Himmel auf Zeit - Karen Grol - E-Book

Himmel auf Zeit E-Book

Karen Grol

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Beschreibung

Anita Rée – Ausnahmekünstlerin zwischen den Welten! Anita Rée, eine der faszinierendsten Künstlerinnen der Avantgarde, war eine Wandlerin zwischen den Welten: als protestantisch erzogene Hamburgerin mit südamerikanischen und jüdischen Wurzeln, als selbstständige Künstlerin zwischen Tradition und Moderne und nicht zuletzt als eigenwillige Frau in einer von Männern dominierten Kunstwelt. Ermutigt von Max Liebermann, geschult an großen Vorbildern wie Renoir, Cézanne, Matisse und Léger, führt ihr Weg sie von der Alster über Paris nach Positano. Mit ihren Werken erwirbt sie sich in den 1920er-Jahren große Anerkennung. Doch die Zeitläufte bremsen Anita Rée immer mehr aus, sie flieht schließlich nach Sylt … Mit eindringlicher Erzählkraft entfaltet Karen Grol das einfühlsame Porträt der Ausnahmekünstlerin Anita Rée und ihrer ergreifenden Lebensgeschichte.

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Seitenzahl: 350

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Karen Grol

Himmel auf Zeit

Die vergesseneKünstlerin Anita Rée

Roman

Für meine Eltern

Inhalt

21. August 1937

Teil 1: 1910 – 1912

Schusterwerkstatt in Hittfeld

Am Isequai

Teil 2: 1912 – 1913

Fünf Minuten

Agnes

5. Juli 1914

Teil 3: 1914 – 1919

Junger Chinese

Ein Irrer

Mutter und Kind

Carl Hauptmann

7. April 1919

Teil 4: 1919 – 1922

Blaue Frau

Die Bäuerin Lionarda

30. Oktober 1922

Teil 5: 1922 – 1928

Frau mit Katze

Conte Ruggiero Carnelli

Filomena Stupefatta

Bildnis Hildegard Heise

Teil 6: 1928 – 1932

Die klugen und die törichten Jungfrauen

Die Vision des heiligen Antonius zu Padua

Selbstbildnis

30. Juni 1932

Teil 7: 1932 – 1933

Oase in Kampen

12. Dezember 1946

Nachwort und Dank

Personenverzeichnis

Ausgewählte Literatur und Quellen

Licht bin ich: ach, dass ich Nacht wäre!Aber diess ist meine Einsamkeit,dass ich von Licht umgürtet bin.

Friedrich Nietzsche,»Also sprach Zarathustra: Das Nachtlied«

21. August 1937

Es musste schnell gehen. Sorgfältig schlug Wilhelm jedes der sieben Bilder in Papier ein. Es war früh am Morgen, und ihm blieb wenig Zeit. Niemand durfte ihn sehen, nicht sein Kollege Kunert, niemand vom Aufsichtspersonal, schon gar nicht die Kommission des Führers.

Der Gedanke hatte sich in der Nacht eingestellt und ihn nicht wieder losgelassen. Mit jeder schlaflosen Stunde war die Gewissheit gewachsen. Trotzdem galt es, die Risiken abzuwägen. Würde er erwischt werden, könnte man ihm Diebstahl vorwerfen. Im schlimmsten Fall belangte man ihn wegen der Rettung undeutscher Bilder. Betriebsassistent der Hamburger Kunsthalle stiehlt entartete Kunst, würde in der nationalsozialistischen Presse zu lesen sein. Es war Wilhelm bewusst: Die Aktion konnte ihn Kopf und Kragen kosten. Die Aktion gefährdete auch Anna und Käte.

Bereits Mitte Juli war eine Kommission in der Kunsthalle eingetroffen. Sie führte einen Auftrag des Führers aus. Moderne Kunst sollte aus den Sammlungsräumen entfernt und nach München verbracht werden, um sie in einer öffentlichen Ausstellung, die sie Entartete Kunst nannten, zu diffamieren.

Diese Leute besaßen keinerlei Anstand. Ihnen fehlte jegliches Gespür dafür, was die Arbeit den Künstlern bedeutete, mit welcher Anstrengung und Leidenschaft die Werke entstanden waren, was Kunst den Menschen geben konnte. Menschen, wie er einer war. Einem Hausmeister, einem Werftarbeiter, einer Büroangestellten, einer Hausfrau, jedem konnte Kunst etwas schenken: Schönheit, Denkanstöße, Träume. Auch und gerade moderne Kunst. Ihm selbst gefielen Bilder mit Gegenständen. Er mochte Landschaften. Aber auch wenn ihm ein Bild nicht gefiel, nahm er sich nicht das Recht heraus, ein vernichtendes Urteil zu fällen oder es gar zu zerstören. Welches andere Ziel sollten die Nationalsozialisten verfolgen? Bücher hatten sie schließlich auch verbrannt.

Diese Leute waren nichts als Banausen. Dazu zählte auch der Leiter der Kunstkommission, selbst wenn er der Reichskammer der Bildenden Künste vorstand. So viele wunderbare Werke hatte er einpacken und abtransportieren lassen. Zum Glück waren die von Anita Rée an diesem Tag bereits im Magazin gewesen.

Jetzt kam die Kommission zurück, um auch dort die Bestände zu sichten. Jetzt war es Zeit zu handeln.

Wilhelm trug die sieben Bilder aus dem Magazin hinunter in seine Souterrainwohnung. Anna war bereits aufgestanden. Er hörte sie in der Küche hantieren. Er schloss die Schlafzimmertür hinter sich und kniete vor dem Bett. Sorgsam verstaute er ein Bild nach dem anderen: das Selbstbildnis mit dem grünen Hintergrund, das jüngste der Werke, Teresina, das Zitronenmädchen aus Positano, den jungen Chinesen, ein schönes Apfelstillleben. All das sollte nicht den Falschen in die Hände fallen.

»Was tust du da?«

Wilhelm drehte sich erschrocken um. Anna stand im Zimmer. Er hatte sie nicht kommen hören, hatte nicht einmal gehört, dass sie die Tür geöffnet hatte. So schnell konnte man auffliegen. Besser, Anna wusste nichts von alledem. Also schwieg er.

»Anita Rée?«, fragte Anna.

Wilhelm nickte. Wie gut sie ihn doch kannte. »Ich habe versprochen, auf ihre Sachen aufzupassen«, sagte er.

»Die Kommission ist da«, sagte Anna. »Du solltest oben nach dem Rechten schauen, bevor sie dich suchen.« In der Hand hielt sie einen Bilderrahmen. Mit einem Handtuch putzte sie sorgfältig das Glas, dann zeigte sie ihm, was sich dahinter verbarg: eine Fotografie des Führers. »Das stelle ich auf unsere Kommode. Vielleicht schützt es uns und die Bilder.«

Teil 11910 – 1912

Schusterwerkstatt in Hittfeld

Der Unfall vor sieben Jahren mochte der Anfang von vielem gewesen sein. Vom Kopfschmerz, der bei einer Gehirnerschütterung gewöhnlich ist und vorübergeht. Vom Schwindel, der geblieben war. Aber von einer fortschreitenden Veränderung ihres Wesens bemerkte Anita selbst nichts. Ein simpler Sturz, eine Ungeschicklichkeit, mehr nicht. Alles andere beruhte schlicht auf Einbildung, war eine Erfindung der überängstlichen Mutter, die überall Absonderlichkeiten witterte, die Launen und Unvernunft hasste, besonders Anitas Wunsch, Malerin zu werden und ein Leben als Künstlerin zu führen.

