Das Jahr der Veränderungen - Tessa Hadley - E-Book

Das Jahr der Veränderungen E-Book

Tessa Hadley

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Beschreibung

Kates Temperament sei wie eine Naturgewalt, hat ihre Mutter Billie immer gesagt, großartig und unentrinnbar. Jetzt ist Kate dreiundvierzig, kinderlos und unverheiratet, und ihr Leben in London, ihr Job an der Uni, alles, was sie einmal erstrebenswert und aufregend fand, langweilt sie nur noch. Kurzerhand nimmt sie ein Jahr unbezahlten Urlaub, vermietet ihre Wohnung unter und zieht zurück nach Wales, um sich um Billie zu kümmern, die mit ihren dreiundachtzig Jahren immer vergesslicher wird. Hier, in der altehrwürdigen Villa Firenze am See, wo drei Generationen ihrer kultivierten jüdischen Familie zu Hause waren, ist die Zeit stehen geblieben. Aber in Kates Leben war Stillstand nie eine Option. Als sie ihren Jugendfreund David wiedertrifft, in dessen Ehe es gehörig kriselt, scheint eine Zerstreuung gefunden. Auch Davids siebzehnjähriger Sohn Jamie sucht Kates Nähe. Sie ist so ganz anders als die Mädchen in seiner Schule, und er verliebt sich in sie … Die neuen Verbindungen, die Kate in der alten Heimat knüpft, stellen ihr Leben auf den Kopf – wenn auch ganz anders, als sie es sich vorgestellt hat.

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Seitenzahl: 442

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Tessa Hadley

Das Jahr der Veränderungen

Roman

Aus dem Englischen von Christa Schuenke

Kampa

Eins

Nein, es war kein Zeichen. Kate weigerte sich, darin ein Zeichen zu sehen.

Sie fuhr sowieso nicht gern Auto. Sobald sie zu Hause ankam, würde sie den Wagen verkaufen; aber um ihr ganzes Zeug aus London wegzuschaffen, hatte sie ihn natürlich gebraucht. Auf der Rückbank stapelten sich Bücherkisten und Reisetaschen mit allen möglichen Habseligkeiten, die sie einfach nicht hatte zurücklassen können und die ihr nun im Rückspiegel die Sicht versperrten. Wenn sie Auto fuhr, lebte sie permanent in dem Bewusstsein, dass sie jeden Moment sterben könnte; darum trat sie, wenn sie bremsen musste, stets mit der verzweifelten Rücksichtslosigkeit einer Spielerin aufs Pedal, und genauso wechselte sie auch die Spur; doch das, was dann tatsächlich passierte, kurz nachdem sie den Brynglas-Tunnel an der Ausfahrt Newport verlassen hatte, das war nicht ihre Schuld. Das allgemeine Tempo war nicht besonders hoch. Sie hatte eigentlich so zeitig losfahren wollen, dass sie nicht in den Berufsverkehr kam, doch dann hatte sie Stunden und Minuten damit verplempert, die Schlüssel abzugeben und die benoteten Examensarbeiten in der Universität vorbeizubringen, und so war die Zeit mal wieder wie im Flug vergangen. Würde ihr Leben wohl jemals in den klaren Bahnen verlaufen, die sie ihm vorgezeichnet hatte? Und nun saß sie hier auf der mittleren Spur fest, im Regen und im winterlich trüben Dämmerlicht, zwergenhaft klein zwischen all den hoch aufragenden Trucks mit ihren vor Nässe dampfenden Rädern, mitten in einer langen Schlange aus Newport kommender Autos, hielt sich krampfhaft mit beiden Händen am Lenkrad fest und würde wahnsinnig gern rauchen, traute sich aber nicht, eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Armaturenbrett zu fummeln. Der Kater in seinem auf dem Beifahrersitz festgeschnallten Korb drehte sich mit angelegtem Fell im Kreis und drückte damit genau jene Mischung aus Unbehagen und Langeweile aus, die sie selbst empfand.

