smog.

Er dachte an Linda und die Klage am Freitag. Er versuchte die Gedanken zu verdrängen, indem er die Radionachrichten hörte und sich noch einmal Szenen dieses Wochenend-Bacchanals vergegenwärtigte. Seine Ehe hatte fünf Jahre gedauert. Das Ende war fast wie ein freier Fall gewesen. Er vermutete, daß er ein solches Ende herausgefordert hatte. Linda, ich kann jetzt nicht an dich denken, Schatz.

Stattdessen dachte er an seine Familie: Bennett Mark Frye, Leutnant a. D., 3. Zug, Kompanie C, 1. Bataillon, 3. Marines. Bennett hatte seine Knochen hingehalten und sein Blut gegeben, in Dong Zu, nördlich von Saigon, hatte den Volltreffereinschlag einer Bouncing Betty überlebt und war verwundet und dekoriert in die Staaten zurückgekehrt. Bennett war achtunddreißig, auf den Tag genau fünf Jahre älter als er. Manchmal sah es so aus, als sei dieser gemeinsame Geburtstag auch schon alles, was sie gemeinsam hatten. Bennett war in seiner ganzen Erscheinung klein und dicklich; er, Chuck, war erheblich größer und schlank. Bennett war dunkelhaarig, er blond. Bennett war allseits beliebt, eine Führernatur; er, Chuck, war zurückhaltend und hatte oft genug Probleme, mit sich selbst zurechtzukommen. Bennett war in fast allem einfach besser als er. Ihr Vater, Edison Joseph Frye, hatte ein fast soziologisches Interesse an ihren Unterschieden; und seine Schlußfolgerung war, diese seien generations-, nicht genetisch bedingt. Als hochdekorierter Held des Zweiten Weltkriegs war er überzeugt davon, daß allein der militärische Drill aus Bennett gemacht hatte, was er heute war, und daß Chuck nur so unzulänglich war, weil er diese Art von Disziplin nie kennengelernt hatte. Schließlich gab es auch noch Hyla, ihre Mutter – die Friedensstifterin. Und Quelle allen Charmes, den ihre Söhne vielleicht besaßen.

Chuck bog in die Bolsa ab, wendete und fuhr in die City of Westminster. Die Straßenschilder dort waren in altenglischer Schrift gemalt, und die Häuser zeigten zumindest eine Spur von Tudor-Stil – eine Art nostalgischer Old England-Touch in einer südkalifornischen Vorstadt.

Chuck nahm einen Schluck Kaffee aus dem Becher und fuhr weiter die Bolsa entlang, vorbei am Noviziat der Brüder des Patrick, das behäbig hinter Olivenbäumen stand; vorbei auch am Bestattungsunternehmen Colony mit seinen hohen bunten Glasfenstern; vorbei weiter an all den Parzellen und Wohnwagenplätzen, Imbißbuden und Autogeschäften. Hier schloß alles um acht Uhr.

Westminster, dachte er. Ganze vierzig Meilen südlich von L. A. und fünfzehn nördlich von Laguna. Aber Welten lagen dazwischen – eine dieser neueren Trabantenstädte. Alles gleich, symmetrisch, eingezäunt, aber krampfhaft um Unverwechselbarkeit bemüht. Daher dieser britische Touch. Die simple Bezeichnung »Schlafstadt« war angemessener. Freilich erzeugte dieses Wort in ihm immer die Vorstellung einer einzigen Riesenmatratze, auf der alle Leute zusammenlagen und nichts taten als schlafen, frühstücken und sich paaren. Als in den späten Siebzigern diese ganzen indochinesischen Flüchtlinge angekommen waren, hatte Westminster dann seine Unverwechselbarkeit bekommen, die es zuvor nie erreicht hatte. Es wurde das Zentrum der größten vietnamesischen Kolonie außerhalb Südostasiens. Die Einwohnerzahlen schwankten, wie solche Zahlen das so an sich haben. Die letzte, die Frye gehört hatte, war: dreihunderttausend Vietnamesen in Kalifornien. Davon die Hälfte im Süden. Achtzigtausend lebten allein in der Orange County, und davon wiederum die meisten eben hier.

Einen weiteren Block später veränderte sich die Vorstadtlandschaft abrupt. Östlich des Asian Culture Center waren sämtliche Schilder plötzlich nur noch vietnamesisch. Zinnenartige Ziegeldächer mit Ornamenten schwangen sich in die Dunkelheit hinein. Ladenfassaden und Parkplätze waren voller Bänder und Transparente, die Schaufenster der Geschäfte mit handgemalten Schriften zugepinselt: Supermarkt Sieu Thi My-Hoa. Schneiderei Thoi Trang. Bao Ngoc, Schmuck und Geschenke. Café Ba Le. ServiceCenter Tuyet Hong. Ngan Dinh, Sandwiches. Die warme Festlandsluft roch nicht mehr nach Zitrusbäumen, sondern nach gekochtem Fisch, gedünstetem Gemüse und exotischen, undefinierbaren Gewürzen.

Chuck atmete das Aroma tief ein. Little Saigon, dachte er. Klein-Saigon. Und doch war es kaum ein paar Jahre her, daß es im ganzen Staat noch nicht einen Vietnamesen gegeben hatte.

Er beobachtete den lebhaften Betrieb auf den Parkplätzen. Rein, raus. Und die Flüchtlinge – Leute mit dunkler Haut, dunklen Augen, schwarzem Haar und platten ernsten Gesichtern – standen vor den Geschäften herum und blickten um sich, als erwarteten sie jeden Augenblick das Schlimmste. Die gelbrote südvietnamesische Fahne wehte über einem Fischmarkt. Darunter ein Transparent, das erklärte, man befinde sich in den »Saigon-Tagen« der City of Westminster. Ein alter Mann an der Ecke stützte sich auf einen Krückstock und starrte auf den Zebrastreifen. Auch seine Frau neben ihm hatte einen stieren Blick. Für einige, dachte Chuck Frye, war es eine Art kultureller Zeitvertreib, darauf zu warten, daß man fort konnte. Drei kleine Mädchen drängelten sich an den beiden vorbei und schlängelten sich durch den Verkehr.

Chuck verlangsamte seine Geschwindigkeit, als er durch die Washington Street fuhr, die erste der Straßen, die die Namen der ersten sechs amerikanischen Präsidenten trugen. Dieser Bezirk hieß Orange, obwohl es kaum Orangen gab; in einer Stadt, die sich Westminster nannte, aber kaum Engländer als Bewohner hatte; an einem Ort, den sie Klein-Saigon getauft hatten, obwohl er so weit weg von Vietnam war, wie es fast nur ging.

Irgendwie schien die Republik hier etwas lernen zu können, nur was eigentlich genau?

An der Brookhurst bog Chuck rechts ab und suchte nach dem Nachtclub, der sich in einer Ecke verbarg und leicht zu übersehen war. Er fand die in die Sommernacht leuchtende grün-orangefarbene Neonreklame mit der gebeugten Palme schließlich. ASIAN WIND CABARET, DANCING & DINING . Die laufende Leuchtschrift verkündete: FESTLICHE SAIGON-TAGE – LI FRYE IN CONCERT – HAPPY BIRTHDAY BENNETT AND BOTHER.

Schon wieder nur an zweiter Stelle angekündigt, dachte er. Und auch noch falsch geschrieben. Mit Doppelsinn. Brother, Bruder. Bother, Problemfall, unerwünscht. Manche Leute hatten bestimmt keine Einwände gegen diesen Druckfehler. Scheint auch recht in zu sein, der Laden; der Parkplatz quillt über vor Autos, vor der Tür stehen die Leute Schlange.

Julie, die Besitzerin, saß an der Eingangskasse. Sie blickte auf, lächelte und winkte ihn herein. Chuck stopfte einen Packen Geldscheine in eine Tasche. 537 Dollar, alle seine Ersparnisse, die er bis zu diesem Tag seines Lebens zusammengetragen hatte. Abzüglich des Geschäftsbetrags. Pacht des MegaShop für nächsten Monat.

Er ging durch den Perlenvorhang und betrat den Club.

