Highball Rush - Claire Kingsley - E-Book
SONDERANGEBOT

Highball Rush E-Book

Claire Kingsley

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bootleg  Springs - die erfolgreiche Reihe der Bestsellerautorinnen Claire Kingsley und Lucy Score!

Gibson Bodine liebt seinen Ruf als harter Kerl und Bad Boy. Er lebt und arbeitet alleine und seine einzige Leidenschaft - neben einer guten Schlägerei - ist es, auf einer schäbigen Bühne zu sitzen, Gitarre zu spielen und über Dinge zu singen, die er nie haben wird. Als ein Video von ihm viral geht, ignoriert Gibson die unerwünschte Aufmerksamkeit. Er hat einfach keine Zeit für Ruhm oder Liebe, sondern ist mit seiner Familie und den neugierigen Nachbarn beschäftigt.

Eines Abends, fünfzig Meilen von zu Hause entfernt, trifft er dann sie und es ändert sich alles. Nun muss Gibson ein Geheimnis entschlüsseln, das ihn schon seit 13 Jahren quält. Und finden, was er die all die Jahre vermisst hat - die Liebe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 604

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

Liebe Leserin, lieber Leser,

Danke, dass Sie sich für einen Titel von »more – Immer mit Liebe« entschieden haben.

Unsere Bücher suchen wir mit sehr viel Liebe, Leidenschaft und Begeisterung aus und hoffen, dass sie Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und Freude im Herzen bringen.

Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Bootleg  Springs - die erfolgsreiche Reihe der Bestsellerautorinnen Claire Kingsley und Lucy Score!

Gibson Bodine liebt seinen Ruf als harter Kerl und Bad Boy. Er lebt und arbeitet alleine und seine einzige Leidenschaft - neben einer guten Schlägerei - ist es, auf einer schäbigen Bühne zu sitzen, Gitarre zu spielen und über Dinge zu singen, die er nie haben wird. Als ein Video von ihm viral geht, ignoriert Gibson die unerwünschte Aufmerksamkeit. Er hat einfach keine Zeit für Ruhm oder Liebe, sondern ist mit seiner Familie und den neugierigen Nachbarn beschäftigt.

Eines Abends, fünfzig Meilen von zu Hause entfernt, trifft er dann sie und es ändert sich alles. Nun muss Gibson ein Geheimnis entschlüsseln, das ihn schon seit 13 Jahren quält. Und finden, was er die all die Jahre vermisst hat - die Liebe.

Über die Autoren

Claire Kingsley schreibt Liebesgeschichten mit starken, eigensinnigen Frauen, sexy Helden und großen Gefühlen. Ein Leben ohne Kaffee, E-Reader und neu erfundene Geschichten ist für sie nicht vorstellbar. Claire Kingsley lebt mit ihrer Familie im pazifischen Nordwesten der USA.

Lucy Score ist New York Times- und USA Today-Bestsellerautorin. Sie wuchs in einer buchverrückten Familie in Pennsylvania auf und studierte Journalismus. Wenn sie nicht gerade ihre herzzerreißenden Protagonist:innen begleitet, kann man Lucy auf ihrer Couch oder in der Küche ihres Hauses in Pennsylvania finden. Sie träumt davon, eines Tages auf einem Segelboot, in einer Wohnung am Meer oder auf einer tropischen Insel mit zuverlässigem Internet schreiben zu können.

ABONNIEREN SIE DEN NEWSLETTERDER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehr

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlage.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Claire Kingsley, Lucy Score

Highball Rush

Übersetzt von Juna-Rose Hassel

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Grußwort

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

ÜBER DIESES BUCH

1 — GIBSON

2 — GIBSON

3 — MAYA

4 — GIBSON

5 — MAYA

6 — GIBSON

7 — MAYA

8 — GIBSON

9 — MAYA

10 — GIBSON

11 — MAYA

12 — MAYA

13 — GIBSON

14 — MAYA

15 — CALLIE

16 — MAYA

17 — GIBSON

18 — GIBSON

19 — GIBSON

20 — MAYA

21 — MAYA

22 — GIBSON

23 — GIBSON

24 — MAYA

25 — MAYA

26 — GIBSON

27 — MAYA

28 — GIBSON

29 — MAYA

30 — MAYA

31 — GIBSON

32 — GIBSON

33 — MAYA

34 — MAYA

35 — CALLIE

36 — MAYA

37 — GIBSON

38 — GIBSON

39 — MAYA

40 — GIBSON

41 — MAYA

42 — GIBSON

43 — GIBSON

44 — CALLIE

EPILOG — GIBSON

NACHWORT

DANKSAGUNGEN

Impressum

Lust auf more?

Für Lucy, weil sie so verrückt war, Ja zu sagen. Danke für diese Reise, diese Stadt und diese Charaktere. Auf sämtliche Abenteuer, die unserer noch harren. Ich bewundere deinen Mut.

ÜBER DIESES BUCH

»Plötzlich ergaben all diese alten Country-Liebeslieder, die ich so oft gespielt hatte, absolut Sinn.«

Reibeisenstimme Gibson Bodine nimmt sein Image des einsamen Wolfes ernst. Der toughe Typ. Der Bad Boy. Er lebt allein. Arbeitet allein. Seine einzige Liebe – abgesehen davon, eine zünftige Schlägerei anzuzetteln – besteht darin, in einer Provinzbar auf einer schäbigen Bühne zu sitzen, Gitarre zu spielen und von Dingen zu singen, die er nie haben wird.

Als ein Video von ihm viral geht, ignoriert Gibson die unerwünschte Aufmerksamkeit. Es gibt Wichtigeres, worüber er sich den Kopf zerbrechen muss. Zum Beispiel die Bombe, die die Mom seines Halbbruders hatte platzen lassen. Und die Nachwirkungen des Erinnerungsstücks, das er schon seit dreizehn Jahren mit sich herumträgt.

Er hat keine Zeit für Ruhm … oder Liebe … oder sich einmischende Nachbarinnen und Nachbarn, die mit Aufläufen und jeder Menge Fragen bei ihm vorbeikommen.

Doch eines Abends, achtzig Kilometer von zu Hause entfernt, begegnet er ihr in einer Bar. Und sie verändert alles.

In Bootleg Springs – Heimat des besten Selbstgebrannten und der lautesten Nachbarn in West Virginia – bleibt nichts ein Geheimnis. Als die Wahrheit über Callie Kendalls Schicksal zur Gefahr wird, ist es an Gibson, da zu sein und den Helden zu spielen. Und vielleicht zu finden, was ihm schon die ganze Zeit gefehlt hat.

Liebe.

1

GIBSON

Die Luft in Sheriff Tuckers Büro war zu stickig. Heiß und muffig. Ich widerstand dem Bedürfnis, an meinem Hemdkragen zu zupfen, und starrte vor mich auf den Tisch. Wartete.

Jayme, die tierisch Furcht einflößende Anwältin meiner Familie, stand hinter mir. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz und trug High Heels, die aussahen, als könnte man damit die Eier eines Kerls zerstechen. Sie verströmte Macht in dem kleinen Büro. Nicht dass sie mich eingeschüchtert hätte, aber Jayme kam näher. Und ich wäre nicht gern am spitzen Ende dieser High Heels.

Wenigstens war sie auf meiner Seite. Gewissermaßen. Ich konnte sie aus dem Augenwinkel sehen, und dem Funkeln nach, das sie mir zuwarf, war sie nicht allzu erfreut über diese Wendung der Ereignisse.

Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hatten wir alle Bowies und Cassidys Hochzeit gefeiert. Die Leute hatten getanzt, gegessen, getrunken und viel Spaß gehabt. Und dann war Misty Lynn vor allen Leuten durchgedreht. Ich hatte sie öffentlich abgewiesen – nicht zum ersten Mal –, und sie hatte daraufhin meine verdammte Brieftasche geklaut.

Und sie beim Sheriff abgegeben, als sie herausgefunden hatte, was sich darin befand.

»Zum letzten Mal. Gibt es etwas, das du mir sagen willst, bevor Sheriff Tucker zurückkommt?«, fragte Jayme mit leiser, aber scharfer Stimme.

»Nein.«

»Gibson …«

Die Tür ging auf, und der Sheriff kam herein. Sein schneeweißer Oberlippenschnurrbart zuckte. Ich blickte nicht auf. Traute mich nicht, ihn anzusehen. Ich war zu verdammt wütend. Und ich wusste, dass das nicht seine Schuld war. Das Problem war, dass ich dieses Foto nicht hätte behalten sollen. Es lag an mir.

Sheriff Tucker – ich konnte ihn nicht mal in Gedanken Harlan nennen, nicht unter diesen Umständen – nahm gegenüber von mir Platz. Für den Bruchteil einer Sekunde blickte ich auf. Er sah unbehaglich aus, vielleicht sogar entschuldigend.

»Gibson, ich nehme an, du weißt, weshalb ich dich hierhergebeten habe?«

»Ja.«

Er zog meine Brieftasche heraus und schob sie mir hin. »Erkennst du die wieder?«

»Das ist meine Brieftasche. Misty Lynn hat sie gestohlen, und vermutlich war sie diejenige, die sie Ihnen gegeben hat.«

Er nickte. »Sie hat etwas darin gefunden, das ihr zu Recht Sorge bereitete.«

Nun war es an mir zu nicken.