Und plötzlich fiel im Halbdunkel etwas vom Himmel. Kate dachte zuerst, es sei ein Bündel Schmutzwäsche, eingewickelt in ein Laken. Ehe sie die Katastrophe noch recht mitbekommen hatte, knallte das Ding auch schon seitlich an einen großen Containertruck auf der Kriechspur, und außerdem war es gar kein Bündel, das harmlos auseinanderfallen konnte, sondern entpuppte sich als feste Masse, die durch ihr Eigengewicht zurückgeschleudert wurde und auf das rote Auto unmittelbar vor ihr zugeflogen kam. Der Wagen musste ausweichen. Was blieb ihm weiter übrig? Das formlose graue Ding donnerte auf die rote Motorhaube, blieb an der Windschutzscheibe kleben, versperrte die Sicht und wurde, als der Wagen in die schnellere Außenspur hinüberschwenkte, nach vorne katapultiert, wobei es einen langen Flügel von sich streckte. Schneeweiße Federn, reihenweise angeordnet in perfekter Symmetrie und angestrahlt von lauter Autoscheinwerfern. Im nächsten Moment wurde es auf die Straße geschleudert und von dem herannahenden Chaos verschluckt. Auf der Überholspur fuhr dem Roten einer in die Seite und schob ihn auf den Mittelstreifen. Die Autos kamen angetanzt und blieben mitten auf der Fahrbahn stehen, wo gerade Platz war. Die eigentliche Katastrophe vollzog sich überraschend geordnet: Kate fuhr ganz gesittet und ohne viel Getöse auf einen weißen Lieferwagen auf, ihr kleiner Citroën beschrieb einen Halbkreis und kam auf der anderen Straßenseite, quer zur Fahrbahn, zum Stehen. Dann traf ihn irgendwas und schubste ihn ein paar Meter nach vorne. Sie war nicht verletzt, noch nicht mal besonders erschrocken, wie sie fand. Was für ein Theater, dachte sie. Schöne Begrüßung hier daheim. Nur der Kater protestierte mit empörtem Kreischen.

Nein, das war kein Zeichen, das war der reine Hohn.

Wundersamerweise schien niemand verletzt zu sein. Die Frau in dem roten Auto kletterte auf der Fahrerseite heraus und ging um den Wagen herum, um sich den Schaden zu besehen. Die anderen lenkten ihre Fahrzeuge, so gut es ging, auf den Standstreifen und warteten auf die Polizei. Kates Citroën hatte zwei ordentliche Beulen abgekriegt, sprang aber problemlos an. Allerdings hielt sie es nicht aus, im Auto sitzen zu bleiben, sondern ließ Sim alleine, stellte sich unter einen fremden Regenschirm und wurde auf diese Weise Teil jener merkwürdigen, stocknüchternen Schicksalsgemeinschaft. Man war sich einig, dass es ein Schwan gewesen sein musste; offenbar hatte er die Starkstromleitung gestreift und war abgestürzt. Ob er schon tot war, als er den ersten Truck traf, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen. Oder war’s doch bloß eine Gans? Ein Schwan, bestätigte jemand, der einen lang ausgestreckten Hals gesehen zu haben meinte. Kate schaute in die Richtung, in die die Leute zeigten; der Schwan war jetzt nicht mehr von der nassen, ölig-dunklen Fahrbahn zu unterscheiden, es war nur noch ein Etwas da, das aussah wie eine aufgeweichte Matratze.

Die Frau aus dem roten Auto – sie hatte eine gewisse poetische Bedeutung erlangt, ganz so, als sei sie von dem Vogel eigens auserkoren worden und nur gerade so noch mal davongekommen – kam herüber und mischte sich unter die Leute: blond, weißer Trenchcoat, den der Regen in kürzester Zeit dunkel färbte. Man fragte sie, ob es ihr gut gehe, sie nickte wütend, sah starr vor sich hin, wie um die Tränen zurückzuhalten, und wollte offensichtlich in Ruhe gelassen werden. Jemand lieh ihr ein Handy, sie telefonierte. Und nun wurde Kate bewusst, dass sie sie flüchtig kannte. An den Namen konnte sie sich nicht erinnern, nur daran, dass es die Frau von David Roberts war, Carols jüngerem Bruder. Carol war Kates beste Freundin – oder zumindest ihre älteste. Kate hatte die Frau vor ein paar Jahren ein, zwei Mal bei Carol getroffen und sie nichtssagend gefunden – bieder, eine Grundschullehrerin. Jetzt – wahrscheinlich hatten das Nachbeben des Unfalls und die Romantik des allgemeinen Überlebthabens ihre Urteilsfähigkeit in Mitleidenschaft gezogen – glaubte sie in dem eher grobknochigen Gesicht mit dem großen, verletzlichen Mund doch etwas zu erkennen, das man durchaus anziehend finden konnte: eine geradezu grimmige Scheu, als könnte sie, sobald man sich bemühte, ihr freundlich zu begegnen, zuschnappen. Sexuell konnte man dieses mürrische Wesen schon interessant finden, zumindest für eine gewisse Zeit. Allerdings war sie sowieso nicht der Typ Frau, der Kate gefiel; bestimmt mokierte sie sich über alles, was sie für intellektuelles Geschwafel hielt. Kate gab vor, sie nicht zu kennen, und dachte sich, dass das der anderen wohl auch am liebsten war. Kate war’s auf alle Fälle lieber so.