 

Kaum ein Durchkommen. Die ganzen Wände entlang drängelten sich schon Leute, die auf einen Platz warteten. Papierlampions schimmerten schwach über lackierten Tischen und Stühlen, den Topfpalmen und den Kellner mit Frack und Schleife. Das Tanzparkett und die Bühne waren in rotes Licht getaucht, das sich im Mikrofonständer und in den Gitarren blitzend spiegelte. Die große Trommel des Schlagzeugs trug den Namenszug LI FRYE. Und auch hier hing ein großes Spruchband SAIGON-TAGE über der Bühne. In den Lichtkegeln der Scheinwerfer waberte eine Dunst- und Rauchwolke.

Chuck ließ seinen suchenden Blick über das Meer asiatischer Gesichter schweifen, die immer wieder aus der Dunkelheit auftauchten, wenn der Strahl des rotierenden Scheinwerfers oder ein Lichtblitz aus der Glitzerkugel an der Decke sie traf. Irgendwie erschien der ganze Raum wie ein sanfter, untermeerischer Wasserwirbel. Die verspiegelten Wände multiplizierten alles in endloser Reflexion.

An einem Tisch ziemlich weit hinten erkannte er Bennett. Er saß mit Donnell Crawley, Nguyen Hy und einer Frau, die er nicht kannte, zusammen. Auch Burke Parsons war dabei, wie immer fast verdeckt von seinem Cowboyhut. Bennett beherrschte die Szene natürlich; Arme ausgebreitet, Kopf vorgestreckt und leicht seitlich gebeugt, wenn er sprach. Chuck winkte und ging gleich hinter die Bühne. Benny – immer im Mittelpunkt.

Li verschloß gerade einen silbernen Halliburton-Schminkkoffer, als er in ihre Garderobe kam. Sie warf einen schnellen Blick in den Spiegel und sprang dann freudig auf, um ihn zu begrüßen. Volles, hübsches Gesicht, Wogen schwarzen Haars, dunkle Augen, funkelnd wie Obsidianstein. Ihr áo dài war purpurrot, die Seidenhose schwarz. »Ich habe dich gar nicht kommen hören, Chuck! Alles Gute zum Geburtstag!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, gab ihm ein Küßchen auf die Wange und wischte gleich mit dem weißen Finger darüber.

Er lächelte. Li hatte etwas an sich, das ihn stets in ehrfürchtige Verblödung trieb und ihn immer nur lächeln ließ. Vielleicht wegen dem ganzen Mist, den sie durchgemacht hatte. Wenn er sie berührte, hatte er das Gefühl, er berühre ein unendlich zerbrechliches, unbezahlbares Objekt, das ihm nur für eine Zeit zur sorgfältigen Obhut anvertraut sei. Ein Lächeln war das mindeste, was man ihr schenken mußte. »Wollte dich nur rasch küssen, solange Benny es nicht sieht, und dir Glück für die Show wünschen.«

Sie trat etwas zurück und betrachtete ihn. »Du bist so ein netter Mann, Chuck. Wirklich, du bist mein chú. Meine Nummer eins.«

»Du siehst umwerfend aus, Li. Hals- und Beinbruch.« Er küßte sie. Dann musterte er sie, wie sie ihn musterte. »Was ist das mit diesen Saigon-Tagen?«

»Das hat die Stadt veranstaltet, um Eindruck auf uns zu machen und zu zeigen, wie stolz sie ist, daß wir so gute Bürger geworden sind.« Sie lächelte. »Hast du was von Linda gehört?«

»Ja. Sie hat die Klage eingereicht.«

Sie legte den Arm um ihn und drückte ihn an sich. Ihr Parfüm roch gut. Dann trat sie wieder zurück und faßte ihn an der Hand. »Vielleicht mußte alles so kommen.«

»Schon möglich.«

»Aber dein Herz kann dir niemand töten, Chuck.« Sie warf einen Blick auf den Tisch, auf dem der Halliburton stand. »Viel Spaß bei der Show, chú. Ich muß mein Make-up fertigmachen.«

»Sing, daß die Bude wackelt, Li.«

»Das tu’ ich. Es sind eine Menge wichtiger Leute da heute abend. Lucia Parsons vom MIA, dem Vermißten-Komitee, mußte zwar absagen, aber sie hat immerhin Burke geschickt, der sie vertreten soll. Wir können uns nach der Show noch unterhalten, Chuck. Es gibt Gratis-Kuchen und Geschenke. Ich habe für Benny ein ganz himmlisches Lied geschrieben.«

Er bahnte sich einen Weg zurück durch das überfüllte Lokal und setzte sich neben seinen Bruder. Bennetts Gesicht war in das Licht der Glitzerkugel, die von der Decke hing, getaucht. Seine Hand war trocken und kräftig. »Alles Gute zum Geburtstag, Chuck. Du kommst nicht mal zu spät.«

»Kann ich doch nicht auslassen. Dir auch alles Gute.« Dann schüttelte er auch noch Donnell Crawley, Bennetts dunkelhäutigem und schweigsamem Kriegskumpel, die Hand, der kräftig zugriff und nickte. Nguyen Hy, der geschniegelt und zerbrechlich aussah wie immer, drückte erst seine Zigarette im Aschenbecher aus, ehe er seine dünnen Finger herüberstreckte. Er leitete das Center for Vietnam, CFV, eine örtliche Wohltätigkeitsvereinigung, und ließ nicht die kleinste Gelegenheit aus, Hilfe oder Geld zu sammeln. Er stellte Chuck die Vietnamesin an seiner Seite vor. Sie hieß Kim und arbeitete als Spendensammlerin für sein CFV.

»Sie haben aber nicht viel Ähnlichkeit mit Bennett«, sagte sie.

»Oh, vielen Dank«, lachte Chuck und stieß seinem Bruder den Ellenbogen in die Rippen.

»Ein Surf-Nazi pro Familie ist auch genug«, sagte Bennett. Dann blickte er auf die Uhr und anschließend zur Bühne. »Nur noch fünf Minuten, Brüderchen, dann kommt sie.«

»Wieso Surf-Nazi?« fragte Kim.

Nguyen beugte sich vor, um es ihr zu erklären. »Damit ist ein ganz fanatischer Surfer gemeint. Chuck ist ein ehemaliger Champion.«

»Chuck war alles ehemalig«, sagte Bennett und winkte einem Kellner. »Wie steht’s mit deinem Job?«

»Ich arbeite jetzt frei.«

»Wodka?«

»Muß ich ja wohl fast.«

»Das ist der richtige Geist«, erklärte Burke Parsons mit einem Antippen an seinen Hut. »Die Runde geht auf mich.«

Frye nickte. Für Burke war das klar. Texanischer Ölmagnat, ruhig, großzügig, ebenfalls ein Kriegskamerad von Bennett. Seine Schwester Lucia machte jede Menge Schlagzeilen als Gründerin des »MIA«(Vermißten)-Komitees, das sich gut entwickelte. Burke schien sich damit zufriedenzugeben, sich in ihrem Umkreis zu bewegen, gut Wetter zu machen, Drinks zu spendieren und ohne besonderen oder erkennbaren Zweck geschäftig zu sein. Sooft Frye ihn auch sah, immer und ewig hatte er den gleichen idiotischen Hut auf.

