Himmelsstürmerinnen - Wir greifen nach den Sternen - Sarah Lark - E-Book

Himmelsstürmerinnen - Wir greifen nach den Sternen E-Book

Sarah Lark

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Beschreibung

Ende des 19. Jahrhunderts in Schottland: Drei Cousinen aus dem adligen Clan der Hards streben nach Höherem. Während Ailis die Sterne erkunden will, träumt Donella vom Ballonflug und Haily vom Starruhm auf der Bühne. In der ersten schottischen Mädchenschule werden die Schülerinnen tatsächlich auf ein mögliches Studium vorbereitet. Die junge Emily, die aus einer Dienstbotenfamilie stammt, darf die drei Cousinen dorthin begleiten. Was zunächst wie ein Glücksfall für Emily anmutet, ist an eine ungute Bedingung geknüpft. Aber erst einmal scheint ihnen die Welt offen zu stehen. Doch dann nimmt das Schicksal für eine der Frauen eine unerwartete Wendung, und die vier werden in alle Winde zerstreut ...


Auftakt der großen Dilogie um vier außergewöhnliche Frauen, die von Schottland aus die Welt für sich erobern und dabei die Liebe und das Leben kennenlernen

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Seitenzahl: 730

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INHALT

CoverInhaltÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumKinderwünsche – Schottland, 1873–1880Ailis – Thorgale House, Stammsitz des Hard-Clans, Sommer 1873Haily – Old Lane Manor, Herbst 1873Donella – Cliff Tower, Frühjahr 1880Emily – Thorgale House, ein paar Stunden späterFür das Leben lernen – Thorgale House St Leonards School in St Andrews Boston, Massachusetts 1880–1886Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4 – St Leonards, Herbst 1882Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Zu den Sternen – Boston, 1886–1889 Schottland, 1886–1888 Grand Tour, 1888–1889Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Flügel der Liebe – Paris und Boston, Frühling bis Sommer 1889Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Seelenverwandte – Boston, Herbst bis Winter 1889 Paris, Herbst 1889 bis Sommer 1890Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Mesalliance – Boston, Winter 1889 bis Sommer 1890 Paris, Sommer 1890 bis Winter 1890Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Studien – Boston, Winter 1890 bis November 1891Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Die Frau mit dem Ballon – Boston, November 1891 bis Frühjahr 1892Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7NachwortVielen Dank!

ÜBER DAS BUCH

Ende des 19. Jahrhunderts in Schottland: Drei Cousinen aus dem adligen Clan der Hards streben nach Höherem. Während Ailis die Sterne erkunden will, träumt Donella vom Ballonflug und Haily vom Starruhm auf der Bühne. In der ersten schottischen Mädchenschule werden die Schülerinnen tatsächlich auf ein mögliches Studium vorbereitet. Die junge Emily, die aus einer Dienstbotenfamilie stammt, darf die drei Cousinen dorthin begleiten. Was zunächst wie ein Glücksfall für Emily anmutet, ist an eine ungute Bedingung geknüpft. Aber erst einmal scheint ihnen die Welt offen zu stehen. Doch dann nimmt das Schicksal für eine der Frauen eine unerwartete Wendung, und die vier werden in alle Winde zerstreut …

ÜBER DIE AUTORIN

Sarah Lark, geboren 1958, wurde mit ihren fesselnden Neuseeland- und Karibikromanen zur Bestsellerautorin, die auch ein großes internationales Lesepublikum erreicht. Nach ihren fulminanten Auswanderersagas überzeugt sie inzwischen auch mit mitreißenden Romanen über Liebe, Lebensträume und Familiengeheimnisse im Neuseeland der Gegenwart. Sarah Lark ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Schriftstellerin, die in Spanien lebt.

 

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch

die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

 

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

 

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben

vorbehalten.

 

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Textredaktion: Heike Brillmann-Ede

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Einband-/Umschlagmotiv: © Radek Sturgolewski/Shutterstock; Ana Gram/

Shutterstock; grafxart/Shutterstock; Tanya Antusenok/Shutterstock; Lisavo/

Shutterstock; Triff/Shutterstock

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4765-3

luebbe.de

lesejury.de

Kinderwünsche

Schottland, 1873–1880

Ailis

Thorgale House, Stammsitz des Hard-Clans, Sommer 1873

Ailis sah zum ersten Mal zu den Sternen auf, als ihr Kindermädchen die Zeit vergaß. Larna, ihre junge Nanny, war ursprünglich Stubenmädchen auf dem Landsitz Thorgale House gewesen. Ailis’ Mutter hatte sie kurzerhand befördert, als ihre Tochter den Windeln weitgehend entwachsen war. Die anfänglich zuständige Säuglingspflegerin wurde entlassen, nachdem sich nicht, wie erhofft, gleich ein weiteres Kind eingestellt hatte.

Für Ailis bedeutete der Wechsel die Abkehr von einem strengen Tagesplan, bestehend aus Füttern, Wickeln, Ausfahrten im Park und eine kurze tägliche Vorstellung bei den Eltern. Die erst fünfzehnjährige Larna war begeistert von ihrem kleinen Pflegling und ging mit Ailis um wie mit einer geliebten Puppe. Sie trug das Kind herum, kitzelte es und spielte mit ihm. Sie sang ihm vor, und als Ailis etwas größer wurde, erzählte sie ihr Geschichten. Sie entwirrte Ailis’ feine braune Locken vorsichtig mit weichen Bürsten, verglich ihre braun-grün gesprenkelten Augen mit Amseleiern und sagte ihr, wie süß sie ihr Stupsnäschen fand.

Inzwischen war Larna siebzehn und Ailis vier Jahre alt, und ihr liebevolles Verhältnis hatte sich nicht verändert. In den letzten Monaten war jedoch Aidan in Larnas Leben getreten, ein junger Gärtner. Larna und Ailis trafen sich mit ihm im Park des Anwesens, wo er Holzpferdchen für Ailis schnitzte und Larna küsste.

Auch den Nachmittag dieses klaren, warmen Sommertages hatten sie gemeinsam im Park verbracht. Aidan hatte ein paar Beete zu bepflanzen, und Larna und Ailis »halfen« ihm. Das kleine Mädchen hantierte begeistert mit einer kleinen Harke und einer Gießkanne und war rechtschaffen müde, als es sich schließlich alle drei auf dem Rasen gemütlich machten. Larna hatte Ailis’ Abendessen mit nach draußen gebracht, und die Kleine knabberte an einem Sandwich, bevor sie erschöpft auf ihrer Decke einschlief.

Larna und Aidan nutzten die Gunst der Stunde und streckten sich auf einer zweiten aus – dann vergaßen sie die Zeit.

Ailis war etwas verwundert, als sie die Augen öffnete und sie sich nicht in ihrem Kinderzimmer wiederfand, sondern immer noch im Park, wo der bislang blaue Himmel sich eben rötlich verfärbte und die Sonne Anstalten machte, sich hinter einem Hügel zu verstecken. Das kleine Mädchen sah dabei fasziniert zu und stellte fest, dass mit ihr auch das Licht wich. Das Blau des Himmels wurde dunkel bis schwarz – und plötzlich erschienen darin goldene Lichter. Einzeln oder in Formationen beleuchteten sie die unendliche Weite, die sich über Ailis auftat. Die Kleine konnte vor Verzückung kaum atmen. Sie war bislang niemals nach dem Dunkelwerden draußen gewesen – ein Schauspiel wie dieses hatte sich ihr nie geboten.

»Larna!« Aufgeregt rief sie den Namen ihrer Kinderfrau. Larna schlief auf der Decke neben ihr in Aidans Armen, regte sich jedoch sofort, als sie Ailis’ Stimme hörte. Um daraufhin in helle Aufregung zu verfallen.

»Aidan, Aidan, um Himmels willen, wir haben verschlafen! Ailis sollte längst im Bett sein – und vorher hätte ich sie der Lady noch vorstellen müssen … möglichst gebadet und umgezogen … Wir müssen uns beeilen. Wenn das bloß noch niemand gemerkt hat!«

Larna sprang auf, raffte die Reste von Ailis’ Picknick zusammen und nahm das kleine Mädchen auf den Arm – obwohl Ailis natürlich auch selbst hätte laufen können.

»Sie dürfen uns nicht zusammen sehen!«, rief Aidan und schien zu schwanken, ob er gleich flüchten oder erst Larna helfen sollte, die Sachen ins Haus zu bringen.

Ailis ignorierte die Aufregung. Nach wie vor fand sie die Lichter am Himmel weitaus interessanter als Larnas und Aidans überstürzten Aufbruch.

»Was ist das?«, fragte sie Larna und deutete zum Himmel.

Die junge Frau blickte flüchtig hoch. »Sterne, Liebes. Das sind die Sterne …«

Es waren die letzten Worte, die Ailis von ihrer geliebten Nanny hören sollte. Das Mädchen erinnerte sich nicht mehr genau an die weiteren Vorgänge in dieser Nacht, nur dass Aidan und Larna prompt einem Trupp Hausdiener in die Arme liefen, die den Park mit Laternen absuchten.

Lady Alison Hard hatte hysterisch reagiert, als Larna nicht mit ihrem Kind erschienen war. Wider besseren Wissens – wo hätten die junge Nanny und ihr Schützling denn sein können, wenn nicht im Park oder irgendwo sonst auf dem Anwesen? – hatte sie eine Suchaktion organisiert und durchforstete selbst schreiend und weinend das Haus. Als Larna nun mit Aidan auftauchte, rechnete sie schnell zwei und zwei zusammen. Sie machte der jungen Frau wilde Vorwürfe, woraufhin Ailis erschrocken weinte, kurzerhand einer Küchenhilfe in die Arme gedrückt und schließlich von Lady Alison persönlich zu Bett gebracht wurde. Das verwirrte kleine Mädchen schluchzte heftig und schrie nach Larna. Schließlich weinte es sich in den Schlaf.