 

Billie, Kates Mutter, wohnte noch immer in demselben Haus, in dem sie einst zur Welt gekommen war. Auch Kate war dort geboren, genau wie Billie, in jenem großen alten Schlafzimmer, in dem niemand mehr schlief. Sam Lebowicz, Billies Vater, Inhaber einer Kette von Kurzwarengeschäften in den Welsh Valleys, hatte das Haus gekauft, als er 1910 geheiratet hatte; seine Frau hatte es auf den Namen Villa Firenze getauft, nach der Stadt, in der sie ihre Flitterwochen verbracht hatten. Es lag an einem kleinen See mit Ruderbooten, der den höchsten Punkt eines langen, schmalen, sanft ansteigenden und aus der eigentlichen Stadt hinausführenden Parks bildete; blickte man von diesem Park aus auf die dunstverhangene, in Blau und Violett changierende Hügellandschaft jenseits des Sees, so konnte man meinen, man befinde sich am Rande der Zivilisation; dabei hatte man den See in zwanzig Minuten umrundet, und auch die Stadt erstreckte sich in jenen Tagen nur ein paar Kilometer über ihn hinaus. Die Villa Firenze war ein düsterer Bau aus rotem Backstein, der neben dem See auf einer Anhöhe stand, mit einem steilen Vorgarten, durch den sich der Weg von der Straße aus im Zickzack durch einen weitläufigen Steingarten bergauf wand; einfacher war der Zugang von einer Seitenstraße aus. Das Haus hatte ein rundes Türmchen und im ersten Stock eine lange geschlossene Veranda, eine späte Nachahmung einiger hübscher präraffaelitischer Phantasiebauten im Stadtzentrum. Auf der Rückseite der Villa hatte es früher eine große Rasenfläche und allerlei Gesträuch gegeben und dahinter eine kleine Wildnis, in der Kate ihre Schaukel gehabt hatte; aber den größten Teil dieses Areals hatte Billie in den siebziger und achtziger Jahren an irgendwelche Investoren verkauft, und nun schaute man aus den hinteren Fenstern auf einen Wohnblock und auf das Eckhaus eines kleinen Privatgrundstücks.

Kate hatte ihre Londoner Wohnung vermietet und ihren Job aufgegeben (beziehungsweise ein Jahr unbezahlten Urlaub genommen); sie kam nach Hause, um sich um ihre Mutter zu kümmern, die dreiundachtzig war und immer vergesslicher wurde. Und außerdem langweilte sie ihr Londoner Dozentinnendasein. Sie war bereit für eine Veränderung, sie wollte nicht alt werden, indem sie immer wieder nur das Gleiche tat. Sie kam über die kiesbelegte seitliche Einfahrt, stellte den Motor ab und blieb in der Stille sitzen, wartete, bis das Gejaule und Gedröhne der verrückten Autobahn allmählich versickerte, und dachte, wenigstens werde sie nun nie mehr Auto fahren müssen. Die Beulen im Citroën waren ihr egal; sie würde ihn einfach verschenken. Da sie damit rechnete, dass Billie gleich herbeigeeilt käme, um sie zu begrüßen, blieb sie bei geöffneter Tür im Auto sitzen und rauchte endlich die Zigarette, nach der sie sich so sehr gesehnt hatte. Hier in der Dunkelheit umfing sie der vertraute Vorstadtfrieden. Der Regen blieb teils in der hohen Araukarie hängen, teils prasselte er auf die immergrünen Sträucher. Unten im See planschte eine unsichtbare Ente. Der kalte Duft nach Kiefern und bitterem Rindenmulch war wie der Geruch der Vergangenheit selbst. Sie machte Sims Korb auf und ließ den Kater raus, damit er sich auf ihrem Schoß festkrallen und ihr mit seinem Schwanz Fragezeichen ins Gesicht malen konnte. Er wusste, wo er war; Kate hatte ihn immer mitgehabt, wenn sie am Wochenende nach Hause kam. Das Auto hatte sie überhaupt nur angeschafft, weil es mit Sim in der Bahn so umständlich war.

Billie kam nicht herunter. Als Kate fertig geraucht hatte, nahm sie den Kater unter den Arm und stieg die Stufen zum Seiteneingang hinauf, von dem man zu einer langen Veranda mit Buntglasfenstern gelangte, auf der früher Zimmerpflanzen wuchsen. Ihren Schlüssel brauchte sie nicht, denn die Tür stand einen Spaltbreit offen, aber drinnen war es trotzdem stockfinster. Sie ging in die Diele und machte Licht. Die Diele war holzgetäfelt und hochherrschaftlich, und an dem monströsen bronzenen Kronleuchter mit seinen vier Flammen, der, solange sie denken konnte, wie ein umgedrehter Kessel an Ketten von der Decke hing, brannte nur eine einzige schwache Glühbirne.