Er zog den Fotostreifen heraus. Es handelte sich um vier Fotos. Wir waren in einen Fotoautomaten gehüpft und hatten Grimassen geschnitten. Auf dem letzten lachten wir. Inzwischen waren sie dreizehn Jahre alt und verblasst. Zerknickt, weil ich sie die ganze Zeit in meiner Geldbörse aufbewahrt hatte.

»Kannst du mir sagen, wer auf diesen Fotos zu sehen ist?«

Ich ließ den Blick darüber schweifen. Obwohl ich sie schon seit Jahren mit mir herumtrug, hatte ich sie mir schon lange nicht mehr angesehen. Tat zu sehr weh.

»Das bin ich mit Callie Kendall.«

»Wann wurden die Fotos gemacht?«

»Am Tag vor ihrem Verschwinden.«

Sheriff Tucker holte tief Luft, den Blick auf die Fotos gerichtet. Ich spürte förmlich, wie Jayme sich zurückhielt, mir – zum millionsten Mal – zu sagen, dass ich seine Fragen nicht zu beantworten brauchte. Sie gab ein kehliges Geräusch von sich, das sich sehr nach einem Knurren anhörte.

»Und welcher Natur war deine Beziehung zu Callie Kendall?«

Das war sie. Die eigentliche Frage. Oder eine von ihnen jedenfalls. »Wir waren Freunde.«

»Nur Freunde?«, fragte er. »Ihr seht auf diesen Fotos ganz schön kuschelig aus.«

Ich schüttelte den Kopf. Natürlich ging er vom Schlimmsten aus. Das würde jeder tun. »Ich war zwanzig, sie sechzehn. Wir waren definitiv nur Freunde.«

»Aber, Gibson …«

Ich schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich habe sie nie angerührt. Kein einziges Mal. Diese Stadt mag von mir aus glauben, ich sei ein Stück Scheiße, doch ich hätte niemals diese Linie bei ihr überschritten. Wir waren Freunde. Mehr nicht.«

Sheriff Tucker verschränkte die Arme. »Gibs, ich kenne dich schon dein ganzes Leben lang. Ich weiß, dass du kein Stück Scheiße bist. Aber anscheinend hast du all die Jahre Fotos von dir und Callie mit dir herumgetragen, und verdammt will ich sein, wenn keiner in Bootleg wusste, dass ihr zwei je zusammen wart. Deshalb muss ich wissen, wie es kommt, dass ihr befreundet wart, ohne dass es die ganze Stadt gewusst hat. Und warum du nie ein Wort davon gesagt hast, selbst nachdem sie verschwunden war.«

Ich holte tief Luft. »Sie mochte Musik.«

»Wie bitte?«, fragte er.

»Callie mochte Musik. Und ich auch. Manchmal sind wir losgezogen und haben uns im Wald getroffen. Ich hab meine Gitarre mitgebracht, und sie sang, während ich spielte. Wir mochten dieselben Bands, dieselben Songs. Sie hatte ein kleines Notizbuch, in das sie Songtexte schrieb, und ich hab ihr geholfen, sie zu vertonen.«

»Das war alles?«

»Ja, das war alles.« Und sie hat mich nicht angesehen wie alle anderen. Der Sohn des stadtbekannten Säufers. Ein Stück Abschaum, das es zu nichts bringen wird.

»Also willst du damit sagen, dass deine Beziehung zu ihr vollkommen unschuldig war?«

»Ja.«

»Warum sie dann verstecken?«, fragte er. »Warum hat niemand davon gewusst?«

Ich sah ihn an. »Ich bin Gibson Bodine, Sheriff. Was glauben Sie wohl, wie es ihr Vater aufgenommen hätte, wenn seine sechzehnjährige Tochter Zeit mit dem schlimmsten ›dieser Bodine-Jungs‹ verbringt? Meinen Sie, er hätte uns geglaubt, wenn wir gesagt hätten, dass wir nichts Falsches tun? Meinen Sie, das hätte uns irgendjemand geglaubt?«

Er räusperte sich. »Erzähl mir von den Fotos.«

»Drüben in Perrinville hat eine Band gespielt, die uns beiden gefallen hat. Es war ein großes Open-Air-Ding, eine Art Festival. Wir haben uns heimlich getroffen, und ich habe sie mitgenommen, damit wir sie spielen hören. Danach haben wir einen Fotoautomaten gesehen, deshalb sind wir hineingegangen und haben die gemacht.«

»Und das war an dem Tag, bevor sie verschwunden ist?«, fragte er.

»Ja.«

»Gibson, du musst jetzt offen und ehrlich zu mir sein«, sagte er. »Hattest du irgendetwas mit ihrem Verschwinden zu tun?«

Wieder sah ich ihn an. »Nein.«

»Wo warst du, als sie verschwunden ist?«

»Ich war zu Hause. Ich hab sie an dem Tag nicht mal gesehen, weil ich arbeiten musste. Sie war mit all den Highschool-Kids unten am See. Außerdem hat sie sich Sorgen gemacht, dass sie erwischt worden war, als sie am Tag zuvor mit mir weggegangen war, deshalb hielt ich mich fern.«

»Ich versuche immer noch zu begreifen, weshalb niemand davon gewusst hat«, sagte der Sheriff mehr zu sich selbst als zu mir.

Ich zuckte mit den Schultern. »Die Stadt weiß nicht alles. Himmel, ein ganzer Mensch ist verschwunden, und niemand wusste, was passiert war. Oder zumindest hat niemand, der was wusste, ausgepackt.«

Mein verdammter Vater. Ich wusste nicht, was ich von Jenny Lelands Geschichte halten sollte – dass mein Vater Callie geholfen hatte, aus der Stadt zu kommen. Der Scheißkerl hat dieses Geheimnis mit ins Grab genommen. Er hatte mich all die Jahre in dem Glauben gelassen, dass sie tot sei. Aber natürlich hatte ich in Bezug auf sie auch etwas geheim gehalten.

Jenny schwor, dass sie am Leben war. Sie besaß Postkarten mit Callies Handschrift. Ich erinnerte mich daran aus ihren Song-Heften. Jenny hatte sogar gesagt, sie hätte Callie persönlich getroffen – vor einem Jahr in Seattle. Sie schwor Stein und Bein, dass Callie am Leben war.

Ich glaubte ihr. Vielleicht auch nur, weil ich es so gern glauben wollte. Aber ich glaubte ihr.

»Hast du irgendeine Ahnung, was mit ihr passiert sein könnte?«, fragte er. »Warum sie verletzt wurde? Warum sie versuchte, von zu Hause wegzukommen?«

Ich biss die Zähne zusammen, meine Nasenflügel bebten, und ich unterdrückte den Zorn, der in mir aufloderte. Irgendjemand – alles deutete auf ihren Vater hin – hatte ihr wehgetan. Schlimm wehgetan. So schlimm, dass sie meinen Dad am Straßenrand um Hilfe angefleht und er ihr anscheinend geholfen hatte, sich aus der Stadt zu schleichen. Es gab keine Gerechtigkeit à la Bootleg, die gut genug für einen Mann gewesen wäre, der seine eigene Tochter verletzte. Das machte mich fuchsteufelswild.

Ich räusperte mich. »Nein. Sie hat nie was über ihre Eltern gesagt oder wie es bei ihr zu Hause war. Ich wünschte, sie hätte es getan.«

Ich hätte mir den Scheißkerl vorgeknöpft.

»Warum hast du es niemandem erzählt, Gibs? Du hättest wissen müssen, dass das irgendwann ans Tageslicht kommen könnte. Es ist verdächtig.«

»Weil ich wusste, dass die Leute das Schlimmste annehmen würden. Dass ich ein halbwüchsiges Mädchen ausnutzen würde. Dass wir eine unangemessene Beziehung miteinander hätten.« Bei jedem Wort wurde meine Stimme lauter. »Was hat Gibson Bodine jetzt schon wieder angerichtet? Hat er sie geschwängert? Hält er sie irgendwo in einer Hütte im Wald? Hat er sie umgebracht und ihre Leiche in den See geworfen?«

»Gibson, es reicht«, sagte Jayme.

»Ich habe nichts falsch gemacht, es sei denn, es ist ein Verbrechen, wenn man mit einem Mädchen Musik macht.«

»Hattest du seit ihrem Verschwinden in irgendeiner Form Kontakt zu ihr?«, fragte er.

»Nein. Kein einziges Wort.« Ich dachte, sie wäre tot. Die ganze Zeit hatte ich nicht geglaubt, dass es noch Hoffnung gibt.

Der Sheriff lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Na schön, Gibs. Du darfst jetzt gehen.«

Wortlos nahm ich meine Brieftasche – und den Fotostreifen. Jaymes Absätze klapperten bereits zur Tür hinaus.

Im Türrahmen blieb ich stehen und sah über die Schulter. »Sheriff?«

»Ja.«

»Zielen die Ermittlungen darauf ab, sie zu finden? Oder denjenigen zu fassen, der ihr wehgetan hat?«

Sein Blick wurde stählern, seine Stimme hart. »Sowohl als auch.«

Ich nickte knapp. »Gut.«

»Ich will dich noch mal daran erinnern, dass dies Sache der Polizei ist«, sagte er, während er auf seinem Schreibtisch ein paar Papiere zusammenschob. »Du musst das uns überlassen.«

»Ich weiß.«

Das wusste ich auch. Aber ich würde nichts versprechen.