Larna und Aidan wurden noch in derselben Nacht des Hauses verwiesen, ohne Zeugnis, ohne Lohn. Das Regiment im Kinderzimmer übernahm Nanny Peterson, eine strenge, nicht mehr ganz junge Person, deren Uniform stets perfekt saß und deren Häubchen immer frisch gestärkt schien. Das vertrug sich natürlich nicht mit ausgelassenen Spielen und Picknicks im Park. Ailis’ Tageslauf wurde erneut bis ins Kleinste festgelegt, und die dicken Samtvorhänge vor dem Erkerfenster wurden stets geschlossen, lange bevor die Sterne am Himmel erschienen. Ailis meinte manchmal, die Lichter nur geträumt zu haben, doch dann bemerkte sie, dass Nanny Peterson einen festen Schlaf hatte. Die Kinderfrau wurde nicht wach, wenn die Kleine aus ihrem Kinderbett kletterte und unter den Vorhängen hindurch in den Erker kroch. Die großen Fenster dort ließen den Blick in den Himmel frei, und Ailis konnte sich an dem nächtlichen Schauspiel der leuchtenden Sterne nicht sattsehen. Sie erschienen allerdings nicht jeden Tag. Manchmal war der Himmel einfach nur dunkel, oder man sah allenfalls das größte Nachtlicht, bei dem es sich wohl um den Mond handeln musste. Er spielte manchmal in den Geschichten eine Rolle, die ihr Nanny Peterson pflichtschuldig eine halbe Stunde am Tag vorlas, und er sollte sogar ein Gesicht haben, das sich der Kleinen allerdings nicht erschloss. Er war auch nicht immer rund, sondern oft halbrund oder sichelförmig. Ailis hätte gern gewusst, woher das kam. Und woher die Sterne kamen … Sie war beinahe froh, als Nanny Peterson sie eines Tages im Erker erwischte. Natürlich schimpfte sie, aber Ailis konnte wenigstens versuchen, Fragen zu stellen.

»Versteckt sich der Mond?«, erkundigte sie sich schüchtern, während die Nanny sie wieder zu Bett brachte.

»Natürlich!«, gab die Nanny zurück. »Unartige Kinder will er nicht sehen!«

Ailis biss sich auf die Lippen. Sie gab besser nicht zu, dass sie den Mond schon oft in voller Schönheit betrachtet hatte.

»Und die Sterne?«, fragte sie. »Woher kommen die Sterne?«

Die Nanny deckte sie mit routinierten Bewegungen zu. »Jeder Stern ist die Seele eines braven, kleinen Mädchens, das Gott zu sich in den Himmel geholt hat. Deshalb müssen Kinder immer artig sein, ein leuchtendes Vorbild …«

»Aber erst müssen die Kinder sterben?« Ailis erschien die Aussicht, künftig womöglich selbst zur Beleuchtung des Himmels beitragen zu können, wenig verführerisch.

»Schlaf jetzt!«, sagte die Nanny ausweichend. »So Gott will, ist morgen für jeden von uns ein neuer Tag.«

Ailis schwieg – und fühlte sich etwas schuldig, weil sie ihrer Kinderfrau nicht glaubte. Schon jetzt hatte sie Regeln im Ablauf von Tag und Nacht, der Wanderung von Mond und Sternen über den Himmel und das Auf- und Untergehen der Sonne erkannt. Und ganz sicher hatte das nichts mit ihrem eigenen Verhalten zu tun.

Nanny Peterson mochte sich selbst für den Mittelpunkt von Himmel und Erde halten. Ailis Hard tat das nicht.

Haily

Old Lane Manor, Herbst 1873

»Haily will Baby haben!«

Gewöhnlich konnte die vierjährige Haily Hard bereits in ganzen Sätzen sprechen, doch wenn ihr ein Anliegen besonders wichtig war, fiel sie in die Babysprache zurück. Anna Coxwold, die Mutter des betroffenen Säuglings und beschäftigt in der Küche der Hards auf Old Lane Manor, hielt das für ein gezieltes Unterfangen, die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung auf sich zu lenken. Vor allem Lady Mairead Hard war stets gleich zur Stelle, wenn Haily in frühkindliche Verhaltensweisen zurückfiel – und sie konnte ihre Wünsche dann nicht schnell genug erfüllen.

Anna war jedoch fest entschlossen, dem einen Riegel vorzuschieben. »Sie können die kleine Emily ansehen, Miss Haily, und gern mal streicheln, aber sie bleibt trotzdem mein Baby!«, erklärte sie dem niedlichen, blondhaarigen, kleinen Mädchen, das sofort einen Flunsch zog und Anstalten machte, in Tränen auszubrechen. Anna hatte ihre winzige Emily, der man kaum ansah, dass sie schon einige Monate alt war, heute zum ersten Mal mit ins Herrenhaus gebracht. Natürlich widerstrebend, doch sie hatte keine älteren Kinder und auch keine Verwandten, die auf die Kleine aufpassen konnten, während sie arbeitete. Und arbeiten musste sie, Lady Mairead hatte schon kurze Zeit nach der Geburt Emilys ungeduldig nach ihr gefragt. Anna war für Kuchen und Süßspeisen zuständig, und Haily verlangte nach ihren Lieblingskeksen.

Nun bestand im Prinzip kein Grund, weshalb Emily nicht in der Küche in ihrem Körbchen schlafen sollte, während ihre Mutter kochte und buk. Die Atmosphäre dort war harmonisch, und das sonstige Personal fühlte sich nicht gestört, wenn das Baby gelegentlich schrie. Bis in die Räume der Herrschaft drang das sowieso nicht durch. Jeder hatte damit gerechnet, dass die kleine Haily in Begleitung ihrer Nanny in der Küche auftauchen würde, um Anna in die Töpfe zu schauen. Sie tat das oft und staubte jedes Mal ein paar Kekse oder Bonbons ab. Dass sie nun aber Anstalten machte, Annas Baby zu adoptieren, war nicht zu erwarten gewesen.

»Möchtest du nicht lieber einen Muffin probieren, Haily?«, versuchte Nanny Tamlin, die kleine Miss abzulenken. Dabei sah sie Anna entschuldigend an. Das Kindermädchen wagte nicht, einfach ein Machtwort zu sprechen. Hailys Mutter, Lady Mairead, erwartete weniger, dass die Nanny ihre Tochter erzog, als dass sie das Kind unterhielt und seine Wünsche erfüllte.

»Haily will Baby! Baby mitnehmen. Baby im Puppenbett schlafen.« Fasziniert beugte sich Haily über das Körbchen, in dem Emily schlief, und machte Anstalten, nach ihr zu greifen.

»Baby auf Arm nehmen!«, verlangte sie.

»Kann sie das nicht einfach mal machen?«, bat die verzagte Nanny. »Wir können doch aufpassen, dass sie das Kind nicht fallen lässt …«

»Tamlin, darum geht’s gar nicht!«, sagte Anna streng. »Natürlich könnte sie Emily für einen Augenblick halten, aber sie muss lernen, dass dies ein Kind ist und keine Puppe. Und dass sie nicht alles bekommen kann, was sie will.«

Die Nanny war da zweifellos ihrer Meinung, hatte allerdings ein gewisses Interesse daran, ihre Stellung zu behalten.

»Ich sag das jetzt der Mami!« Haily schien einzusehen, dass sie mit der Babysprache-Masche nicht weiterkam, und wechselte die Strategie. Gefolgt von der lamentierenden Nanny machte sie sich auf den Weg in die Wohnräume der Herrschaft.

Anna und die anderen Köchinnen sahen ihnen kopfschüttelnd nach.

»Mal sehen, wie die Gnädige das regelt«, bemerkte Laurie, eines der Küchenmädchen, das für sein oft loses Mundwerk bekannt war. »Sie wird dem Kind doch wohl nicht heute das Wort Nein beibringen!«

Anna seufzte. Sie ahnte nichts Gutes. Lady Mairead war völlig vernarrt in ihre kleine Tochter. Haily war ihr jüngstes und wahrscheinlich letztes Kind. Sie hatte vor ihr drei Jungen auf die Welt gebracht und damit ihre Pflicht gegenüber dem Clan der Hards mehr als erfüllt. Im Gegensatz zu vielen anderen schottischen Adelshäusern galt bei den Hards die männliche Erbfolge. Hatte der Träger des Titels »Marquess of Thorgale« keine Söhne, so folgten ihm seine Brüder oder Cousins beziehungsweise deren männliche Nachkommen. Zurzeit trug Charles Hard auf Thorgale House den Titel, der bislang jedoch nur eine Tochter hatte – Ailis, die im gleichen Alter war wie ihre Cousine Haily. Lady Alison tat sich schwer mit dem Kinderkriegen, es konnte gut sein, dass einer der Söhne von Lady Mairead und Sir William den Titel eines Tages erben würde. Auch Williams und Charles’ älterer Bruder Connor hatte bereits einen Sohn – den sechsjährigen George.

Lady Mairead hatte es sich also leisten können, sich von Herzen eine Tochter zu wünschen, und nun verwöhnte sie Haily nach Strich und Faden. Sir William stand ihr dabei nicht im Wege, die Erziehung seiner Tochter interessierte ihn nicht.

