Hin und zurück - Tessa Hadley - E-Book

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Tessa Hadley

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Beschreibung

Vor drei Jahren sind sie einander begegnet, hatten eine Affäre, aber ihre Wege haben sich wieder getrennt. Paul, der verheiratete Schriftsteller aus Wales, fährt nach London zu seiner Tochter Pia, die irgendwo in der englischen Hauptstadt verschwunden ist. Er will sie retten, glaubt er, und merkt nicht, dass sein eigenes Leben aus den Fugen geraten ist. Cora fährt in die Gegenrichtung, nach Cardiff, zum Haus, das sie von ihren Eltern geerbt hat. Sie flüchtet aus ihrer unglücklichen Ehe, aus ihrem Londoner Leben, das sie als einzige Enttäuschung empfindet. Dann bekommt sie einen Anruf: Ihr Mann sei verschwunden. Und alles, was gewiss schien, gerät ins Wanken. Wie durch ein Wunder haben sich Paul und Cora einst im selben Zug kennengelernt. Doch die lange Reise, die das Leben bedeutet, ist vor allem durch ständige Verspätungen und verpasste Anschlüsse bestimmt. Und auf dem Fahrschein scheint die Destination zu fehlen.

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Tessa Hadley

Hin und zurück

Roman

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit

Kampa

Hin und zurück

I

Als Paul das Heim erreichte, hatte der Bestatter die Leiche seiner Mutter schon abgeholt. Er empörte sich darüber, die Eile schien ihm ungehörig. Nachdem der Anruf ihn erreicht hatte, war er sofort aufgebrochen, und die drei bis vier Stunden Fahrt, die er bis dorthin gebraucht hatte (auf der M5 hatte dichter Verkehr geherrscht), hätte man doch sicher warten können. Mrs Phipps, die Besitzerin des Heims, führte ihn in ihr Büro, damit die anderen Bewohner nicht beunruhigt wären, falls er eine Szene machte. Sie war zierlich, temperamentvoll, braune Haut, sprach mit Spuren eines südafrikanischen Akzents. Er hegte keine Abneigung gegen sie und fand den Pflegestandard des Heims unter ihrer Leitung gut; seine Mutter jedenfalls hatte sich Mrs Phipps’ Zielstrebigkeit und munterer Babysprache dankbar gefügt. Doch selbst jetzt deutete nichts darauf hin, dass die straffe, fröhliche Maske von Mrs Phipps’ guter Laune, unter den gegebenen Umständen respektvoll gedämpft, je einem aufrichtigen Gefühl wich. Ihr Zimmer war freundlich; durch ein offenes Schiebefenster fiel die nachmittägliche Frühlingssonne aus dem Garten herein. An der Wand hinter ihrem Schreibtisch hing ein bunter Jahresplaner, auf dem fast jedes Kästchen geschäftig und verantwortungsbewusst beschrieben war: Er stellte sich ein Quadrat auf dem Planer vor, das die Besetzung des Zimmers seiner Mutter als Leerstelle auswies.

Wenn er seine Mutter sehen wolle, sagte Mrs Phipps mit der angemessenen Nuance bekümmerten Takts in der Stimme, könne sie den Bestatter anrufen, um ihm Bescheid zu geben. Paul war sich bewusst, dass die kommenden Stunden gewissenhafte Umsicht verlangten; er musste unbedingt darauf achten, das Richtige zu tun, auch wenn unklar war, was das Richtige wäre. Er verlangte die Adresse und Telefonnummer des Bestatters, und Mrs Phipps gab sie ihm.

»Sie sollten wissen«, fügte sie hinzu, »denn es wäre nicht in meinem Interesse, wenn Sie es auf Umwegen erfahren, dass Evelyn gestern Nacht wieder einen ihrer Freiheitsausflüge unternommen hat.«

»Freiheitsausflüge?«

Er glaubte, dass sie einen merkwürdigen Euphemismus für Sterben benutzte, doch im Weiteren erklärte sie, dass seine Mutter irgendwann am Abend aus dem Bett aufgestanden und im Nachthemd in den Garten gegangen war. Dort gab es eine Stelle, wo immer nach ihr gesucht wurde, wenn sie nicht in ihrem Zimmer war: Evelyns kleines Versteck im Gebüsch.

»Es tut mir leid, dass das passiert ist. Aber ich hatte Sie ja gewarnt, wir sind einfach nicht in der Lage, eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung der Bewohner zu leisten, wenn sie krank werden. Die Mädchen haben den ganzen Abend immer wieder in ihrem Zimmer vorbeigeschaut und nach ihr gesehen. So haben wir auch festgestellt, dass sie weg war. Ich will offen zu Ihnen sein, sie war so schwach, dass niemand von uns sich vorstellen konnte, sie könnte aus dem Bett aufstehen. Sie war höchstens zehn bis fünfzehn Minuten draußen, bis wir sie fanden. Zwanzig allerhöchstens.«

Man habe sie ins Haus gebracht und wieder ins Bett gelegt. Sie habe eine gute Nacht verbracht, erst am Morgen nach dem Frühstück habe sich ihr Zustand verschlechtert.

Paul spürte Mrs Phipps’ Befürchtung, er würde vielleicht Anzeige erstatten.

»Ist schon gut. Wenn es das war, was sie wollte, bin ich froh, dass sie aufstehen konnte.«

Mrs Phipps war erleichtert, auch wenn sie seine Denkweise nicht verstand. »Natürlich hat uns ihre Körpertemperatur beunruhigt, diese Frühlingsnächte sind tückisch. Wir haben sie warm eingewickelt, ihr etwas Heißes zu trinken gegeben und sie die ganze Nacht im Auge behalten.«

Paul fragte, ob er eine Weile im Zimmer seiner Mutter bleiben dürfe. Das Bett war schon abgezogen worden, und sie hatten eine saubere Tagesdecke mit dem im Heim üblichen Blümchenmuster über die Matratze gelegt: Nichts wies darauf hin, was sich hier abgespielt hatte. Mrs Phipps hatte ihm versichert, dass seine Mutter »ganz friedlich gegangen« sei, doch er sah darin nichts weiter als eine Floskel. Er saß eine Weile im Sessel seiner Mutter und betrachtete ihre Sachen: der letzte verbliebene Rest an Habseligkeiten, die sie von ihrem Zuhause in ihre kleine Wohnung im betreuten Wohnen und dann in dieses Zimmer begleitet hatten. Einige kannte er nur, weil er jedes Mal mit ihnen umgezogen war; andere waren ihm aus seiner Kindheit und Jugend vertraut: eine farbig glasierte Obstschale, ein blaues Glasmädchen, das einst seitlich an einer Blumenvase befestigt gewesen war, der rote Resopal-Couchtisch mit dem auf einem Chromfuß eingebauten Aschenbecher, der immer neben ihrem Sessel stand.

 

Als Paul das Heim verließ, fuhr er zum Bestattungsunternehmen und blieb auf dessen kleinem Parkplatz noch eine Weile im Auto sitzen. Er musste hineingehen und die Einzelheiten der Beerdigung besprechen; doch da war noch das Problem, dass er den Leichnam seiner Mutter sehen wollte. Er war das einzige Kind seiner Eltern. Evelyn hatte die Hauptlast am Tod seines Vaters vor zwanzig Jahren getragen, als Paul in seinen Zwanzigern war: Jetzt liefen alle Linien bei ihm zusammen. Natürlich würde seine Frau mit ihm fühlen, und auch seine Kinder; doch nachdem sich Evelyns Verstand in den vergangenen Jahren zunehmend verabschiedet hatte, war sie den Mädchen fremd geworden, und er hatte sie nur noch gelegentlich zu den Besuchen bei seiner Mutter mitgenommen. Sie erkannte sie noch, aber wenn sie zum Spielen in den Garten oder auch nur zur Toilette oder um den Sessel herum auf die andere Seite gingen, vergaß sie, dass sie die beiden gerade gesehen hatte; jedes Mal, wenn sie zurückkamen, begrüßte sie sie wieder, und ihr Gesicht leuchtete erfreut auf.