2

GIBSON

Es dauerte eine ganze Stunde, bis jemand – wahrscheinlich Scarlett – an meine Haustür hämmerte. Ich hatte sofort nach Verlassen des Sheriffbüros mein Handy ausgeschaltet. War direkt nach Hause gefahren und hatte überlegt, meine Auffahrt zu verbarrikadieren, um mir die Leute vom Hals zu halten.

Das war der Teil, den ich gefürchtet hatte, seit klar war, dass Misty Lynn meine Brieftasche geklaut hatte. Dass jeder mit seinen naseweisen Fragen über mich herfallen würde. Ich holte tief Luft und stand vom Sofa auf. Wenn ich sie nicht hereinließe, würde sie vermutlich ein Fenster einschlagen. Es war wohl besser, zerbrochenes Glas zu vermeiden.

»Gibs? Ich weiß, dass du da drin bist.« Scarletts Stimme drang durch die Tür, und sie hämmerte noch ein paarmal dagegen. »Denk erst gar nicht daran, mich zu ignorieren. Schwing deinen Hintern hierher und …«

Ich riss die Tür auf, und sie verstummte mitten im Satz. Devlin stand direkt hinter ihr. Ich trat beiseite und bedeutete ihnen, einzutreten.

Mein Haus – eine massive Blockhütte – stand auf über einem Hektar süßer Isolation. Schick war es nicht, aber ich hatte es selbst gebaut. Es umfasste zwei Schlafzimmer – auch wenn eines nur als Lagerraum benutzt wurde –, ein Badezimmer, ein Wohnzimmer mit Holzofen und eine Küche mit Schränken, die ich maßgefertigt hatte.

Einen Teil der Möbel hatte ich auch selbst gemacht. Der Tisch und die Stühle stammten von mir, ebenso der Schrank unter dem Flachbildfernseher an der Wand. Mit Deko hatte ich nicht viel am Hut, aber immerhin hatte ich ein Jameson-Bodine-Original über dem Kamin – die Metallskulptur eines Berges mit Bäumen. Scarlett hatte ein gerahmtes Foto von uns fünf Bodines auf den Kaminsims gestellt, das auf Clay Larkins Hochzeit aufgenommen worden war. Ich hatte mitgespielt und es dort stehen lassen.

Scarlett stand mit verschränkten Armen neben dem Sofa, ihre gesamten eins fünfzig auf Krawall gebürstet. Ihre ärmellose rot karierte Bluse war an der Taille geknotet, und sie trug eine alte abgeschnittene Jeans. Devlin ließ sich auf einen Stuhl sinken und legte den Fuß über das andere Knie. Sein faltenfreies Hemd und die Slacks waren für ihn Freizeitlook. Er sah mich an und zuckte mit den Schultern, als wollte er »Du bist auf dich allein gestellt« sagen.

»Also?« Sie klopfte mit dem Fuß. »Sheriff Tucker nimmt dich zu einem Verhör mit, und danach schaltest du dein verdammtes Handy aus? Cassidy wird mir einen Scheißdreck verraten, deshalb spuckst du es besser aus. Was zum Teufel ist passiert?«

Es blieb mir nichts anderes übrig, als es ihr zu erzählen. »Ich hatte ein Foto von Callie Kendall und mir in meiner Brieftasche.«

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Was willst du damit sagen, verdammt nochmal?«

Ich hasste es, darüber zu reden. Es tat verflucht weh. Und Dinge, die wehtaten, machten mich sauer. »Hör mal, wir waren befreundet. Und bevor du jetzt mit einer Gardinenpredigt loslegst, von wegen sie war ein Teenager und ich war zwanzig – das weiß ich auch. Aber so war es nicht.«

Sie starrte mich mit großen Augen an. »Du warst mit Callie befreundet?«

»Sag ich doch! Wir mochten beide Musik, deshalb hingen wir hin und wieder zusammen ab. Und hielten es aus offensichtlichen Gründen geheim.«

»Jetzt habe ich mindestens achthundert Fragen. Aber fangen wir mit dem Foto in deiner Brieftasche an.«

»Dummerweise habe ich heimlich mit ihr die Stadt verlassen, um auf ein Konzert zu gehen. In einem Fotoautomaten haben wir dann diese Bilder gemacht.« Ich rieb mir den Nacken. »Am nächsten Tag ist sie verschwunden.«

»Nun, das ist unglaublich ungünstig«, murmelte Devlin.

Scarlett war ungewöhnlich ruhig. Sie starrte mich mit halb offenem Mund an. »Keine Ahnung, ob mich jemals jemand sprachlos gemacht hat, aber du hast es gerade geschafft. Wie kommt es, dass wir nie von eurer Freundschaft erfahren haben?«

»Ich hab doch gesagt, wir haben es geheim gehalten.«

»Schon klar, aber niemand kann in dieser Stadt etwas geheim halten. Nicht dreizehn Jahre lang.«

Mein Rücken wurde steif. »Dad hat es geschafft.«

Sie wollte etwas erwidern, hielt dann allerdings inne. Normalerweise verteidigte sie Dad. Doch was hätte sie dem schon entgegensetzen können?

»Er wusste es, Scar. Er hat es nicht nur gewusst, er hat ihr auch geholfen wegzulaufen. Und er hat es keinem Menschen erzählt, verdammt.«

»Er muss sie wohl geschützt haben«, entgegnete sie.

Ich warf die Hände nach oben. »Na also, da ist es ja.«

»Warum hätte er es sonst verschweigen sollen? Wenn ihr Daddy sie misshandelt hat – und es klingt sehr danach –, dann hatte sie wahrscheinlich Angst. Wetten, dass sie ihn angefleht hat zu schweigen? Hat es ihn versprechen lassen oder so?«

»Du glaubst wirklich, er hätte ihr zuliebe die Klappe gehalten? Er hat es getan, um sich selbst zu schützen, Scar. Er half einer Sechzehnjährigen dabei, von zu Hause auszubüxen. Und ihr Dad ist Richter. Kannst du dir vorstellen, in was für Schwierigkeiten uns das gebracht hätte? Mach dir doch nichts vor. Er hat nicht sie geschützt.«

»Warum kannst du nicht zugeben, dass Dad vielleicht tatsächlich etwas Gutes getan hat? Jenny hat gesagt, dass Dad Callie verletzt am Straßenrand aufgegriffen hat. Er hätte ihr nicht helfen müssen. Er hätte sie nach Hause bringen können oder die Polizei rufen, damit sich der Sheriff damit herumschlägt. Hat er aber nicht getan.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten, war kurz davor zu explodieren. Devlin beobachtete unseren Streit, musterte mich, als wäre er bereit, einzuschreiten, wenn ich seiner Meinung nach eine rote Linie bei Scarlett überschritt.

»Hör auf zu versuchen, ihn zu einem Helden zu stilisieren«, sagte ich.

»Ach, komm schon, Gibs, was hättest du an seiner Stelle getan?«

»Keine Ahnung«, blaffte ich.

Ich hätte ihr Geheimnis gewahrt, wenn dies bedeutete, dass sie außer Gefahr wäre. Aber ich war zu zornig, um dies meiner Schwester gegenüber zuzugeben.

Sie atmete aus. »Das ist alles so verrückt. Callie ist am Leben, und Dad wusste es, und jetzt warst du auch noch ihr heimlicher Freund? Was finden wir als Nächstes heraus? Dass sie all die Jahre in irgendeiner Hütte draußen im Wald gehaust hat und du sie durch Henrietta Van Sickle hin und wieder mit Vorräten versorgst?«

Ich schüttelte den Kopf, ein Teil von meinem Zorn verflüchtigte sich. »Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich habe immer geglaubt, sie wäre tot.«

»Oh, Gibs.«

Ehe ich sie davon abhalten konnte, schlang sie die Arme um mich. Ich mochte keine Umarmungen, doch hin und wieder musste ich eine von meiner Schwester über mich ergehen lassen.

»Du weißt, was jetzt passieren wird, oder?«, fragte sie, während sie wieder zurücktrat. »Binnen einer Minute weiß die ganze Stadt über dich und Callie Bescheid.«

»Ach nee«, grummelte ich.

»Jayme hat dir bestimmt schon gesagt, was du sagen darfst und was nicht«, warf Devlin ein.

»Ja.« Ich ließ mich aufs Sofa plumpsen und lehnte den Kopf zurück. »Im Grunde: kein Kommentar.«

Das gedämpfte Geräusch eines Wagens, der draußen vorfuhr, drang zu uns herein. Ich stöhnte. Großartig, wer kam denn jetzt noch?

Ein paar Sekunden später klopfte jemand.

»Gibs?«

Jameson.

Scarlett öffnete die Tür. Jameson kam hereingestürmt, dicht gefolgt von Leah Mae, seiner Verlobten. Jameson sah mir sehr ähnlich mit seinen dunklen Haaren und den rauen Bartstoppeln. Er trug ein ausgeblichenes T-Shirt mit ein paar Brandlöchern vorne. Leah Mae war groß, hatte blondes Haar und Sommersprossen. Zu ihrem Sommerkleid trug sie Cowboystiefel.