Bennett bestellte eine Runde. »Und Billingham hat also nicht wieder eingelenkt?«

Chuck seufzte und blickte über das Publikum hinweg. Er war ein guter, wenn auch manchmal etwas zu fantasievoller Reporter gewesen und hatte gegen freie Mahlzeiten über Restaurants, für Freikarten über Kinos und für freien Eintritt über die Boxkämpfe im Sherrington-Hotel geschrieben. Mit 320 Dollar pro Woche hatte er gelernt, wie man zu Nebeneinkünften kommt. Allerdings hing eben dies mit der traurigen Tatsache zusammen – wie sehr er das auch zu verdrängen versuchen mochte –, daß er vor genau sechzehn Tagen mächtig eine reingekriegt hatte – wegen eines Artikels über einen Boxer, der sich in einem Sherrington-Hauptkampf so offensichtlich, daß es ein Blinder sah, ohne triftigen Grund in der fünften Runde auszählen ließ. Als Frye versucht hatte, den Manager des jungen Weltergewichtlers nach seiner Version der Geschichte zu befragen, hatte der Mann – ein gewisser Rollie Dean Mack von Elite Management – es nicht einmal für nötig befunden, zurückzurufen. Frye brachte die Story also. Die Folge war der übliche Anruf von Macks Anwalt bei Fryes Verleger: Entweder Frye fliegt oder Elite storniert sämtliche Anzeigenaufträge und klagt obendrein. Der Ledger war nicht so stark auf der Brust, daß er den angedrohten Verlust hätte verkraften können. Außerdem hatte Ron Billingham, der Verleger, für diese Boxgeschichten ohnehin noch nie viel übrig gehabt. Ein Prozeß wäre sein Ruin, sagte er. Und folglich bekam Chuck Frye am nächsten Freitag seine Papiere, räumte seinen Schreibtisch auf, versuchte noch einen – vergeblichen – Anruf bei Rollie Dean Mack und entfernte sich dann schnell, um sich noch schneller volllaufen zu lassen. Trotzdem änderte dies alles nichts an der Tatsache, daß dieser Weltergewichtler bezahlt auf die Matte gegangen war.

Chuck zuckte mit den Schultern. Bennett musterte ihn. »Das gibt sich schon alles wieder, Chuck. Ich kenne ein paar Freunde von Billingham, also laß den Kopf nicht hängen.« Er deutete auf die illu- stren Gäste im Publikum. General Dien und Gemahlin. Binh, der vietnamesische Zeitungsverleger. Tranh Ky, Geschäftsmann, Präsident der vietnamesischen Handelskammer. Dr. Pomh-Do, Professor, Autor von neunzehn Büchern über asiatische Geschichte. Und außerdem waren der Bürgermeister und einige Stadträte anwesend sowie die Gattin des Polizeichefs und der Assistent eines Staatsanwalts. Am Tisch links saß die Familie Tuy. Boat People, sagte Bennett; angekommen mit Nullkommanull, mittlerweile aber gutgestellte Bürger. Die drei Töchter waren nicht nur Schönheiten, sondern auch ehrgeizig und fleißig; hervorragende Studentinnen. Nha, die älteste, war von der City of Westminster sogar zur »Miss Saigon-Tage« gewählt worden. Sie saß – mit Schärpe und fürchterlich nervös – neben ihrem Vater. Lucia Parsons, sagte Bennett, habe noch in letzter Minute absagen müssen, obwohl sie wirklich sehr gern gekommen wäre.

»Dafür hat sie dann«, erklärte Burke mit Daumen auf sich selbst, »ihren Zwillingsbruder geschickt.« Er lächelte und nippte an seinem Drink. »Sie mußte sich da drüben in Washington ein paar Senatsleute treffen. Sie wäre viel lieber hier gewesen, Ehrenwort.«

Frye bemerkte, daß alle von Lucia Parsons nur in Tönen höchster Ergebenheit sprachen. Sie war seinerzeit ein halbes dutzendmal nach Hanoi geflogen, um über vermißte Soldaten Recherchen anzustellen. Sämtliche Zeitungen hatten darüber des Langen und Breiten berichtet. Offenbar hatte sich Hanoi tatsächlich bei Verhandlungen auf die Vorschläge dieser Frau eingelassen. Man munkelte inzwischen, daß sie nun sogar einen Kongreßsitz anvisiere und das Vermißten-Komitee ihr den Weg dafür ebnete. Chuck hatte sie einmal im Fernsehen gesehen. Sehr intelligent, redegewandt und schön obendrein. Selbst mit seinem blöden Cowboyhut hatte Burke dasselbe prima Aussehen.

»Menge guter Leute hier«, sagte Bennett. »Allerdings da drüben sind auch weniger gute.«

Er machte dabei eine Kopfbewegung zu einem Ecktisch, an dem ein paar junge Kerle mit pomadigen Köpfen saßen. Ganz modisch angezogen, flinke Augen, und mit der Haltung lässiger Arroganz. »Gangs. Gehören zur Ground Zero.« Er beugte sich näher heran. »Und gleich neben dir da sitzt Eddie Vo, ihr Boß. Den anderen mit der Sonnenbrille kenne ich nicht.«

Chuck beobachtete, wie Eddie Vo und der mit der Sonnenbrille sich neues Bier eingossen und sich mit ihren Feuerzeugen Zigaretten anzündeten, während sie eine junge Frau mit trägem Enthusiasmus musterten.

»Schlechte Leute sind das nicht«, wandte Nguyen Hy ein. »Sie bräuchten nur eine starke Hand. Sie sind ganz in Ordnung, solange die Dunkelmänner nicht auftauchen. Ground Zero und die Dunkelmänner nämlich sind wie Hund und Katze miteinander.«

Der Kellner kam mit einem Tablett voller Drinks. Frye nippte, beobachtete die Leute und bemerkte, daß dieser Eddie Vo an einer Tonbandkassette rummachte. Einen Recorder hatte er daneben. Chuck beugte sich zu ihm hinüber. »Ist das ein Chromdioxid- band?«

Eddie Vo blickte ihn mißmutig an. »Fünf Bucks, Mann, und schon völliger Bandsalat.«

Frye zeigte achselzuckend sein Mitgefühl. Dann wurde es dunkler, und im Publikum erhob sich erwartungsvolles Raunen. Alle Blicke richteten sich auf die Bühne. Tuy Nha sah ihn an, wandte sich allerdings ab, noch ehe er lächeln konnte. Die Band betrat die Bühne, alles schmächtige Vietnamesen in Anzügen französischen Schnitts, die Begleitsängerinnen kamen gleich hinterher, alle sehr schön und im weißen áo dài. Der Schlagzeuger bearbeitete seine Trommeln, der Kontrabaß dröhnte. Die Chorsängerinnen warteten mit gesenkten Köpfen. Der Gitarrist klopfte prüfend ans Mikrofon. Bennett setzte sich auf seinem Stuhl zurecht, irgendjemand winkte ihm, und er winkte zurück.

Dann kam Li wie schwebend auf die Bühne, im Kegel des Spotlichts. Ihr schwarzes Haar durchdrang mühelos die rauchige Luft des Lokals. Der purpurrote áo dài war ganz eng in der Taille, die Seidenhose darunter aber weit und fließend. Bennett klatschte immer schneller in die Hände. Li griff nach dem Mikrofon. Das Bühnenlicht unterstrich ihr Lächeln und ließ ihre Augen glitzern, während sie über das Publikum hinblickte und Bennett suchte. Sie hob die Hand, und der Scheinwerfer richtete sich auf ihren Tisch. »Für meinen Mann«, hörte Frye sie sagen, »und auch für seinen Bruder – alles Gute zu eurem Geburtstag!«

Daraufhin wanderte der Lichtkegel zu ihr zurück, und die Band begann mit der ersten Nummer. Frye beobachtete Eddie Vo nebenan, der noch immer mit seinem verhedderten Tonband beschäftigt war. Der mit der Sonnenbrille starrte offenbar völlig gefesselt auf die Bühne. Li hob das Mikrofon an den Mund, und die ersten Töne ihrer Stimme senkten sich so leicht und duftig wie Meeresschaum über das Publikum. Chuck hörte zu, ohne etwas zu verstehen. Li sang in ihrer Muttersprache, heiter, rhythmisch, sanft. Kim rückte mit ihrem Stuhl zu ihm heran und übersetzte ihm den Text:

 

Wenn alles sich zur Nacht wendet

und die Blätter von den schwarzen Zweigen gefallen sind,

bin ich nicht allein. Ich habe mein Lied

an dich, mein Bruder, mein Geliebter ...

 

Chuck beobachtete, wie das Licht von Lis Lächeln perlte und die gestickten Spitzen ihres áo dài hinabfloß. Bennett hatte die Arme verschränkt. Sein Gesichtsausdruck war wie gefangen von einem Wunder. Donnell Crawley klopfte im Takt an sein Glas, und Nguyen Hy zog gedankenverloren an seiner Zigarette. Kim beugte sich wieder zu ihm herüber, ihr Atem fühlte sich an seiner Wange angenehm an.