»Billie?«, rief Kate. »Wo bist du denn? Ich bin wieder zu Hause! Ich bin da und bleibe hier!«

Suchend schaute sie in alle dunklen Räume und behielt Sim dabei unterm Arm, obwohl er mauzte und sich mit seinen kräftigen Hinterbeinen heftig wehrte. Er war ein kohlrabenschwarzer Kater mit einem harten kleinen Kopf, gleichsam ein Symbol für die besondere Stärke seines Katzenwillens.

»Mummy? Wo bist du denn?«

Sie packte Sim noch ein wenig fester und stieg die breite Treppe am Ende der Diele hinauf; der Treppenabsatz dort war stets in vielfarbiges Licht getaucht dank einer Straßenlaterne, die durch das Buntglasfenster schien, auf dem junge Mädchen plaudernd um einen alten Schaduf herumstanden und anmutig Wasserkrüge auf den Schultern balancierten. Billie hatte neuerdings die Angewohnheit, jede Nacht in einem anderen Zimmer zu schlafen, aber niemals in dem großen alten Schlafzimmer, das nach vorn hinausging, und sie hatte Kate geschworen, dass sie auch nie in deren Zimmer übernachtete. Kate fand sie schließlich in einer kleinen Kammer im hinteren Teil des Hauses, in der die Ersatzstühle aufbewahrt wurden, die Billie unten aufstellte, wenn sie eines ihrer Konzerte gab. Das Bett war ordentlich bezogen – gestreifte Bettwäsche, ein Kissenbezug und Decken –, aber Billie lag unter einer der schmutzigen alten Seidendecken, die schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden waren. Sie schlief ganz ruhig, nicht als halte sie ein Mittagsschläfchen, sondern als sei schon Schlafenszeit; sie hatte ihr Nachthemd an, obwohl es erst sechs Uhr abends war, und auf dem Nachttisch standen ein Glas Wasser und ihr kleiner Tiegel mit Gesichtscreme. Dabei hatte Kate mittags, bevor sie losgefahren war, extra noch angerufen und Billie daran erinnert, dass sie kam. Sie hatte fest damit gerechnet, dass das Abendbrot fertig war, wenn sie eintraf, oder wenigstens, dass der Gasheizofen an war und der Fernseher lief.

Sie ließ Sim los und blieb noch eine Weile im Schummerlicht, das aus dem Treppenhaus hereinfiel, bei ihrer Mutter sitzen. Sie hatte immer noch ihren dicken schwarz-weiß karierten Wintermantel an, doch trotzdem spürte sie nun, wie ihr die Kälte in die Füße stieg und an den Beinen hochkroch. Billie schlief wie ein Engel. Genau das war es, was ihr in den Sinn kam, als sie Billie dort so liegen sah: ein alter Engel, und die rosige Haut so dünn, dass man darunter den perfekt geformten Schädel mit seinen tiefen melancholischen Augenhöhlen und der Nase, die als schmaler, starker Bogen aus dem Gesicht ragte (und die Kate geerbt hatte), durchschimmern sah. Ihr schneeweißes Haar lag offen auf dem Kissen ausgebreitet, ohne den ordentlichen französischen Twist, den sie sich immer noch mit ein paar schnellen Handgriffen zusammenstecken konnte; Handgriffe, an die sie sich vielleicht auch dann noch erinnern würde, wenn sie einmal alles andere vergessen hätte. Sie schlief immer auf dem Rücken, Kate kannte sonst niemanden, der so schlief – wie ein Kind; ihr Mund stand offen, sie sabberte ein bisschen und schnarchte leise. Viel Kinn hatte sie nicht; hatten Engel vielleicht nie. Kate kamen plötzlich Zweifel, vorerst fühlte sich sie sehr allein in ihrem neuen Leben. Die Vorstellung, sich eine Schürze umzubinden und alles in Ordnung zu bringen, das Haus wieder zu einem Zuhause zu machen, kleine nahrhafte Gerichte für ihre Mutter zu kochen und die neuen Zimmerpflanzen auf der Veranda zu pflegen, gefiel ihr sehr. Aber wirklich vorstellen konnte sie es sich nicht. Eigentlich war Häuslichkeit gar nicht ihr Ding. Sie zog Billies Tür hinter sich zu, schlich sich, um ihre Mutter nicht zu wecken, wieder in die Diele und nahm den Hörer ab. Es war immer noch dasselbe dicke alte braune Wählscheibentelefon, das sie schon in den siebziger Jahren gehabt hatten, bevor Kate zum Studium gegangen war.

»Max?«, sagte sie.