Es dauerte nun nicht allzu lange, bis die Hausherrin in der Küche erschien. Ohne Haily und die Nanny wollte sie das Problem mit Anna anscheinend allein klären. Dazu schaute sie sich die kleine Emily zunächst näher an und äußerte sich entzückt über das reizende Baby.

»Haily hat sich gleich in sie verliebt!«, kam sie dann zum Thema. »Sie hätte sie am liebsten in ihrem Kinderzimmer, wie eine kleine Schwester.« Sie lächelte.

Anna, recht jung, aber durchaus selbstsicher, erwiderte das Lächeln nicht. »Wohl eher wie eine Puppe«, sagte sie steif.

Lady Mairead lachte nervös. »Ach Unsinn, Anna! Ein Baby ist doch kein Spielzeug! Aber wenn Sie zustimmen würden, dass Emily jeden Tag etwas Zeit mit Haily verbringt, wäre das sicher schön für beide Kinder! Nanny Tamlin könnte sich um sie kümmern und Ihnen damit viel Arbeit abnehmen …«

Das war zweifellos richtig. Anna würde sich ihren Aufgaben in der Küche ungestört widmen können.

»Ich stille mein Kind«, bemerkte sie nichtsdestotrotz, was die Lady leicht erröten ließ. Wie üblich in ihren Kreisen war dafür eine Amme engagiert worden.

»Sie können Emily ja jederzeit besuchen«, lockte sie.

Anna blickte skeptisch. Das Kleid, das sie in der Küche trug, war nicht dazu geeignet, in der Räumen der Herrschaft gezeigt zu werden. Die Hausmädchen trugen adrette Uniformen. Anna in ihrer fleckigen Schürze würde unangenehm auffallen.

»Oder die Nanny bringt Ihnen die Kleine hier herunter«, bot die Lady an, die offenbar gerade den gleichen Gedanken hatte.

»Ich muss das mit meinem Mann besprechen«, sagte Anna ausweichend.

Lady Mairead strahlte. »Tun Sie das! Ich wollte mich übrigens auch noch mit ihm unterhalten. Die Stelle des ersten Hausdieners ist bekanntlich vakant, und wir überlegen, sie nicht auszuschreiben, sondern mit einem unserer bewährten Dienstboten zu besetzen …«

»Sie will uns das Kind abkaufen!«, empörte sich Anna am Abend. Zusammen mit ihrem Mann bewohnte sie eine Kate in dem kleinen Dorf, das zu Old Lane Manor gehörte. Ihr Zuhause war nicht groß, doch Anna hatte es wohnlich eingerichtet. Im Kamin brannte ein Feuer, und Emily schlief friedlich in dem Korb, den Anna selbst geflochten hatte.

»Na, nun übertreib nicht gleich!« Ben Coxwold, bei den Hards als Hausdiener tätig, bürstete seine Uniform sorgfältig aus, bevor er sie für den nächsten Tag in den Schrank hängte. »Es wäre doch nur für die Stunden, die du im Großen Haus arbeitest. Am Abend brächtest du sie zurück nach Hause.«

»Vorerst«, meinte Anna. »Und was ist, wenn sie Emily am Ende ganz haben wollen? Oder wenn es Emily dort viel besser gefällt als bei uns und sie nicht mehr zurückkehren will?«

Ben winkte ab. »Bis jetzt scheint es ihr ziemlich egal zu sein, wo sie tagsüber schläft, während sie nachts hauptsächlich schreit. Nanny Tamlin würde sich bedanken, und die kleine Miss Haily benötigt auch ihren Schlaf.«

Anna hätte ein bisschen mehr Schlaf ebenfalls gut gebrauchen können, im Moment hielt Emily ihre Eltern die halbe Nacht wach. Wenn die von Haily so heiß ersehnte lebende Puppe allerdings nicht mehr süß lächelte, sondern auch tagsüber mal schrie wie am Spieß, weil ihr etwas nicht passte, würde Hailys Begeisterung schnell nachlassen.

»Und falls sie Emily wirklich später unterstützen würden«, sprach Ben weiter, »was wäre so schlimm daran? Du weißt, wie mäßig der Unterricht in der Dorfschule ist. Der Pfarrer bringt den Kindern doch kaum Lesen und Schreiben bei. Miss Haily wird dagegen eine Hauslehrerin bekommen – und gemeinsam mit einer Spielgefährtin wird sie bereitwilliger lernen. Für Emily wäre das eine Chance, auch wenn sie jünger ist als Haily!«

»Eine Chance? Dass die Lady sie zu einem genauso verwöhnten Fratz erzieht wie ihre eigene Tochter?«, fragte Anna höhnisch und löste ihr tagsüber unter der Haube aufgestecktes, prächtiges dunkles Haar. »Eines Tages würde sie uns keines Blickes mehr würdigen.«

Ben schüttelte den Kopf. »Es wird unsere Aufgabe sein, das zu verhindern«, erklärte er.

Am nächsten Morgen bettete Anna ihre Tochter widerstrebend in das mit feinstem Linnen bezogene Bettchen, das bisher Hailys lebensgroße Babypuppe beherbergt hatte. Sie wollte der Nanny Windeln dalassen, doch Tamlin verwies auf die Stapel weicher, mit dem Wappen der Hards bestickter Windeln und Hailys Babykleidchen, die noch in den Schränken lagen.

»Miss Haily wird das Baby fein anziehen wollen«, meinte sie schüchtern.

Anna zog sich zähneknirschend zurück.

Donella

Cliff Tower, Frühjahr 1880

Donella war auf der Flucht. Eigentlich war sie das fast immer. Wenn sein Hauslehrer nicht aufpasste, ließ ihr Bruder George ihr keine ruhige Minute. »Mädchen ärgern« war sein absolutes Lieblingsspiel, gefolgt von »Dienstboten ärgern« und »Tiere quälen«. Die Katzen und Hunde des Anwesens gingen ihm inzwischen gleichermaßen aus dem Weg wie seine jüngere Schwester. Dabei war es Donella heute besonders wichtig, ihm nicht in die Hände zu geraten. Die Familie würde gleich nach Thorgale House aufbrechen, um den Geburtstag des Marquess’ zu feiern. Der Clan Chief beging ihn gern in großer Runde mit Familie und umgeben von zahlreichen Honoratioren des Herzogtums – und Donella war entsprechend festlich angezogen. Die Zofe ihrer Mutter hatte ihr in ein weißes Spitzenkleid geholfen, das mit blauen Bändern verziert war. Ihr glattes rotblondes Haar hatte sie in einer kunstvollen Flechtfrisur gebändigt, wofür Donella stundenlang hatte stillsitzen müssen, und es am Schluss mit einem bunten Blumenkranz versehen. Seit George dessen gewahr geworden war, versuchte er, seiner Schwester den Kopfschmuck zu entreißen. Zweifellos würde er das zarte Gespinst in Sekundenschnelle in seine Bestandteile zerlegen und später behaupten, Donella hätte das selbst getan. Ihre Eltern glaubten ihm fast immer – und das nicht nur, weil ihre Tochter tatsächlich dazu neigte, Dinge auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Die Elfjährige interessierte sich lebhaft dafür, wie eine Kaffeemühle oder eine Spieluhr funktionierte, und zugegebenermaßen klappte es nicht immer, die Einzelteile erneut richtig zu platzieren. Sie machte jedoch niemals mutwillig etwas kaputt, und sie gestand stets sofort ein, wenn sie etwas angestellt hatte. George dagegen war hinterlistig und schob eigene Fehler gern anderen in die Schuhe. Jeder im Haushalt wusste das – nur ihre Eltern sahen stets darüber hinweg. George war schließlich »der Erbe« – der älteste Knabe in der Nachfolgegeneration. Wenn der Marquess of Thorgale nicht doch noch einen Sohn bekam, würden nach seinem Tod erst Connor, der Vater von George und Donella, und dann sein Sohn den Titel erben. Allein, Marquess Charles erfreute sich bislang bester Gesundheit, und so konnte es durchaus sein, dass seine Ehe noch mit einem männlichen Erben gesegnet werden würde. Die Wahrscheinlichkeit nahm aber mit jedem weiteren Lebensjahr ab, und George trug die Nase jetzt schon entsprechend hoch.

Donella flitzte die Treppen hinauf, zu den Wohnräumen ihrer Großeltern. Cliff Tower, das Herrenhaus über dem Meer, gehörte der Familie ihrer Mutter. Die Balincourts hatten jedoch keine männlichen Erben, sodass es nach ihrem Tod in den Besitz von Lady Winifred übergehen würde. Das war in den meisten schottischen Adelsfamilien so. Die Hards bildeten eine Ausnahme – und da es für Connor Hard, Donellas Vater, kein Erbe geben würde, hatte sich das Paar nach der Hochzeit gleich in der trutzigen Burg an der Küste angesiedelt. Platz gab es genug. Cliff Tower war ein sogenannter Wohnturm – eine mittelalterliche Kombination aus Wehranlage und Wohnhaus. Besonders von den Fenstern in den oberen Geschossen boten sich atemberaubende Blicke aufs Meer, allerdings waren die Fenster eher klein. Die Wohnung der Großeltern mit ihren Erkern und Balkonen war prächtiger und heller als die der Hards, Donella hielt sich gern hier auf, und sie wusste, dass sie immer willkommen war. Da sich im Salon der Balincourts niemand aufhielt, begab sie sich direkt in Großvaters Arbeitszimmer, von dem aus er immer noch einen Großteil der Geschicke seiner Ländereien leitete. Sie liebte den Raum, in dem es nach Großvaters Pfeife roch und nach alten ledergebundenen Büchern. Frederick Balincourt besaß eine umfangreiche Bibliothek und hatte nichts dagegen, wenn Donella in seinen Büchern schmökerte. Die Elfjährige konnte gut lesen – sie hatte die Grundbegriffe bei Georges Hauslehrer gelernt –, doch da der sich über die ständigen Streitigkeiten unter den Geschwistern beschwert hatte, war vor einem Jahr Mademoiselle Durant eingestellt worden, die Donella Französisch, Klavierspielen und Zeichnen beibringen sollte. Freude hatte das Mädchen nur an Letzterem, leider im Gegensatz zu Mademoiselle, die für Zeichenkunst kein Talent hatte und ihrem Schützling nur einige Grundbegriffe vermitteln konnte.