 

Wenn mein ganzes Leben nur aus Sehnsucht besteht

und vom Himmel der Regen der Traurigkeit fällt,

weiß ich, daß es kein Ende gibt

mit dir, mein Bruder, mein Geliebter ...

 

Eddie Vo klapperte selbst während der leise gesungenen Verse mit seiner Kassette herum. »Die nur eine Nacht im Bett haben«, sagte er. »Da wäre nichts mit Bruder.«

Der mit der Sonnenbrille meinte: »Da wäre Stanley aber eifersüchtig.«

»Stanley – lai cái! Dieses Scheißband, Mann!«

Li beendete ihr Lied mit einem Ton, der so hoch und rein war, daß Frye fürchtete, sein Wodkaglas werde zerspringen. Sie verbeugte sich, und ihr schwarzes Haar fiel nach vorne. Der Applaus schien die ganze Rauchwolke des Lokals an die Decke zu treiben. Bennett blickte Chuck stolz an, als das Licht wieder zu ihrem Tisch gewandert kam.

Ehe er recht wußte, was er tat, war Chuck aufgestanden und umarmte seinen Bruder schulterklopfend. Der Applaus schwoll an. Dann huschte der Scheinwerfer zurück zu Li, die sich bereits der Band zugewandt hatte, um ihr nächstes Lied anzuzählen. Eigenartig, dachte er, während er sich wieder setzte, daß man sich glücklich fühlt, wenn man im Mittelpunkt steht. Bennett nickte ihm zu. Kim beugte sich erneut zu ihm herüber. »Das jetzt ist ein ganz neues Lied, Chuck. Über unsere Heimat und daß einem das Herz weh tut, wenn man etwas nicht haben kann.«

Li sah über das Publikum hinweg in die Ferne und sprach über den ungewohnt synkopisierenden Rhythmus der Band hin. »Vietnam, wo bist du? Wir müssen die Sprache lernen, mit der wir dich wiederfinden können.«

Die Gitarre begann, trauernd hoch und einsam.

»Ich habe wirklich Mitleid mit euch«, flüsterte Frye durch einen Hauch schwarzen Haars in Kims Ohr.

Sie blickte ihn mit Bestimmtheit an. »Sie haben es schon versucht und etwas getan.«

»Nein, habe ich nicht. Ich nicht.«

Einen Dreck habe ich, dachte er. Bennett hat für die ganze Familie bezahlt. Ich habe nichts unternommen. Er trank sein Bier und fühlte sich zum tausendsten Mal schuldig, daß es Bennett war, der eingezogen worden war, Bennett, der gelitten und bezahlt hatte. Gut, er war auch froh, daß es nicht ihn selbst getroffen hatte. Aber mit der Dankbarkeit kam auch immer dieses unbestimmte Schuldgefühl, diese ganz allgemeine Scham, diese Empfindung unbezahlter Schulden. Er sah seinen Bruder an. Mehr oder minder nur noch ein halber Mann. Kopf, Rumpf, zwei Arme. Und zwei Beinstümpfe. Er besah sich auch Donnell Crawley, den Infanteristen, der Bennett in Sicherheit geschleppt, dazu seinen Helm über einen von Bennetts blutbespritzten Schenkeln gestülpt und dafür prompt eine Kugel in den Kopf gekriegt hatte.

Er blickte sich nach Eddie Vo um, doch der war weg. Der mit der Sonnenbrille ebenfalls. Nur der Kassettenrecorder stand noch neben ihren Bierflaschen, und das ruinierte Band lag auch noch da.

Beste Zeit, hinauszugehen und eine zu rauchen, dachte Frye. Nha Tuys Vater stand auf und klatschte, als Li mit ihrem Text begann.

Als dann der erste Mann zur Bühne kam und eine MP auf das Publikum richtete, dachte Frye zuerst, das gehöre zur Show. Nur den Hauch eines Augenblicks wurde es zwischen dem nächsten Trommelschlag des Schlagzeugers, Lis melancholischen Liedworten und seinem eigenen Herzschlag im Asian Wind still, dann knatterten auch schon die Schüsse durch die unterseeische Beleuchtung und zersplitterten Spiegelgas. Ein kollektives Aufwogen war die Folge. Leiber krachten gegen Möbelstücke. Li schrie auf, und der Schrei wurde von den Lautsprechern verstärkt. Zwei Schützen sprangen auf die Bühne. Einer hatte eine schwarze Kapuze auf und schnappte sich eine der Chorsängerinnen, ließ sie aber gleich wieder los, fuhr herum und half einem Mann mit einer Skifahrermaske, Li festzuhalten. Ihr Haar glänzte im Scheinwerferlicht, und die blasse Kurve ihrer Schulter leuchtete aus dem Dunkel, als die Seide auseinanderriß, an der eine behandschuhte Hand zerrte.

Chuck Frye warf sich vor und zog Nha Tuys Vater an seiner Krawatte nach unten.

Neben ihm landete Bennett, rollte sich herum und richtete sich auf. Er stürmte auf seinen Händen, während seine Beinstümpfe zwischen seinen dicken Armen schaukelten, auf die Bühne. Glassplitter regneten wie Wassertropfen herab. Frye sah, wie die MP auf Bennett zielte, und dachte: Da hat er nun den ganzen Vietnamkrieg mitgemacht, und was passiert? Er kommt zurück, nur um auf dem Tanzboden irgendeiner blöden Bar zu sterben ...

Aber da zögerte der MP-Schütze einen gesegneten Augenblick lang.

Frye sprang auf die Füße und warf sich auf Bennett. Burke Parsons hatte allerdings zur gleichen Zeit denselben Einfall gehabt, und sein Stetson flog ihm davon. Frye schlang seine Arme um die Brust seines Bruders und schaute auf das ganze Tohuwabohu über ihnen. Li wurde eben zum Hinterausgang gezerrt. Um ihren Hals hatte sich ein kräftiger Arm geschlungen, und sie hatte einen Schuh verloren.

Neben Chuck hob mittlerweile General Dien eine Pistole und schoß. Der Schütze auf der Bühne wurde umgerissen, als hinter seinem Kopf ein heller Blitzschein aufleuchtete. Seine Waffe jagte noch Kugeln in den Bühnenboden, während sie ihm aus der Hand und krachend zu Boden fiel.

Chuck rappelte sich mühsam auf und kämpfte sich energisch durch die Menge zur Hintertür. Ein blauer Toyota raste mit aufheulendem Motor und quietschenden und rauchenden Reifen vom Parkplatz und verschwand um die nächste Ecke.

Chuck sprang in seinen alten Mercury, startete ihn und haute den Gang hinein. Seine Scheinwerfer sausten quer über den Parkplatz, und für einen Moment beleuchteten sie Eddie Vos Gesicht, der aus dem Fahrersitz eines geparkten Kombi mit großen Augen auf ihn starrte.

Dann schrie Frye über das Quietschen seiner eigenen Reifen hinweg nach Bennett und konnte seine eigene Stimme dabei kaum hören. Doch gerade als er an der Hintertür vorfuhr, kam Donnell Crawley mit Bennett im Arm heraus.

Kapitel 2

 

Sie sausten los. Bennett saß neben Chuck. Crawley starrte auf die Straße, und Bennett schrie: »Na los doch! Los!«

Chuck holperte mit dem Mercury auf die Brookhurst und fuhr sie hinauf. Ringsherum begannen Polizeisirenen zu heulen. Weiter oben auf der breiten, belebten Straße ordnete der Toyota sich in die langsame Fahrspur ein und bog nach rechts auf den Westminster Boulevard ab. Frye überholte einen stotternden alten Volkswagen und fegte dann als Abkürzung durch die Tankstelle an der Ecke, vorbei an den Zapfsäulen und an entsetzten Tankwarten. »Schneller«, schrie Bennett. »Sie fahren nach links. Sie fahren links!«

Der große V-8 hatte einen Anzug, daß sie in die Polster gepreßt wurden. Frye nahm die Abkürzung; hundert Meter ... hundertfünfzig. Der Toyota wartete, bis der entgegenkommende Verkehr auf sie zukam, schoß dann zwischen zwei Autos auf die andere Seite und verschwand die Magnolia hinunter.