Dass sie Max anrief, war echt nicht in Ordnung. Max hatte Kate vier Jahre lang abgöttisch geliebt, aber irgendwann hatte er schließlich begriffen, dass er nur eins haben konnte: entweder sie oder seine Selbstachtung, beides ging nicht. Da hatte er sich gerettet und sich stattdessen eine süße Kleine gesucht, mit der er Kinder kriegen konnte. Diese Veränderung war noch ganz frisch, sodass die Kinder bisher lediglich als Idee existierten; und sich anpassen zu lernen, war noch nie Kates Stärke gewesen.

»Katie, das ist echt kein guter Zeitpunkt«, sagte Max.

Seine sanfte amerikanische Stimme, die sie manchmal richtig krank gemacht hatte – zu nachgiebig, zu freudig –, schien Kate in diesem Moment alles zu versprechen, was man sich von der Großstadt wünschen kann: guten Wein in großen Gläsern, weiche Designersofas, Gespräche über Artikel in der London Review of Books, teure Elektronik aus den richtigen Geschäften.

»Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«

»Ich hab dich gewarnt. Wo bist du?«

»Ich bin hier. Zu Hause. Sie hat vergessen, dass ich komme, sie ist schon ins Bett gegangen, sie schläft ganz fest, sie hat jedes Gefühl für Tag und Nacht verloren. Max, was wird nur aus mir werden, wenn ich hierbleibe? Du kennst mich, ich hab ja selbst Probleme, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Und sie hatte die Haustür sperrangelweit offen gelassen. Ich glaub, ich kehre einfach auf dem Absatz um und fahr wieder zurück. Sie wird nicht einmal wissen, dass ich hier war, oder? Wahrscheinlich weiß sie nicht mal mehr, dass ich versprochen hab zu kommen. Meinst du, ich könnte meinen Job in der Abteilung wiederkriegen?«

»Sollten nicht morgen deine Mieter bei dir einziehen?«

»Ich ruf gleich morgen früh an und hol mir die Schlüssel zurück. Ich zahl ihnen eine Entschädigung. Ich spiel Theater. Erzähl ihnen, dass Billie gestorben ist.«

»Das kannst du nicht machen, Katie.«

An der Art, wie er jedes seiner Worte genau abwog, merkte sie, dass Sherie mit im Zimmer war oder zumindest von der Küche aus mithörte und dabei das Abendessen aus dem River-Café-Kochbuch zubereitete. Max hätte Sherie gegenüber niemals so getan, als sei nicht Kate am anderen Ende, sondern jemand anders, gleichzeitig aber lag ihm daran, Sherie sein Bedauern und auch seine Distanziertheit gegenüber Kate zu signalisieren.

Voller höhnischer Verachtung knallte Kate den Hörer auf, Verachtung, weil Max sich so leicht hatte in die Enge treiben lassen. In die Enge treiben, so nennt man das doch, oder? So und nicht anders.

Sie war nicht mal dazu gekommen, ihm die Sache mit dem Schwan zu erzählen.

Sie sah sich in der Diele um. Wenigstens war es sauber, soweit sie das im Schummerlicht erkennen konnte, jedenfalls; das hieß, dass, wie vereinbart, dreimal in der Woche die Frau von der Firma Mopp & Bucket zum Putzen kam. Vielleicht hatte die Frau von Mopp & Bucket auch alle Betten bezogen, damit Billie reihum in allen schlafen konnte. Abgesehen von Sim war bis jetzt das einzige Indiz für Kates Ankunft ihre Handtasche, die sie auf der Eichentruhe abgestellt hatte, bevor sie nach oben ging: sehr weiches, dunkelbraunes Leder, geräumig, italienisch, mit einem Verschluss aus Schildpatt. Zärtlich dachte sie an ihr kultiviertes, professionelles Ich, das es verstanden hatte, eine so schöne, unkonventionelle Tasche auszuwählen und diese so zu tragen, dass sie damit auffiel. Dieses Ich konnte doch unmöglich hierher zurückkommen und sich an diesem verrückten Ort mitten im Nirgendwo niederlassen. Ausgerechnet in Wales, du lieber Himmel! In diesem Moment kam Sim aus dem Küchenkorridor stolziert. Sie nahm ihn hoch, schnappte sich die Tasche, zog die Haustür hinter sich zu und zwängte Sim wieder in seinen Reisekorb; er spuckte vor Wut und verfluchte sie in der Katzensprache. Dann zündete sie sich noch eine Zigarette an, stieg ins Auto und rauchte.

Aber sie wäre gar nicht in der Lage, wirklich die ganze Strecke bis nach London zurückzufahren. Sich noch einmal dem Albtraum des Verkehrs zu stellen, das würde sie nicht hinbekommen. Ganz abgesehen davon, dass sie auch gar nichts mehr hatte, wohin sie hätte zurückkehren können.