Donella erwartete, den Großvater hinter seinem Schreibtisch anzutreffen, doch er stand an einem Kartentisch in der Mitte des Raumes und begutachtete den Inhalt einer Sendung, die ihn gestern erreicht hatte. Eben wollte er die Schachtel wieder schließen, als er sie bemerkte, und wandte sich zu ihr um.

»Donna! Wie hübsch du heute aussiehst!« Er lächelte sie an und nannte sie bei der Kurzform ihres Namens, die sie selbst bevorzugte. Frederick Balincourt war ein hochgewachsener, noch recht schlanker Mann, dessen Kotelettenbart sein flächiges Gesicht aussehen ließ wie das Bild eines Seemanns in Donellas Kinderbüchern. Er hatte gütige grün-braune Augen, und in seinem schon weißen Haar gab es noch ein paar braune Strähnen. Es hieß, seine Enkelin sehe ihm ähnlich.

»Komm, schau dir mein Geschenk für Onkel Charles an! Ich hoffe, es wird ihm gefallen. Ist doch mal was anderes fürs Herrenzimmer als immer nur Pferde und Landschaften.«

Er hob den Deckel der Schachtel noch einmal an und gab Donella den Blick auf einen wunderschön ausgeführten Kupferstich frei. Das Motiv gab dem Mädchen allerdings Rätsel auf. Das Bild zeigte eine Art bunt bemalte Kugel, die nach oben hin spitz zulief und an deren unterem Ende so etwas wie ein Korb befestigt war. Das Verrückteste war jedoch, dass das Ding in der Luft schwebte! Über einem Feuer, wie es aussah, jedenfalls stieg Rauch oder Dampf von unten auf.

»Was ist das?«, fragte Donella fasziniert. »Das sieht aus, als ob es … fliegt!«

Ihr Großvater lächelte. »Das ist eine Montgolfière, der erste Heißluftballon der Welt! Die Brüder Montgolfier starteten ihn 1783 im Garten des Schlosses von Versailles. In den Korb hatten sie drei Tiere gesetzt, um zu sehen, ob lebendige Wesen die Luftfahrt überleben können.«

»Und«, fragte Donella, »ist er abgestürzt?« Wäre das nicht der Fall gewesen, hätte die Luft inzwischen doch voll sein müssen mit solchen Ballons! Ach, wenn man fliegen könnte! Donella sah sofort ihren eigenen kleinen Ballon vor sich, in dem sie Georges ständigen Attacken entgehen konnte, indem sie einfach über ihm entschwebte.

Ihr Großvater schüttelte den Kopf. »Oh nein, im Gegenteil. Das Prinzip wurde sogar noch weiterentwickelt. Die Montgolfière flog zunächst mit heißer Luft, später füllte man den Ballon mit Gas. Jedenfalls brachte sie ihre Passagiere in kurzer Zeit viele Meilen weit.«

Donella sah ihn verwundert an. »Und warum fahren wir dann immer noch mit der Kutsche nach Thorgale House?«

Frederick Balincourt lachte. »Ich glaube, die Dinger lassen sich nur bedingt steuern. Und es ist wohl auch ein ziemlicher Aufwand, sie in die Luft zu bringen.«

»Wieso fliegen sie überhaupt?« Donella beugte sich erneut hingerissen über das Bild. »Und wie hoch fliegen sie? Wie weit genau? Kann man da nicht was machen, mit der Steuerung? Woraus stellt man sie überhaupt her? Aus Stoff?«

Ihr Großvater winkte ab. »Ich weiß es nicht, Donna. Ich bin weder Techniker noch Abenteurer. Mir haben unsere Pferde immer genügt, wenn ich von hier nach dort kommen wollte. Aber es gibt sicher Bücher über die Montgolfière. Ich werde mich umsehen, wenn ich das nächste Mal in Edinburgh bin. Den Kupferstich habe ich nur gekauft, weil er mir originell erschien. Und nun müssen wir ihn schnell wieder einpacken. Deine Großmutter wird mich gleich rufen, es wird Zeit zur Abfahrt. Und du wirst sicher auch schon vermisst.«

Donella half ihm, das kostbare Geschenk wieder in Seidenpapier zu hüllen. Dann begleitete sie ihre Großeltern die große, geschwungene Treppe aus Eichenholz hinab. In der Auffahrt warteten bereits zwei Kutschen. Die Fahrt zum Stammsitz der Hards würde etwa eine und eine halbe Stunde dauern. Donella antwortete nur einsilbig auf die Versuche ihrer Mutter, die Fahrtzeit durch ein Gespräch aufzulockern. In Gedanken sah sich ihre Tochter in einer der Gondeln der Montgolfière. Es musste so viel schneller und kurzweiliger sein, fliegen zu können!

Emily

Thorgale House, ein paar Stunden später

Es war ein strahlender Frühlingstag, und der Park von Thorgale House war für Charles Hards Geburtstagsfeier festlich geschmückt worden. In den Bäumen hingen Papierballons in allen Farben, und Donella fragte sich, warum sie nicht wegflogen. Nun ja, zumindest würde Ailis sich bestimmt darüber freuen, dass ihre Familie wohl daran dachte, das Fest bis in die Nachtstunden auszudehnen. Mit etwas Glück konnten sie die Sterne sehen – und diesmal hatte Donna ihrer Cousine und Freundin Ailis sogar Neues zu berichten. Wenn man über Frankreich fliegen konnte, warum dann nicht auch bis zu ihren heiß geliebten Sternen?

Ailis erwartete sie bereits sehnlichst. Bislang waren erst die Hards aus Old Lane Manor eingetroffen, doch mit Haily und ihrem unscheinbaren Schatten Emily hatte Ailis wenig gemeinsam. Dabei mochte Emily gar nicht so dumm sein. Ließ Haily sie einmal zu Wort kommen, sagte sie mitunter ganz vernünftige Dinge. Das kam jedoch nur selten vor, meist redete Haily, wie auch jetzt wieder, da sie über ihr neues Kleid und ihr neues Pony schwadronierte und darüber, dass ihre Eltern ihr erlaubten, bereits Tanzstunden zu nehmen. Davon hätten Ailis und Donna mit ihren elf Jahren nur träumen können – wenn es denn zu ihren bevorzugten Träumen gehört hätte, sich in ein Korsett zwängen zu müssen wie ihre Mütter und zu erlauben, dass Jungen wie George die Arme um sie legten. Ob Emily von irgendetwas träumte, wussten die Cousinen nicht. Das Mädchen war knapp vier Jahre jünger als sie, wirkte jedoch durchaus verständig mit seinem schmalen Gesicht, den sanften braunen Augen und dem dunklen Haar, das es zu einem dicken Zopf geflochten trug, während sich Hailys lange Locken offen über den Rücken ihres rosafarbenen Spitzenkleides ergossen. Emily trug ein schlichtes weißes Kleid, das Ailis vom letzten Sommer zu erkennen glaubte. Damals hatte Haily es getragen, und es hatte weit mehr Rüschen und Bänder aufgewiesen als jetzt. Zudem trug Emily eine weiße Schürze. Sie war mit Spitze besetzt und sah sehr hübsch aus. Dennoch erkannte Ailis die Bedeutung sofort: Die Schürze machte den Unterschied aus zwischen Herrin und Dienerin, auch wenn Lady Mairead das Mädchen gern als Hailys »Spielgefährtin« bezeichnete. Ailis und Donella hätten immer noch nicht zu sagen gewusst, welchen Rang Emily im Hause der Hards tatsächlich bekleidete. Haily kommandierte sie jedenfalls herum wie eine Dienstbotin, gleichzeitig schien sie die Jüngere zu lieben wie eine Schwester. Mitunter fühlte sich Donella an sich selbst und George erinnert, doch im Gegensatz zu ihr konnte Emily sich Hailys kleinen Gemeinheiten nicht entziehen.

Im Eingang zum weitläufigen Park von Thorgale House begrüßte Charles Hard seine Gäste, während seine Tochter Ailis sowie seine Neffen und Nichten vor den Ankömmlingen einen formvollendeten Knicks oder Diener zeigten. Die junge Emily stand derweil abseits und wartete geduldig. Auch David, Hailys Bruder, machte alles brav mit und hoffte dabei sehnsüchtig auf ein baldiges Eintreffen seines Cousins George, der im gleichen Alter war. Die beiden ältesten Söhne der Hards auf Old Lane Manor, Paul und Edward, waren im Internat und insofern entschuldigt.

»Da sind sie ja!«, rief David in Richtung der Mädchen, als die Kutsche von Georges und Donellas Eltern vorfuhr. Die Kinder warteten ungeduldig ab, bis die Begrüßungsformalitäten erledigt waren und Cousin und Cousine endlich zu ihnen stießen.

»Los, gehen wir in den Park!«, forderte George seinen Vetter David sofort auf. Es dauerte keine drei Minuten, bis die beiden verschwunden waren.