»Sei nicht kindisch! Glaubst du tatsächlich, deine Kritzelei taugt zu mehr als zum Zeitvertreib, weist gar auf ein verstecktes Talent hin?«

Leider war die Mutter nicht allein mit ihren Zweifeln.

Anita hastete die Hittfelder Bahnhofstraße hinunter, das Gepäck schwer und unhandlich. Sie hielt inne, schob die verrutschte Zeichenmappe zurück, klemmte sie fest unter den Arm. Hals über Kopf hatte sie ihren Koffer gepackt, sich nur vom Schuster verabschiedet. Nach Hamburg, nach Hause, so schnell wie möglich, selbst wenn sie wieder in die Fänge der Mutter geriet.

Ein letztes Mal schaute sie zurück. Die Schusterwerkstatt geschrumpft zur Miniatur, kaum noch zu erkennen, aber sie konnte es sich vorstellen: Meister und Geselle hockten am Tisch vor dem Fenster, mit krummen Rücken über die Leisten gebeugt, in den konzentrierten Gesichtern Furchen von Anstrengung und Entschlossenheit. Keine Blicke für die Welt draußen. Dunkel war es. Eng ging es zu. Klagen fanden weder Raum noch Gehör, wenn die Männer die Sohlen formten, die Ledernutzen zuschnitten, sie energisch mit Nägeln befestigten und mit Geschick und Kraft vernähten. Anita hatte diese Szene seit Beginn ihrer Ausbildung bei Arthur Siebelist malen wollen. Sie hatte unzählige Wochen oben in der Mansarde über der Werkstatt logiert, wenn der Lehrer in den warmen Monaten aus seinem Hamburger Atelier auszog, die Freilichtmalerei anordnete und Schülerinnen und Schüler aufs Land ausschwärmen ließ.

Sechs Jahre Sommerschule. Sechs Jahre Siebelist.

Heute gingen sie zu Ende. Die feine Grenzlinie zum Unerträglichen war deutlich überschritten. Siebelist hatte sie bloßgestellt, lächerlich gemacht, vor aller Augen vorgeführt. Es reichte. Nun musste sie nach vorn blicken, die Bahnhofstraße hinauf. Sie blinzelte in die Sonne, die Vergangenheit im Rücken, doch das Klopfen des Hammers glaubte sie noch immer zu hören. Trotz der Entfernung vermochte es der scharfe Geruch des Schusterleims, ihr den Atem zu nehmen. Wenn sie ihn sich nur vorstellte, stach er in der Nase.

Die Kunstakademien blieben Frauen verschlossen, deswegen hatte sie anfangs eine Ausbildung in dekorativer Malerei am Berliner Kunstgewerbemuseum erwogen. Die angewandte Kunst bot Vielseitigkeit, schien Anita sinnvoller, als sich auf die schönen Künste zu beschränken. Damit ließe sich Geld verdienen, ein gutes Argument, nicht von der Hand zu weisen, obwohl der Vater sie unterstützte. Er war inzwischen mehr Privatier als Kaufmann, die Familie Rée durchaus vermögend. Nein, sie wollte sich nicht auf den immerwährenden Beistand verlassen. Der geliebte Vater wurde älter und älter, und sollte er auch noch so gut für ihre Zukunft vorsorgen, es galt, einen eigenen Weg zu finden.

Der warme Landwind blies ihr ins Gesicht. Lose Haarsträhnen flatterten vor den Augen. Anita verbannte die Störenfriede unter die Krempe des roten Huts, hielt ihn fest, dass eine plötzliche Brise ihn nicht forttragen konnte. Vieles war so leicht, dass es Halt brauchte, anderes so schwer, dass es niemals in Gang kam.

Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sich ein Mann an ihre Seite gesellte, einer, der ihr gefiel, am besten einer, der ein Auskommen garantierte und eine Familie ernähren konnte. So machten es die jungen Frauen. Das dachte sich die Mutter. Der Vater sähe es sicher gern. Solange Emilie, die ältere Schwester, unverheiratet war, blieb Anita noch Zeit. 25 Jahre alt war sie nun.

»Studiere nur, Kind. Der richtige Mann wird deine Fähigkeiten zu schätzen wissen.« Vater scherte sich nicht um die Warnung der Mutter. Eine junge Frau mit Bildung, eine, die sich der Kunst verschriebe, verkümmere zu einem verbitterten Wesen, dem jede Weiblichkeit abgehe. So sagten die Leute. Vater hielt die Kunst für eine akzeptable, ja gar angemessene Beschäftigung für eine Frau, die auf die Ehe wartete.

Anita verzieh dem Vater. Sie konnte ihm nicht böse sein. Doch sie befand sich nicht im Wartezustand, sondern im Aufbruch. Sie wollte lernen, Kunst nicht nur zu betrachten und zu verstehen, sondern sie zu schaffen, nicht die Werke der Männer zu kopieren, sondern sie mit eigenen Händen nach eigenen Ideen entstehen zu lassen. So schnell wie möglich. Heute, nicht morgen.

Sie setzte sich in Bewegung, setzte Fuß vor Fuß auf die Bahnhofstraße von Hittfeld, machte große Schritte. Anita, die Schreitende.

Die Frau an sich könne bestenfalls Dilettantin sein, war die gängige Meinung. Aus Frauen im Wartezustand mache man keine Kunstschaffenden, sondern bestenfalls Kunstverstehende. In jedem Fall solle die Frau eine schöne Künstlerin sein, eine, die gefalle. Von weiblicher Kunst war nie die Rede, nur von weiblicher Schönheit. Anita durfte dilettieren, aber nicht reüssieren. Sie durfte Kunstliebhaberin werden, jedoch niemals Expertin.

Die Empörung wuchs zu einem widerlichen Kloß im Hals. Er ließ sich nicht schlucken. Erschöpft setzte Anita den Koffer ab. Sie atmete schwer. Einer plötzlichen Eingebung folgend, riss sie sich den Hut vom Kopf, löste den Knoten, überließ die dunklen Haare dem Wind. Sie flatterten wild. Anita, die ewige Dilettantin. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne, die Lider geschlossen, die Lippen zusammengepresst. Es prickelte auf der Haut.

Dankbar sollte sie sein, dass Siebelist bereit war, auch Frauen auszubilden. Nie hatte sie einen winzigen Hauch von Dankbarkeit gespürt, nur Unzufriedenheit und Zweifel. In den vergangenen sechs Jahren war das Gefühl, sich auf dem falschen Weg zu befinden, zur Gewissheit angewachsen. Am Ende würde alles eine böse Wendung nehmen, wenn sich nicht etwas änderte, etwas Entscheidendes.

Heute musste sich alles ändern.

Vielleicht wäre sie längst in Berlin, hätte sich 1904, am Ende der Schulzeit, nicht Siebelist als Lösung angeboten. Eine einfache für die Eltern, doch gewiss nicht die beste.