Sein Vater war nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus gestorben. Evelyn war bei ihm gewesen, Paul hatte zu der Zeit in Paris gelebt und war erst am nächsten Tag gekommen. Die Möglichkeit, den Leichnam zu sehen, hatte sich nicht ergeben, und in seiner Konzentration auf den schmerzlichen Verlust seiner Mutter war es ihm wahrscheinlich nicht wichtig gewesen. Jetzt wusste er nicht mehr, ob es wichtig war oder nicht. Er spähte in das mit diskretem Kitsch dekorierte Schaufenster des Bestatters – Urnen, plissierte Seide und künstliche Blumen. Als er schließlich ausstieg, um hineinzugehen, stellte er fest, dass es bereits nach sechs war. An der Tür hing ein Geschlossen-Schild mit einer Nummer, um im Notfall Kontakt aufzunehmen, die er sich nicht aufschrieb. Er würde am nächsten Morgen zurückkommen.

 

Er hatte sich angewöhnt, im Travelodge abzusteigen, wenn er seine Mutter besuchte und über Nacht in Birmingham bleiben musste; das Hotel war praktischerweise nur zehn Autominuten vom Heim entfernt. Er packte seine paar Sachen aus, ein sauberes Hemd und Socken, Zahnbürste, ein Notizbuch, die beiden Gedichtbände, die er gerade rezensierte – als er am Morgen aufgebrochen war, hatte er nicht gewusst, wie lange er bleiben musste. Dann rief er Elise an.

»Sie war schon tot, als ich ankam«, sagte er.

»Ach, arme Evelyn.«

»Mrs Phipps meinte, sie sei sehr friedlich gegangen.«

»Ach, Paul. Das tut mir so leid. Geht es dir gut? Wo bist du? Soll ich hochkommen? Ich finde bestimmt jemanden, der die Mädchen nimmt.«

Er versicherte ihr, dass es ihm gut ging. Es war ein schöner Frühlingsabend, aber er wollte nichts essen und schlenderte durch die Straßen, bis er einen Pub fand, wo er zwei Biere trank und eine Ausgabe der Birmingham Mail durchblätterte, die auf einem Tisch lag. Sein Verstand verhakte sich in den Worten, und obwohl er jede Seite vollständig las, nahm er den Inhalt ohne jeden inneren Kommentar auf: Verbrechen, Unterhaltung, in memoriam. Er hatte große Angst davor, an einem öffentlichen Ort von einem Traueranfall überwältigt zu werden. Zurück in seinem Zimmer, verspürte er keine Lust, einen der beiden Gedichtbände zu lesen; als er sich ausgezogen hatte, suchte er in der Nachttischschublade nach einer Bibel, aber es war die New International Version, die ihm nichts nützte. Er schaltete das Licht aus und legte sich unter das Laken, weil die Luft durch die Heizung abgestanden und stickig war und das Fenster sich nur einen Spalt öffnen ließ. Gerüche von Grün und Wachstum drangen herein, vermischt mit den Benzindünsten des Straßenverkehrs, der nie nachließ oder ganz erstarb, egal wie spät es war. Er empfand Erleichterung. Das Geschehene war ganz normal, absehbar, üblich: Der Tod eines älteren Elternteils, die Befreiung von der Last, sich zu sorgen. Bei ihrem Zustand in letzter Zeit hätte er ihr kein längeres Leben gewünscht. Er hätte sie öfter besuchen sollen. Aber die Besuche bei ihr hatten ihn gelangweilt.

Als er die Augen schloss, tauchte ungewollt ein Bild von seiner Mutter im Nachthemd in dem dunklen Garten des Heims vor ihm auf, so klar, dass er sich abrupt aufsetzte. Sie schien so greifbar nah, dass er sich suchend umsah: Er hatte die wirre, aber starke Vorstellung, den jetzigen Augenblick eng genug falten zu können, um einen Augenblick der letzten Nacht zu berühren, die kurze Zeit davor, als sie noch lebte. Er sah nicht die gebeugte alte Frau, die sie geworden war, sondern die reife Frau seiner Jugend: Ihren dunklen Haarzopf, den sie vor langer Zeit abgeschnitten hatte, die schwarz gerahmte Brille mit den dicken Gläsern, wie sie damals üblich waren, ihre große energische, aber etwas ungelenke Erscheinung. Als sie noch lebte, hatte er sich manchmal nur schwer an ihre vergangenen Ichs erinnern können, und er hatte befürchtet, sie für immer verloren zu haben, doch diese Erinnerung war lebhaft und vollständig. Er knipste das Licht an, stand auf, schaltete den Fernseher ein und sah Nachrichten, Bilder vom Krieg in Irak.

Als er wieder ausgestreckt im Dunkeln auf dem Rücken lag, nackt, zugedeckt mit dem Laken, konnte er nicht schlafen. Er wünschte, er könnte sich besser an die Stellen in der Aeneis erinnern, in denen Anchises in der Unterwelt seinem Sohn erklärt, wie die Toten im Jenseits allmählich von dem dichten Schmutz und den verkrustenden Schatten gereinigt werden, die sie im Leben durch ihre weltlichen Verstrickungen angehäuft haben; wie nach Äonen ihr reiner Geist wiederhergestellt ist und sich danach sehnt, ungeduldig danach strebt, ins Leben und in die Welt zurückzukehren und von vorne anzufangen. Paul fand, dass es keine moderne Sprache gab, die das schockierende Verschwinden seiner Mutter angemessen zu beschreiben vermochte. Eine Vergangenheit, in der eine so erhabene Sprache wie die Vergils möglich war, erschien ihm manchmal an sich schon wie ein Traum.

 

Als er am nächsten Morgen zum Bestatter zurückfuhr, nahm er sich vor, ihn darum zu bitten, den Leichnam seiner Mutter zu sehen. Sobald er jedoch mit dem Treffen der Vorkehrungen für das Begräbnis beschäftigt war, fiel es ihm schwer, überhaupt zu sprechen oder den unterbreiteten Vorschlägen auch nur vage zuzustimmen: Seine Sprachlosigkeit entsprang nicht etwa tiefen Gefühlen, sondern im Gegenteil einer vertrauten, starren Aversion, die ihn stets dann erfasste, wenn er solche aufgesetzten Beziehungen mit der Außenwelt führen musste. Ihm war klar, dass der junge Mann, mit dem er sprach, dazu ausgebildet worden war, auf die Ausrutscher und verräterischen Unsicherheiten trauernder Familienmitglieder zu achten, und sich deshalb bemühte, möglichst kühl und unzugänglich aufzutreten. Elise hätte bei ihm sein und ihn unterstützen sollen, sie verstand es gut, diese Seite des Lebens zu handhaben. Er konnte sich nicht dazu überwinden, diesem beflissenen jungen Mann gegenüber den persönlichen Wunsch zu äußern, seine Mutter ein letztes Mal zu berühren; und vielleicht wollte er sie ja auch gar nicht berühren.

Danach fuhr er, wie zuvor vereinbart, wieder in das Heim, um Papierkram zu erledigen und die Sachen seiner Mutter aus dem Zimmer zu räumen, obwohl Mrs Phipps beteuert hatte, das habe keine Eile, bis nach der Bestattung könne alles so bleiben, wie es war. Er saß wieder in Evelyns Sessel. Das Zimmer war tatsächlich ziemlich klein; aber als sie das erste Mal hier waren, um es sich anzusehen, hatte unten jemand Klavier gespielt, und das hatte ihn davon überzeugt, dass dieses Heim ein menschlicher Ort war und es möglich wäre, hier ein erfülltes Leben zu führen. Nach diesem ersten Besuch allerdings hatte er das Klavier nicht mehr oft gehört. Als er die wenigen Sachen in Schachteln gepackt hatte, bat er Mrs Phipps, den Rest zu entsorgen und ihm noch die »Höhle«, wie sie es genannt hatte, seiner Mutter im Garten zu zeigen; er merkte, wie sie überlegte, ob er am Ende doch noch Schwierigkeiten machen würde.