»Gibson war insgeheim mit Callie Kendall befreundet, und er hatte ein Foto in der Brieftasche, auf dem sie beide zu sehen sind«, berichtete Scarlett, ehe einer von ihnen die Chance hatte, ein Wort zu sagen – oder eine Frage zu stellen. »Aber er hatte nichts mit ihrem Verschwinden zu tun und wusste nicht, dass sie noch am Leben ist. Außerdem weiß er nicht, wo sie sich derzeit aufhält.«

Jameson blinzelte ein paarmal, als müsste er diese Informationen erst verarbeiten. »Heilige Scheiße, Mann.«

»Können wir vielleicht über etwas anderes reden?«, warf ich ein. »Oder über gar nichts und ihr schwingt alle euren Hintern aus meinem Haus?«

»Wer weiß noch davon?«, fragte Jameson und ignorierte mich.

»Im Moment nur wir«, erwiderte Scarlett. »Aber das wird sich sicher bald ändern.«

»Ich bleibe einfach hier, bis der Sturm vorüber ist«, entgegnete ich. »Ich habe dem Sheriff alles gesagt, was ich weiß. Die Leute reden, was sie reden. Mir ist scheißegal, was diese Stadt von mir hält.«

»Apropos von etwas anderem reden«, warf Leah Mae ein. Sie hatte ihr Handy in der Hand. »Es gibt da etwas, das du vielleicht wissen willst.«

»Was?«, knurrte ich. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich es nicht wissen wollte.

»Das ist wundervoll.« Sie hielt inne, in ihren Augen lag Aufregung. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Wovon redest du?«, fragte Scarlett.

»Ich habe es neulich schon gesehen, aber wegen der Hochzeit und allem wollte ich keinen Wirbel verursachen. Und ich kann es gar nicht glauben, die Anzahl der Aufrufe muss sich allein in den letzten vierundzwanzig Stunden verdoppelt haben.«

»Aufrufe wovon?«, hakte Scarlett nach. »Hat jemand aufgezeichnet, wie Gibson Misty Lynn eine verbale Niederlage zugefügt hat?«

Leah Mae schüttelte den Kopf. »Nein, viel besser. Jemand hat gefilmt, wie Gibson letzte Woche im Lookout gespielt hat, und es auf YouTube gepostet. Es wurde über zwei Millionen Mal angeklickt.«

»Wovon zum Teufel redest du?« Ich stand auf und riss ihr das Handy aus der Hand, nur um es sofort von Scarlett gemopst zu bekommen. »Hey.«

»Lass mal sehen.« Scarlett tippte auf das Display und drehte die Lautstärke auf.

Das war ich. Ich spähte über ihre Schulter und rieb mir den Nacken. Das Video war dunkel, aber man konnte mich deutlich erkennen. Ich saß auf einem Hocker, klimperte auf meiner Gitarre, spielte einen meiner Songs. Einen, den ich selbst geschrieben hatte.

»O mein Gott!«, quietschte Scarlett. »Das ist unglaublich.«

»Hat es wirklich zwei Millionen Views?«, hakte Jameson nach, während er mich zur Seite stieß, um Scarlett über die Schulter zu schauen.

»Ich verstehe nicht, was daran so großartig ist.« Ich ging zurück zum Sofa und setzte mich.

»Gibs, dieses Video ist ein Riesenerfolg«, erwiderte Leah Mae. »Sieh dir all die Kommentare an, in denen die Leute wissen wollen, wer du bist. Sie lieben es. Sie lieben dich.«

Ich grunzte nur.

»Man kann nie wissen, was sich aus so etwas entwickelt«, sagte Leah Mae. »Du hast keinen Manager, oder? Du solltest wirklich eine Vertretung in Betracht ziehen. Wenn du einen Medienanwalt brauchst, gib mir Bescheid.«

»Warum zum Henker sollte ich einen Medienanwalt brauchen? Mit Devlin und Jayme stehen mir die Anwälte bereits bis zu den Eiern.«

Devlin verdrehte die Augen.

Leah Mae legte den Kopf schief, als würde sie einem kleinen Kind etwas völlig Offensichtliches erklären. »Alles, was ich sagen will, ist, dass daraus etwas werden könnte. Es gibt jede Menge Leute, deren Karriere mit einem YouTube-Video begann.«

»Ich habe bereits einen Beruf.«

»Hör auf, so sauertöpfisch zu sein, Gibs«, entgegnete Scarlett und gab Leah Mae ihr Handy zurück. »Du weißt, dass manche Leute alles für einen Durchbruch wie diesen geben würden.«

Wieder grunzte ich.

»Er ist ein hoffnungsloser Fall«, seufzte Scarlett.

Ich spielte gern Gitarre, hatte aber nie eine Karriere als Musiker angestrebt. Würde ich nie tun. Das war das, was mein Vater für sich selbst gewollt hatte. Und er hatte immer mir die Schuld dafür gegeben, dass das nicht gegangen war. Eine ungeplante Teenagerschwangerschaft hatte ihm und meiner Mom die Träume geraubt. Dieses Baby war ich gewesen, und mein Dad hatte dafür gesorgt, dass ich das niemals vergaß.

Abgesehen davon bedeutete irgendein Video im Internet einen Scheißdreck.

Ich musste weitere zwanzig Minuten vier zusätzliche Menschen in meiner Umgebung ertragen, was mich höllisch nervte – besonders nach allem, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Ich hatte schon an der Hochzeit meines Bruders teilnehmen müssen. Auch wenn mich das eigentlich freute und die Hochzeit gar nicht so übel war.

Bis die verfluchte Misty Lynn das Fenster meines Trucks eingeschlagen und meine Brieftasche geklaut hatte. Und irgendein Psycho Jonahs Freundin Shelby direkt vor Sheriff Tuckers Haus gekidnappt hatte. Wir hatten sie gefunden, und es ging ihr gut, aber dann musste ich mich wegen dieser Sache mit dem Sheriff herumschlagen.

Ich hatte die Nase gestrichen voll von Menschen im Allgemeinen. Wollte nur noch mein Haus für mich selbst haben.

Nachdem ich alle ein paarmal zu oft für ihren Geschmack angeblafft hatte – und Scarlett mich wieder als sauertöpfisch bezeichnet hatte –, brachen sie endlich auf. Als sich meine ungeladenen Gäste verzogen hatten, ging ich auf die hintere Veranda. Dort setzte ich mich auf meinen selbstgebauten Liegestuhl – ich hatte nur einen davon, um Gesellschaft abzuschrecken – und atmete in der Stille. In der Ferne zwitscherten Vögel, und die Augusthitze fühlte sich gut an.

Am Waldrand erregte eine Bewegung meine Aufmerksamkeit. Vielleicht ein Tier, aber ich konnte nichts erkennen. Ich kniff die Augen zusammen und spähte mit träger Neugier hinüber.

Henrietta Van Sickle reckte den Kopf um einen Baumstamm herum. Ich hob die Hand und winkte. Ab und an durchquerte sie mein Grundstück, wenn sie in die Stadt ging, um Nachschub zu kaufen. Manchmal nahm ich sie im Auto mit. Seltener kam sie hier runter und leistete mir eine Weile auf der hinteren Veranda Gesellschaft. Ich mochte Henrietta – überwiegend deshalb, weil sie nicht sprach.

»’n Tag auch«, sagte ich, als sie sich näherte.

Ihr Erscheinungsbild vergraulte die Leute, und ich fragte mich, ob sie das wusste und es mit Absicht so hielt. Ihre Kleider waren zerlumpt, aber sie war immer sauber. Strähniges Haar hing unter ihrer alten Cock-Spurs-Mütze hervor, und ihre Schuhe sahen abgetragen aus. Ich nahm mir vor, ihr neue zu holen und irgendwo stehen zu lassen, wo sie sie fand.

Sie kam auf die Veranda und setzte sich im Schneidersitz neben mich. Ich stand nicht auf und bot ihr meinen Platz an, weil ich wusste, dass sie das nicht annehmen würde. Das tat sie nie.

Schweigend saßen wir eine ganze Weile da. Obwohl ich allein sein wollte, ging es mir nicht auf die Nerven, wenn Henrietta auf meiner Veranda saß. Wir starrten einfach beide in die Ferne und genossen die Stille.

»Es überrascht mich, dich zu sehen«, sagte ich schließlich. »Nach all der Aufregung dachte ich, du würdest dich eine Zeit lang nicht so weit von zu Hause entfernen.«

Henrietta hatte Shelby vermutlich das Leben gerettet. Der Entführer hatte sie in den Kofferraum seines Wagens gesteckt und war mit ihr zu einem alten Schuppen im Wald gefahren. Zum Glück hatte Henrietta etwas gesehen oder gehört und war ihnen gefolgt.

Sie hatte mich angerufen – ein richtiges Telefonat – und ein paar Worte hervorgekrächzt. Das einzige Mal, dass ich sie je hatte sprechen hören. Es hatte ausgereicht, um zu verstehen, was sie meinte und wo wir nach Shelby suchen sollten.

Nachdem wir Shelby gefunden und den Sanitätern übergeben hatten, war ich losgezogen, um nach Henrietta zu sehen. Sie hatte unweit der Straße alles beobachtet, hatte sich hinter Bäumen versteckt, damit niemand sie sah. Ich hatte mich vergewissert, dass sie okay war, und ihr meine Hilfe angeboten, nach Hause zu kommen. Sie hatte sie nicht angenommen, aber das war nicht ungewöhnlich.