Chuck kam in einem wilden Hupkonzert zum Stehen. Zwei Polizeiwagen sausten mit heulenden Sirenen an ihm vorbei. Sechs Wagen, sieben, zehn, und immer noch kamen welche, während sie dastanden und warten mußten, und nur die Magnolia hinunterstarren konnten, als könnten sie durch hypnotischen Willen das Entkommen des Toyota verhindern.

Chuck verlor die Geduld und setzte sich vor einen Linien-Bus, der schwer abbremste wie ein großes Tier, als sie vorüberbrausten.

Weit vorne bog der blaue Toyota wieder links ab.

Bennett griff ins Steuerrad und riß es herum, so daß der Mercury auf die linke Fahrspur hinüberschoß. »Nach links auf die Green Flower, an der nächsten Ampel. Sie wollen zur Plaza!«

Frye blieb auf der Mittelspur, mißachtete ein Stoppschild und bahnte sich seinen Weg an den Fahrzeugen vorbei, die auf der linken Fahrspur eine Schlange bildeten. Als der entgegenkommende Verkehr abbrach, kehrte er auf die Straße zurück und bog nach links zur Green Flower ab. In der Entfernung waren bereits die Straßenlaternen der Saigon Plaza zu sehen, die das Eingangstor flankierten. Zwei Lichtkegel strahlten nach oben und kreuzten sich am Himmel. »Sie wollen zur Plaza, ich weiß es! Schau, daß du hinkommst, Chuck, verdammt, beeil dich!«

Sie erreichten die Saigon Plaza von der Rückseite her und zwängten sich in die schmale Durchfahrt zwischen dem Tuchladen Thanh Tong und der Praxis des Arztes Dang Long. Straßenlaternen erhellten die Szene. Die Geschäfte und Gebäude mit den hellen Leuchtreklamen und bemalten Schaufenstern lagen hinter ihnen. Der ganze Parkplatz war mit Menschen und Autos besetzt, in der warmen Brise wehten Spruchbänder und tanzten Flugblätter den Asphalt entlang. Links sah Frye das große Tor und die beiden Marmorlöwen am Haupteingang in der Höhe der Bolsa.

Bennett griff wieder ins Steuerrad und lenkte nach rechts. Seine Stimme war ruhig und fast ein Flüstern: »Fahr langsam außen herum. Sie sind irgendwo da drin. Donnell, ruf die Polizei und gib ihr die Wagenbeschreibung.«

Crawley sprang aus dem Auto und rannte auf die Läden zu.

»Irgendwer muß sie doch gesehen haben«, meinte Chuck.

»Aber keiner wird uns ein Sterbenswörtchen sagen«, antwortete Bennett.

Chuck fuhr weiter suchend herum. Straßenlaternen, Schaufenster, Gruppen von Flüchtlingen, die keinerlei Interesse zeigten. Reisebüro Hang Du Lich Bat Dat. Bong Loi & Co., Fisch und Meeresfrüchte. Tai Loi, Donuts und warme Speisen. Überall Transparente: Ausverkauf! Räumungsverkauf! Jubiläumsverkauf zu den Saigon-Tagen! Die City of Westminster. Popmusik aus dem Café Tranh, davor eine Gruppe junger Leute.

Am gegenüberliegenden Ende der Plaza bog Chuck nach links ab und folgte den Straßenlaternen und Gehwegen. Bennett saß bis ans Armaturenbrett vorgebeugt, die rechte Hand an der Kunststoffverkleidung, die linke zur Faust geballt, die auf das Radio hämmerte. Noch immer waren aus der Richtung des Asian Wind Sirenen zu hören. Zwei große Scheinwerfer richteten ihre starken Strahlen direkt nach oben zu einem Schild auf dem Hausdach eines Gebäudes: »Café Pho Hanh – Große Eröffnung!« Die Straßentische davor waren fast alle besetzt. Die Leute betrachteten träge das vorbeifahrende Kabrio und seine beiden Insassen.

Sie fuhren an Rendez-Vous Fashions, an der chemischen Reinigung und an der Kunstgalerie vorbei, deren Schaufenster voll waren mit Seidenkleidern und gelackten Gemälden. Sie fuhren vorbei an Kim Thinh, Juwelier, und der Schneiderei Masami sowie am Stoffladen Thoi Trang und dem Restaurant Tour d’Ivoire. Sie fuhren auch vorbei an Thuy’s Hong Kong Video und an Phuong Fashions. Und sie fuhren an Geschäften vorbei, deren Aufschriften zu lesen und zu verstehen hoffnungslos gewesen wäre.

Es ist alles viel zu normal, dachte er. Zu sehr business as usual. Wozu sollten die überhaupt eine gekidnappte Frau in ein Shopping-Center bringen? »Wir haben uns geirrt, Bennett. Die sind gar nicht hier. Das ist zu –«

»Halt den Mund, Chuck. Sie sind ganz sicher hier!«

Noch bevor Chuck überhaupt gehalten hatte, warf sich Bennett bereits aus dem Wagen. Donnell rannte auf sie zu. Chuck zwängte sich auf den freien Platz neben dem Toyota und stieg aus. Bennett hatte sich bereits auf dessen Kühler gezogen und spähte durch die Windschutzscheibe ins Innere. Crawley starrte durch ein Seitenfenster. Chuck befühlte die Kühlerhaube – noch warm. Er bemerkte, wie ungewöhnlich der Wagen lackiert war; Kühler samt Chromteilen und Stoßstange waren im gleichen Blau gespritzt wie das ganze Fahrzeug. Bennett ließ sich wieder herabgleiten und landete mit einem Plumps auf dem Gehsteig. Einen Moment blieb er dort auf seinen Stümpfen stehen, und es sah aus, als versinke er im Zement. Er stützte sich mit den Fäusten ab. Sein Gesicht schimmerte vom Widerschein einer Schaufensterbeleuchtung rosa; ein Schild verkündete:

Nguroi Doang Mong

Traumdeuterin

Dung-Dan, Dac-Biet

Khong Dat

genau, zuverlässig

preiswert

Durch die Scheibe war eine Frau zu erkennen, die ohne großes Interesse die Szene beobachtete. Bennett stemmte sich eilig zur Tür. Crawley lief voraus und hielt sie ihm auf.

Die Frau war alt und groß. Sie hatte das graue Haar in einem strengen Knoten auf dem Hinterkopf zusammengebunden und trug einen engen schwarzen áo dài. Sie saß an einem kleinen Tisch und blickte ihnen entgegen. Sie musterte sie der Reihe nach, halb mißtrauisch, halb amüsiert. Ultraviolettstrahler beleuchteten zwei Stühle, an einer Wand hingen ein chinesischer Kalender und ein Gemälde eines Berges mit Wasserfall. In einem kleinen Kupferkessel in der Ecke glomm ein Räucherstäbchen. Bennett schob einen Stuhl zu der Frau, schwang sich darauf und beugte sich nahe zu ihr. »Der blaue Wagen da draußen vor der Tür. Wo sind die Leute, die drinsaßen, hingegangen?«

Die Frau stellte eine Emaildose vor Bennett auf den Tisch und sah erst Crawley an, dann Chuck. Crawley öffnete die Dose und legte zwei Geldscheine hinein. Sie warf einen scharfen Blick darauf und erklärte: »Ich habe niemanden gesehen.«

Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Bennett sie anspringen. »Niemanden gesehen, wie? Zwei Männer und eine Frau! Li Frye! Li Frye, Lady! Wissen Sie, wer das ist?«

»Jeder kennt Li Frye! Ich war gerade im Hinterzimmer.«

»Schauen Sie mich an und wiederholen Sie, daß Sie den Wagen nicht kommen sahen.«

Sie blickte auf Chuck, und er hatte einen Lidschlag lang das sichere Gefühl, daß er Angst in ihren Augen erkennen konnte. »Ich habe den Wagen nicht kommen sehen.« Sie holte aus einer Schublade eine Tonbandkassette und legte sie neben die Dose, als handle es sich um die letzte Karte eines Straight Flush. Es war eine Kassette von Li. Die Verlorenen Mütter. Auf dem Etikett war Lis Gesicht hinter einem Stück Stacheldraht zu sehen.