Im Garten war der Verkehrslärm weniger durchdringend. Die Sonne schien, der nichtssagende ordentliche Garten, konzipiert für leichte Instandhaltung, war von Vogelgezwitscher erfüllt: Amseln und Buchfinken, das brütige Grummeln der Türkentauben. Mrs Phipps’ hochhackige beigefarbene Wildlederschuhe wurden dunkel vom noch taunassen Gras, als sie den Rasen überquerten, und ihre Absätze versanken in der Erde; er merkte, wie verärgert sie darüber war, aber nichts sagen mochte. Das Heim war früher eine spätviktorianische Pfarrei gewesen, erbaut auf einer kleinen Anhöhe: Am anderen Ende des Gartens zeigte sie ihm, dass man, wenn man sich durch das Gebüsch zu der alten gewölbten Steinmauer durchschlug, zu einer kleinen festgetretenen Stelle nackter Erde gelangte, einem von Zweigen und Blättern umgebenen Hohlraum, groß genug, um aufrecht stehen zu können. Für eine alte Frau war die Mauer zu hoch, um darauf zu sitzen oder hinüberzuklettern, aber sie hätte sich darüber hinweg die Aussicht ansehen und beobachten können, wenn jemand kam. Als Evelyn noch ein Kind war und es noch einen Pfarrer in der Pfarrei gab, befanden sich jenseits der Mauer nur Felder und Wald: Inzwischen war das Gelände zugebaut, soweit das Auge reichte. Paul zwängte sich in den Hohlraum und blickte über die Mauer, während Mrs Phipps höflich, aber ungeduldig darauf wartete, wieder zu ihrem Tagesgeschäft zurückkehren zu können. Er sah die ausgedehnte Totenstadt der Überreste von Longbridge, wo Evelyns Brüder in den Fünfzigern und Sechzigern am Fließband Austin Princesses, Rileys und Minis zusammengebaut hatten. Bei Nacht lag diese riesige postindustrielle Fläche mit ihren Wohnsiedlungen, Einkaufszentren und Schrottplätzen geheimnisvoll hinter unzähligen Lichtern; tagsüber wirkte sie verlassen, als flösse der Verkehr durch einen leeren Raum.

Er empfand nichts in dem Versteck seiner Mutter, konnte das Gefühl ihrer Nähe, das er in der Nacht zuvor gespürt hatte, nicht zurückholen; es war sinnlos gewesen, Mrs Phipps damit zu behelligen, ihn hierherzuführen. Am Nachmittag jedoch, auf der Rückfahrt zu seinem Wohnort im Monnow Valley in Wales, war er irgendwann auf der M50 fast nicht imstande, sich umzudrehen, so sicher war er, dass sich die Schachteln mit Evelyns Sachen auf der Rückbank in ihr physisches Ich verwandelt hatten. Er meinte, ihr vertrautes Rascheln und Ausatmen zu hören, während sie es sich bequem machte, erwartungsvoll spannte er sich an, als könnte sie gleich sprechen. Sein Wissen um ihren unumstößlichen Tod schuf eine Befangenheit zwischen ihnen, für die er sich schämte. Er war diese Strecke so oft gefahren, um sie übers Wochenende nach Hause zu holen, bevor sie zu verwirrt wurde, um es noch zu wollen. Ihr gefiel die Vorstellung, dass ihr Sohn seine Kinder auf dem Land großzog: Sie hatte zwar ihr ganzes Leben in der Stadt verbracht, sich aber einen geschätzten Vorrat an altmodischen Träumen vom Landleben bewahrt.

 

In Evelyns Zimmer schien ihm das Sammelsurium ihrer Habseligkeiten mit Bedeutung aufgeladen; jetzt, zurück in Tre Rhiw, fürchtete er, alles könnte sich als bloßer Plunder erweisen. Er konnte sich nicht vorstellen, wo sie die hässliche Obstschale oder den Rauchertisch hinstellen sollten. In diesem Haus wurde nicht geraucht. Seine Töchter waren fanatische Gegnerinnen, in der Schule wurde ihnen eingebläut, Rauchen für ein mit Messerattacken oder Kindesmissbrauch vergleichbares Übel zu halten. Paul hatte es sowieso aufgegeben, aber wenn sein Freund Gerald abends vorbeischaute, behielten sie ihn im Auge und jagten ihn sogar bei Wind und Regen zum Rauchen nach hinten in den Garten; aus Rache fütterte Gerald ihre Ziegen mit seinen Kippen.

Die Mädchen waren noch in der Schule; vor halb vier setzte sie der Bus nicht ab. Elise war in ihrer Werkstatt, kam aber sofort in die Küche herüber, als sie ihn hörte. Sie trug nur Socken, um ihren Hals hing ein Messband, an ihrem schwarzen T-Shirt und ihren Leggings hafteten rote und goldene Fäden von dem Stoff, mit dem sie gerade arbeitete. Mit einer Freundin zusammen betrieb sie ein Geschäft, restaurierte und verkaufte Antiquitäten. Wegen ihrer breiten Wangenknochen nannte Paul sie oft eine Kalmückin. Ihr Teint war ein vornehmes blasses Gold, sie hatte gesprenkelte haselnussbraune Augen; ihr Mund war breit, mit schönen roten Lippen, die sich perfekt schlossen. Sie war drei Jahre älter als er, und die Haut unter ihren Augen zeigte faltige Verdickungen. Seit einiger Zeit färbte sie ihr Haar in einem kräftigen Honigton, der dunkler war als ihr ursprüngliches Blond.

»Du hast ein paar ihrer Sachen mitgebracht.«

»Im Auto sind noch mehr. Den Rest habe ich von Miss Phipps entsorgen lassen.«

Sie nahm die Sachen einzeln aus der Schachtel, hielt sie hoch und begutachtete eingehend ein Frisiertischchen aus Bakelit, das mit Schmuckstücken gefüllt war. »Arme Evelyn«, sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, obwohl sie seiner Mutter nicht besonders nahegestanden hatte. Früher, als Evelyn noch compos mentis war, hatte Elise sich über ihre panische Angst aufgeregt, ihre schrecklichen Vorstellungen von dem, was in der Welt außerhalb ihres eigenen beschränkten Erfahrungsraums vorging. Evelyns Verlangen, Zeit mit ihnen zu verbringen, endete nach wenigen Tagen meist in aufwallendem Groll gegen ihre Schwiegertochter, ihre scheinbar unbekümmerte Haushaltsführung, ihre Unpünktlichkeit. Evelyn hatte sich auf dem Land gelangweilt, sich vor dem Fluss und den Ziegen gefürchtet. Außerdem aßen sie immer zu spät, was Verdauungsbeschwerden bei ihr auslöste.

Elise umarmte Paul und küsste seinen Hals. »Es ist so traurig. Tut mir wirklich leid, Liebling.«

»Ich wünschte, ich hätte bei ihr sein können. Irgendwie habe ich das Gefühl, als wäre das gar nicht wirklich passiert.«

»Hast du sie gesehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Man hatte sie schon weggebracht.«

»Das ist schlimm. Du hättest sie noch mal sehen sollen.«

Nachdem sie ihn eine Weile umarmt hatte, ging sie mit dem Wasserkessel zur Spüle, füllte ihn aus dem lauten alten Wasserhahn, der quiekte und donnerte, und hob den Deckel von der Herdplatte des Rayburn.

»Ich weiß nicht, was ich mit dem ganzen Zeug anstellen soll«, sagte er.