»Hungrig?« Ich bot ihr immer etwas zu essen an. Nicht weil ich dachte, dass sie es nötig hatte. Ihre Art der Selbstversorgung schien ihr zu passen, und sie war gut darin.

Sie schüttelte den Kopf, sah mich aber weiterhin aus ihren klaren braunen Augen an.

»Brauchst du Hilfe bei etwas?«

Sie nickte und kramte in ihrer Hosentasche. Dann zog sie ihr Handy heraus und reichte es mir.

Vor ein paar Jahren hatte ich ihr ein Handy gekauft, vor allem für Notfälle. Für eine Einsiedlerin, die allein im Wald lebte, verstand sie etwas von Technik. In der Bibliothek benutzte sie den Computer, und ich brauchte ihr nicht zu zeigen, wie man mit dem Handy umging. Sie schrieb mir nur selten – normalerweise kam sie einfach auf mein Grundstück spaziert –, aber manchmal schrieb sie mir auch und bat mich darum, sie zu fahren.

Ein großer Riss zog sich über die Mitte des Displays.

»Das ist nicht gut. Ich kaufe dir ein neues.«

Sie lächelte mit geschlossenem Mund, die Falten um ihre Augen wurden tiefer. Sie hob den Finger und grub dann wieder in ihrer Tasche. Zog ein paar zusammengeknüllte Scheine heraus.

»Nee«, sagte ich und winkte ab. »Das geht auf mich. Betrachte es als dein Shelby-Rettungsgeschenk.«

Wieder lächelte sie und steckte das Geld ein. Ich wusste nicht, woher sie es hatte, doch offenbar besaß sie einen Vorrat an Bargeld. Vermutlich hatte sie es mitgebracht, als sie vor über zwanzig Jahren in ihre kleine Hütte da draußen gezogen war.

Ich reichte ihr das Handy zurück. »Behalte es vorerst, bald werde ich ein neues für dich haben.«

Sie nahm es, sah mich aber weiterhin mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Du fragst dich, was mit Shelby ist?«, riet ich.

Wieder ein Nicken.

»Es geht ihr gut. Jonah kümmert sich gut um sie. Die Cops haben den Kerl geschnappt, der es getan hat.«

Das schien sie zufriedenzustellen. Sie steckte ihr zerbrochenes Handy in die Tasche, rieb die Hände aneinander und stand auf, indem sie sich am Verandageländer hochzog.

»Das, was du getan hast, war wirklich gut«, sagte ich.

Sie nickte feierlich und ging dann zurück in den Wald. Ein wenig hinkte sie – das tat sie schon, seit ich sie kannte. Eine alte Verletzung. Wie bei den meisten Dingen rund um Henrietta würde ich wahrscheinlich nie herausfinden, was für eine Geschichte dahintersteckte. Und das war okay für mich. Sie war, wer sie war, und alles andere spielte eigentlich keine Rolle.

Ich beneidete Henrietta ein wenig um ihr Leben. Sie lebte außerhalb der Regeln. Ging ihren eigenen Weg in der Welt. Die Leute erzählten Geschichten über sie, doch der Dorfklatsch schien sie nicht zu berühren.

Klatsch. Ich atmete langsam aus. Davon würde es jede Menge geben, und mein Name würde daran kleben. Dieses Video war eine Sache. Zwei Millionen Klicks. Wie zum Teufel passierte so etwas?

Doch ich hatte das Gefühl, dass selbst ein Video mit mir, das durch das Internet geisterte, der Geschichte, wie Gibson Bodine vor dreizehn Jahren heimlich mit Callie Kendall herumgeschlichen war, nicht das Wasser reichen konnte.

Ich hatte gelogen, als ich sagte, es sei mir egal, was diese Stadt von mir dachte. Und ich würde es auch bis zu meinem Tod abstreiten, doch einem Teil von mir war es nicht egal. Ich wusste, was sie von mir hielten. Der nichtsnutzige Sohn eines Säufers. Der es nicht so schnell zu etwas bringen würde.

Etwas von diesem Ruf hatte ich verdient. Für die meisten Leute war ich ein sauertöpfischer Mistkerl und ein Arschloch. Ich zettelte Kneipenschlägereien an, um Dampf abzulassen, hielt mit meiner Meinung nie hinterm Berg, ob die Leute es hören wollten oder nicht, und hatte keine Geduld mit Volltrotteln.

Doch der Rest ging auf die Kappe meines Vaters. Ein Mann, der öffentlich heruntergekommen war, in einer Stadt, in der jeder alles wusste. Alles sah. Alles beurteilte.

Ich wusste nicht, ob ich je aus dem Schatten von Jonah Bodine senior herauskommen würde.

3

MAYA

Mein Körper hatte keine Ahnung, wie spät es war. Laut Uhr war es halb zehn Uhr morgens, aber ich war immer noch wie benebelt vom Jetlag. Ich nahm einen Schluck von meiner Latte mit dreifachem Espresso, während der Aufzug nach oben fuhr. Ich war daran gewöhnt, zwischen Zeitzonen hin und her zu springen, aber vor weniger als vierundzwanzig Stunden war ich in L.A. gelandet. Wenn Oliver, mein Boss, eine vollkommen wache und aufmerksame Maya wollte, hätte er mir einen weiteren Tag zum Akklimatisieren geben sollen.

Ich trat aus dem Aufzug und zeigte an der Rezeption meine ID-Karte vor. Die Rezeptionistin nickte höflich. Ich hatte sie noch nie gesehen; schon seit einem Jahr war ich nicht mehr im Hauptquartier von Attalon Records gewesen. Es sah immer noch so aus, wie ich es in Erinnerung hatte: schickes, modernes Mobiliar. Gerahmte Auszeichnungen und Albumcover an den Wänden.

Yui trat aus ihrem Büro, bekleidet mit einer schwarzen Bluse, einem weißen Rock und einem Paar mörderischen roten Stilettos. Ihr rabenschwarzes Haar, das zu einem gepflegten Bob geschnitten war, umrahmte ihr Gesicht, und ihr Lippenstift passte zu ihren Schuhen. Ich blickte auf meine Kleidung hinunter – schlichtes weißes T-Shirt, alte Jeans und Sandalen – und beschloss, dass ich zu sehr unter meinem Jetlag litt, als dass mich das kümmerte.

»Sieh mal einer an, wer da schon wach ist«, sagte Yui. »Ich hätte nicht gedacht, dass du vor morgen hier aufkreuzen würdest.«

Ich zuckte mit den Schultern, drückte mir meinen Kaffee an die Brust, als wäre er eine Rettungsleine. »Oliver hat gesagt, dass er mich sehen will. Also bin ich hergekommen.«

»Wahrscheinlich ist ihm gar nicht bewusst, dass du praktisch erst gelandet bist. Du weißt ja, wie er ist.« Sie legte den Kopf schief und sah an mir vorbei. »Seine Tür ist noch zu. Ich glaube, er telefoniert gerade. Komm doch rein und setz dich.«

»Danke.«

Ich ging in ihr Büro und ließ mein müdes Selbst auf einen cremefarbenen Kunstledersessel plumpsen. Yui Ito war schon fast so lange bei Attalon Records wie ich. Sie hatte als Praktikantin angefangen und war inzwischen eine der wichtigsten Pressesprecherinnen des unabhängigen Musiklabels.

Sie war die Einzige, die ich wohl am ehesten als eine langjährige Freundin betrachten konnte. Wir sahen einander einmal im Jahr, vielleicht auch seltener. Manchmal übernachtete ich bei ihr, wenn ich in L.A. war. Yui war hinreißend, sachlich, gut in ihrem Job, hatte eine geheime Schwäche für Rootbeer-Eis und datete niemanden länger als ein halbes Jahr.

Und das war schon alles, was ich über sie wusste. Es war schwierig, in Kontakt zu bleiben, wenn man so viel reiste, und während die meisten Leute Social Media nutzten, um in Bezug auf ihre Freunde und Bekannten auf dem Laufenden zu bleiben, hatte ich null Präsenz dort. Nicht mal auf der Website von Attalon war ein Foto von mir. Nur mein Name und eine vage Beschreibung meines Jobs.

»Deine Frisur ist süß«, sagte sie, während sie sich auf ihren Industriebürostuhl setzte. Ihr Schreibtisch bestand aus Glas und Metall, ihr gesamtes Büro war unbeschreiblich kühl. »Ist mir gestern Abend gar nicht aufgefallen.«

»Danke. Meerjungfrauenhaar.« Ich strich mit der Hand über mein dichtes, welliges Haar. Ich hatte es die ganze Zeit wachsen lassen, während ich unterwegs war, deshalb war es so lang. Und vielfarbig.

Ich war eine notorische Haarefärberin. Im Laufe der Jahre hatte ich jede nur erdenkliche Farbe ausprobiert. Platinblond, rot, braun, lila, blau, silbern. Es gab sogar eine höchst bedauerliche Phase, in der ich sie schwarz gefärbt hatte. Im Moment war meine Basisfarbe mein natürliches Blond, in das jedoch teilweise ein Regenbogen aus Türkis, Blau, Lavendel und Lila gemischt war.