Die Antwort vom Berliner Kunstgewerbemuseum hatte zu lange auf sich warten lassen. Man stellte – oh Wunder! – bei Eignung und Talent sogar Privatunterricht in Aussicht, doch das Schreiben kam gründlich zu spät. Es erreichte Anita, als sich bereits unter Siebelists wohlwollenden Augen erste Studien entwickelten. Im Winter im Hamburger Atelier und im Sommer unter freiem Himmel, bei natürlichem Licht, mit Schatten, wie sie die Natur hervorbringt, und einer Farbigkeit, die keinem künstlichen Einfluss unterliegt. Pleinair lasse sich am besten erlernen, die Natur in ihrer Vielfalt und Proportionalität zu erfassen und ihre Perspektiven und Stimmungen in ein Landschaftsgemälde zu übersetzen. Die Freilichtmalerei war en vogue.

Siebelist stellte sich mit Vorliebe hinter seine Schüler, schaute über deren Schulter hinweg auf die jeweilige Staffelei. Anita erstarrte stets, wenn sie den Lehrer kommen hörte, spürte die stechenden Blicke seiner Wieselaugen in ihrem Nacken. Sie lauschte regungslos, wenn er seinen Bart massierte. Er zog an der Zigarre. Es roch nach altem Leder wie von abgetragenen Schuhen. Immerhin hielt der Tabakqualm die Stechmücken fern.

Siebelist wählte seine Worte mit Wohlwollen, seine Kritik entbehrte der Schärfe, trotzdem fühlte Anita sie tief. Jeder von Siebelists Einwänden, sogar der gutgemeinteste Vorschlag, nährte Zweifel, die in ihr hallten wie die Schiffssirenen der großen Frachter über der Elbe.

Du bist nicht gut genug.

Dein Talent reicht nicht.

Das ist der falsche Weg.

So wirst du eine Dilettantin.

Zweifel sind einfallslose, aber wirkungsvolle Gegner. Einfallslos in der Wahl ihrer Waffen, wirkungsvoll wegen ihrer grenzenlosen Geduld. Am liebsten plagen sie Opfer, die besonders angreifbar sind.

Im ersten Hittfelder Sommer ließ der Stolz, zu Siebelists Schülern zu gehören, die unerwünschten Stimmen verstummen. Anita malte den Bauern und seine Kuh mit Flecken von Schwarz und Schatten. Wenn ihr Blick sich in der Weite des Marschlandes verlor, schrumpften ihre Sorgen zu Belanglosigkeiten. In der Gemeinschaft, zusammen mit Freundin Lotte und den anderen, fiel das Lachen leicht. Sie liebte diese federgleichen Momente, wenn sogar die Sonne bunte Flecken ins Gras malte. Doch malte Anita sich selbst, fand sie nicht einmal ein Lächeln. Es gelang eine selbstbewusste Haltung, der schmale Körper wirkte trotzdem zerbrechlich und schutzbedürftig. Der Gesichtsausdruck bewies Ernsthaftigkeit und einen unbändigen Willen. Gleichzeitig verbargen sich in den dunklen Augen Furcht und eine seltsame Melancholie. Nie wirkte Anita wie die Mädchen aus dem Norden, nie wie eine Hamburger Deern. Da konnte sie modische Röcke tragen, die weiße Bluse mit einem Chiffontuch auffrischen und einen auffälligen Gürtel um die schmale Taille schnüren. Ihre Wurzeln, ihre Vorfahren aus Venezuela, ließen sich nicht verstecken. Das südamerikanische Blut der Ururgroßmutter, das sich in späteren Generationen mit dem nordischen Blut des Großvaters vermischte, zeigte sich in Anitas strengen Zügen, in den schwarzen Haaren, den markanten Augenbrauen, der bronzegelben Gesichtsfarbe. Sosehr sie auch suchte, die Spuren des geliebten Vaters konnte sie nicht entdecken. Dessen Vorfahren stammten aus Dänemark, auch wenn der Name so wunderbar Französisch klang. So gesehen lag der Anfang von allem weit vor dem belanglosen Unfall, den die Mutter nicht vergessen wollte. Der Anfang lag sogar vor ihrer Geburt.

Im zweiten Hittfelder Sommer zeichnete Anita in der Werkstatt: den Schuster im Profil, eine Studie für das große Bild. Im Herbst – zu Hause im eigenen Zimmer – hockte sie erneut über dieser Zeichnung. Der Novemberregen schien die Farben auszuwaschen. Der Schuster wirkte erschöpft. Doch zwischen Falten und Grübchen versteckte sich Gelassenheit. Am Ende eines schweren Arbeitstages überwog Zufriedenheit, ein Zustand, nach dem Anita sich sehnte. Auch sie ermüdete das Stehen an der Staffelei, sie spürte das lange, konzentrierte Arbeiten im Nacken, in den Schultern und Armen. Die Augen brannten, die Lider schienen geschwollen und schwer.

Vollkommen zufrieden war sie nie.

Mitte Dezember betrat sie Vaters Arbeitszimmer. Er stand am Fenster und blickte in das Gartengrau hinter dem Haus.

»Wollen wir an die Luft?«, fragte er und drehte sich zu ihr um.

Wortlos gingen sie die Gasse zwischen Alsterkamp und Harvestehuder Weg hinunter, querten einen Streifen Weideland, bis sie das Ufer der Außenalster erreichten. Es nieselte, ein leichter Wind blies Wellen wie gemalt ins graue Wasser. Auf der Oberfläche perlte der Regen. Anita, die Unzufriedene. Sie merkte es selbst, sie fröstelte und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

»Ich bin nicht gut genug.« Ihre Stimme zitterte.

Der Vater schwieg.

In einem Kahn mühte sich ein Mann ums Fortkommen. Er hatte die Krugkoppelbrücke weit hinter sich gelassen. Anita konnte das Knarzen der Ruder in den Riemen hören.

»Ob er bis zum Uhlenhorster Fährhaus will?«, mutmaßte der Vater.

Anita nickte schwach.

»Ich bin Kaufmann. Ich kenne mich mit Getreide aus. Was soll ich dir raten?«

Anita kniff die Lippen zusammen.

Der Vater schlug den Kragen seines Mantels hoch. »Du kennst doch das Bankhaus Warburg in der Ferdinandstraße, dort, wo dein Cousin Carl Melchior als Syndikus arbeitet. Der älteste der Warburg-Söhne ist Kunsthistoriker. Abraham Warburg. Aby nennen sie ihn. Der könnte helfen.«

Am Heiligabend lag im Haus Alsterkamp 13 ein an Anita adressierter Brief unter dem Rée’schen Weihnachtsbaum. Emilie setzte die Miene der wissenden älteren Schwester auf, ein Schmunzeln im Gesicht, das Freude verriet. Die Hände des Vaters ruhten auf Mutters schmalen Schultern. Sie versank im Sessel, wirkte zerbrechlich und doch unnachgiebig. Der Blick starr, die geschwungenen Augenbrauen Anitas so ähnlich, die Mundwinkel verzogen, die Lippen zusammengekniffen, das starke Kinn vorgeschoben.