Und außerdem, jetzt, wo sie Billie hatte schlafen sehen, fand sie die Vorstellung, dass die Arme ganz allein in einem leeren Haus aufwachte, einfach unerträglich.

 

Als David Suzie sah, wusste er sofort, dass irgendwas nicht stimmte. Er hatte schon vorhin, als er vor dem Haus geparkt hatte, bemerkt, dass ihr Auto nicht da war, hatte sich aber nur gedacht, sie bringe wohl Hannah zum Ballettunterricht oder zu einer Freundin zum Übernachten oder sei mit Joel zum Schwimmen gefahren; er hatte den Terminkalender der Kinder nicht immer im Kopf. Er war spät dran, er hatte auf dem Anrufbeantworter Bescheid gesagt, dass er später heimkommen werde, er müsse noch die Unterlagen für eine Gesundheitsschutzkonferenz am nächsten Tag fertig machen. Als er auf das Haus zuging, sah er durch das erleuchtete Küchenfenster seine Familie Pizza essen und fand es ganz schön spät fürs Abendbrot. Sie konnten ihn nicht sehen, weil es draußen dunkel war. Sie wohnten in einer schmucklosen Neubausiedlung in einem Ausläufer der wachsenden Stadt, nah bei der Autobahn, die die Peripherie umrundete; dahinter gab es nur noch einen Golfplatz, dann ein öffentlich zugängliches Grundstück mit einem alten Haus darauf, dann Felder. David hielt einen Moment inne, bevor er die Hintertür aufschloss; er genoss es, allein zu sein in der summenden, durch das Geräusch der Autobahn immer wie angespannt wirkenden Dunkelheit: kein Dröhnen, nur ein schütteres Gemurmel aus Tempo und Bewegung, das überallhin drang und irgendwie allem die Substanz entzog und die Beständigkeit. David störte das nicht, er empfand es sogar als eine Art Leichtheit.

»Wo hast du denn das Auto abgestellt?«, fragte er, während er sich auf dem Türvorleger die Füße abtrat.

Suzie war dabei, etwas in die Mikrowelle zu stellen, sie drehte sich nicht um.

»Voll reingedonnert«, sagte Hannah genüsslich. Sie stand am Tisch, aß ihre Pizza und hatte ein Stückchen Tomate am Kinn. Sie liebte Krisen. Ganz im Gegensatz zu Joel, der mit seinen Beanie Babies spielte und alles um sich herum vergessen zu haben schien.

»Du machst wohl Witze, oder?«

»Ich war in einen Unfall verwickelt«, sagte Suzie ganz ruhig. »Ich war auf dem Heimweg von der Fortbildung im Lehrerzentrum in Gwent. Aber mir fehlt nichts. Das Auto vor mir ist in einen LKW reingefahren, der aus einer Seitenstraße kam. Ein Wunder, dass niemand verletzt wurde. Bloß mein Auto ist hin – Totalschaden.«

»Großer Gott«, sagte David. »Warum hast du denn nicht angerufen?«

Suzie zuckte die Achseln. »Wozu? Es ging mir doch gut.«

Aber als sie sich umdrehte, wusste er, dass es ihr nicht gut ging. Suzie war eigentlich ganz robust, die ließ sich nicht so leicht aus der Bahn werfen; ihr Gesicht war irgendwie ein wenig spitz nach vorn gezogen und in sich geschlossen, mit seinem sandfarbenen Teint und dem hellen Flaum, den man sehen konnte, wenn das Licht aus einem ganz bestimmten Winkel kam, hatte es etwas von einem Fuchs. Sie war groß, schlank und grobknochig, ihre breiten Schultern stemmten sich trotzig gegen jede Herausforderung; doch jetzt war es, als sei etwas in ihrem Innern aus der Verankerung gerissen, als habe sie einen unter Strom stehenden Draht berührt, das Haar klebte ihr am Kopf wie eine angetrocknete dunkle Matte. Und ihre schockstarr aufgerissenen blauen Augen erschreckten ihn.

»Außerdem hab ich ja Giulia angerufen«, sagte Suzie und konzentrierte sich darauf, Joels Pizza zu zerschneiden. Giulia war Suzies Schulleiterin an der Ladysmith School und ihre Freundin.

»Für sie war es einfacher, von der Schule aus rüberzukommen und mich nach Hause zu fahren, nachdem ich meine Aussage bei der Polizei gemacht hatte. Und dann hat sie darauf bestanden, mich ins Krankenhaus zu bringen, damit ich mich untersuchen lasse. Wir hatten ja eh ausgemacht, dass Jamie die Kinder abholt, weil ich mir schon gedacht hatte, dass ich mich vielleicht verspäte. Und sie haben gesagt, mir fehlt nichts. Ich bin nur ein bisschen durcheinander.«

»Du hättest mich wirklich anrufen sollen.«

Sie sah ihn an und versuchte zu lächeln. Als sie Joel seinen Teller auf den Tisch stellte, sah er, dass ihr die Hände zitterten.