Die Traumdeuterin verschränkte ihre dicken Arme. »Ich kenne Li Frye. Aber sie war nicht hier.«

Bennett sah erst sie, dann Crawley an. Dann stützte er sich auf den Händen ab, um durch den klappernden Perlenvorhang zu gelangen. Frye stand nur schweigend da und hörte, wie sein Bruder eine Tür öffnete und wieder zuschlug und dazu knurrte und fluchte. Die Traumdeuterin starrte Chuck an. Er hatte das Gefühl, daß sie seine Gedanken zu lesen versuchte. Bennett kam zurück, die Vorhangperlen klatschten ihm auf die Schultern. »Gehen wir.«

 

Sie verteilten sich, um die umliegenden Läden zu kontrollieren. Der Besitzer vom benachbarten Schmuckgeschäft sagte, er habe gerade Kunden bedient und leider keinen Wagen beobachten können. Li hat er vor einem Monat gesehen, als sie damals hier auf der Plaza bei einer Wohltätigkeitsgala sang. »Sie war hinreißend.« Dann erwähnte er etwas von einer sehr günstigen Gelegenheit, Sei- ko-Tauchuhren, wasserdicht bis 200 Fuß, ohne Steuern, ehe er feststellte: »Der Wagen ist ein Gangster-Auto.« Das sei allein an der Lackierung zu erkennen, meinte er. »Die lassen die Chromteile auch immer lackieren.«

Die Frau im Blumenladen sprach nicht englisch, nickte und lächelte aber, als Chuck Lis Namen erwähnte. Sie drückte auf einen Kassettenrecorder, und Lis Stimme krächzte aus winzigen Lautsprechern.

»Li Frye?« fragte er und deutete auf den blauen Celica.

»Li Flye«, nickte sie, indem sie auf den Kassettenrecorder deutete.

»Ja, vielen Dank.«

Zwei junge Mäner, die bei einem Drink vor dem Tour d’Ivoire saßen, erklärten, sie hätten den Wagen dort stehen sehen, aber er sei leer. Chuck bohrte etwas nach. Daraufhin erzählten sie eine andere Geschichte, in der ein anderer Wagen an einem anderen Parkplatz vorkam. Als Chuck sich bedankte, sagten sie, das sei schon in Ordnung. »Wir immer Polizei helfen.«

Chuck sah Donnell aus einem Nudelgeschäft kommen – mit Lis Schuh in der Hand. Hinter ihm arbeitete sich Bennett mit einigen Schwierigkeiten aus einer Tür heraus, die er heftig zuwarf. Er stemmte sich zurück zu dem Toyota, betrachtete einen Augenblick das Zulassungskennzeichen und hieb dann zornig mit einer Faust auf die Kühlerhaube. Die Delle sah wie ein Schnitt aus. Das rosa Licht aus dem Schaufenster der Traumdeuterin fing sich darin – genau, zuverlässig und preiswert. Die grauhaarige Frau saß auf ihrem Platz, dick und schweigsam wie Buddha. Bennett winkte Chuck zu ihrem Mercury. Er dreht durch, dachte Frye. Er explodiert gleich. Wie die Mine, auf die er in Dong Zu trat.

Bennett griff sich das Reifeneisen aus dem Mercury und sprengte den Kofferraum des Toyota auf. Als er offen war, war Bennett erschöpft und schweißgebadet. Er atmete schwer. Sein Blick war ausgesprochen merkwürdig. Bennett war nicht groß genug, um in den Kofferraum sehen zu können. »Was ist da drin, Chuck?«

»Nichts, und du verwischst nur die Spuren.«

Bennett warf den Wagenheber wieder in den Mercury und funkelte Frye an. »Wir durchsuchen jeden gottverdammten Zentimeter hier. Kommt mir nicht ohne Li wieder.«

»Okay, Bennett«, sagte Donnell. An seiner großen Hand baumelte Lis Schuh.

Frye überblickte die Saigon Plaza. Aus allen Fenstern und Türen wurden sie angestarrt. Oben in der Dunkelheit wanderten die Scheinwerferstrahlen hin und her.

Chuck ging in jeden Laden, hielt Leute auf dem Gehsteig an und sprach mit jedem, der ihm antwortete. Niemand hatte irgendetwas gesehen. Als Chuck nach einer halben Stunde zum Auto zurückkam, warteten Donnell und Bennett bereits auf ihn.

 

Das Asian Wind war voller Polizisten. Blaulichter rotierten und blinkten an die Hauswand. Sprechfunkgeräte quäkten. Zwei Beamte errichteten eine Absperrung. Eine Ambulanz raste davon. Ein dickbäuchiger Sergeant hatte die Hände in die Hüften gestemmt und schien nicht so recht zu wissen, was er tun sollte. Ein anderer Beamter stand an der Tür. Als Chuck, Bennett und Donnell ihm erklärten, wer sie waren, ließ er sie ein.

Drinnen wirkte alles verändert. Die Bühnenbeleuchtung war aus, die Glitzerkugel stand still, und statt Musik war nur das Gemurmel der Besprechungen und Beratungen der Polizisten und das Klicken des Fotoapparats zu hören. Der Polizeifotograf machte Aufnahmen von der Leiche auf der Bühne. Die Beamten benahmen sich wie Touristen auf einem einstigen Schlachtfeld, die versuchen, nachzuvollziehen, wie sich die hoffnungslose Lage da oder die blutige Offensive dort abgespielt hatten.

Frye drängte sich über die glasscherbenübersäte Tanzfläche, hob einen Stuhl auf und setzte sich mit dem Rücken zu den Resten der Spiegelwand. Neben ihm stand Crawley mit verschränkten Armen. Burke Parsons unterhielt sich gerade mit einem Beamten und deutete mit dem Hut zur Bühne. Dann trat er einen Schritt vor und kniete sich nieder. Mit seiner freien Hand deutete er die Fluchtrichtung der Gangster an. Bennett hievte sich in eine Nische, wo sich ein Kriminaler in Zivil zu ihm an den Tisch setzte und sich Schreibzeug bereitlegte.

Chuck holte tief Atem und legte den Kopf nach hinten. Er starrte an die kugeldurchlöcherte Decke und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Doch in seinem Kopf herrschte totales Chaos. Es fiel ihm ein, daß dies eine wirklich tolle Exklusivstory für ihn wäre. Aus erster Hand und ein wirklicher Knüller. Eine Woche lang könnte er damit die Seite eins haben. Wenn er jemanden hätte, für den er schreiben könnte.

Julie kam über das splitterübersäte Parkett zu ihm. Ihr Gesicht war angespannt, ihre Augen funkelten zornig. Sie setzte sich neben ihn. »Sie sind euch also entkommen?«

»Ja.«

»Seid ihr überhaupt nahe genug rangekommen, um sie zu sehen?«

»Auf der Plaza muß sie irgendwer gesehen haben. Wir hatten kein Glück.«

Julie zündete sich eine Zigarette an. Sie sah dem Polizeifotografen zu, der noch einmal den Toten auf der Bühne knipste.

»General Dien hat ihn erschossen«, sagte Frye.

»Ich war unter dem Tisch.«

»Er muß schon an die siebzig sein.«

»Sechsundsiebzig. Ich hätte keine Gangster hier reinlassen dürfen. Ewig dasselbe. In Saigon war ich Sängerin. Ich habe diesen Nachtclub hier aufgemacht, um Musik zu hören. Was habe ich stattdessen? Schießereien.«

Julie stand wieder auf, als ihr einer der Polizisten winkte. Sie sah Frye mit festem Blick aus ihren dunklen Augen an. »Es wird ihr nichts passieren. Niemand kann Li etwas tun.«

Nur eine Nacht mit ihr im Bett.