»Dr. phil. Abraham Warburg«, las Anita. Er richtete Grüße aus und verwies auf ein zweites Schreiben im Umschlag. Anita faltete es auseinander. »Prof. Dr. Max Liebermann«, murmelte sie ungläubig. »Er erklärt sich bereit, das Fräulein Rée in Berlin zu empfangen und ihr nach bestem Wissen zu raten.« Sie strahlte. »Ich soll ein halbes Dutzend Zeichnungen mitbringen, höchstens zwei bis drei Studien in Öl, nur so viel, wie ich in einer Hand tragen kann. Oh, ich kann viel tragen!« Sehr viel, alles, wenn es sein musste, aber Anita wusste schon, Menge war kein Kriterium. Die Gedanken schwirrten wie die Fliegen im Sommer auf der Marsch. Ein Termin beim Präsidenten der Berliner Sezession, beim Vorstand des deutschen Künstlerbundes, bei einem gefeierten Impressionisten, einem hochgeachteten und gern gesehenen Gast in Kunstkreisen, besonders in Hamburg und in der Kunsthalle. Sie jubilierte. Liebermann also!

Anita fasste Emilie an den Händen. Sie drehten sich, tanzten im Kreis, ausgelassen. Anita schlang dem Vater die Arme um den Hals, hauchte der Mutter einen Kuss auf die blassen, knochigen Wangen. Es galt Entscheidungen zu treffen: Sollte sie die Selbstbildnisse aus Hittfeld wählen? Den Kopf oder das Brustbild oder beides? Wie wäre der Kuhmann? Kein Zweifel: Liebermann musste ihren Schuster sehen.

Wenige Tage später schritt Anita Unter den Linden entlang, die Allee hinauf zum Pariser Platz, das gewaltige Brandenburger Tor mit der prunkvollen Quadriga schüchterte sie ein, rechts davon das Palais Liebermann nicht minder. Es war Sonntag, der 7. Januar 1906 kurz vor 11 Uhr. Ein Passant lupfte seinen Hut und nickte Anita aufmunternd und überaus freundlich zu. Sie fürchtete, Angst und Aufregung seien ihr ins Gesicht geschrieben. So sehr verlangte es sie nach Zuversicht. Zitternd würde sie vor Liebermann stehen. Kein Wort herausbringen. Sie schaute die Fassade hinauf. Wolken bildeten einen schweren Baldachin. Immer neue Schichten schoben sich ineinander und übereinander. Grau legte sich über Grau. Dunkles Grau mischte sich mit noch dunklerem Grau. Es war die Verheißung eines tüchtigen Regens.

Eingehend betrachtete Liebermann die mitgebrachten Werke. Die Zeichnung vom Schuster stand auf der Staffelei. Liebermann war der unbedingte Wille zum kritischen Rat ins Gesicht geschrieben. Er ließ sich nicht stören vom rennenden Dackel. Immer im Kreis, als wäre das luftige Dachatelier des Familienpalais eine Rennstrecke. Alle paar Sekunden flitzte der Hund vorbei. Anita wurde ganz schwindelig.

»Männe, wat meinste?« Der Dackel hielt inne, stoppte, hob die Schnauze, schnupperte interessiert, als läge die Antwort auf die Frage seines Herrchens in einer Duftnote, die sich irgendwo hier finden ließe. Liebermann bückte sich, nahm das Tier auf den Arm und streichelte es liebevoll. »Wat meinste, kann dat Fräulein wat oder eher nich?«

Männe wuffte.

Auf Liebermanns Gesicht breitete sich ehrliche Freude aus. Er zog die rechte seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Welchen Schuster mögen Se lieber, verehrtes Fräulein Rée?«

»Welchen?« Anita schüttelte den Kopf.

Der Professor nickte. »Ick sehe zwei. Einen müden Grantigen ohne jegliche Hoffnung. Der andere Schuster ist freundlich, jeduldig und jelassen, mit der natürlichen Würde eines hart arbeitenden Menschen.«

Anita legte ihre Hand auf Männes dunkles Fell. Es war warm und glatt. Vorsichtig streichelte sie den Hund. »Den einen Schuster gibt es nicht ohne den anderen. Der Mensch hat offenbar widersprüchliche Gesichter. Im einen Augenblick sind wir glücklich, im nächsten traurig. Wenn wir am Morgen noch voller Sorge in die Zukunft geschaut haben, sehen wir sie am Abend mit der Gelassenheit desjenigen, der sein Tagwerk vollbracht hat.«

»Sie zeichnen nicht nur mit Talent, liebes Fräulein Rée, Sie erkennen auch die Charaktere Ihrer Modelle.« Liebermann schritt zu einem kleinen Sekretär und schrieb etwas auf einen Zettel, den er ihr überreichte. »Da gehen Se morgen mal hin.«

Den Nachmittag vertrieb sich Anita in der Nationalgalerie. Die große Jahrhundertausstellung der deutschen Maler sollte erst am 24. Januar eröffnet werden, doch das Bildnis, das Liebermann vor einigen Jahren im niederländischen Dongen gemalt hatte, hing bereits. Sorgfältig betrachtete sie seine Schusterei. Ein lichter, großzügiger Raum. Ein Meister und sein Lehrjunge. Das Gesicht des einen im Profil, das des anderen nicht zu sehen. Der Meister zog die Knie an, stützte den linken Fuß auf die Stuhlstrebe, den rechten auf die des Tisches. Die plumpen Holzpantinen schienen über dem Boden zu schweben. Der Oberkörper bewegt, der Ellbogen energisch angewinkelt. Dieses Bild zeigte keinen tristen, ermüdenden Broterwerb, sondern wahrhaftige Freude am Handwerk und das Wissen um dessen Bedeutung. Ohne bequeme Schuhe wäre das Leben schließlich mühsam und eingeschränkt.

Am Montag erteilte Anita der Fahrt mit der elektrischen Straßenbahn kurzerhand eine Absage. Sie zog den ordentlichen Fußmarsch vor: durchs Brandenburger Tor, die Charlottenburger Chaussee hinauf, mitten durch den Großen Tiergarten, die riesige Parkanlage zur Rechten und Linken, über den Stern mit der Siegessäule. Grün und wieder grün, wohin das Auge auch reichte. Dann rechts ins Hansaviertel und schließlich den Siegmunds Hof hinauf. Mehrere Männer auf einem Fuhrwerk mühten sich mit dem Abladen eines wuchtigen Steinblocks. Eine blonde Frau erteilte energische Anweisungen. Anita hielt einen Augenblick inne, bevor sie ins Schleswiger Ufer einbog.

Entlang der Spree lief sie nun. Die Schule in rotem Backstein, fein mit Sandstein gegliedert, erinnerte an norddeutsche Architektur, schien so gar nicht nach Berlin zu passen. Knaben spielten Ball davor. Anita wich ihnen aus und erreichte bald darauf die von Liebermann genannte Adresse, die Malschule des Freiherrn Leo von König.

Das Namensschild war aus Messing. Die Wohnungstür im ersten Stock nur angelehnt. Jeder ihrer vorsichtigen Schritte ließ das Parkett knarzen. Im ersten Raum posierte ein nackter bärtiger Mann auf dem Podest. Ein nordischer Kämpfer, im Schritt verharrt. Seine Muskeln glänzten. Er schaute wie abwesend aus dem Fenster hinaus auf die Spree.