»Das steht dir«, sagte sie. »Wie lange hast du vor, in der Stadt zu bleiben?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber Olivers früher Vorladung nach wahrscheinlich nicht allzu lang. Spätestens in ein paar Tagen bist du mich wieder los, da bin ich mir sicher.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Kein Problem. Du bist eine angenehme Gesellschaft. Ich merke kaum, dass du da bist.«

»Danke. Nach all den Hotels, in denen ich war, ist es schön, irgendwo zu schlafen, wo man sich keine Gedanken darüber machen muss, was das wohl für ein Fleck an der Wand ist.«

Sie zuckte zusammen. »Wie eklig. Wie war die Tour?«

Den größten Teil des vergangenen Jahres war ich mit Outbound Platinum auf Tournee gewesen. Ich liebte diese Typen, aber eine Rockband durch ihre erste vollkommen nüchterne Tour zu bugsieren, war anstrengend gewesen. Ich hatte sie begleitet, seit sie bei der Aufnahme ihres letzten Albums beinahe auseinandergebrochen wären. Oliver hatte mich zu ihnen geschickt, damit sie keinen Atomkrieg gegeneinander anzettelten.

Meine Jobbezeichnung lautete Produzentin, doch hier in der Gegend war ich als Rockstar-Flüsterer bekannt. Ich hatte die Mitglieder von Outbound besänftigt, ihre blank liegenden Nerven beruhigt und dabei geholfen, all ihre Angst-Energie in ihre Musik zu kanalisieren. Das Resultat war phantastisch. Ihr Album stand über ein Jahr nach der Veröffentlichung der ersten Single noch immer an der Spitze der Charts.

Nicht immer ging ich mit Künstlern auf Tournee. Normalerweise begleitete ich sie nur ins Studio – half beim Songwriting oder brachte sie im Aufnahmeprozess wieder zurück in die Spur. Doch Outbound war immer noch zu fragil gewesen, und Attalon hatte eine Menge in ihre Tour gesteckt. Deshalb war ich mitgefahren, wie ein verherrlichter Rockstar-Babysitter.

»Lang. Hektisch. Anstrengend. Aber auch toll. So ziemlich das, was man erwartet, wenn man versucht, fünf neuerdings nüchterne Rockstars davon abzuhalten, sich gegenseitig umzubringen.«

»Ich weiß nicht, wie du das machst.« Sie legte die Fingerspitzen aneinander. »Du musst die Geduld einer Heiligen haben.«

»Eigentlich nicht. Ich habe nicht mal Kinder, aber ich musste regelmäßig meine Mom-Stimme einsetzen. Trotzdem sind es so gute Typen. Sie strengen sich wirklich an, sich zusammenzureißen. Wahrscheinlich hätte ich schon einen Monat früher zurückkommen können, doch zu diesem Zeitpunkt fand ich, dass ich die Tour ebenso gut mit ihnen zu Ende bringen konnte. Außerdem war der letzte Stopp Australien, und dort war ich erst ein Mal. Ich wollte wirklich noch mal hin.«

»Bitte sag mir, dass du irgendeinen heißen Australier flachgelegt hast, während du da unten warst«, sagte sie. »Allein der Akzent. Mein Gott.«

Ich lachte. Meine Versuche, eine Beziehung einzugehen, waren nie von Dauer. Ich blieb nirgends so lange, dass es mit jemandem klappen könnte. Eine schnelle Affäre war manchmal ganz nett, doch allmählich fühlten sie sich ziemlich leer an. »Dieses Mal nicht. Aber beim Akzent stimme ich dir voll und ganz zu. Echt heiß.«

Mein Handy klingelte, und ich stellte die Kaffeetasse auf Yuis Schreibtisch ab, damit ich es aus meiner übergroßen lila Handtasche kramen konnte. Mein halbes Leben war in dieser Tasche. Ich wühlte mich durch Make-up, eine Haarbürste, meinen Terminplaner, ein paar Kabel, mehrere Stromadapter, Kopfhörer, zwei BHs, ein Tanktop, von dem ich geglaubt hatte, ich hätte es verloren, und eine ungeöffnete Zahnbürste, bis ich mein Handy fand.

Yui stand auf. »Ich lasse dich mal rangehen. Ich muss ohnehin mit Tracey drüben vom Marketing reden.«

Mit einem Nicken tippte ich auf den Button zum Annehmen des Gesprächs. »Hallo?«

»Maya, ich bin es, Cole. Gott sei Dank, dass du rangehst. Ich bin momentan echt am Arsch.«

Ich lehnte mich zurück. Vor ein paar Jahren hatte ich mit Cole Bryson gearbeitet, als er Angstzustände vor seinem zweiten Album hatte. Sein erstes war ein riesiger Hit gewesen, doch er war unter dem Druck, ein Nachfolgealbum aufzunehmen, in die Knie gegangen. Als Oliver mich hingeschickt hatte, um mit ihm zu arbeiten, schwamm er in Schnaps und Selbstzweifeln. Ich hatte ihm dabei geholfen, sich zusammenzureißen, die übrigen Songs zu schreiben, das Album fertigzustellen. Und es hatte sich noch besser verkauft als sein erstes.

»Hi, Cole, schön, von dir zu hören. Mir geht es blendend, danke der Nachfrage.«

Er stöhnte. »Tut mir leid, ich habe einfach nur Panik.«

»Panik weshalb?«

»Wir sind im Studio, und ich schwöre zu Gott, nichts klingt richtig. Ich weiß nicht, ob ich das noch einmal schaffe.«

»Natürlich schaffst du das noch mal. Du hast es schon zweimal geschafft. Deine Fans lieben deine Musik.«

»Ich weiß, aber …«

»Cole, hör zu. Wir hatten das doch schon. Es gibt kein Aber. Alben können sich als Flops erweisen, das wissen wir beide. Das ist das Risiko, das du eingehst, wenn du dich dem aussetzt. Aber du darfst dir darüber keinen Kopf machen, solange du im Studio bist. Momentan musst du dein Herz in deine Musik stecken, das ist alles.«

»Ja …«

»Worüber haben wir gesprochen, bevor ich weggegangen bin?«

»Ablenkungen ausschalten. Genug schlafen.«

»Hast du das gemacht?«

»Ja«, beteuerte er. »Ich lasse mein Handy die ganze Zeit ausgeschaltet, wenn ich im Studio bin. Ich schlafe zu normalen Zeiten, gehe nicht auf Partys. Und keine Mädchen, ich schwör’s dir.«

Ich verdrehte die Augen. Wie die meisten jungen Männer, die berühmt wurden, hatte sich Cole den Verlockungen zahlloser Frauen hingegeben, die überglücklich waren, mit ihm in die Kiste zu springen. Zu sagen, dass sie eine Ablenkung darstellten, war noch untertrieben. »Okay, was ist dann das Problem?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das ist pures Kopfkino, was du da betreibst«, entgegnete ich. »Nimmst du immer noch in Seattle auf?«

»Ja.«

»Dann sag ich dir jetzt mal, was du tun solltest. Nimm dir einen Tag frei. Fahr … eigentlich egal wohin. Aber raus aus der Stadt. Ich war schon mal dort, es ist toll. Fahr zum Mount Rainier oder nimm die Fähre nach Whidbey Island. Such dir ein Plätzchen, an dem du von Natur umgeben bist. Eine schöne Umgebung, in der du einfach sein kannst. Lass dir davon die Batterien aufladen.«

»Okay«, erwiderte er, und ich hörte förmlich, wie er nickte. »Ja, das klingt tatsächlich gut.«

»Wunderbar. Danach geh zurück ins Studio und mach dich verdammt nochmal an die Arbeit.«

Er lachte. »Ja, ich weiß, ich weiß. Danke, Maya.«

»Kein Ding.«

Ich legte auf und ließ das Handy zurück in meine Tasche fallen.

»Maya?« Oliver steckte den Kopf in Yuis Büro. »Schön, dich zu sehen.«

»Hey.« Ich stand auf, schulterte meine Handtasche und schüttelte ihm die Hand. »Bereit für mich?«

»Ja, danke, dass du gewartet hast.«

»Kein Problem.«

Ich schnappte mir meinen Kaffee und folgte ihm in sein Büro. Anders als Yuis, das stylish modern war, sah Olivers Büro aus, als würde es einem Hardcore-Musikfan gehören. An den Wänden hingen Bilderrahmen mit alten Bandplakaten, seine Sammlung aus Musikdevotionalien war auf mehrere Regale verteilt.

Oliver setzte sich hinter seinen Mahagonischreibtisch, er trug heute ein Nirvana-T-Shirt. Sein schmutzig blondes Haar war kurz geschnitten, sein Gesicht glatt. Sein Ehering aus Geschützmetall hob sich von seiner gebräunten Haut ab.

Ich nahm auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz und kippte noch mehr Kaffee in mich hinein.

»Du siehst irgendwie beschissen aus«, sagte er.