»Keine Sorge. Darüber kannst du später nachdenken. Es ist gut, ihre Sachen um uns zu haben, als Erinnerung an sie.«

Paul trug die Schachteln nach unten in sein Arbeitszimmer. Es befand sich am anderen Ende der Küche als Elises Werkstatt und war in ein altes Nebengebäude eingebaut, das so tief in dem steilen Hang versenkt war, dass er auf halber Höhe des Fensters den abschüssigen Garten sehen konnte; auf der anderen Seite hatte er einen Blick auf den Fluss. Die Wände waren fast einen halben Meter dick; ihm gefiel das Gefühl, bei der Arbeit von Erde umgeben zu sein.

Als die Mädchen nach Hause kamen und vom Tod ihrer Nana erfuhren, waren sie kurz gedämpft und ehrfürchtig; sie weinten aufrichtige Tränen, und Becky verbarg scheu das Gesicht an der Brust ihrer Mutter. Sie war neun, zärtlich und sensibel; ihr braunes, sommersprossiges Gesicht hatte sich schon immer rasch verfinstert. Zehn Minuten später hatten die Mädchen alles vergessen und spielten vor seinem Fenster im Garten. Er sah ihre Füße und Beine, sah, wie Becky mit ihrem Springseil hüpfte und die sechsjährige Joni im Rhythmus stampfend laut sang: »Bananen in Pyjamas sind lustig anzusehen.«

II

Nach all den anderen organisatorischen Telefonaten, die Paul am nächsten Tag erledigen musste, wollte er Annelies anrufen, seine erste Frau. Doch bevor er dazu kam, rief sie ihn an, was ungewöhnlich war; oft sprachen sie monatelang nicht miteinander. Sie klang, als wäre sie sauer auf ihn, aber daran war er gewöhnt: Der Wettstreit zwischen hitzigem Angriff und kalter Zurückweisung war von Anfang an ihr gemeinsamer Modus gewesen, seit sie in dieser schwierigen Beziehung steckten, zwei Fremde, aneinander gebunden durch ihr Kind – seine älteste Tochter, die inzwischen fast zwanzig war. Bei ihrer Geburt war er selbst nicht viel älter gewesen.

»Wie lange ist es her, seit du Pia das letzte Mal gesehen hast?«, wollte sie wissen, sobald er den Hörer abgenommen hatte.

»Ich wollte dich auch gleich anrufen«, erwiderte er. »Es gibt Neuigkeiten. Mum ist gestern gestorben.«

Er bemühte sich, keine Genugtuung darüber zu empfinden, dass er ihrer selbstgerechten Art ein Schnippchen geschlagen hatte.

»Ach, Paul. Das ist traurig. Sehr traurig. Tut mir leid. Pia wird außer sich sein, sie hat ihre Nana geliebt.«

Paul war oft mit Pia nach Birmingham gefahren, um ihre Großmutter im Heim zu besuchen. Es war eine der Möglichkeiten, die Zeit zu füllen, die er mit seiner ältesten Tochter verbrachte, und es stimmte, sie war Evelyn offenbar aufrichtig zugetan. Sie hatte ihn überrascht; er hielt Pia nicht für die Hellste, aber sie war sehr geduldig gewesen und hatte sich nicht an den ewigen Wiederholungen der alten Frau gestört, die ihr immer wieder ergriffen die Hand gedrückt hatte.

»Soll ich mit ihr reden?«

»Sie ist nicht da. Das ist auch der Grund, warum ich dich anrufe.«

»Du meinst, sie ist unterwegs?«

»Nein. Ich meine, sie ist verschwunden. Hat ihre Sachen gepackt und weg. Nicht alles natürlich. Ihr Zimmer ist immer noch ein einziges Chaos.«

»Wohin verschwunden?«

»Keine Ahnung.«

Vor ungefähr einer Woche hatte Pia nach einem Streit mit ihrer Mutter das Haus verlassen. Es war zwecklos, Alarm zu schlagen und zur Polizei zu gehen, denn Pia hatte Annelies zweimal angerufen und ihr versichert, dass alles in Ordnung sei. Angeblich wohnte sie bei Freunden.

»Dann geht es ihr vermutlich gut. Sie ist alt genug. Sie kann gehen, wohin sie will.«

»Aber welche Freunde, Paul? Ist es zu viel verlangt, wenn ich wissen will, wo sie ist?«

Eigentlich absolvierte Pia in Greenwich ihr erstes Studienjahr, in welchen Fächern genau, wusste er nicht: Medien, Kultur, Soziologie? Als Paul vor einigen Wochen das letzte Mal in London war, hatte er sie zum Essen ausgeführt. Er versuchte sich jetzt verzweifelt daran zu erinnern, worüber sie gesprochen hatten. Stattdessen fiel ihm nur ein neuer Stahlstecker in ihrer Unterlippe ein: An diesem Stecker hatte sie immer gesaugt, wenn ihnen der Gesprächsstoff ausging, was oft der Fall war, und dabei die Oberlippe nach unten gedehnt und auf eine nervöse, unattraktive Weise daran gezogen. Er hatte versucht, einen Funken an Interesse für ihr Studium aus ihr herauszukitzeln, aber sie konterte alle seine Versuche mit derselben gehorsamen Eintönigkeit. Ihr prägnant geformter Mund mit den vollen, bleichen Lippen glich dem seinen, das wusste er: Angeblich glich Pia ihm aufs Haar, sie war groß, blond und dünn wie er, und ihre Haut neigte zu Unreinheiten und Ausschlägen wie seine als junger Mann. Im Geiste hätte sie nicht gegensätzlicher sein können als er in ihrem Alter: Er hatte sich vom kalten Feuer der Politik und neuer Ideen mitreißen lassen, sie hingegen war ängstlich und scheu, ging in der winzigen Welt ihrer Freunde und deren Marotten auf, ohne jede intellektuelle Neugier.

»Sie kommt bestimmt bald wieder«, beruhigte er Annelies. »Spätestens wenn sie merkt, dass sie ihre Wäsche selber waschen und ihr Essen selber kaufen muss.«

 

Zur Beerdigung kam Annelies in einem schwarzen Kostüm, das zu eng saß. Seit einiger Zeit war sie fast matronenhaft; neben ihr wirkte Elise leichtfüßig und biegsam wie ein Mädchen, obwohl sie die Ältere der beiden war. Elise hatte gesagt, schwarz trage man heute nicht mehr, und Becky und Joni erlaubt, ihre Partykleider anzuziehen; die kleinen Mädchen tollten zwischen den hässlichen Grabmälern des Krematoriums herum wie Elfen im Sonnenschein. Elise und Annelies waren nie Rivalinnen gewesen; Pauls erste Ehe war seit mehreren Jahren vorbei, als er Elise kennenlernte. Elise hatte es sich zur Aufgabe gesetzt, seine unverblümte, barsche erste Frau für sich zu gewinnen. Jetzt liehen sie sich gegenseitig Taschentücher und flüsterten sich Vertraulichkeiten zu, umarmten und berührten einander, wie es unter Frauen üblich ist. Annelies war ihm irgendwie fremd. Allmählich sah sie wie ihre Mutter aus, eine stämmige, vernünftige holländische Grundschullehrerin.

Während des lieblosen Gottesdienstes konnte Paul sich nicht auf das Geschehen konzentrieren. Der Pfarrer war ein Fremder, dem man ein paar Gemeinplätze an die Hand gegeben hatte: Evelyn hatte ihr Leben lang hart gearbeitet, die meiste Zeit in der Bäckerei in Wimbush; sie hatte sich für ihre Familie aufgeopfert; als Rentnerin war sie gern durch England und Irland gereist, und auch ins Ausland. Paul hatte keine Ahnung gehabt, als man ihn nach den liebsten Kirchenliedern seiner Mutter gefragt hatte. Sie war nie eine Kirchgängerin gewesen, auch wenn sie sich verschämt, ja fast kokett für religiöse Themen interessiert hatte. Ein paar Titel aus seiner Kindheit waren ihm eingefallen: »Auf einem grünen Hügel …« und »Ihr Pilger ….« Am Ende des Gottesdienstes wurden an einer Leiste ruckartig Gardinen um den Sarg gezogen, ehe er weggeschoben wurde.