Er stand auf und bahnte sich einen Weg nach hinten. Ihr Tisch von vorhin war umgestürzt, die Stühle waren verstreut. Eine verbogene Sonnenbrille lag zwischen Servietten und Strohhalmen. Der Kassettenrecorder war zertrampelt. Hatten die etwa die Absicht gehabt, wiederzukommen?

Chuck Frye stieß den Recorder mit der Fußspitze an. Hinter ihm rief jemand: »He!« Er drehte sich um. Der dickbäuchige Sergeant tat sich mit wedelnden Armen wichtig und kam näher. »Machen Sie, daß Sie hier wegkommen!«

Frye starrte ihn reglos an wie das Kaninchen die Schlange. Mit Autoritätspersonen war er noch nie zurechtgekommen.

Der Sergeant stieß sein Gesicht nahezu in das seine. »Machen Sie, daß Sie auf Ihren Stuhl zurückkommen, und bleiben Sie da, bis Detective Minh Sie ruft. Oder Sie fliegen raus!«

»Oder so.«

»Gar nichts oder so. Auf den Stuhl!«

Chuck setzte sich neben Crawley, legte das Gesicht in die Hände und versuchte nachzudenken. Noch immer dröhnten die Schüsse in seinen Ohren. Noch immer roch die Luft nach Schießpulver. Julie brachte ihm eine Tasse starken, schwarzen und süßen vietnamesischen Kaffees.

Gleich darauf kam Burke Parsons und rückte sich seinen Cowboyhut zurecht. Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch, sagte aber kein Wort. Zuerst sah es so aus, als sei er nur nervös. Bei näherem Hinsehen jedoch merkte man, daß er kurz vor einem Wutausbruch stand. »Mit meinen Freunden legt sich keiner an. Das habe ich Bennett gesagt, und ich sage es jetzt auch dir. Wenn du was brauchst, gleich was, ruf mich an. Es ist vollkommen egal, worum es sich handelt.« Er schluckte schwer, schien noch etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber doch sein. Er fixierte Frye noch mit einem wildentschlossenen Blick und ging.

Frye schlenderte zur Bühne hinüber und sah dem Spurensicherer bei der Arbeit zu. Er kannte ihn von einem Interview vor einem Jahr, aber sein Name war ihm entfallen. Weniger als einen Meter neben ihm lag der Tote, der nun keine Gesichtsmaske mehr trug. Er war ein kleiner Asiate. Ein dünnes Blutrinnsal war an seinem Kopf zu sehen. Er starrte nach oben zur Bühnenbeleuchtung. War sie das letzte gewesen, was er in seinem Leben gesehen hatte?

Der Spurensicherer holte eine Schnurrolle aus seinem Köfferchen und sah Frye an. »Haben Sie nicht damals diesen Artikel über Kriminallabors im Ledger geschrieben?«

»Richtig. Chuck Frye.«

»Ich heiße Duncan. Gute Arbeit gewesen. Hat uns bei den Etatberatungen geholfen.« Er deutete auf Bennett. »Ist das Ihr Bruder?«

»Ja.«

Duncan drückte neben dem Kopf der Leiche einen Reißnagel mit der Schnur daran in den Boden und ging mit dieser dann zehn Schritte bis zu einem Tisch. Er sah Frye an. »Gute zehn Meter weg und kriegt eine mit einer .22er in den Kopf. War nicht sein Glückstag.«

»Fünfzehn stimmt eher. Der General war an dem Tisch da drüben.«

Duncan ging um einen Stuhl herum, immer die Schnur straff hochhaltend, und setzte sie dort an, wo Frye hindeutete. Er machte sie auch hier mit einer Reißzwecke fest und legte ein gelbes Maßband an.

»Ist Dien weg?« fragte Frye. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen.«

»Vamanos. Wir haben drei Leute, die bezeugen, daß er geschossen hat. Obwohl diese Viets natürlich alle paar Minuten ihre Meinung ändern. Sie sind die schlimmsten Zeugen auf der ganzen Welt. Haben Sie ihn schießen sehen?«

»Ja. Ein Schuß.«

Duncan ging zur Bühne zurück und zog das Maßband hinter sich her. »Und was passierte dann?«

»Na ja, bevor der Getroffene umfiel, hat er noch eine Salve losgefeuert.«

»Wissen Sie, wenn man es genau betrachtet, ist hier drin heute abend ein Wunder passiert. In einem Lokal voller Leute werden ein paar hundert Kugeln verballert, und der einzige, den es erwischt, ist einer von den bad guys.«

»Schließen Sie daraus was Bestimmtes?«

»Ja. Daß es denen mehr um die Panik und ums Angstmachen ging als um einen Amoklauf.«

Frye sah die Szene wieder vor sich: Der Gangster hatte Bennett bereits im Visier, dann aber doch nicht geschossen. »Glaube ich auch. Aber schwören würde ich darauf nicht.«

»Das müssen Sie auch gar nicht. Ich bin lediglich der Spurensicherer.« Duncan besah sich das Maßband. »Vierzehn sechsundsechzig.«

»Sehen Sie.«

In der anderen Ecke drüben sprach ein Kriminalbeamter in Zivil noch immer mit Bennett. Donnell Crawley saß stocksteif und stumm auf seinem Stuhl. Hinter ihm war der Tote zu erkennen. Dunkler Teint, dichtes schwarzes Haar, Ansatz von Schnurrbart. Weißes Hemd, schwarze Hose. Zwei schwarze Lederarmbänder mit Silbernieten. Schwarze Schuhe mit angetrocknetem Straßenschmutz auf den Sohlen und an der Seite.

»Was glauben Sie, woher dieser Schmutz an den Schuhen stammt?« fragte Chuck Duncan. »Jetzt, Mitte August?«

Duncan sah auf, ging hinüber zu der Leiche und besah sich den Schmutz. Er berührte ihn mit zwei Fingern, roch daran und meinte dann achselzuckend: »Der Mann soll aus Westminster kommen. Nicht aus Sacramento oder so. Wahrscheinlich ein Gangster, der nur hier arbeitet.«

»Wie heißt er?«

Duncan wischte ein wenig Schmutz von seinem Finger. »Tut mir leid. Da müssen Sie Minh fragen, der ist unser neuer Boß bei der Kriminalpolizei in Little Saigon.«

»Ein Vietnamese?«

»Zur Hälfte. Zur anderen Amerikaner. Gilt als der ideale Mann für diese Gegend.« Doch es klang wenig überzeugend.

Frye ging über die Tanzfläche zur Bühnentür. Dort stellte er sich mit dem Rücken an die Wand und beobachtete die Polizisten bei ihrer Arbeit. Sie schienen alle kein übermäßiges Interesse an der ganzen Geschichte zu haben. Er betrat Lis Garderobe, schloß die Tür hinter sich und schaltete das Licht an.

Ihr Parfüm hing noch immer im Raum. Ihre Kosmetiksachen standen ordentlich auf dem Tisch. Der Stuhl war weggeschoben. Ihre Straßenkleidung hing in dem offenen Schrank: Jeans, Bluse, leichte Seidenjacke.

Der Halliburton-Kosmetikkoffer war nicht da. An seinem Platz standen jetzt drei Flaschen französischer Champagner. Und auf den Spiegel war mit hellrotem Lippenstift geschrieben: »Du hast verloren, ban!«

Chuck setzte sich auf Lis Stuhl und betrachtete die Schrift genauer, anschließend begutachtete er die Flaschen. Ein Spott von den Kidnappern? Wer oder was war ban?

In der obersten Schublade des Toilettentisches lagen ein Handspiegel, einige Bürsten und Kämme, eine unangebrochene Packung Pappnagelfeilen und drei dieser schwarzen Gummibänder, die das Haar halten, ohne es zu beschädigen, eine Anzahl bleistiftartiger Gegenstände mit verschiedenen Farben – wohl alles irgendwie für die Augen, vermutete Chuck. Im zweiten Schubfach waren Tücher, Cremes, Salben, Wässerchen, Öle, Puder – alles, was man für die Schönheit braucht.