Vier der Staffeleien waren besetzt. Anita stellte sich vor den heißen Kachelofen und wärmte ihre Hände an den Keramikfliesen. Die einzige Frau im Raum drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an.

Anita traf Leo von König nicht an, hinterließ ihm letztlich eine Nachricht und bemühte sich, der Enttäuschung keinen Raum zu geben. Der Besuch in Berlin war nicht vergebens. Die Bestätigung Liebermanns ließ sie wachsen. Sie hob ihr Kinn an. Nur die bestmögliche aller Ausbildungen war gut genug für sie.

Schon wenige Tage später teilte von König ihr die Bedingungen für die Malschule brieflich mit. Das Modell für Akt und Porträt stehe täglich ab neun Uhr in der Früh für vier Stunden. Damen und Herren könnten gemeinsam oder getrennt arbeiten. Das Honorar enthalte das Modellgeld und betrage 50 Mark im Monat.

»Berlin? Wie stellst du dir das vor? Eine junge Frau kann nicht allein nach Berlin«, meinte die Mutter. Sie habe die ersehnte Bestätigung ihres Talents, jetzt gelte es, die Ausbildung bei Siebelist zu beenden.

Die Eltern erteilten einem Wechsel auf die Berliner Malschule eine klare Absage. Sie verschlossen sich allen Argumenten. Zu Anitas Zweifeln gesellte sich Einsamkeit. Was nützte all ihr Talent, wenn ihr eine vernünftige Ausbildung vorenthalten wurde.

Versehentlich trat Anita gegen einen Stein, der ungestüm ins Grün eines Hittfelder Gartens sprang. Das gefiel ihr. Erneut schoss sie einen Stein ins Aus. Anständige Fräuleins treten nicht nach Steinen. Der dritte Stein hüpfte weit voraus über das Kopfsteinpflaster der Bahnhofstraße.

Auch zwei weitere Anläufe waren im Sand verlaufen, eine Anfrage in Karlsruhe genauso wie eine zweite bei Leo von König in Berlin erst im vergangenen Jahr. Seine Bedingungen hatten sich genauso wenig verändert wie Anitas. Malen durfte sie, aber eine ordentliche Ausbildung verwehrte man ihr.

Anita beschleunigte den Schritt. Sie wollte und durfte den Zug nicht verpassen, sie hatte genug von Hittfeld, von Siebelist und Pleinair, von den Farben der Marsch, vom Gerede über Hamburgische Kunst und die Gefahr des französischen Einflusses, der doch nicht aufzuhalten war. Die ersten der Siebelist-Schüler verweigerten sich schon der Heimatkunst, spotteten über die Kuhmaler und waren dem fernen Rufen gefolgt. Längst studierten sie in Paris: Friedrich Ahlers-Hestermann, Franz Nölken und all die anderen. Pleinair gut und schön, jetzt absolvierten sie an der Académie Matisse ihre zweite malerische Grundausbildung. Im Couvent de Sacré-Cœur auf dem Boulevard des Invalides unterrichte Henri Matisse persönlich, hieß es. Dort, wo früher Nonnen beteten, lehre man nun die Moderne. Es ging nicht mehr darum, die Natur nachzuahmen, eine Illusion der Wirklichkeit aufs Papier zu bannen, sondern darum, ihr einen neuen Ausdruck zu verleihen, einen eigenen Ausdruck.

Anita trat einen Stein ins Gleisbett. Der Bahnsteig war um diese Zeit menschenleer. Ein uniformierter Eisenbahner döste im Stehen, wurde erst lebendig, als der Zug mit Getöse einfuhr. Anita suchte sich ein leeres Abteil, verstaute Koffer und Malutensilien im Gepäcknetz. Sie setzte sich ans Fenster.

Ein Bild ohne Stimmung sei kein Bild, meinte Siebelist stets. Der Hittfelder Bahnhof wirkte trostlos, der Bahnsteig schon wieder leer, kaum jemand war ausgestiegen. Wer nach Paris wollte, stieg nicht einmal in Hamburg aus. Der Zug fuhr laut und ruckelnd an. Knarzend öffnete sich die Abteiltür, und der massige Körper eines Mannes drängte sich herein. Ließ sich schwer auf den Sitz gegenüber fallen. Er nickte zum Gruß und legte einen farblosen Beutel in seinen Schoß.

Anita nickte auch.

Er schaute sie nicht an.

Anita schaute seine Hände an.

Die Gelenke waren zu dicken Knoten geschwollen. Die glänzten rot, verbogen die Finger, verkrümmt bis zur Nutzlosigkeit. Auf dem linken Handrücken ein pflaumengroßer Ball. Anita spürte, wie Scham den Hals hochkroch, wie Hitze ihr Gesicht rot färbte. Sie zwang sich, aus dem Fenster zu sehen, doch die fürchterlichen Hände wirkten magnetisch, zogen ihren Blick an, weckten Erinnerungen. Ausgerechnet Hände. Handwurzel, Mittelhand, Finger, Daumen. Ausgiebig hatte sie die Physiognomie studiert, doch die Hand entzog sich dem Verstehen, machte es ihr, anderen Anfängern und sogar den Fortgeschrittenen schwer. Siebelist hatte mit Freude und Absicht ins Schwarze getroffen. »Seht hier!« Anitas Studien, ungefragt zur Schau gestellt. Anita, die Fremde. Das Fräulein Rée, die Dilettantin. Er, die Zigarre paffend. Die Augen zusammengekniffen. Der Ton beißend. Die Sonne von ungewohnter Strahlkraft. Mücken schwirrten über Anitas Studien, die Siebelist ordentlich nebeneinander auf dem langen Tisch der Hittfelder Sommerschule aufgereiht hatte. Anita schämte sich. Für ihre Zeichnungen mit verborgenen Händen, mit unsichtbaren Händen, mit ungenauen Händen, mit misslungenen Händen. Dafür, dass sie eine Malerin sein wollte. Nicht einfach nur zufrieden oder Ehefrau. Dass sie zweifelte und nicht mutig ihr Ziel verfolgte. Sie betrachtete ihre eigenen Hände, öffnete sie, drehte sie. Sie betrachtete die verkrüppelten Hände ihres Gegenübers.

Anita schämte sich.

Am Isequai

Hinter verstaubten Kartons entdeckte Anita die Puppenstube. Erst hatte Emilie mit ihr gespielt, später sie selbst. Die Dachkammer war vollgestellt mit ausrangiertem, längst vergessenem Hausrat. Womit sollte sie beginnen? Mit dem vergilbten roten Teppich, der jahrelang in Mutters Ankleidezimmer gelegen hatte? Er könnte nach gründlicher Reinigung wieder hübsch aussehen. Die blinden Stellen des Spiegels störten nicht, und dem wackligen Holztisch, der früher im einem der Kinderzimmer seinen Dienst geleistet hatte, tat ein frischer Anstrich sicher gut. Der Stuhl war ein Fall für den Müll. Ihm fehlte nicht nur ein Bein, auch das Sitzgeflecht schien nicht reparabel. Anita trug ihn und die Puppenstube hinaus.