Pauls Cousine Christine hatte angeboten, nach der Beerdigung bei sich zu Hause einen kleinen Empfang zu geben, weil »das Krem«, wie sie es morbide vertraulich nannte, nicht allzu weit entfernt war. Bei dem Gottesdienst und Empfang war viel Familie anwesend, was ihn rührte, denn Evelyn war die Letzte ihrer Generation, und nach dem heutigen Tag würde vermutlich keiner der Trauergäste mehr für einem Besuch zurückkehren. Chris legte Wert darauf, neben ihm zu sitzen und ihm die Hände zu drücken, ihre Knie berührten sich. Er mochte ihr langes, unscheinbares Gesicht mit der Brille, ihre graue ordentlich geschnittene Kurzhaarfrisur, den etwas missglückt über die Schulter geworfenen Seidenschal; sie war selbstbewusst und lustig. Die meisten Cousins und Cousinen seiner Generation hatten sich gut geschlagen und den archetypischen Aufstieg der Baby-Boomer aus der Klasse ihrer Eltern geschafft, waren in der Lokalverwaltung oder in Krankenhäusern tätig oder arbeiteten im mittleren Management. Chris war Schulsekretärin, ihr Mann Geschäftsführer in einer Firma für die Wartung von Fotokopierern. Ihr Haus war gemütlich und liebevoll eingerichtet.

Paul und Chris dachten gern an alte Zeiten zurück, über viel anderes konnten sie nicht reden. Ihre Erinnerungen an die Familie waren weitaus detaillierter als seine, als hätte sie sich allem Anschein zum Trotz nur einen Schritt von dieser Welt entfernt: Sie trauerte ihr nicht nach, redete aber, als hätte sie noch nicht damit abgeschlossen, obwohl ihre Eltern schon lange tot waren. Sie erinnerte sich noch, dass sie sich mit anderen eine Außentoilette im Garten geteilt und von einem mit Zeitungspapier abgedeckten Tisch gegessen hatten. Im Zuge der Slumsanierungen war sie als Neunjährige mit ihrer Familie aus dem Stadtzentrum weggezogen, genau wie seine Eltern, als er noch ein Baby war. In ihrer Sozialwohnung in einer der neuen Siedlungen hatte Chris’ Mutter plötzlich Tischdecken, Vorhänge und Teppiche hervorgeholt, die sie, eingewickelt in Plastik, aufbewahrt hatte, weil sie zu gut waren, um sie zu benutzen. Nach all den Jahren erzählte Chris die Geschichte mit einer wütenden Amüsiertheit über dieses vergeudete Leben, dieses »Ohne-Auskommen« und »Für-später-Aufheben«.

 

In den Tagen nach der Beerdigung saß Paul stundenlang unproduktiv in seinem Arbeitszimmer und gab vor, an seiner Rezension zu arbeiten. Er schrieb und löschte wieder, gaukelte sich selbst den Durchbruch vor, nur um dann festzustellen, dass jeder Durchbruch in einer weiteren Sackgasse endete. Nach einer Weile ging er über den Hof in Elises Werkstatt. Sie hatte die alte baufällige Scheune in ein Atelier umgebaut, als sie nach Tre Rhiw gezogen waren; sie konnte mauern, klempnern und verputzen, außerdem hatte sie Strom in alle Nebengebäude verlegt. Am Anfang ihrer Beziehung hatte sie seine handwerkliche Inkompetenz überrascht: War sein Vater nicht Arbeiter gewesen? Elises Vater hatte erst als General in der Armee gedient und später als Militärberater in Washington gearbeitet. Paul hatte erklärt, dass sein Vater, ein Einrichter für Werkzeugmaschinen in einer Schraubenfabrik, nie etwas im Haus gemacht hatte, er wollte nicht die Arbeit eines anderen übernehmen. In einem Fachgebiet, das so speziell wie seines war, lernte man keine übertragbaren Fähigkeiten. Und die Schweizer Maschinen, für die er in seinen letzten Arbeitsjahren zuständig war, liefen ohnehin schon vollautomatisch.

In die Seitenwand der Scheune waren große Glastüren eingelassen, die für maximales Tageslicht sorgten. Dahinter befand sich eine Reihe mit biegsamen, anmutigen Zitterpappeln, die vom Fluss, am Haus vorbei und bis hin zur Straße verlief. Die Bäume dämpften das grelle Sonnenlicht oder, was öfter vorkam, schützten das Haus vor heftigem Wind und Regen. In der Scheune schwammen in den vom Sonnenlicht gelben Flächen winzige Staubpartikel, die von dem Tuch stammten, das Elise zum Abdecken einer frühviktorianischen Chaiselongue benutzte, ein himbeerroter Samt mit einem zarten Muster, das an winzige Blätter erinnerte. Auf der Suche nach ausgefallenen Stücken durchstreifte ihre Geschäftspartnerin Ruth Ausverkäufe und Auktionslokale, suchte Käufer für die aufgearbeiteten Produkte und lieferte sie aus; Elise reparierte, polsterte auf und polierte, wenn nötig. Die beiden hatten ein untrügliches Gespür dafür, aufgegebenen Trödel aufzuspüren und das Potenzial darin zu entdecken: Die Sachen sahen immer aus, als wären sie aus Alice im Wunderland geschmuggelt worden, voller Spott und Magie. Tre Rhiw war gespickt mit Schätzen: Nach einiger Zeit verschwanden die prall gepolsterten Zweiersofas, die trüben Spiegel und zierlichen Sekretäre, an die Paul sich gewöhnt hatte, wurden an Kunden weiterverkauft und durch neue Kuriositäten ersetzt.

Elise, die gerade einen schweren Stoff durch die Nähmaschine schob, hielt inne, nahm die Brille ab, die sie mittlerweile für Feinarbeiten brauchte, lächelte und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Warum setzt du nicht einen Kaffee auf«, schlug sie mit tröstender Stimme vor.

Eigentlich wollte er nicht mit ihr über sein Befinden sprechen, aber es sprudelte unwillkürlich aus ihm hervor. »Ich stecke fest. Es kommt nichts mehr.«

»Wieso schreibst du nicht über Evelyn? Du weißt schon, über ihr Leben, die ganze Geschichte, wie sie fast ausgewandert wäre, die Arbeit in der Bäckerei und so weiter. Das ist doch ziemlich interessant.«

Er hasste die Vorstellung, das Leben seiner Mutter in Material zu verwandeln und den Glanz eines harten Arbeiterlebens für sich zu beanspruchen, wo er sie doch in Wirklichkeit bewusst zurückgewiesen und sich von ihrer Lebensweise entschieden befreit hatte. Aber mit Elise konnte er darüber nicht diskutieren. Sie schlug ihm das nicht zum ersten Mal vor. Wahrscheinlich fand seine Frau das soziale Milieu, aus dem er stammte – die Arbeiterklasse einer großen Industriestadt – genauso fremd und exotisch wie er das ihre: Springreiten, Internat und ein Haus in Frankreich. Am Anfang ihrer Beziehung hatten sie es aufregend gefunden, ihre jeweilige Klassenherkunft so auszuleben, als wären sie in einem anderen Jahrhundert geboren: Er wäre ihr Diener gewesen und sie seine Herrin, für die sein Akzent und seine Schroffheit eine unüberwindbare Kluft dargestellt hätten, tiefer als jede Sympathie und Vorstellungskraft.