Donella umarmte Ailis herzlich und Haily eher flüchtig. Wie immer wusste sie nicht genau, wie sie es mit Emily halten sollte.

»Ich dachte, wir machen ein Picknick im Park«, schlug Ailis vor. Sie hatte nur noch dunkle Erinnerungen an das Picknick mit Larna, ihrer ersten Kinderfrau, doch allein das Wort klang verlockend. Die Gäste ihres Vaters verteilten sich derweil in der Nähe des Haupthauses, wo diverse Pavillons aufgebaut waren und Dienstboten Getränke und Snacks bereithielten. Wenn die Kinder sich zurückzogen, würde sie sicher niemand vermissen.

»Hast du denn einen Picknickkorb? Und eine Decke, auf der wir alles ausbreiten können, wie die Großen?«, erkundigte sich Haily, die Einzige, die über einschlägige Erfahrungen verfügte. Ihre Mutter engagierte sich in Damenzirkeln und Kirchengruppen und pflegte ihre hübsche Tochter mitzunehmen, wenn dort Picknicks und Feste stattfanden. »Und Wein?« Es klang, als verriete sie ihren Cousinen, dass Lady Mairead sie bei diesen Ausflügen mittrinken ließ. Die anderen kommentierten das nicht, Haily war für ihre Aufschneiderei bekannt.

»Wir haben alles, was man braucht«, meinte Ailis. »Unsere Köchin hat den Korb gepackt und sicher an alles gedacht.«

Die Köchin musste die Tochter ihrer Herrschaft sehr gern haben, wenn sie sich bei all der Arbeit rund um das Geburtstagsfest die Zeit dafür genommen hatte. Tatsächlich profitierte das Mädchen beim Personal immer noch von den ersten Jahren mit Larna, die mit ihrem Zögling in der Küche ein und aus gegangen war. Damals hatten sich alle Frauen in die Kleine verliebt und sie ein bisschen bemitleidet, als dann Nanny Peterson das Zepter in die Hand nahm und Ailis eigentlich gar nichts mehr durfte.

»Deine Miss hat frei?«, fragte Donella ihre Cousine, nachdem sie einen schweren Korb aus den Händen eines wohlwollend lächelnden Küchenmädchens in Empfang genommen hatten. Ailis hatte keine französische, sondern eine englische Gouvernante, die sie ähnlich streng erzog wie vorher Nanny Peterson. Heute schien sie jedoch nicht zugegen zu sein.

»Die ganze Woche!«, freute sich Ailis. »Ein Todesfall in der Familie, Miss Tarton musste nach Liverpool … Es … äh … tut mir natürlich sehr leid«, setzte sie dann pflichtschuldig hinzu.

Haily seufzte theatralisch. »Hast du ein Glück! Unsere Mademoiselle ist nie krank, oder, Emily?«

Emily rieb sich die Stirn. »Sie war im letzten Monat zweimal unpässlich«, berichtigte sie. »Da war es ziemlich langweilig …«

Ailis und Donella tauschten einen kurzen Blick. Sie hatten Hailys junge Erzieherin bereits kennengelernt und erstaunt festgestellt, dass sich deren Funktion eher auf die Unterhaltung ihrer Zöglinge als auf deren strenge Erziehung bezog. Natürlich sprach sie Französisch mit ihnen, ansonsten beschränkte sich ihr Unterricht auf einfache Lernspiele, Musik und Spaziergänge. Wenn Haily jetzt so tat, als beneide sie Ailis darum, dass ihre Miss nicht zugegen sein konnte, diente das nur dazu, sich weiter interessant zu machen.

»Kommt, wir gehen zum See!«, forderte Ailis die anderen auf. Donella half ihr beim Tragen des Picknickkorbs, Emily nahm die Decken in die Hand, auf denen sie Platz nehmen würden. Der Park von Thorgale House war weitläufig. Ein Landschaftspark, der gepflegte Blumenbeete und Hecken umfasste sowie fast naturbelassene Wiesen, Hügel und Wäldchen, dazu einen Weiher mit schilfbewachsenen Ufern.

»Im Schilf brüten Graugänse«, erklärte Ailis, während sie sich auf der nahen Wiese ausbreiteten. »Vielleicht sehen wir welche. Die Küken sind sehr süß, wenn sie hinter ihrer Mutter herwatscheln.«

»Brüten da nicht irgendwelche Vögel?«, fragte George. Er und David steuerten den See von der anderen Seite aus an, nachdem sie schon versucht hatten, den Bach zu stauen, der ihn speiste. Als sie sich einen Weg durch das Schilf bahnten, um ans Wasser zu kommen, flogen verschiedene Wasservögel auf. »Du, vielleicht finden wir Eier!«

An den Klippen des Anwesens von Georges und Donellas Eltern brüteten viele Vögel, und George besaß bereits eine große Sammlung verschiedenfarbiger Eier, die er zum Teil mittels abenteuerlicher Klettertouren aus den Nestern geraubt hatte. David beneidete ihn darum und war daher einer Expedition nicht abgeneigt.

»Du musst da gucken, wo Vögel auffliegen«, wies George ihn an. »Aber dahin, wo sie starten, nicht dahin, wo sie dich hinlocken wollen. Das ist ein Trick, weißt du? Sie wollen lieber, dass ein Feind sie verfolgt, als dass er ihre Eier frisst.«

Die Mädchen hätten die Vögel hören können, die von den Jungen aufgescheucht wurden. Schließlich machten sie einen ziemlichen Radau, zischten und gaben trompetenartige Laute von sich. Ailis und die anderen waren jedoch zu sehr damit beschäftigt, das bunte Picknickgeschirr aus dem Korb zu nehmen und hübsch auf den Decken zu arrangieren. Donella förderte Schüsseln mit Hähnchenschenkeln und Päckchen mit Sandwiches zutage. Haily entkorkte eine Flasche Apfelsaft und füllte damit die Weingläser.

Inzwischen berichtete Donella von der Montgolfière und ihrem Traum vom Fliegen. »Man käme bestimmt schneller vorwärts. Und es wäre aufregend, alles von oben zu sehen. Wenn ich nur wüsste, wie das geht mit dem Ballon …«

»Wenn Luft heiß wird, sucht sie sich einen Weg nach oben oder nach draußen«, wusste Emily zu aller Verwunderung. »Meine Mum sagt immer, wir müssten die Tür zulassen und auch die Fenster in unserem Haus, wenn der Kamin an ist. Sonst kühlt es sich ganz schnell ab.«

»Hm«, überlegte Donella, »das erklärt, warum Lampions nicht wegfliegen. Da ist ja oben ein Loch drin. Wenn man sie aber umdreht und die Kerze darunter stellt …« Sie blickte in die Runde. »Das probieren wir nachher mal aus!«

Während Ailis darauf hinwies, dass man so einen Papierlampion auch schnell in Brand setzen konnte, und Haily herumsponn, dass man Vögel dressieren müsste wie Pferde, damit sie einen Wagen durch die Lüfte zögen, fanden die Jungen ein Nest der Graugänse. Die Elterntiere flatterten nervös in der Nähe herum, und eines von ihnen schien ernsthaft angreifen zu wollen. David erschrak, doch George griff kurzerhand nach einem der vier Eier und schleuderte es in Richtung Gans. Das Ei zerschellte an ihrem Gefieder, was hysterisches Geschrei des Tieres provozierte. David griff daraufhin ebenfalls in das Gelege.

»Das eine geht schon kaputt!«, erklärte er. In diesem Ei regte sich etwas, das Küken machte wohl Anstalten zu schlüpfen.

»Mist!«, rief George. »Dann kann ich es nicht mehr ausblasen und in meine Sammlung tun.« Verärgert warf er ein weiteres Ei nach der schreienden Gans – und entdeckte durch den Schilfvorhang die Mädchen, die im Gras neben dem Weiher saßen und geziert an ihren Sandwiches knabberten. Er grinste. »Guck mal, die Damen machen ein Picknick! Fehlt da nicht noch ein bisschen Rührei?« Er nahm das kaputte Ei auf und reichte David das letzte. »Komm, wir müssen näher ran!«

Die Jungen bewegten sich möglichst leise durch das Schilfdickicht.

»Ich deine Schwester, du meine Schwester!«, wies George den Cousin an, als sie so nah waren, dass sie das Kichern der Mädchen hören konnten. »Los!« Er stand auf, johlte: »Einmal pochierte Eier!« – und traf Haily an der Schulter. Die Mädchen schrien auf – erst vor Schreck, dann kreischte Haily vor Ekel, als nicht nur Eigelb und Eiweiß von ihrem rosafarbenen Kleid tropften, sondern ein totes Küken.

»Jetzt du!«, rief George, aber David wirkte fast so erschrocken wie die Mädchen. Trotzdem stand er auf, bereit zu werfen, als er Emily erblickte, die ihn vorwurfsvoll anstarrte.

»Master David!«, rief sie entsetzt.

»Das sag ich Mami!«, schrie Haily, die ihn ebenfalls erkannte. Für David, eigentlich ein gehorsamer Junge, wurde das zu viel. Er ließ sein Ei ins Gras kullern. Die Schale brach, die Wucht reichte aber nicht aus, um das Ei zu zerschmettern.

»Tut … tut mir leid …«, murmelte David und ergriff die Flucht. George blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Die Jungen liefen auf das Haus zu, David in Panik, George schon auf der Suche nach einer Ausrede. Wenn sie sich jetzt brav der Festgesellschaft anschlossen, würde man den Mädchen die Geschichte von dem Angriff womöglich nicht glauben.