»Ist doch egal«, sagte sie. »Spielt doch jetzt eh keine Rolle mehr.«

David zwang sie, ihm genau zu beschreiben, wo sich der Unfall ereignet hatte; er wollte verstehen, warum dieser LKW so unvorsichtig, ja geradezu kriminell in den Verkehr eingebogen war. Suzie konnte sich nicht mehr genau erinnern. Sie sagte, es sei alles sehr schnell gegangen. Er stellte sich das Chaos vor, den Regen, das Verhängnis, an dem sie so haarscharf vorbeigeschrammt war.

»Wo ist denn Jamie?«, fragte er ärgerlich. »Warum hilft er denn nicht mit?«

Jamie war Davids siebzehnjähriger Sohn aus erster Ehe.

»Ruf ihn. Frag ihn, ob er Pizza möchte.«

»Du solltest nicht hier stehen und alles selber machen. Warum gehst du nicht und legst dich hin? Ich kümmere mich. Ich bringe dir einen Tee, oder was Alkoholisches?«

»Mir ist es ehrlich gesagt lieber, wenn ich Beschäftigung habe.«

Jamie war in seinem Zimmer oben im Dachgeschoss. Er lag rücklings auf dem Bett und rauchte, und als David die Falltür aufmachte und zu ihm raufgeklettert kam, drehte er nicht mal den Kopf; der ganze Raum stank nach Dope. David überkam wieder das nur zu vertraute Gefühl von Ohnmacht; er wusste nicht, wie er mit dem Jungen reden sollte, wie dahinterkommen, was in seinem Kopf vorging, oder ihm etwas verbieten konnte, das nun mal verboten gehörte. Jamie geriet weder in Rage noch kämpfte er, wie er einfach alles ignorierte, was sie zu ihm sagten: »Zieh nicht die Leiter hinter dir mit hoch, rauch nicht, rauch nicht im Haus, bleib nicht über Nacht weg, ohne uns zu sagen, wo du bist.« Wenn sie empört waren und die Fassung verloren, lächelte er, als würde er sich für sie schämen. David öffnete das Dachfenster, damit der Gestank abziehen konnte.

»Suzie fragt, ob du Pizza möchtest.«

»Geht’s ihr jetzt wieder gut?«, sagte Jamie. »Tut mir leid mit dem Schwan.«

»Welcher Schwan?«

»Hat sie dir das nicht erzählt? Na, der, der ihr aufs Auto gestürzt ist.«

»Auf ihr Auto? Wovon redest du denn?«

Er dachte sich, der Junge sei vielleicht vom Dope benebelt.

Jamie richtete sich auf und stützte sich auf einen Ellenbogen. Er trug ein zerrissenes Unterhemd; er schüttelte sein dichtes kupferbraunes Haar zurück, das er sich selbst auf Schulterlänge abgeschnitten hatte. Irgendetwas an dem breiten Gesicht mit den paar Pubertätspickeln über den kräftiger werdenden Wangenknochen, den ausgeprägten Augenringen und den schwarzen, wie mit dem Bleistift hingekritzelten Brauen rührte David im Innersten; er war es nicht gewohnt, Männer schön zu finden. Der Junge war wie seine Mutter (was nicht gerade beruhigend war). Am Ende des Bettes sah er Jamies große braune Füße, nackt und riesig, mit schmutzigen Sohlen und rauen, sehnigen Knubbelzehen; was war nur aus den weichen Kinderfüßen geworden, als David mal einen Moment nicht hingeschaut hatte.

»Ein Schwan ist runtergestürzt und genau auf ihr Auto, sie musste rüberschwenken auf die Überholspur.«

»Dass es ein Schwan war, hat sie mir gar nicht erzählt. Vielleicht wollte sie die Kinder nicht erschrecken.«

»Er muss eine Stromleitung gestreift haben. Dann ist er seitlich gegen einen LKW geprallt und dann auf ihre Motorhaube.«

Einen Augenblick lang sah David das Bild deutlich vor sich: Was für ein Drama, überhaupt nicht Suzies Ding. »Weil, sie weiß doch, wie Hannah ist«, sagte er. »Die würde sich doch über einen Schwan mehr aufregen, als wenn Menschen verletzt worden wären.«