Spinnen stoben davon, während sie Weben entfernte und den Boden fegte. Sie öffnete das Fenster in der Gaube und ließ Luft herein. Staubkörnchen schwirrten in den Sonnenstrahlen. Ein hübscher Vorhang würde den Raum freundlicher wirken lassen. Er war alles andere als ideal zum Malen, viel zu klein, zu niedrig und die Lichtverhältnisse miserabel. Er war jedoch das, was man ihr zugestanden hatte.

Die Dachkammer sei doch die beste Lösung.

Nein, sie war schlicht die einfachste.

Anita fühlte sich aussortiert wie altes Kinderspielzeug, wie ein unbrauchbares Möbel. Sie pustete eine Haarsträhne weg und wischte sich mit dem Ärmel Staub aus dem Gesicht. Sie blinzelte das Zwicken in den Augen weg.

Sie wollte malen? Dies war ihr Atelier. Niemand würde sich hier oben in ihre Arbeit einmischen. Niemand würde sich die Treppen heraufbemühen, den nicht absolutes Interesse antrieb. Energisch hob Anita den Tisch hoch und platzierte ihn unter dem Fenster. Sie faltete einen Bogen Papier zu einem Wulst, den sie unter eines der Beine schob. Hier wackelte nichts mehr.

»Das sieht doch schon ganz hübsch aus.« Anita hatte die Schwester nicht kommen hören. Emilie reichte ihr eine Langhalsvase mit frischen Blumen.

»Ich werde noch einen Schrank brauchen.« Anita wies auf den Korb mit Malutensilien. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Sie wusste, wie sehr sich Emilie bemühte, wie sehr sie sich sorgte. »Kannst du mir den Stuhl aus meinem Zimmer holen?«

Emilie nickte, froh, helfen zu können, einen Auftrag zu haben. »Ich habe gedacht, du magst das Rembrandt-Bildnis aufhängen.«

Anita stellte die Vase auf den Tisch und lehnte die kleine Reproduktion an die Wand. Ein Selbstbildnis des jungen Rembrandts. Jeder fängt an, irgendwo, irgendwie. Wenn sie sich nun umdrehte, blickte sie direkt in den Spiegel, sah das Fenster, den Tisch, Emilies Blumen, den zweifelnden Blick Rembrandts und eine skeptisch dreinschauende junge Frau. Die Dachkammer mochte ein Abstellraum sein, er mochte ungeeignet sein, sich noch fremd und ungewohnt anfühlen, aber es war auch ihr erstes eigenes Atelier.

Sie lauschte Emilies Schritten, hörte, wie sie die Treppe hinunterstieg. Sie konnte die Tür schließen und das Leben unten im Haus aussperren.

»Weiter, weiter.« Franz Nölken trieb seinen Freund voran – durch den schmalen Flur, wie einen Schutzschild. Anita blieb in der geöffneten Tür stehen. Herbstlaub wehte herein. Äste samt Blattwerk sausten den Alsterkamp hinauf. Eine Katze huschte lautlos durchs Gebüsch. Alles brachte sich in Sicherheit. Der Wind heulte, es knackte und knisterte. Ein tüchtiger Sturm über der Ostsee war vorhergesagt worden. Anita musste mit Kraft gegen die Tür drücken, um sie zu schließen. Dann folgte sie den Männern.

Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer. Auf das Gesicht der Mutter stahl sich ein Lächeln. Emilie erhob sich freudig, der Vater zwirbelte seinen ergrauten Knebelbart, setzte seinen Körper in Bewegung, schwang ihn auf, als wäre das Leben im Rée’schen Haus erwacht und dürfte keinesfalls versäumt werden.

Franz Nölken knetete die Finger, setzte sich gleich an den Flügel, wie er es immer tat, wenn er die Rées besuchte. Am Klavier fühlte er sich aufgehoben. Anita konnte es sehen, in seinem Gesicht lesen, seine Bewegungen deuten. Die Falten auf Nölkens Stirn glätteten sich, die Augen öffneten sich weit, die hochgezogenen Schultern entspannten sich. Ein Haarbüschel löste sich. Er streckte den Kopf vor und machte den Rücken rund. Instrument und Mensch verschmolzen. Finger berührten Tasten, streichelten sie, noch bevor ein Ton zu hören war, zauberten Arpeggien, die selig durch den Raum waberten und Anita mehr wärmten als jedes Feuer im Kamin.

»Welche Stimmung brauchen Sie heute?«, rief Nölken forsch.

Anita hatte selbst das Klavierspielen gelernt. Sie wusste schon: Es war das Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier, der Anfang in C-Dur, ein Anfang, der Glück versprach. 24 Takte Erfüllung. Nölken ließ die Fuge des ersten Satzes aus und wechselte nahtlos in das C-Moll-Präludium des folgenden Satzes, das die Träumereien unterbrach. Auf den ersten Anfang folgte ein zweiter. Wechselnoten der rechten Hand konkurrierten mit den Sechzehnteln der linken Hand.

»Besser?«, rief Nölken, wartete auf keine Antwort. Seine Finger eilten zum fröhlichen dritten Satz, Cis-Dur, zum feierlich getragenen vierten in cis-Moll. Es folgte ein pathetischer Tanz in D-Dur, der mit dramatischem Unterton endete. D-Moll wirkte kühn und sorgte für Aufbruchsstimmung.

Plötzlich lachte er laut, klatschte in die Hände, als wollte er sagen: So, das war’s. Das muss für den Anfang reichen. Er sprang auf.

Emilie applaudierte, die Eltern und Friedrich Ahlers-Hestermann stimmten ein. Anita auch, zaghaft jedoch.

Sie beobachtete, wie sich Nölkens Augenpartie wieder verschattete, wie die Haltung verkrampfte, als er seinen Platz neben Vater einnahm, und wie der spöttische Zug um seinen Mund zurückkehrte. Diese merkwürdige Traurigkeit hüllte ihn ein wie eine unsichtbare Haut.

»Die Welt hat einen begnadeten Musiker verloren.« Ahlers-Hestermann seufzte theatralisch.

»Du redest Blödsinn, Ahlers. Ich lebe doch noch.«

Ahlers-Hestermann zog eine Grimasse. »Vor einigen Jahren habe ich Franz in seinem Atelier im Sauerland besucht, in Borgeln, dort, wo er sich jeden Sommer versteckt. Vor dem Haus bunte Blumenrabatten und Gemüsebeete. Die Fenster weit geöffnet. Er sitzt am Klavier und spielt und spielt. Stundenlang. Das ganze Dorf hört zu. Wenn er nicht spielt, dann findet man ihn auf einer Gartenbank im Schatten, genüsslich eine Pfeife rauchend. Oder er trinkt in der Dorfkneipe ein Altbier mit dem Lehrer, dem Pfarrer und anderen wichtigen Leuten. Wenn man ihn weder hört noch sieht, dann malt er.«

»Die Welt hat einen begnadeten Maler bekommen!« Nölken saß im Dunkeln, sein Gesicht war kaum noch zu sehen.

Vater lachte auf, legte ihm freundschaftlich die Hand auf den Unterarm.

»Det is eben Schenie!« Nölken sagte es im völligen Ernst.