Ailis und Donella bemühten sich um die schluchzende Haily. Ailis schaffte das tote Küken weg, und Donella versuchte, Hailys Kleid mit einer Serviette zu säubern.

Emily näherte sich dem Ei, das David hatte fallen lassen, und sah, dass sich unter der gesprungenen Schale etwas bewegte. Vorsichtig entfernte sie die Fragmente und legte ein Fenster frei. Ein winziger Schnabel schob sich heraus … Emily wusste nicht, ob sie dem Tierchen helfen oder ihm die Arbeit des Schlüpfens allein überlassen sollte. Schließlich setzte sie sich ins Gras, bettete das Ei in ihre Schürze und wartete ab, bis sich das Küken nach und nach ins Freie schob. Runde schwarze Augen sahen sie an. Das kleine Ding war feucht und schien erschöpft zu sein. Es ruderte mit den Flügeln und den Beinen, ließ Emily dabei jedoch nicht aus den Augen.

»Emily!« Als die anderen Mädchen nach ihr riefen, war der Winzling in ihrem Schoß schon etwas getrocknet und hatte fast angefangen, niedlich auszusehen.

Die Cousinen hatten das Picknick zusammengepackt und waren aufbruchbereit. Der Spaß war ihnen gründlich vergangen, und Haily schluchzte immer noch. Ailis war entschlossen, die Jungs zu verpetzen. George mochte zwar der designierte Erbe sein, doch er war verwöhnt und rabiat. Was er sich heute geleistet hatte, war einfach zu viel. Ailis’ Vater war ein passionierter Jäger und pflegte einige der Wildgänse zu schießen, bevor sie im Herbst fortzogen. Ihr Gelege zu zerstören kam insofern einem Jagdfrevel gleich.

»Er wird sich etwas ausdenken«, meinte Donella pessimistisch, als Ailis ihr erzählte, was sie vorhatte. »George kommt immer davon …« Donna zuckte die Achseln. »Wo ist eigentlich Emily?«

Ailis entdeckte das Mädchen am Rand des Schilfdickichts.

»Guckt mal, was ich hier habe«, sagte es leise, ein glückliches Lächeln im Gesicht.

Haily hörte umgehend auf zu weinen und wollte das Küken gleich anfassen. Die Mädchen hockten sich zu Emily ins Gras und bewunderten das Vogelkind, das sich ungelenk vorwärtszubewegen versuchte. Sobald eine der Cousinen das Küken hochheben wollte, strebte es sofort zurück auf Emilys Schoß.

»Es ist mein Baby!«, rief Emily verzückt. »Ich behalte es.«

Haily runzelte die Stirn. »Du musst Mami fragen, ob wir es behalten dürfen«, erklärte sie. »Es kann uns ja beiden gehören, es …«

»Es ist meins«, beharrte Emily. »Und ich werde meine eigene Mum fragen.«

Haily sah sie mit einem hässlichen Grinsen an. »Wenn ich es haben will, krieg ich es!«, erklärte sie. »Ich hab schließlich sogar dich gekriegt!«

Die anderen Mädchen hielten den Atem an. Das Küken watschelte schon wesentlich geschickter und vor allem fest entschlossen zu Emily zurück. Emily streichelte es und ließ es in der Tasche ihrer Schürze verschwinden.

»Ich konnte damals noch nicht laufen«, sagte sie. »Aber das hier, das wird fliegen können!«

Für das Leben lernen

Thorgale HouseSt Leonards School in St AndrewsBoston, Massachusetts1880–1886

KAPITEL 1

»Wir waren doch hier!«, behauptete George mit gespieltem Erstaunen, als die Mädchen auf der Festwiese auftauchten und für einen kleinen Eklat sorgten, indem Haily sich tränenüberströmt in die Arme ihrer Mutter stürzte, während Ailis mit lauter Stimme und durchaus sachlich die Vorgänge am Weiher schilderte. Das Küken, das Emily zum Beweis aus ihrer Schürzentasche zog, versetzte die anwesenden Damen zum größten Teil in Verzückung.

»Wahrscheinlich haben die Mädchen das Ei selbst kaputt gemacht«, sprach George weiter. »Am ehesten Donella, die muss ja immer alles auseinandernehmen …«

»Und dann hat sie die Reste des toten Kükens und die Eierschalen auf das Kleid ihrer Freundin geschmiert?«, erkundigte sich eine feste, ruhige Frauenstimme.

»Vielleicht hat sie’s weggeschmissen, weil’s so eklig war.« George war nie um eine Erklärung verlegen.

»Stimmt das, Donella?« Lady Winifred sah ihre Tochter streng an. Donella erwiderte den Blick, verwirrt und wie gelähmt. Obwohl sie es vorausgesehen hatte, konnte sie die Reaktion ihrer Mutter auf Georges dreiste Lüge kaum glauben.

»Nein, das stimmt nicht«, beharrte Ailis. »Es war so, wie ich es erzählt habe. Nun sag doch auch mal was, Haily!«

Haily hob nur kurz den Kopf vom Schoß ihrer Mutter. Stattdessen jammerte sie: »Emily will mir das Küken nicht geben.«

»Haily wurde also wieder einmal geärgert und ausgegrenzt«, erklärte Lady Mairead theatralisch. »Und jetzt wollt ihr Mädchen die Jungen dafür verantwortlich machen. Du hättest so was doch niemals getan, nicht wahr, David?«

David wirkte durchaus schuldbewusst, hatte jedoch nicht den Mut, alles zuzugeben. Ailis schaute sich nach weiteren Zeugen um, doch Donella war mit lautem Aufschluchzen weggerannt. Auch Emily war verschwunden, wahrscheinlich, um zu verhindern, Haily das Küken geben zu müssen. Ailis war klar, dass sie auf verlorenem Posten kämpfte.

»Ich bleibe bei meiner Darstellung!«, sagte sie dennoch fest, allerdings schien ihr niemand mehr zuzuhören.

»Wir sprechen uns noch!«, bemerkte Lady Alison abschließend. Ailis wusste nicht, ob ihre Mutter ihr wirklich nicht glaubte, in Schutz nehmen würde sie die Mädchen allerdings nicht, dafür schien ihr das alles nicht wichtig genug zu sein. Nur die Dame, die Georges Darstellung hinterfragt hatte, warf ihr einen fast mitfühlenden Blick zu.

Ailis musterte sie verstohlen. Die Fremde wirkte streng, aber sympathisch. Sie hatte ein flächiges Gesicht von vornehmer Blässe, das beherrscht wurde von großen, wachen braunen Augen. Ihr dunkles Haar war fest aufgesteckt und ihr fliederfarbenes Kostüm mit dem passenden Hütchen gut gearbeitet. Es wirkte für den Anlass jedoch fast ein bisschen zu schlicht. Ailis hatte die Dame nie zuvor gesehen, aber sie musste etwas mit ihrer Mutter zu besprechen haben, denn die beiden saßen jetzt an einem der zierlichen Teetischchen, die auf dem Rasen aufgestellt waren, und Lady Alison schenkte gerade Tee ein.

Ailis seufzte, hob dann den Picknickkorb auf und machte sich auf den Weg in die Küche, um das kaum berührte Essen zurückzubringen. Dort fand sie auch Emily, umringt von ein paar entzückten Küchenmädchen, die zusahen, wie das Mädchen geduldig versuchte, sein Küken mit einem Teelöffel zu füttern. Die Köchin zerdrückte etwas Brot mit Milch, das Emily dem Tierchen in winzigen Mengen in den Schnabel schob. Die Mischung schien dem Vogelkind zu munden. Ailis fragte sich, ob sie Emily darauf ansprechen sollte, dass sie ihr nicht beigesprungen war, entschied jedoch, sie in Ruhe zu lassen. Wenn man ihr, der Tochter des Clan Chiefs, schon nicht glaubte, dann ganz gewiss nicht Emily, dem Dienstbotenkind.

Stattdessen machte sie sich auf die Suche nach Donella und fand ihre Cousine im Garten, versteckt unter einem Busch und verzweifelt schluchzend.

»Ich hab’s dir gesagt!«, weinte Donna, als Ailis sich zu ihr kauerte und tröstend einen Arm um sie legte. »George redet sich immer heraus, und meine Eltern glauben ihm. Wenn er den Titel wirklich einmal erben sollte, musst du dich auf etwas gefasst machen. Er wird dich garantiert hier rausschmeißen.«

»So weit ist es ja noch nicht«, meinte Ailis. »Ich kriege bestimmt noch einen Bruder, sagt Mama. Und Nanny Peterson hat mich jeden Tag dafür beten lassen. Ich frage mich allerdings, warum sie nicht stattdessen ein paar Räder für Störche auf die Dächer setzen. Ich hab bei uns noch nie einen gesehen, obwohl die doch angeblich die Babys bringen sollen.«

Donna unterdrückte ein Kichern. »Ich weiß nicht, ob das nicht eine ziemlich dumme Geschichte ist.«

Donella war die Neugierigste unter den Cousinen. Sie trieb sich gern in Stall und Garten herum, schon um George aus dem Weg zu gehen. Außerdem züchtete ihr Großvater Wolfshunde, die Donella faszinierten. Sie hatte zwar nur vage Ideen dazu, wie die Welpen in die Hündin oder die Küken in die Eier kamen, aber Storchenvögel waren daran bestimmt nicht beteiligt.