Ich funkelte ihn an. »Ich bin seit weniger als vierundzwanzig Stunden wieder im Land. Glaube ich. Eigentlich bin ich mir nicht sicher, wie spät es ist. Oder welchen Tag wir haben. Und wer warst du noch mal?«

Er grinste. »Gott, das weiß ich doch. Es tut mir leid.«

»Schon gut. Sag mir einfach, weshalb ich hier bin und nicht in Yuis unverschämt bequemem Gästebett meinen Jetlag ausschlafe.«

»Bevor wir dazu kommen, will ich dir nur sagen, dass ich wirklich vorhatte, dir einige Zeit freizugeben. So ein Arschloch bin ich auch wieder nicht, dass mir nicht klar ist, dass du auf Tour warst und eben erst zurückgekehrt bist. Ich hätte dich nicht darum gebeten, herzukommen, wenn es nicht wichtig wäre.«

»Kein Ding«, erwiderte ich. »Ich bin ja daran gewöhnt. Außerdem kennst du mich – eine Auszeit gibt es bei mir nicht.«

»Vielleicht sollte es die aber geben.«

Ich nahm einen weiteren Schluck. »Oliver, du bist ein großartiger Chef, doch wenn ich jemanden brauche, der mich damit nervt, dass ich zu viel arbeite, dann rufe ich meine Eltern an.«

»Wie lange warst du übrigens schon nicht mehr zu Hause, um sie zu sehen?«

»O mein Gott. Gerade hast du gesagt, du hattest vor, mir eine Auszeit zu geben, was heißt, ich bekomme keine. Aber du machst mir Stress, weil ich so viel arbeite, und willst mir dann auch noch ein schlechtes Gewissen wegen meiner Eltern einreden?«

»Tut mir leid, wahrscheinlich projiziere ich das alles gerade auf dich. Nat liegt mir wegen der Feiertage in den Ohren und wie lange es her ist, seit wir meine Familie besucht haben. Es ist August, verdammt nochmal, und sie macht schon Pläne für Thanksgiving.«

Nat war Olivers hinreißende Frau. Während er sein Plattenimperium leitete, schlug sie sich mit den zwei kleinen Jungs rum.

»Schon gut, sag ihr schöne Grüße von mir. Aber können wir jetzt zu dem Teil zurückkehren, in dem du mir mitteilst, in wessen Hintern ich treten soll? Saraya schon wieder? Hat sie wieder eine existenzielle Krise? Nicht dass es mir etwas ausmachen würde. Ich liebe Nashville.«

»Nein, es geht ihr gut, soweit ich weiß. Eigentlich brauche ich dich, damit du ein neues Talent für mich auscheckst.«

Das war seltsam. Ich war kein Talentscout, sondern arbeitete mit Attalons bestehenden Künstlern. Nach potenziellen hielt ich für gewöhnlich nicht Ausschau.

»Warum?«

»Warum ich will, dass du ihn auscheckst, oder warum ich ausgerechnet dich hinschicke?«

»Beides.«

»Weil er etwas hat«, sagte er. »Du weißt, wovon ich rede. Er hat diesen X-Faktor, nach dem ich immer suche. Dieser Kerl verströmt ihn aus allen Poren. Ich will an ihn rankommen, bevor es ein anderer tut.«

»Und warum ich?«

»Weil wir ihn nicht dazu bringen können, dass er mit uns redet.«

Ich lachte. »Wenn er nicht mit euch redet, wozu die Mühe? Sind dir die Möchtegern-Rockstars ausgegangen, die für einen Plattenvertrag ihre Seele verkaufen würden?«

»Ich sagte doch, dass er anders ist, ich habe da so ein Gefühl in Bezug auf ihn.«

Oliver hatte tatsächlich einen erstaunlichen Instinkt. Wenn er glaubte, dass dieser Kerl etwas Besonderes war, dann hatte er vermutlich recht.

»Okay, er ist also gut, aber er redet nicht mit dir. Ich weiß immer noch nicht, weshalb du willst, dass ich ihn treffe.«

»Er ist ein wenig … feindselig«, räumte er ein, während er sich zurücklehnte. »Du hast ein Händchen für Typen wie ihn.«

»Du willst also, dass ich einen feindseligen Sänger treffe, der keinen Plattenvertrag möchte? Wer könnte dazu schon Nein sagen?«, erwiderte ich ironisch.

»Ich habe dich schon schlimmeren Situationen ausgesetzt. Herrgott, als du mit Outbound ins Studio gegangen bist, habe ich mich gefragt, ob du da lebendig wieder rauskommen wirst.«

Ich winkte ab. »Sie sind eine Truppe Teddybären.«

»Du bist buchstäblich der einzige Mensch der Welt, der das behaupten würde. Du hast diese übellaunigen Rockstars im Griff wie ein Bullenreiter den Bullen. Du wirkst Wunder, und bei diesem Typen brauche ich ein Wunder.«

Er bequatschte mich quasi. Nicht dass ich wüsste, was ich zu tun hatte, wenn es darum ging, ein neues Talent zu verpflichten. Aber wenn er mich nur dazu brauchte, diesen Kerl dazu zu bringen, sich mit uns zu treffen, dann konnte ich damit umgehen.

»Wo ist er?«

»In irgendeiner Kleinstadt in …« Er hielt inne, sein Blick wanderte zum Bildschirm. Er klickte ein paarmal mit der Maus darauf. »West Virginia.«

Mein Rücken erstarrte, und ich hielt den Blick gesenkt, entspannte meine Miene, damit sich der Sturm der Gefühle nicht darin widerspiegelte. Ich nahm meinen Kaffee und trank einen Schluck, als wäre nichts. Als würde nicht plötzlich Angst in mir aufwallen, die mir den Magen zusammenschnürte.

Oliver schien es nicht zu merken. Natürlich nicht. Ich war eine sehr gute Schauspielerin, wenn es um eine Alles-wunderbar-Scharade ging.

»Weißt du, ich glaube kaum, dass ich die Richtige dafür bin, dorthin zu fahren«, sagte ich und spielte meine Rolle weiter. Ich spielte sie gut. Mir ging es gut. »Ich habe keine Ahnung von Verträgen oder wie man Deals abschließt. Wenn du jemanden brauchst, damit ein Künstler seine Blockade überwindet, oder verhindern willst, dass sich eine Band auflöst, dann bin ich perfekt. Aber das hier? Nicht mein Fachgebiet. Außerdem bin ich gerade erst zurückgekommen. Du hast selbst zugegeben, dass ich ein paar freie Tage brauche. Vertrau deinem Instinkt.«

Ich log, dass sich die Balken bogen. Ich wollte keinen Urlaub nehmen. Das tat ich nie. Oliver war nicht der Grund, weshalb ich von einem Projekt zum anderen überging und niemals einen Gang runterschaltete. Ich hatte hin und wieder meine Familie im Umland von New York besucht, doch abgesehen davon war ich immer unterwegs. Immer bereit für das nächste Projekt.

Außer es handelte sich um West Virginia. »Na schön. Ich gebe auf. Ich schicke jemand anderes hin. Oder gehe vielleicht selbst. Aber bitte tu mir einen Gefallen.«

»Klar.«

Er klickte ein paarmal mit der Maus. »Hör ihn dir an. Jemand hat in einer Bar dieses Video mit dem Handy aufgenommen, deshalb könnte die Tonqualität besser sein. Sag mir, was du davon hältst. Vielleicht täusche ich mich in ihm. Ich würde gern deine Meinung hören.«

Der Bildschirm war von mir weggedreht, deshalb konnte ich nichts sehen – worüber ich froh war. Oliver interessierte sich immer in erster Linie für Talent, mehr als für gutes Aussehen oder Image. Wir wussten beide, dass Image wichtig war, doch ein hübsches Gesicht war völlig zweitrangig, wenn es darum ging, neue Künstler zu rekrutieren.

Stimmengewirr wie von einer Menge in einer Bar übertönte beinahe den Klang der Akustikgitarre, auf der die ersten Akkorde eines Songs angestimmt wurden. Jemand pfiff, und jemand anderes johlte. Die Melodie wuchs, während die Menge verstummte. Wer immer das war – er war gut.

Der Song war sanft, beinahe schwermütig. Ehe der Typ überhaupt anfing zu singen, schlug er schon eine Saite in meinem Herzen an. Dann sang er die erste Zeile, und mir stockte der Atem. Diese Stimme. Sie war tief und heiser, von einer sexy Rauheit. Ich wusste sofort, warum Oliver ihn unbedingt unter Vertrag nehmen wollte – er hatte in der Tat dieses gewisse Etwas –, doch das war nicht der Grund, weshalb ich plötzlich das Gefühl hatte, nicht atmen zu können.

Und weshalb sich meine Lippen öffneten und Worte meinen Mund verließen. »Okay, ich fahre hin. Ich rede mit ihm.«

4

GIBSON

Die Crafty Cow Tavern in Hayridge – etwa achtzig Kilometer von Bootleg Springs entfernt – war voll. Vor der winzigen Plattform, die sie als Bühne bezeichneten, wiegten sich Paare zu unseren Songs. Die Tische waren voll, die Barhocker alle besetzt. Nicht schlecht für einen Donnerstagabend. Das Trinkgeld sollte gut sein.

Ich saß auf einem hohen Hocker, den Fuß auf der Querverstrebung, die Gitarre in der Hand. Es war nicht das Trinkgeld, das mich an Orte wie diesen lockte. Klar, Taschengeld war schön. Doch hauptsächlich gefiel es mir, einfach zu spielen. Eine Gitarre und ein Lied. Das liebte ich.