»Kähne hat das immer gesagt, unser alter Zeichenlehrer auf dem Johanneum«, erklärte Ahlers-Hestermann.

Nölken nickte. »Wenn man nun kein Schenie hat, soll man sich die Kunst vom Leibe halten und der Menschheit als Briefträger nützlich sein.«

Emilie brach in schallendes Gelächter aus.

Mutter schmunzelte.

»Lachen Sie nicht! Vor meiner ersten Paris-Reise ging mir ein Zittern durch die Knie, wenn ich bloß an Rubens dachte. Jetzt male ich die fabelhaftesten Sachen. Ich male Renoirs genauso, wie Matisse sie malen würde.«

Jetzt lachten auch Vater und Ahlers-Hestermann.

»Sollten wir darauf nicht anstoßen, Eduard?« Mutter sprach wie gewohnt leise. Sie beugte sich beim Sprechen vor.

Vater wies das Dienstmädchen an, eine Flasche Sekt und Gläser zu bringen.

»Paris hat sich also gelohnt?«, fragte Anita. Sie zwang sich zur Ruhe, durfte den Eltern nicht offenbaren, wie neugierig sie war. So gerne wollte sie Details erfahren, wollte alles wissen: Wie es in den Museen war. Wo man die moderne Kunst sah. Wie der Unterricht bei Matisse ablief. Ob sie Picasso getroffen hatten oder Degas. Und das Leben. Das Leben in Paris. Die prachtvollen Avenues, die verwunschenen Parks, die Straßencafés und die verruchten Cabarets. Ach, Anita träumte schon davon.

»Wir hatten ja zunächst gar keine Lust!«, sagte Ahlers-Hestermann.

Nölken schüttelte gelangweilt den Kopf.

Das Mädchen verteilte die Gläser auf dem Tisch.

»Keine Lust auf Paris? Das klingt merkwürdig«, sagte Vater. Der Korken löste sich mit lautem Knall. Vater schenkte Sekt ein.

»Paris, die Stadt des Schnupfens.« Nölken lachte.

Anita seufzte. Sie hasste diese Plänkeleien, hatte selbst kein Talent dafür, nicht einmal Zeit.

»Erst hatte Franz einen ordentlichen Schnupfen, dann ich«, erklärte Ahlers-Hestermann.

Vater griff zum Glas, die anderen taten es ihm gleich.

Anita nippte.

Wieder entstand eine Pause. Es dauerte, bis sich Nölken erbarmte: »Unser erstes Atelier war eine Abstellkammer in der Rue d’Assas im 6. Arrondissement. Der Besitzer hat uns einen Kanonenofen hineingestellt, der nur zwei Zustände kannte: Entweder lief uns der Schweiß oder wir froren erbärmlich.«

»Mein zweites Atelier war in der Rue Notre-Dame-des-Champs in einem lang gestreckten Hinterhof. Ich musste mir die Toilette mit 19 anderen Ateliers teilen«, sagte Ahlers-Hestermann.

»Ein fürchterliches Dreckloch«, warf Nölken ein.

Ahlers-Hestermann nickte. »Für die Wohnung am Boulevard Edgar-Quinet haben mir meine Eltern aus Sorge um meine Gesundheit einen Kohle verschlingenden Dauerbrenner gekauft, der eine milde Temperatur verströmte. Die reichte jedoch nie, wie ich schnell herausfand. Meine Modelle froren bitterlich, und ich hustete ständig. Und dann der Lärm vom nahen Bahnhof. Donnernd stoßen beim Rangieren die Zugteile aneinander. In ganz Montparnasse hört man das Zischen der Dampfkessel und die dramatischen Trillerpfiffe der Zugführer kurz vor der Fahrt in die Hölle. Wie schön und still ist es dagegen in meinem großen und lichten Hamburger Atelier.«

Anita betrachtete ihre rechte Hand, starrte auf die Linien der Innenfläche, folgte ihnen berührungslos, sah alle Chancen schwinden. Niemals würde sie es nach Paris schaffen, wenn sich selbst Freunde in Gegenrede übten.

»Paris hat Sie also krank gemacht? Ich habe angenommen, Frankreich ist viel wärmer als Hamburg.« Mutter verschränkte die Arme und rieb mit den Händen ihre Oberarme, als hätten die Männer die Kälte ihrer Pariser Hinterhofateliers mit in den Alsterkamp gebracht.

»Es war nur eine ganz leichte Tuberkulose.«

Beschwichtigungen halfen nun auch nichts mehr. Mutter hatte ihr Stichwort bekommen. Krankheiten interessierten sie mehr als Kunst, damit kannte sie sich bestens aus. Das Leiden anderer war so viel befriedigender als eigenes. Am meisten Genugtuung bereitete das Leiden der jüngsten Tochter.

»Haben Sie sich denn während Ihrer Kur erholen können? Richtig gesund sehen Sie noch immer nicht aus. Wohin hat man Sie eigentlich geschickt?«, fragte die Mutter.

Anita kniff wütend die Lippen zusammen. Sie wusste, man nannte dies Konversation, und gewiss tat sie der Mutter unrecht, doch belanglose Gespräche widerten sie an. Nölken und sein Freund schienen nicht zu bedenken, was ihr Geplapper verursachte. Vielleicht hatten sie auch Freude daran, den Eltern Argumente gegen eine Reise nach Paris zu liefern.

»Ich war in einem als Gasthof getarnten Sanatorium im Schwarzwald. Eine mir völlig fremde Gegend. Die Bäuerinnen tragen Trachten, die ich bislang nur von Bildern kannte. Die Luft ist mild wie Milch, und die Landschaft lädt zum Spaziergehen ein. Allerdings nicht zum Malen«, erzählte Ahlers-Hestermann.

Anita kämpfte gegen den Drang, aufzuspringen und den Raum zu verlassen. Doch die Mutter würde ihr später Unhöflichkeit vorwerfen.

»Diesen Winter soll ich nicht in Hamburg verbringen. Ich will mich Ende November auf die Palermo einschiffen, Europa im Westen umfahren und über Gibraltar nach Korsika reisen.«

Unhöflich verhielten sich jedoch die, die ihre Fragen missachteten, die nicht verstanden, dass sie sich weder für den Schwarzwald noch für Korsika interessierte.

»Auf Korsika herrschen sicher angenehmere Temperaturen als in Hamburg, aber auf dem Schiff müssen Sie sich unbedingt warm anziehen«, sagte die Mutter.

»Aber Paris!«, rief Anita. Jetzt war sie aufgesprungen. Schrill hatte sie geklungen. Ihr Paris klang nach, klirrte im Kopf. Sie starrte stehend. Alle starrten. Die Gesichter verschwammen. Mutters empörte Miene legte sich über Emilies erschrockene, über Vaters besorgte. Ahlers-Hestermann wirkte erstaunt. Anita sah Nölkens spöttischen Blick, den Kopf schief zwischen den Schultern, die Stirn gerunzelt.

Spotten, ja, das konnte sie auch.

Emilie zog sie am Rock.

Anita griff nach dem Sektglas. »Trinken wir auf das kalte, dreckige und viel zu laute Paris«, rief sie. »À votre santé!« Feierlich hob sie ihr Glas.