»Ist ja auch egal«, erklärte Ailis, die sich längst etwas ausgedacht hatte, um ihre Freundin zu trösten. »Hast du Lust, das mit den Lampions zu versuchen? Vielleicht kriegen wir ja einen zum Fliegen?«

Donna vergaß umgehend ihren missratenen Bruder. »Dafür brauchen wir Kerzen!«, erklärte sie. »Und die Montgolfière stand auf so einer Art Podest. Unten dran hing eine Art Korb.«

Die Mädchen machten sich auf den Weg zur Einfahrt und stibitzten einen der ballonförmigen Lampions aus den Bäumen. Dann verzogen sie sich mit dem Lampion und der sich darin schon befindlichen Kerze. Als sie ein Versteck zwischen den Büschen erreichten, holte Ailis die Kerze vorsichtig heraus. Sie stellte sie auf den Boden, und Donna hielt den Ballon darüber.

»Noch etwas tiefer!«, forderte Ailis. »Ich denke, du musst spüren, dass der Lampion warm wird.«

Aufgeregt warteten die Mädchen ein paar Minuten, dann ließ Donna den Lampion los.

»Er fliegt!« Tatsächlich erhob sich das improvisierte Luftschiff für ein paar Zentimeter, wurde von einem leichten Wind erfasst und schwebte wieder zu Boden.

»Das war ein bisschen kurz«, meinte Ailis enttäuscht, dann leuchteten ihre Augen. »Aber das Prinzip hat funktioniert!«

»Der Lampion ist wahrscheinlich zu schnell ausgekühlt«, überlegte Donna. »Vielleicht muss die brennende Kerze länger drunter bleiben …« Sie beugte sich über den Lampion und suchte nach dem Kerzenhalter, der sich in seinem Inneren befand. Geschickt montierte sie ihn ab und verwandte das Band, mit dem der Lampion am Baum befestigt gewesen war, um eine Art Netz über die kleine Öffnung zu spannen. Sie setzte den Halter hinein und entzündete die Kerze, immer darauf achtend, weder das Papier noch das Band in Brand zu setzen.

Kurz darauf beobachteten die Mädchen atemlos, wie sich der Lampion weiter und weiter in den Himmel erhob. Der Wind frischte auf und trieb ihn Richtung Festwiese.

Donna blickte ihm noch bewundernd nach, während Ailis Böses ahnte.

»Wir hätten das Ganze besser am See ausprobieren sollen«, murmelte sie.

Allein Frederick Balincourt zollte der »Erfindung« seiner Enkelin einen gewissen Respekt – nachdem der Festpavillon gelöscht worden war, auf dem der brennende Lampion niedergegangen war. Das leichte Gewebe des offenen Zeltes hatte sich sofort entzündet und war innerhalb von Sekunden in Flammen aufgegangen. Zum Glück war dabei niemand zu Schaden gekommen, sogar die Platten mit den Sandwiches, die sich darin befunden hatten, waren weitgehend unversehrt geblieben. Zwei beherzte Diener hatten die Zeltleinwand sofort zu Boden gerissen und die Flammen ausgetreten. Allerdings zeigte sich die Festgesellschaft zu Tode erschrocken, und als die beiden Schuldigen gefunden waren, hagelte es Vorwürfe. Donellas Erklärung, sie hätten doch nur eine Montgolfière nachbauen wollen, wollten ihre Eltern gar nicht erst hören. Gemeinsam mit Ailis wurde sie an einen Katzentisch verbannt, wo sie den restlichen Abend unter Aufsicht verbringen mussten. Über eine angemessene Strafe versprachen Donnas Eltern noch nachzudenken. Kleinlaut verzogen sich die Cousinen auf die ihnen zugewiesenen Plätze und lauschten in Ermangelung anderer Beschäftigungen den Unterhaltungen der Gäste, soweit sie ihnen folgen konnten.

Donellas Mutter machte ihrer Verzweiflung so laut Luft, dass die beiden Delinquentinnen jedes Wort verstanden.

»Was sollen wir nur machen?«, fragte Lady Winifred völlig aufgelöst und erwartete eigentlich keine Antwort von ihren Schwägerinnen, mit denen sie bei einem Glas Punsch zusammensaß. Nach der Aufregung brauchten alle eine Stärkung. »Donella versteht sich nicht mit ihrem Bruder, sie treibt sich lieber in den Ställen herum, statt sich mit Handarbeiten zu beschäftigen, und wenn sie liest, dann sind es die verrücktesten Bücher über Erfindungen und Expeditionen in die seltsamsten Länder. Und du unterstützt sie da auch noch!«

Letzteres galt Frederick Balincourt, der versucht hatte, Donellas Versuch mit dem fliegenden Ballon wenigstens zu erklären. Angesichts der Tirade seiner Tochter zog er allerdings lieber den Kopf ein. Wenn Lady Winifred in dieser Stimmung war, ließ sie sich ohnehin nicht beruhigen.

Dafür mischte sich jetzt die Dame ein, die vorhin Zweifel an Georges Geschichte mit den Gänseeiern geäußert hatte.

»Verehrte Lady Winifred, vielleicht sollte man den wachen Geist Ihrer Tochter einfach in geordnetere Bahnen lenken …«

Ailis und Donella spitzten die Ohren, als die Fremde sich nun als Louisa Innes Lumsden vorstellte, Rektorin einer Mädchenschule in St Andrews.

»St Leonards steht für anspruchsvolle Mädchenbildung, wir vermitteln ähnliche Lerninhalte wie die bekannten Institute für männliche Jugendliche. Das heißt, wir bereiten die Schülerinnen nicht in erster Linie auf ein Leben als Vorsteherin eines Haushalts vor, sondern ermöglichen ihnen auch den Zugang zu einem Universitätsstudium, wenn sie das möchten.«

Hailys Mutter betrachtete sie argwöhnisch. »Sind Sie so was wie diese Sufragetten?«, fragte sie streng. »Kämpferische Frauen, die den Mädchen ihre Weiblichkeit nehmen wollen?«

Miss Lumsden lachte. »Nichts liegt mir ferner, Mylady! Ich finde nur, dass man ihnen ihren Verstand nicht nehmen sollte – die Weisheit ist bekanntlich weiblich. Wenn viele Frauen ihre Erfüllung darin finden, einen Haushalt zu leiten, ihre Kinder zu erziehen und für die Zufriedenheit ihres Gatten zu sorgen, dann ist dagegen überhaupt nichts einzuwenden. Sie sollten darüber nur selbst entscheiden können, und sie sollten lernen können, wenn sie von so offensichtlichem Wissensdurst getrieben werden, wie Ihre entzückende Tochter und Ihre Nichte. In St Leonards unterrichten wir nicht nur die klassischen Fächer der Mädchenbildung wie Französisch, Musik und Kunstgeschichte, sondern auch Naturwissenschaften und Sport. Die Mädchen erhalten eine vielfältige Ausbildung, zugeschnitten auf ihre individuellen Interessen und Fähigkeiten.«

»Charles und ich überlegen, Ailis in die Obhut von Miss Lumsdens Schule zu geben«, erklärte nun Lady Alison zur allseitigen Überraschung. »Ich durfte bereits letzte Woche ihre Bekanntschaft machen, im Rahmen einer Teegesellschaft bei Lady Bentworth.«

Wie aus der weiteren Unterhaltung hervorging, weilten Miss Lumsden und ihre Mutter zurzeit in der Nähe von Thorgale House, bei ihrem Cousin, dessen Mutter in seinem Haushalt lebte. Mrs.Lumsden hatte den Wunsch geäußert, ihre Schwester zu besuchen, und ihre Tochter hatte sie begleitet.

»Ich bin hauptsächlich deshalb nach Schottland zurückgekommen, um mich um meine Mutter zu kümmern«, erzählte die Rektorin. »Vorher habe ich in Brüssel und London studiert und auch schon unterrichtet. Und ja, ich war auch in der Frauenbewegung aktiv – was mich aber nicht gleich zu einer militanten Suffragette macht.« Sie lächelte vor allem Lady Mairead zu. »Ich denke, im Grunde teilen hier alle meine Ansicht, dass die Frau dem Mann vielleicht körperlich, doch sicher nicht geistig unterlegen ist. Frauen haben dieser Welt mehr zu bieten als umhäkelte Taschentücher und Bratenrezepte. Schauen Sie sich die kleine Donella an: Wenn man sie nicht dafür bestraft, dass sie sich Gedanken über Gott und die Welt macht, sondern ihre Fähigkeiten in vernünftigen Bahnen fördert, dann brennt sie keine Zelte mehr ab, sondern … wer weiß, vielleicht fliegt sie einmal zum Mond!«

Alle lachten über den offensichtlichen Scherz und begannen, Miss Lumsden charmant zu finden. Etwas exzentrisch vielleicht, aber das musste man wohl hinnehmen bei einer Frau, die lieber studiert hatte, als zu heiraten.

»Aber setzen Sie den Mädchen mit alldem nicht Flausen in den Kopf?«, fragte Lady Winifred. »Bringen Sie sie damit nicht auf … unangemessene Ideen?«

Miss Lumsden zuckte mit den Schultern. »Ich habe Ihre Tochter nicht dahingehend beeinflusst, dass sie – wie Sie vorher bedauerten – lieber in den Ställen herumstreicht, als Handarbeiten zu machen, und lieber Bücher über Erfinder und Abenteurer liest als über Feen und Elfen. So etwas kommt von ganz allein. Und wenn Sie mit ›unangemessenen Ideen‹ vielleicht meinen, die Mädchen würden sich später einer Heirat verweigern, nur weil sie etwas über Physik und Chemie gelernt haben – ich kann Ihnen versichern, dass die überwiegende Mehrheit meiner Schülerinnen trotzdem eine Ehe eingeht. Und oft eine erfüllendere und glücklichere als die ihrer weniger gebildeten Schwestern, denn sie können sich mit ihren Gatten über mehr austauschen als über Feen und Elfen.«

Erneut lachten die Frauen.