Die Größe des Publikums war nicht so wichtig. Zwei Menschen oder zweihundert machten für mich keinen Unterschied. Allerdings musste selbst ich zugeben, dass ein Publikum etwas Befriedigendes an sich hatte. Aber es ging nicht um mein Ego. Musik war eine Transaktion. Um wirklich zu sein, was sie sein sollte, brauchte Musik einen Künstler, um sie zu erschaffen, und ein Publikum, das zuhörte.

Es war die Art von Geben und Nehmen, die ich zu schätzen wusste. Und das Publikum heute Abend war liebevoll zu uns.

Corbin stand links von mir am Keyboard, Hung, unser Drummer, saß hinter mir. Wir waren schlicht und Country und sahen nicht aus, als würden wir als Band irgendeinen Sinn ergeben. Hung war so alt, dass seine Haare schon ergrauten, Corbin gerade alt genug, um überhaupt in eine Bar zu dürfen, und mit dreiunddreißig war ich irgendwo in der Mitte. Aber wir machten verdammt gute Musik.

Und deshalb waren die Menschen heute Abend gekommen. Wir spielten. Sie hörten zu. Schlicht und ergreifend. Schlicht gefiel mir.

Meine Finger zupften die Melodie, und ich sang die letzten Zeilen. Applaus erhob sich, wurde lauter, während meine Stimme leiser wurde. Ich nickte und stellte die Gitarre zurück auf ihren Ständer.

»Wir machen eine kurze Pause und kommen dann wieder.«

Die Menge klatschte und jubelte erneut. Anscheinend hielten eine ganze Menge Leute ihr Handy hoch. Hatten sie mich etwa aufgenommen? Herrgott. Dieser bescheuerte virale Video-Bullshit musste einen raschen Tod sterben. Es war über eine Woche her, seit ich davon gehört hatte, und Leah Mae sagte, es habe schon früher angefangen. Irgendein Idiot, der behauptete, von einer Plattenfirma zu sein, rief mich dauernd an, und jetzt das? Waren die Leute nicht mittlerweile darüber hinweggekommen?

Ich ging ans Ende der Bar und legte die Unterarme auf das glatte Holz. Der Barkeeper reichte mir Wasser, und ich nahm einen langen Schluck davon. Fühlte sich gut in der Kehle an, nachdem ich eine Stunde gesungen hatte.

Ein Typ rempelte mich von hinten an, sodass ich Wasser auf meinem Hemd verschüttete.

»Verdammt nochmal. Schau gefälligst, wo du hinläufst, Arschloch.«

Er wirbelte herum, baute sich vor mir auf. »Wie hast du mich eben genannt?«

Der Kerl stank nach Bier und Zigarettenrauch. Ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. »Eine Dusche wäre auch mal wieder angebracht, Kumpel.«

»Wovon redest du, verfickt nochmal? Suchst du Stress oder was, Schönling?«

Schönling? Das war mal was Neues. Man hatte mir in meinem Leben schon etliche Schimpfnamen verpasst, vor allem in Bars wie dieser, aber noch nie Schönling. Unwillkürlich musste ich lachen.

»Was lachst du?« Er stach mir in die Brust.

Sofort hörte ich auf zu lachen, mein Blut kochte, meine Stimmung schaltete wie ein Lichtschalter auf Zorn. Meine Brüder waren nicht da, um mir Rückendeckung zu geben, aber das war mir egal. Er hatte mich berührt. Das Bedürfnis, auf jemanden – oder etwas – einzuschlagen, ließ meine Hände zittern. Ich wollte spüren, wie die Nase dieses Arschlochs unter meiner Faust zermalmt wurde. Gierte danach, wie sich ein Säufer nach Whiskey sehnte.

»Fass mich noch mal an, und ich poliere dir die Fresse«, knurrte ich.

»Ist das eine Drohung, Schönling? Hältst du dich jetzt für berühmt? Glaubst du, du kannst einfach in unsere Stadt kommen und dich allen gegenüber wie ein Arschloch benehmen?«

»Mach weiter«, sagte ich leise. »Fass mich noch mal an, bitte.«

»Langsam, Gibs.« Hungs Arm schoss vor meine Brust. »Nicht heute Abend. Wir müssen noch ein Set zu Ende spielen.«

Ich hielt den Blick des Mistkerls, meine Augen kalt, das Gesicht ausdruckslos. Tu es, Arschloch. Schlag mich. Ich liebte es, wenn der andere zuerst zuschlug.

Er sah mich von oben bis unten an und trat einen Schritt zurück. »Was soll’s?«

Ich wandte den Blick nicht von ihm ab, bis er in der Menge verschwunden war.

»Was soll das, Gibs? Wir sind hier, um zu spielen, nicht um uns mit den Einheimischen zu prügeln.«

Ich hielt ihm mein nasses T-Shirt hin. »Ich hab nicht mit der Scheiße angefangen. Er hat Wasser auf mir verschüttet.«

Hung zog eine Augenbraue nach oben. »Das wird trocknen. Gehen wir.«

Ich trank mein Wasser aus und ging mit Hung und Corbin zurück auf die Bühne. Nahm auf meinem Hocker Platz, hängte mir den Gitarrengurt über die Schulter und passte das Mikrophon an.

Ohne Vorreden begannen wir mit dem nächsten Song. »Take Me Home, Country Roads«. Immer ein Publikumsliebling. Sekunden später war die Tanzfläche rappelvoll.

Ich machte mir nicht die Mühe, nach dem Idioten Ausschau zu halten, der fast eine Schlägerei mit dem falschen Kerl angezettelt hätte. Er war nicht wichtig. Stattdessen verlor ich mich in dem Song. Darin, wie sich meine Finger anfühlten, wenn sie die Saiten zupften. In der Harmonie unserer Instrumente. Im Rhythmus. Wie es sich anfühlte, die Lyrics zu schmettern. In der Energie des Publikums.

Das Publikum nahm nicht nur – an guten Abenden gab es ebenso viel zurück, wie es bekam. Unsere Musik bewegte den Körper, berührte das Herz. Und im Gegenzug lud das Publikum die Luft elektrisch auf. Mit einer mächtigen Energie. Egal, ob das Publikum groß war oder klein, die Energie war da.

Es erfüllte meine Seele auf eine Art, wie es sonst kaum etwas vermochte.

Wir leiteten direkt zum nächsten Lied über, hielten die Energie am Leben. Sie sickerte in meine Haut, durchlief meine Adern. Das war mein persönliches Hoch. Direkt hier, auf einer kleinen Bühne in einer schäbigen Bar in irgendeinem Provinznest. Ich liebte das. Das gab ich nur selten zu, aber es war so.

Die Menge lachte, jubelte und sang mit. Als der Song fertig war, hielten wir gerade so lange inne, bis wir uns flüsternd darauf geeinigt hatten, was wir als Nächstes spielten.

»Spielt das Lied aus dem Video«, rief jemand.

Ich blickte auf. Wer hatte das eben gesagt? Ich hatte dieses Lied nur das eine Mal im Lookout gespielt, und das auch nur, weil ich eine Wette gegen Jameson verloren hatte. Ich hatte nie vorgehabt, es noch mal in der Öffentlichkeit zu spielen. Coverversionen von Songs zu spielen, die alle liebten, war leicht. Das Publikum kannte sie, kannte den Text, genoss sie zusammen mit uns. Aber mein Song? Einer, den ich geschrieben hatte?

Noch mehr Leute stimmten mit ein, wollten, dass ich den Song spiele. Ich sah zu Corbin hinüber, der nur mit den Schultern zuckte. Hung nickte.

Ich grunzte und atmete aus. Na schön.

Das Publikum verstummte, sobald meine Finger die Saiten berührten. Und da war sie wieder – die Energie. Sie prallte auf meine Haut wie kleine Stromschläge. Ich sang die ersten paar Zeilen, und die Energie nahm zu. Sie umgab mich wie die Hitze eines Feuers in einer kalten Nacht.

Die Lyrics strömten aus mir heraus, meine Stimme war tief und leise. Ich verlor mich in der Melodie, als würde nichts um mich herum existieren außer mir, meiner Gitarre und dieser übernatürlichen Energie, die mir das Publikum zurückgab.

Als ich den letzten Akkord anschlug, brach Applaus los. Ich öffnete die Augen – mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich sie geschlossen hatte – und stand auf. Nickte wie immer der Menge zu. Mein Herz schlug ein wenig zu schnell, und ich wollte raus aus dem Rampenlicht. Diesen Song erneut zu singen, hatte ein Völlegefühl in meiner Brust hinterlassen. Ich brauchte Wasser.

Ich wollte mir gerade den Gitarrengurt über den Kopf ziehen, als mein Blick auf einer Frau in der Menge landete.

Ihr Haar hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Es war lang und blond, aber im Dämmerlicht konnte ich farbige Strähnen ausmachen – lila und blau vielleicht, es war schwer zu sagen. An beiden Armen hatte sie Tattoos. Dunkles T-Shirt. Jeans. Sie war mit ihrem Handy beschäftigt.

Ich wollte gerade wieder wegschauen, als sie aufblickte, mir in die Augen sah. Ein überwältigendes Gefühl der Vertrautheit durchlief mich, als sollte ich sie von irgendwoher kennen. Sie hatte eine Narbe auf der Wange, die sich bis über ihre Oberlippe zog. So etwas würde man nicht vergessen. Doch mir war noch nie eine Frau mit einer solchen Narbe begegnet – weshalb kam es mir dann so vor, als hätte ich sie schon mal gesehen?