Nölken richtete sich auf. Er betrachtete sie, während sich alle zuprosteten. Sein forschender Blick war fühlbar, ließ sie frösteln, dann spürte sie Wärme aufsteigen.

Er räusperte sich umständlich. »Paris ist ja ganz nett.« Er zögerte wieder. Dann lachte er laut auf. »Das ist natürlich eine Untertreibung. Paris ist hinreißend, wunderbar, aber, selbst wenn Sie mir den Kopf abreißen, verehrtes Fräulein Rée, ösche Kunst kann man in Berlin viel bequemer kennenlernen.«

»Ösche Kunst?«, fragte Emilie.

»Französische Kunst. Franz sagt ösche für französisch, Osen für Franzosen und Ahlers statt Hestermann.«

Dieser Ahlers-Hestermann schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, Nölken zu erklären. Lieber sollte er sich zu Paris erklären.

»Matisse?«, fragte Anita. »Was ist nun mit Matisse?«

»Pfft! Der große Unbekannte. So haben wir ihn genannt. Wo sollten wir ihn suchen? Auf dem Salon des indépendants? Wir konnten ihn nirgendwo entdecken.« Nölken machte eine undefinierbare Handbewegung.

»Eine junge Malerin aus Franz’ Heimat hat uns schließlich geholfen.« Ahlers-Hestermann erklärte wieder. »Unsere Erwartungen befanden sich auf dem Nullpunkt. Wir hatten genug gesehen und wollten endlich selbst malen. Sie wohnt in der Rue de la Grande Chaumière. Übersetzt heißt das die große Strohhütte.« Er lachte. »Dort befinden sich die Académie Colarossi und die Croquis der Académie Grande Chaumière. Hier kann man nachmittags oder abends für 50 Centimes Akt malen. Ohne Korrektur versteht sich. Dann wurden wir ins Café du Dôme eingeführt, der Stammsitz der deutschen Künstler in Paris. Er ist genauso trüb und heruntergekommen wie jedes andere Café in Paris. Die Leute sitzen herum, allein oder in Gruppen, als warteten sie auf irgendetwas, auf die große Chance, die Entdeckung, etwas Geld. Das Café du Dôme ist ein Wartesaal dritter Klasse und doch gehen wir immer wieder hin.« Ahlers-Hestermann grinste. »Wir haben einige Zeit gebraucht zu verstehen, dass in Paris jeder für sich ist.

Keine intensiven Beziehungen, keine Gruppierungen, keine Gefolgschaft, so wie wir das aus Hamburg kennen. Es mag daran liegen, dass das Leben provisorisch bleibt. Nur das Gefühl, in der Luft zu hängen, scheint ein ewiges.«

»Trotzdem machten wir endlich die Bekanntschaften, auf die wir so lange gehofft hatten.« Nölkens Stimme tönte wieder aus dem Dunkeln. »Wir bemerkten, dass man uns beobachtete. Offenbar haben wir die Prüfung bestanden.«

»Allerdings. Plötzlich gewährte man uns Zugang. Wilhelm Uhde nahm mich mit in die Rue de Fleurus in der Nähe vom Jardin du Luxembourg. Uhde ist Kunsthändler aus Brandenburg und schon einige Zeit in Paris. Mindestens genauso lange wie dieser Leo Stein, der Besitzer des Ateliers. Ein merkwürdiger Kerl in dunklem Cordanzug, ein Amerikaner. Er trägt eine Goldrandbrille und einen dünnen rötlichen Rauschbart. Ein Geistlicher, dachte ich, oder ein Philosoph. Seine Schwester Gertrude ist so rund wie freundlich und beide so beeindruckend wie ihre noch junge Sammlung. Sie besitzen Bilder von Cézanne und Renoir, mehrere von Matisse und zahlreiche Picassos.« Ahlers-Hestermann zögerte. »Monsieur Picasso befand sich auch unter den Gästen. Er ähnelt so gar nicht dem Magier, für den wir ihn alle halten. Er sieht aus wie ein Bursche vom Land, klein und stämmig, mit breitem Gesicht und einem eindringlichen Blick. Er hatte seiner Begleitung, der belle Fernande, einen Hut gekauft und wollte, dass wir ihn bewundern. Wir wollten lieber sein Skizzenbuch sehen, das er mit sich herumtrug, mit Zeichnungen von Südseemasken aus dem Musée Guimet.«

»Ihr habt wirklich viel erlebt.« Vater wirkte beeindruckt.

Ahlers-Hestermann nickte. »Im Oktober gingen wir auf die große Cézanne-Ausstellung im Salon d’Automne, ein Jahr nach dem Tod des Meisters. Ich war zum zweiten Mal in Paris und spürte das dumpfe Gefühl von etwas sehr Großem. Doch sagen, worin es bestand, konnte ich nicht. Cézanne weckt Ehrfurcht, vertraut werden seine Bilder erst nach und nach.«

»Und die Ausbildung bei Matisse?«, fragte Anita.

»Wir bekamen Rheu-Matisse-Mus davon.« Nölken beugte sich vor. Er zwinkerte ihr zu. Hatten sich beiden etwa doch auf ihre Seite geschlagen?

Sie lächelte gequält.

»Rheu-Matisse-Mus bekamen wir nicht vom Malen, sondern vom Diskutieren«, erklärte Ahlers-Hestermann. »Die Vertreter der schönen Malerei meinten, der Reiz eines Matisse-Bildes würde von jedem Gobelin übertroffen. Ein anderer hielt Matisse zwar für einen großen Maler, wollte jedoch nichts mehr lernen, sondern lieber eigene Erfahrungen machen. Franz und ich hofften dagegen immer noch, jemand würde uns endlich den Weg zur modernen Malerei zeigen.«

»Siehst du, Anita, Paris bringt dich nicht weiter«, mischte sich Mutter ein.

Nölken schüttelte den Kopf. »Madame Rée, entschuldigen Sie, wenn ich widerspreche. Matisse hat uns weitergebracht. Mit Matisse fühlten wir endlich, dass wir lernten. Vor den Ferien sagte er zu uns, wir sollten alles vergessen und wieder wie zuvor malen. Wir würden merken, dass wir etwas von dem, was er uns gelehrt hat, verinnerlicht hätten. Und so war es auch.«

»Alleine in meinem Dachatelier fühle ich nicht, dass ich etwas lerne«, sagte Anita.

Alle schwiegen, und draußen heulte der Wind.

»Du hast so viele Jahre gelernt. Male doch einfach!« Mutter verstand nichts. Ihre dünne Stimme schnitt die Stille wie Papier die Haut.

Nölken setzte sich wieder an den Flügel. »Was soll ich spielen?« Sanft berührten seine Finger die Tasten, Töne perlten, erhoben sich wie Seifenblasen. Er ließ sie schweben. Ein kleines Mädchen blies sie fort. Der Wind spielte mit ihnen, wirbelte sie durch die Luft, bremste sie nach Belieben oder gab ihnen neuen Schwung, bis sie sich auflösten.

»Was war das?«, fragte Anita.

»Clair de Lune von Debussy. Er soll es nach einem Gedicht von Paul Verlaine geschrieben haben.«

»Das ist sehr schön!«, sagte Vater.