»Nein, niemals«, hatte Elise beteuert. »So wäre ich nicht gewesen. Nicht jeder war so, es gab immer Gefühle, die solche Grenzen überschritten.«

 

Das Wetter war heiß und schön. Er machte mit seinem Freund Gerald einen ihrer gewohnten Spaziergänge durch die Landschaft. Sie folgten dem Monnow flussabwärts, wo das Wasser geräuschvoll über Felsen und glattgewaschene Kieselsteine schoss, die sich unter der dicken Wasserlinse nach oben wölbten. Der Weg schmiegte sich anfangs an das Flussufer, dann schlängelte er sich quer durch kleine Felder, aus deren Hecken lautes Vogelgezwitscher und Bienensummen drang. An den untersetzten, bitteren Schlehen prangten schneeweiße Blüten, die schmalen Buchenknospen waren zartes hellbraunes Leder, die noch blattlosen Eschen ließen ihre toten Rispen herabhängen. Eine der großen patriarchalen Buchen war in einem starken Sturm vor wenigen Wochen auf den Weg gestürzt, die nackten Wurzeln hochgereckt, während die Knospen am anderen Ende noch flimmerndes Leben vortäuschten. Auf Augenhöhe war das heimliche Loch eines Spechts zu sehen, und ein tiefer Riss im Holz des wuchtigen Baumstamms zeugte von dem Aufprall. Sie mussten hinüberklettern und bewunderten die dicken Falten in der Rinde, dort, wo die Äste nach außen drängten.

Paul sagte, er habe über das alte Schema der menschlichen Zeit als Abfolge schwindender Epochen nachgedacht. Sie entsprächen immer weniger der Intensität und Qualität der ursprünglichen Lebenskraft. Kulturen hätten sich im Laufe der Zeit zunehmend technische Raffinesse angeeignet, aber durch die immer komplexer werdenden Formen brauche sich die Urkraft selbst auf und verlöre an Dichte und Schönheit.

»Und was dann?«, fragte Gerald.

»Die Stoiker glaubten, dass, so wie Wachstum aus einem Samen entsteht, am Ende einer Phase jedes Leben in sich selbst erstirbt, die Form wird zerstört, allein die Kraft bleibt zurück. Wir leben am Ende von etwas, wir zehren etwas auf.«

»Es ist wahrscheinlicher, dass das Leben auf Erden einfach immer weiter ausschweift, weiter, als wir es sehen können. Es erfindet neue Arten von Chaos, erduldet alle möglichen Gräuel, wird wieder zusammengeflickt und verändert die Gestalt der Dinge bis zur Unkenntlichkeit. Jede Generation behauptet, das ist es, wir haben es geschafft, jetzt ist es so weit.«

Gerald war auf feinfühlige Weise intelligent, kritisch, groß, mit einem zerfurchten, pockennarbigen Gesicht, einem kräftigen Kiefer und langem Haar, das er hinter die Ohren klemmte. Er hatte eine Teilzeitstelle (mehr wollte er gar nicht) an der University of Glamorgan, wo er französische Literatur unterrichtete, und er lebte allein in einer unordentlichen Wohnung in Cardiff, mit einem Teppich voller Teeflecken, die aus einer großen Kanne stammten. In den Zimmern roch es streng nach Marihuana, er ernährte sich von Hummus, Pittabrot und schottischen Eiern. Gänzlich ungezähmt konnte er seinem eigenen Rhythmus folgen und sich in jedem schrägen Buch oder Gedanken verlieren, in die er sich verirrte. In unregelmäßigen Abständen arbeiteten Paul und er zusammen an Übersetzungen von Guy Goffette, einem belgischen Lyriker. Manchmal dachte Paul, dass Geralds Freiheit genau das war, wonach er selbst sich am meisten sehnte und woran ihn die Ablenkung durch seine Familie hinderte. Aber er schreckte auch davor zurück, denn was ihn an die Kinder band, schien ihm lebensrettend. Er empfand sie als einen Segen, der die berauschende Unausgewogenheit eines verkopften Lebens ausglich.

Paul beklagte einige Sanierungen im Tal, die hässliche Umwandlung von Scheunen in Feriendomizile. Häuser, in denen früher Landarbeiter gewohnt hatten, erzielten heute Unsummen, als unterläge die ländliche Gegend einem kranken Zauber, in dem das Wesen der Dinge auf unsichtbare Weise durch ein bloßes Scheinbild ersetzt wurde. Gerald hielt sein Bedauern für romantisch; er fragte Paul, ob er sich die unhygienischen Behausungen der armen Landbewohner zurückwünsche.

»Hast du mit Gerald geredet?«, fragte Elise später. Sie saß in dem langen T-Shirt, das sie zum Schlafen trug, im Schlafzimmer vor dem Spiegel und reinigte ihr Gesicht.

»Worüber?«

»Über Evelyn, wie du dich fühlst. Aber das ist wohl unwahrscheinlich. Ihr zwei redet nie über wichtige Dinge.«

»Tun wir durchaus.«

Sie zog lange Grimassen, um die Haut zu dehnen, und rieb sie mit öligen Wattebäuschen ab; ein Band hielt ihr Haar aus dem Gesicht. Als sie fertig war, stellte sie sich vor ihn, der auf der Bettkante saß, strich ihm mit den Fingern das Haar nach hinten, betrachtete stirnrunzelnd sein Stirnrunzeln und nahm ihn ins Verhör.

»Sag mir, wie du dich fühlst. Warum erzählst du es mir nicht?«

»Mir geht es gut.«

 

In der Nacht erwachte er und war sicher, dass seine Mutter nah bei ihm im Schlafzimmer war. Die hellen Vorhänge am Fenster bauschten sich und wehten im nächtlichen Wind; er hatte die wirre Vorstellung, dass er krank und zum Schlafen in ihr Bett gelegt worden war, so wie manchmal in seiner Kindheit. Evelyn hatte ihn dann geweckt, wenn sie spätnachts im Zimmer herumlief und sich leise auszog. Er bildete sich ein, den alten Petroleumofen zu riechen, und richtete sich mühsam auf, schweißbedeckt und schuldbewusst, atemlos. Elise schlief mit dem Rücken zu ihm, ein Hügel unter der Bettdecke, Haarkranz auf dem Kissen. Aus dem Flur drang Licht durch den Spalt, wo die Arretierung kaputt war und die Tür nie ganz schloss; der Spiegel der Frisierkommode fing es auf und schimmerte wie flaches Wasser.

Als Teenager hatte er seine Mutter für eine bemerkenswerte und einzigartige Frau gehalten, die nur durch ihre beschränkten Möglichkeiten daran gehindert wurde, mehr aus ihrem Leben zu machen. Sie war körperlich ungeschickt, gutaussehend, aber in zwischenmenschlichen Beziehungen unbeholfen, auf schüchterne Art arrogant. Als würde es etwas erklären, hatte sie immer davon erzählt, wie sie nach dem Tod ihrer Eltern fast nach Kanada ausgewandert wäre: Sie war eine pflichtbewusste Tochter gewesen und hatte beide während langer Krankheiten gepflegt. Alle Dokumente waren schon ausgefüllt, sagte sie. Doch dann, in letzter Minute, hatte sie mit Ende dreißig seinen Vater geheiratet und Paul bekommen, lange nachdem sie die Hoffnung auf ein eigenes Kind aufgegeben hatte. Als er klein war, hatte sie oft sein Gesicht zwischen ihren Händen gehalten, und er hatte in ihrem Blick seine Verheißung gesehen, die sie überraschte und mit Freude erfüllte, die Begabung, für die sie keine Erklärung hatte.