In der dritten Schublade schließlich fanden sich fünf Tonbandkassetten, alle noch in ihrer Verpackung, eine kleine Sechserpackung Vitaminsaft und, unter einem sauberen weißen Handtuch, eine großkalibrige zweischüssige Pistole.

Chuck legte das Handtuch wieder über die Waffe, schloß die Schublade und stand auf. Die eine Seite des Schranks enthielt einige helle Kleider und Blusen, ein halbes Dutzend áo dàis, und einen oder zwei Mäntel. Der Schrankboden sah aus wie ein Flohmarktstand mit dem wild durcheinandergeworfenen Berg von Schuhen – alle Farben, alle Formen. Die andere Seite aber war praktisch leer, von Lis Straßenkleidung abgesehen.

Chuck holte sich einen Stuhl, um das oberste Regalbrett zu inspizieren. Dort fand er nur ein Kofferradio – eines mit abnehmbaren Seitenlautsprechern – und ein Bündel Briefe, das von einem von Lis schwarzen Haargummis zusammengehalten wurde. Er untersuchte das Radio und stellte es wieder zurück. Dann zog er mit einem Anflug von Schuldbewußtsein einen Brief aus dem Bündel und las ihn.

Maschinegeschrieben, auf dünnem grauen Papier, auf das oben ein schwarzes Bambussignet gedruckt war. Datum vor einem Monat. Er liebe sie mehr als alles auf der Welt, stand darin – mehr als sogar sein Leben –, und war bereit, für sie zu sterben. Keine Nacht könne er mehr schlafen, so verzehre er sich nach ihr. Und sie möge ihm verzeihen, da er ihrer doch so unwürdig sei. Sie solle, bitte, Bennett verlassen. Unterschrift »In Liebe, Eddie«. Das Papier roch kräftig nach Patschuliöl.

Er steckte den Brief wieder in das Bündel und zog einen anderen heraus. Derselbe Inhalt, anderes Datum. »Ganz der Deine, Eddie Vo.«

So etwas haben wir gern, Eddie Vo.

Er wollte den Brief gerade wieder zurücklegen, als er den Summer in der Ecke des Regalbretts sah. Er sah aus wie ein altmodischer Klingelknopf, verziertes Messing mit schwarzem Druckknopf. Chuck besah sich die Sache genauer. Ein Draht führte durch die Rückwand des Schranks. Chuck blies den Staub weg und wunderte sich. Was stellte das dar? War es ein Rufknopf für den Service? Wieso war er dann hier oben versteckt? Eine Alarmklingel? Auch eine Alarmklingel müßte eigentlich schneller zu erreichen sein.

Er drückte. Und neben dem Schrank rollte lautlos ein Stück der Wand zur Seite. Ein Fenster erschien, das Ausblick auf einen kleinen Raum neben dem Lokal bot. Mit einem leeren Tisch für vier Personen, Stühlen, Bildern, und einem angestaubten Strauß künstlicher Seidenblumen. Ein Spiegel direkt an der gegenüberliegenden Wand spiegelte jedoch sein Gesicht nicht wider. Das Fenster, durch das er in den Raum sah, war gar kein richtiges Fenster. Es war ein Einwegspiegel. Ein Separée mit einem Fenster? Wozu? Etwa, um zu verhindern, daß die Gäste Eßstäbchen stahlen?

Er drückte noch einmal auf den Knopf, stieg hinunter und stellte den Stuhl wieder an Lis Schminktisch. Dann knipste er das Licht aus. Und lief direkt dem dickbäuchigen Sergeant in die Arme. Eine große Hand drückte ihn an die Wand, so unsanft, daß er mit dem Kopf schmerzhaft anstieß.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen sitzen bleiben, Sie Arsch mit Ohren?«

»Mir ist langweilig geworden.«

Der Sergeant, auf dessen Namenschild Marxer stand, drehte ihn herum, legte ihm Handschellen an, zwang ihm die Arme nach unten und drehte ihn wieder um. »Sie mischen sich in die Ermittlungen eines Kapitalverbrechens ein. Marsch, los!«

Frye ging den Korridor entlang und in das Lokal zurück. Crawley stand auf. Bennett sah ihn und schüttelte den Kopf. Detective Minh kam herbei und steckte währenddessen einen Notizblock ein. Sein schmales Gesicht war glatt, das schwarze Haar wellig, sein Mund wirkte feminin, und die blauen Augen waren sehr blaß. Marxer zerrte an Frye, so daß er stehenbleiben mußte. »Der Knabe hier schnüffelt überall herum. Gerade habe ich ihn in der Garderobe erwischt.«

»Wer sind Sie?« fragte Minh.

»Charles Edison Frye.«

»Was suchen Sie?«

»Ein Klo.«

Minh warf Marxer einen bedeutsamen Blick zu und musterte dann Frye noch einmal. »Lassen Sie ihn frei, Sergeant. Er sieht ganz so aus wie einer, der nicht mal das Klo findet. Und schließlich kann er nicht mit den Händen auf dem Rücken pinkeln.«

Marxer drehte ihn unsanft herum. »Bleiben Sie, wo ich Sie im Auge behalten kann.«

Bennett war inzwischen auf seinen Fäusten zu der Gruppe gerobbt, ohne die Scherben, die auf dem Boden verstreut herumlagen, zu beachten. »Versuch dich doch mit den Leuten zu arrangieren, Chuck!«

Marxer ließ sich auffallend lange Zeit, die Handschellen zu öffnen und achtete darauf, dabei möglichst fest Fryes Gelenke zu drücken. Minh holte seinen Notizblock wieder hervor. »Also, dann da rüber in diese Nische, Chuck. Ich habe ein paar Fragen an Sie.«

Die ganze nächste Stunde beantwortete Frye Frage um Frage, einmal und noch einmal, und dann wieder ein paar neue. Was ihn dabei am meisten beschäftigte, war die Tatsache, daß Minh sich seine Notizen eine Zeitlang mit der linken Hand machte, dann mit der rechten, dann wieder mit der linken. Und ebenso schien er auch die Gesichter zu wechseln; mal Vietnamese, mal Amerikaner; mal Junge, mal Frau. Gilt als der ideale Mann für diese Gegend. Mitten in die Fragestunde kam ein schlanker Zivilbeamter und brachte Minh das Bündel Liebesbriefe von Eddie Vo. Als Frye endlich entlassen war, befanden sich nur noch wenige Polizisten in der Bar.

Fünf Minuten später ging Frye eine halbe Meile vom Asian Wind entfernt die Rampe zum Haus seines Bruders hinauf. Es war kurz vor zwei Uhr morgens. Das Licht brannte, und hinter dem Vorhang sah man Gestalten. Donnell öffnete ihm.

Von der Decke hing Kreppapier, auf dem Kaffeetisch stand ein Stapel Geschenke, auf dem Eßtisch befand sich ein Kuchen neben einer Pyramide knallroter Juxhüte. Bennett warf gerade den Telefonhörer auf die Gabel und begann sich im Raum umherzubewegen. Er sah Frye mit unmißverständlich finsterem Gesicht an. Den Blick, dachte Chuck, kenne ich. Der bedeutet immer Sturm. Auf der Couch saß Kim mit einem Notizblock auf dem Schoß. Nguyen Hy lief vor dem Eßzimmer hin und her und wählte an einem drahtlosen Telefon eine Nummer. Neben der Tür standen zwei große Lederkoffer und ein silberner Halliburton-Kosmetikkoffer. »Ich habe gerade mit Pa gesprochen«, berichtete Bennett ruhig. »Er erzählt’s Ma.«

Frye ließ sich auf die Couch sinken und fühlte mit einem Schlag, wie müde er war. In der folgenden Stille empfand er besonders deutlich, was für ein klaffendes Loch Li hinterlassen hatte – hier im Haus, in seinem Bruder und auch in ihm selbst. Es war so viel von ihr hier, daß ihre Abwesenheit eine düstere Leere hinterließ. »Wollte Li wieder auf Reisen gehen, Benny?«

»Ja.«

»Wohin?«