»Mich haben Sie überzeugt«, meinte Lady Alison. »Wenn mein Gatte zustimmt und Ailis das auch möchte, werden wir sie in St Leonards anmelden. Zumal ihre Situation hier … Nun, sie wird den Titel nicht erben, und ich will ja den Teufel nicht an die Wand malen, doch sollte mein Gatte versterben, bevor sie verheiratet ist, könnte ihre Mitgift von Wohl und Wehe eines männlichen Verwandten abhängen …«

Ihre Worte gingen im empörten Widerspruch ihrer Schwägerinnen unter, immerhin die Mütter besagter Verwandter. Ihre Söhne, so erklärten sie, würden sich Ailis gegenüber selbstverständlich großzügig und fair verhalten, doch sowohl Lady Alisons als auch Miss Lumsdens Blicke streiften George …

»Ich denke, es ist für jedes Mädchen gut, im Zweifelsfall eine Alternative zu einer Heirat zu haben, wenn es aus irgendwelchen Gründen nicht dazu kommt«, sagte Miss Lumsden. »Ich freue mich jedenfalls auf Ailis – und ebenso würde ich mich auf Donella freuen. Denken Sie einfach darüber nach!«

Die Erste der Damen, die eine weitere Frage an Miss Lumsden stellte, war Lady Mairead. Ihr hatte es nicht gefallen, dass bislang nur von Ailis und Donella die Rede gewesen war. Wurde Haily da womöglich unterschätzt?

»Und wie ist es mit Haily?«, erkundigte sie sich ein wenig indigniert. »Sie war bei diesem Streich mit dem Lampion nicht beteiligt, sie ist ein wohlerzogenes Kind. Aber sie verfügt nicht minder über einen wachen Geist!«

Miss Lumsden nickte. »Daran zweifle ich nicht!«, erklärte sie. »Unsere Schule eignet sich bestimmt ebenso für Ihre Töchter … die jüngere ist ja ebenfalls ganz entzückend. Wir nehmen die Mädchen allerdings erst ab elf.«

Lady Mairead winkte ab. »Emily ist nicht meine Tochter, sie ist ein Dienstbotenkind. Wir halten sie uns als Spielgefährtin für Haily – unser Anwesen liegt etwas abseits, und wir haben sonst nur Söhne. Haily sollte nicht vereinsamen.«

»Insofern wäre ein Internat sicher eine gute Alternative«, meinte Miss Lumsden. »Ich werde Ihnen allen gerne Informationen über unsere Schule zukommen lassen. Und natürlich sind Sie auch zu einer Besichtigung herzlich eingeladen. Falls es noch Fragen gibt – ich bin ein paar weitere Tage hier. Meine Mutter will das Treffen mit ihrer Schwester voll auskosten.« Damit wandte sich die Rektorin ab, denn es wurde gerade zum Dinner gebeten, und sie musste sich nach ihrem Tischherrn umsehen.

Donella und Ailis schauten einander an.

»Zusammen ins Internat?«, fragte Donna aufgeregt. »Oh, das wäre wunderbar!«

Ihr Großvater zwinkerte ihr zu, als er jetzt die Herrenrunde, in der er gesessen hatte, verließ. Er schien die Unterhaltung der Ladys zumindest in Teilen mitbekommen haben, vielleicht hatte auch Sir Charles von seiner Absicht erzählt, Ailis nach St Leonards zu schicken.

»Wird schon!«, wisperte er Donella zu. »Ich setz mich für dich ein. Allein deshalb, damit wir nicht auch noch in hundert Jahren mit der Kutsche fahren statt zu fliegen!«

KAPITEL 2

Es war wieder Lady Mairead, die Miss Lumsden kontaktierte, solange sie noch in der Gegend war. Sie lud die Rektorin nach Old Lane Manor ein und verriet ihr bei Tee, was sie bekümmerte.

»Wir haben Haily den Vorschlag gemacht, gemeinsam mit ihren Cousinen nach St Leonards zu gehen«, berichtete sie, »aber sie weigert sich. Ohne ihre Gespielin will sie nicht fort. Sie besteht darauf, Emily mitzunehmen.«

»Das spricht natürlich sehr für Ihre Tochter, dass sie darauf besteht, auch ihrer Freundin eine höhere Bildung zukommen zu lassen, obwohl Emilys Eltern sich diese wahrscheinlich nicht leisten können«, meinte Miss Lumsden. »Emily scheint mir jedoch noch zu jung für unsere Schule, wir nehmen die Mädchen erst ab elf. Wie alt ist Emily?«

»Im Sommer wird sie sieben«, gab die Lady zu, um gleich ein etwas galliges Gesicht zu machen, als Miss Lumsden anmerkte, dass die Kleine dafür schon sehr aufgeweckt wirkte.

»Das ist entschieden zu jung«, meinte die Rektorin trotzdem mit hörbarem Bedauern. »Gleichwohl bin ich sicher, dass Haily andere Freundinnen finden wird.«

Lady Mairead rieb sich die Stirn. »Sie verstehen nicht … Haily wird ohne Emily nicht gehen. Sie besteht darauf, das Mädchen mitzunehmen.«

Miss Lumsden runzelte die Stirn. »Vielleicht sollten Sie da ein bisschen streng sein«, bemerkte sie. »Ein elfjähriges Kind sollte nicht selbst darüber entscheiden dürfen, ob es ein Internat besucht oder nicht. Und erst recht sollte es keine Bedingungen stellen. Was sagt denn Emily dazu? Und ihre Eltern?«

Lady Mairead hob die Schultern. Offensichtlich hatte sie noch nicht gefragt. »Für Emily wäre der Schulbesuch ein Privileg«, sagte sie schließlich. »Wenn das allerdings nicht geht … Haily will sie mitnehmen, aber sie wird nicht darauf bestehen, dass Emily ebenfalls als Schülerin aufgenommen wird. Wie sieht es denn mit Dienstboten aus, Miss Lumsden? Eine Zofe zum Beispiel sollte den Mädchen doch erlaubt sein.« Lady Mairead sprach immer noch im Brustton der Überzeugung. Niemand durfte es wagen, Haily einen Wunsch zu verwehren. Sie würde zweifelsfrei eine Lösung finden.

Die Rektorin wurde jetzt jedoch deutlich. »Lady Hard, meine Schule will die Selbstständigkeit der Zöglinge fördern«, sagte sie mit Nachdruck. »Es ist nicht im Sinne unserer Philosophie, dass ihnen von Domestiken jeder Wunsch von den Augen abgelesen wird. Und erst recht werden wir ihnen nicht erlauben, über fast gleichaltrige Mädchen zu bestimmen als … als wären es Leibeigene! Sie formulieren den Wunsch Ihrer Tochter, das Mädchen mitzubringen, als wäre Emily ein Haustier. So geht das nicht! Wenn überhaupt, dann kann die Kleine Ihre Tochter nur als Mitschülerin begleiten – als gleichberechtigte Kameradin –, nicht aber als Gespielin und erst recht nicht als Zofe!«

»Sie könnten es also möglich machen?«, fragte Lady Mairead. »Trotz ihres Alters?«

Miss Lumsden seufzte. Sie hätte jetzt entschlossen ablehnen müssen, aber tatsächlich hatte das kleine Mädchen im Schlepptau von Haily Hard schon bei der Geburtstagsfeier ihre Aufmerksamkeit erweckt. Emilys Einsatz für das Gänseküken hatte sie angerührt, und es tat ihr leid, dass im Hause Hard ein Kind praktisch unter der Knute eines anderen Kindes gehalten wurde. Sie hätte Emily gern geholfen, ihren eigenen Weg zu gehen.

»Ich könnte mich dazu bereitfinden, mit Emily sowie ihren Eltern zu sprechen«, gab sie schließlich nach. »Sofern Emily sich Ihrer Tochter anschließen möchte und wenn ihre Eltern nichts dagegen haben, ein doch noch sehr junges Mädchen ins Internat zu schicken, dann könnte ich – bei ausreichender geistiger Reife – eine Aufnahme in Erwägung ziehen …«

Lady Mairead lächelte zufrieden. »Na, also!«, rief sie. »Ich werde Anna und Ben Coxwold sofort Bescheid geben. Sie werden sich zweifellos über einen freien Nachmittag freuen. Passt es Ihnen morgen?«

Emilys Eltern empfingen die Rektorin an dem blank geschrubbten Holztisch in ihrer Kate. Das kleine Haus hatte ursprünglich nur aus einem Raum bestanden, doch als Emily zunächst einen Bruder und dann noch eine Schwester bekommen hatte, war mit Erlaubnis der Herrschaft ein Anbau entstanden, in dem die Kinder schliefen. Miss Lumsden bemerkte erfreut, dass die Räume heimelig gestaltet waren. Auf den Betten lagen bunte Quilts, sicher von der Hausherrin selbst genäht. Das Geschirr, mit dem Anna den Tisch deckte, war billige Keramik, doch nicht angeschlagen, sondern pfleglich behandelt. Anna trug ein blaues Kleid, sicher ihr Sonntagskleid, und Ben seine Dienstbotenuniform. Sie bewirteten ihren ungewohnt hohen Gast mit Tee und den gleichen Scones, die bei Lady Mairead auf den Tisch gekommen waren. Miss Lumsden erinnerte sich, dass Emilys Mutter bei den Hards als Konditorin und Dessertköchin tätig war.

Anna und Ben schickten die Kinder nach draußen, nachdem diese Miss Lumsden artig begrüßt hatten.