III

Pia kam nicht nach Hause. Sie rief ihre Mutter weiterhin an und beteuerte, es gehe ihr gut, doch als Annelies Kontakt zur Universität aufnahm, sagte man ihr, sie besuche keinen ihrer Kurse mehr. Paul fuhr nach London, weil er nicht wusste, wie er sonst helfen sollte. Annelies lebte seit Jahren in einem Reihenhaus nahe der Green Lanes in Harringay, wo er sich manchmal wie in Istanbul oder Ankara vorkam: Die Ladenschilder waren ihm unverständlich, die überall aufgetürmte Fülle von Obst und Gemüse, beleuchtet von Elektrolampen unter grünen Plastikmarkisen, die Cafés mit Baklava und Kaffeemaschinen aus Messing in den Fenstern, alles um sieben Uhr abends noch offen, mit den üppigen Gerüchen nach Lamm und Knoblauch aus den Restaurants. Annelies’ kleines Haus war vollgestopft und luftlos, Schweiß glitzerte auf der gebräunten, sommersprossigen Haut über ihrer Brust. Sie trug ein ärmelloses geblümtes Kleid; die kupferfarbenen Strähnchen in ihren Locken mischten sich langsam mit Grau. Sie saßen in der Küche, und Annelies öffnete eine Flasche Gewürztraminer, den er nicht mochte, aber trank, weil es nichts anderes gab. An den Küchenwänden und auf der gestrichenen Bank am Tisch klebten Schablonenherzen. Wohin er auch sah, waren Herzen: Kühlschrankmagneten, Postkarten, Geschirrtücher, sogar herzförmige, vom Strand mitgebrachte Kieselsteine. Annelies arbeitete für den Flüchtlingsrat und half Asylsuchenden, Berufung gegen ihre Abschiebung einzulegen. Daneben wirkte Pauls halbrealisierte Schreibkarriere wie eine schäbige Ausflucht.

»Was machen wir jetzt, Paul? Hast du mit ihr geredet?«

»Sie geht nicht ans Handy, wenn sie sieht, dass ich es bin. Ich habe Becky gebeten, ihr eine SMS zu schicken, auf die sie dasselbe geantwortet hat – sie meldet sich bald, kein Grund zur Sorge.«

»Aber sie hat ihr Studium geschmissen. Wie soll ich mir da keine Sorgen machen? Wie ernährt sie sich, würde ich gern wissen? Wovon zahlt sie ihre Miete, wo immer sie wohnt? Wenn sie anruft, gibt sie keine Antwort auf diese Fragen! Du solltest sie hören, Paul, sie klingt nicht wie sie selbst. Irgendwas stimmt nicht, das weiß ich. Ich habe sie angefleht, mir zu sagen, wo sie ist, aber sie legt einfach auf.

Insgeheim dachte Paul, dass Pias Studienabbruch keine große Rolle spielte. Vielleicht war es sogar gut für sie, einen Vorgeschmack auf das Leben außerhalb der schulischen Routine und der Sicherheit im Haus ihrer Mutter zu bekommen. Sie gehörte zu den Mädchen, die es durch die Schule geschafft hatten, indem sie perfekte Ränder gezogen, ihre Überschriften rot unterstrichen und ihre Projektarbeiten aus dem Internet ausgeschnitten und eingefügt hatten. Aber er hatte Mitleid mit Annelies, die in ihrer Verzweiflung aus dem normalen Muster ihrer Beziehung zu ihm herausgerissen wurde. Normalerweise hätte sie sich nie an ihn gewandt oder ihm gezeigt, dass sie Angst hatte. Sie wirkte durcheinander, in diesem Haus, in dem Pia allgegenwärtig war: Ihre kindlichen Zeichnungen hingen gerahmt an der Wand, Fotos von ihr in jedem Alter an der Pinnwand, jugendlicher Modeschmuck baumelte an Becherhaken, und in der Ecke standen rote Highheels, die bestimmt nicht Annelies gehörten. Sein Eindruck war, dass seine Tochter das Haus in ihrer Abwesenheit stärker prägte als zu der Zeit, als sie hier wohnte.

Er fragte Annelies nach dem Streit, den sie gehabt hatten.

»Es war nichts. Ich bin in ihr Zimmer gegangen, ohne anzuklopfen, mehr nicht. Was treibt sie dort, dass sie es verbergen muss? Sie hat nur mit ihren Schminksachen herumgespielt, das konnte ich sehen. Ich habe sie gefragt, ob sie denn nichts für ihr Studium machen muss.«

Annelies sah keine Notwendigkeit für Schlösser an Badezimmertüren; als sie mit Paul verheiratet war, hatte sie ihm beim Schreiben oft über die Schulter geblickt und nicht verstanden, warum ihn das rasend machte. Und am Anfang hatte es ihm gefallen, wenn sie sich furchtlos vor ihm ausgezogen hatte oder beim Urlaub in Schweden, abseits der felsigen Inseln, zu denen sie gerudert waren, ohne mit der Wimper zu zucken ins eiskalte Wasser getaucht war, während er noch zimperlich über die Steine stakste.

»Ich bin tolerant«, sagte sie jetzt, »das weißt du. Aber was ist mit Drogen, Geschlechtskrankheiten? Sie muss einen Freund haben, da bin ich mir sicher, und Pia will nicht, dass ich ihn kennenlerne.«

»Sie ist nicht dumm, sie ist ein vernünftiges, gesundes Mädchen. Wir müssen ihr vertrauen, mehr können wir nicht tun. Ich werde mit dem Studentenwerk an der Greenwich reden, obwohl ich nicht glaube, dass sie irgendwas wissen. Vielleicht kann ich ein paar ihrer Freunde finden.«

Jetzt, wo sie abwesend war, hatte er das Gefühl, Pia kaum zu kennen, obwohl ihm die Zeit, die sie in ihrer Kindheit zusammen verbracht hatten, wenn er an den Wochenenden auf sie aufgepasst hatte, manchmal sträflich lang vorgekommen war und er sich zu seiner Arbeit und seinen Büchern zurückgewünscht hatte. Ein lebhaftes, beeinflussbares, unruhiges Kind hätte ihn mit Sicherheit aufgerüttelt – selbst damals, als Vater, der viel zu jung war –, doch diese Eigenschaften hatte er in Pia vergeblich gesucht, oder sie hatte seine Suche torpediert. Stattdessen hatte sie sich ihm gegenüber stur, launisch und unnachgiebig verhalten. In Museen oder in der National Gallery war sie schwerfällig hinter ihm hergelatscht und hatte sich die Gemälde angeschaut, wenn er sie dazu aufforderte, sich aber geweigert, den Inhalt des Gesehenen zu verstehen. Die Bücher, die er ihr kaufte, blieben ungelesen. In den Museumsshops stand sie schmachtend vor den Plüschtieren mit Comicgesichtern: Es schien ihr mehr daran zu liegen, Dinge zu kaufen, als sie zu sehen und zu begreifen.

 

Er übernachtete bei Freunden und fuhr am nächsten Tag nach Greenwich, weil er sich mehr davon versprach, persönlich nachzufragen als am Telefon: Aber sie durften ihm keine Auskunft geben. Nicht einmal zu ihrem Stundenplan, damit er sich bei ihren Kommilitonen erkundigen könnte? Die junge Frau betrachtete ihn mit geduldiger Feindseligkeit.

»Ich weiß, das ist schwer für Eltern«, sagte sie. »Aber Studenten sind Erwachsene. Wenn Sie hier einen Kurs besuchen würden, würden Sie auch nicht wollen, dass wir Ihre persönlichen Daten an jeden x-Beliebigen weitergeben.«

»Aber ihrer Mutter haben sie gesagt, dass Pia nicht mehr studiert.«

»Ich weiß nicht, wer diese Information herausgegeben hat.«

Er war schockiert, dass man ihn ausschloss; er hatte auf die Kraft seiner selbstbewussten Besorgnis gesetzt und den Charme, den er bei diesem teiggesichtigen Mädchen mit Brille hatte spielen lassen. Als er am Abend zuvor mit Annelies gesprochen hatte, hatte er ihre Angst nicht ernst genommen. Jetzt, auf dem Weg zurück nach Paddington, kamen ihm die Menschenmengen, die sich von den Straßen in die Eingänge der U-Bahn-Station ergossen, wie ein unendlicher Strom vor: Der Verstand, dachte er, war von Natur aus nicht dafür geschaffen, die Vielzahl dieser angesammelten Leben in einer Großstadt, diese aufgetürmte Ballung von Lebensatomen aufzunehmen. Wenn Pia ihnen in diesen Massen entglitten war, war sie unauffindbar – wenn sie es wollte. Ihr Handy war die einzige dürftige Verbindung, die sie zu ihr hatten: Was, wenn sie nicht mehr anrufen würde oder es verlor? Wie konnten sie dann hoffen, sie aufzuspüren?

Als er von der U-Bahn in Paddington mit der Menge Richtung Ausgang schlurfte, schaute er kurz zum gegenüberliegenden Bahnsteig und war plötzlich sicher, Pia dort warten zu sehen. Sie überragte die Leute vor ihr und starrte dem einfahrenden Zug entgegen, das helle Haar auf Schulterhöhe links und rechts zu einem Schwanz gebunden, die schwarze Jacke bis zum Hals geschlossen. Wäre sie eine Unbekannte gewesen, dann hätte er ein ernstes, verträumtes Mädchen gesehen, nicht unattraktiv, aber altmodisch, irgendwie dünnhäutig und verletzlich. Paul rief ihren Namen, brachte die dem Ausgang zustrebende Menge durcheinander und kämpfte sich zur Kante des Bahnsteigs vor, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, winkte mit den Armen. Er bildete sich ein, dass sie den Kopf wandte und in seine Richtung schaute – andererseits schauten alle, und in dem Moment donnerte der Zug herein und verdeckte ihm die Sicht, bevor er seine Tochter vermutlich mit sich nahm. Abgeschnitten von ihr, stand er winkend da, das Objekt der allgemeinen trägen Aufmerksamkeit.

Für den Fall, dass sie auf einen anderen Zug oder auf ihn wartete, eilte er zum gegenüberliegenden Bahnsteig, doch als er dort ankam, war der Zug natürlich weg und Pia mit ihm, falls sie je dort gewesen war. Sofort begann er daran zu zweifeln, dass er sie gesehen hatte. Vermutlich war es ein anderes Mädchen gewesen, blond und groß wie Pia, im richtigen Augenblick erschienen, um seine Ängste zu schüren. Er war aufgewühlt von seiner übertriebenen Reaktion und seiner Enttäuschung, die sich, als er sich etwas beruhigte, in eine sich endlos drehende Schleife von Sorgen verwandelten. Auf der Rückfahrt im Zug telefonierte eine Frau auf einem Platz in der Nähe, für ihn nicht sichtbar, in voller Lautstärke und füllte jeden Spalt seiner Privatsphäre aus, sodass er sich nicht auf sein Buch konzentrieren konnte. »Ich finde, das ist ein schönes Gefühl … vorhin hast du gesagt, du willst weitermachen … für jeden, der sich emotional entwickelt … es ist eine andere Art von Schmerz, ein heilsamer …«

 

Als er nach Tre Rhiw zurückkam, lag der Garten noch im letzten, schräg einfallenden Sonnenschein; das Gras und die Sträucher glänzten, als wäre das Licht gelbes Öl. Der Zauber des schönen Frühlingswetters hielt an, doch die allgemeine Freude darüber war wegen des Klimawandels von Nervosität getrübt. Die Mädchen spielten mit den Ziegen und fütterten sie mit Gemüseresten. Joni hatte keine Angst vor Tieren und behandelte sie wie Freunde: Sie schlang den Arm um den Hals der Ziegen, hätschelte ihnen die Ohren und küsste ihre grau-getüpfelten rosa Lippen, wohl wissend, wie dreist und wirkungsvoll ihr Vorgehen war. Becky war zurückhaltender, bedacht auf die Gefühle der Ziegen, und bot ihnen mit ausgestreckter Hand vorsichtig Futter an, wie man es ihr beigebracht hatte. Die Tiere tolerierten die beiden und kauten mit wackelnden Bärten eifrig weiter, die fremdartigen Augen nach hinten gerichtet, als wären sie unfreiwillige Zeugen von Visionen. Elise saß mit Sonnenbrille auf einem der Liegestühle, die sie mit Stoffresten von ihrer Arbeit bedeckt hatte, und klimperte mit den Eiswürfeln in ihrem Campari; oben aus ihrem Kopf schien sich eine mit Trauben behängte phantastische Weinrebe zu winden. Sie winkte Paul mit ihrem Drink zu und sagte ihm, er solle noch einen Liegestuhl aus dem Haus mitbringen. Als er ihr erzählte, er glaube, Pia in Paddington gesehen zu haben, hielt Elise das für möglich: Schließlich trug sie eine schwarze Jacke, sie könnte auf der Rückfahrt von Südwales gewesen sein, nach einem Besuch bei Freunden im Dorf.

»Ohne uns Bescheid zu geben, dass sie hier war?«

»Vielleicht, wenn sie nicht will, dass wir wissen, was sie vorhat. Sie will nicht, dass du ihr Druck machst, wieder aufs College zu gehen.«

»Welche Freunde eigentlich?«

»Sie mag den jungen Willis.«

»Wie kann sie nur?«

Paul verstand sich nicht mit den Willis.

»Sie sind sich ziemlich ähnlich, findest du nicht?«, sagte Elise. »Pia und James.«

Sie versicherte ihm, dass er sich keine Sorgen machen müsse.

»Ich bin sicher, Pia geht es gut. Sie braucht wahrscheinlich ein bisschen Freiraum für sich. Annelies kann ziemlich erdrückend sein, die Gute.«

Elise zog den Rock ihres Kleids etwas höher, um ihre Waden der Sonne preiszugeben, streifte ihre Flipflops ab und streckte ihre kräftigen braunen Zehen aus, die Nägel zinnoberrot lackiert. »Machst du dir vielleicht nur Sorgen, weil du ein schlechtes Gewissen hast, nachdem ich dich jahrelang daran erinnern musste, Pia wenigstens anzurufen?«

Paul ging ins Haus, um sich einen Drink zu holen. In der langen, mit Steinplatten gefliesten Küche, gebaut wie eine Festung gegen das Wetter, verdichtete sich die Dunkelheit, während die tief eingelassenen Fenster noch im Licht erstrahlten; eine in Scheiben geschnittene Orange auf dem Tisch würzte die Luft. Er versuchte nicht daran zu denken, wie er Pia vernachlässigt hatte: Es war sinnlos, ein Sichgehenlassen, das ihr nichts nützte. In seinem Arbeitszimmer wühlte er in den Schachteln mit Evelyns Sachen herum: Bei bestimmten Gegenständen, die er herausnahm, kehrten Erinnerungen aus seiner Kindheit zurück: eine Keksdose aus Porzellan mit geflochtenem Griff, eine lasierte Schmuckschatulle, die eine Melodie spielte, wenn man den Deckel öffnete. Beides war nur zur Ansicht in einem Schrank mit Glastüren im Wohnzimmer aufbewahrt worden, als handelte es sich um religiöse Symbole; zusammengepackt in der Schachtel schienen sie noch immer schwach nach dem Filz zu riechen, mit dem die Borde ausgekleidet waren, auch wenn der Schrank bei Evelyns erstem Umzug zurückgelassen worden war.

Auf dem Boden der Schachtel lagen Ausgaben seiner Bücher – das über Hardys Romane, seine Doktorarbeit; das über Tiere in Kindergeschichten und sein letztes über Zoos. Er hatte sie seiner Mutter geschenkt, als sie erschienen waren, und sie hatte sie stolz auf ihr Regal gestellt und ihm versichert, sie würde sie lesen, auch wenn er sich nur vorstellen konnte, wie sie die Seiten vor ihren Augen pflichtschuldig verarbeitete und erleichtert das Ende erreichte, als hätte sie einen vorgeschriebenen, für sie unverständlichen Fortbildungskurs absolviert.