»Sie haben aus dem Krankenhaus angerufen. Giulia war bei ihr.«

Wieder einmal spürte David Zorn in sich aufwallen. Wenn er und Suzie in letzter Zeit Meinungsverschiedenheiten hatten – zum Beispiel über die Frage, ob sie Hannah auf die private Mädchenschule nach Howells schicken sollten –, hielt Suzie ihm bisweilen vor, Giulia sehe die Sache aber soundso, Giulia sage aber das und das, und dabei merkte sie weder, dass sie das tat, noch, dass es ihn störte. Giulia war gegen die Privatschule, wie aus der Pistole geschossen, ratterte sie das ganze Sammelsurium der sozialen Probleme bei den Schülern ihrer eigenen Schule runter, sie bezahlte aus eigener Tasche die Taxikosten für eine Familie von Roma-Kindern, die jeden Tag vom anderen Ende der Stadt zur Schule fahren mussten. David mochte sie, fand aber, sie handele im Allgemeinen zu impulsiv und aus einem gefährlichen Idealismus heraus. Manchmal, wenn er heimkam, war kein Mensch zu Hause, weil sie alle bei Giulia waren. Oder Giulia und Suzie saßen bei ihm am Küchentisch, tranken Wein und unterhielten sich angeregt und ohne groß zu überlegen, wie Frauen das halt so taten, sie hatten Spaß, und er fühlte sich ausgeschlossen.

 

Die Kinder reagierten noch nachträglich auf den Unfall. Hannah hämmerte sich mit heißen Wangen durch ihre Klavierübungen und wusste kaum, wohin mit ihren überschießenden Gefühlen. Als Suzie sie zurechtwies, weil sie Joel gekitzelt hatte, obwohl er das hasste, weinte sie übertrieben laut und lange. Joel blieb erst mal stumm und reglos in der Badewanne liegen, und dann bibberte er in seinem Spiderman-Pyjama und weigerte sich, ins Bett zu gehen, weil in seinem Zimmer der Mond durchs Fenster schaute. Als Baby hatte er sich immer vor dem Mond gefürchtet. David ging ihm seine Gutenachtgeschichte vorlesen, und als er wieder nach unten kam, fand er Suzie in der Küche mit lauter winterlichen Zweigen aus dem Garten für ihren Januartisch in der Schule: ein zerfledderter vom gelben Jasmin, ein knorriger vom Apfelbaum und einer von der Silberbirke mit Knospen dran, die sich schon zu röten begannen. Ihre Haare waren wieder nass, es war, als bringe sie den kalten Atem des regendurchtränkten Gartens mit in die zentralgeheizte Luft. Sie gab sich sehr beschäftigt, band die Zweige mit Bindfäden zusammen. Suzies Hände waren groß und nicht gerade schön, aber geschickt darin, Sachen mit der Kinderschere auszuschneiden, Schnürsenkel zuzubinden und aufgeschürfte Knie mit Zaubersalbe einzureiben.

»Du solltest morgen nicht in die Schule gehen.«

»Ich will aber«, sagte sie entschlossen, ohne ihn anzusehen. »Es geht mir wirklich gut.«

»Dann nehme ich dich mit in die Stadt.«

»Das brauchst du nicht. Menna holt mich ab. Die neue Lehrerin, die Mutterschaftsurlaubsvertretung.«

Er wartete, dass sie ihm endlich erzählte, was wirklich auf der Autobahn passiert war, aber sie sagte nichts. David guckte noch die Spätnachrichten, dann ging er ins Bett; er gab sich Mühe, dem roten Faden in dem Artikel über Tiermedizin zu folgen, den er eigentlich vorm Einschlafen noch lesen wollte, und horchte auf das laute Gurgeln des Wassers, das irgendwo aus einer mit Laub verstopften Dachrinne lief.

Suzie legte noch die saubere Wäsche zusammen und räumte die Stapel ordentlich weg. Sie war ausgesprochen pingelig und hatte auch einen ziemlichen Putzfimmel: Die Kinder hatten jeden Tag frische Sachen an, der Wäscheschrank war prall gefüllt mit gebügelten Laken, Bett- und Handtüchern. Das Haus war frisch renoviert gewesen, als sie es vor vier Jahren gekauft hatten, aber Suzie hatte inzwischen trotzdem alle Zimmer noch mal neu gemalert. Überall waren Spuren ihres Wirkens sichtbar: an den Raffhaltern für die Vorhänge, den Zierstreifen auf den Tapeten, den Potpourrischalen, den aus Eichenholz geschnitzten Zugschaltern der Lampen, den Schalen mit Glaskieseln, den blühenden Zimmerpflanzen. Die Spielsachen der Kinder wurden jeden Abend in die akkurat beschrifteten Aufbewahrungsboxen geräumt. Der einzige Raum, der vor ihr verschont geblieben war, war Jamies Dachkammer. Jamie hatte ihr einmal seelenruhig erklärt, falls sie dort jemals etwas anrühren sollte, wäre er weg, und Suzie hatte eingewilligt und gesagt, wenn er unbedingt in einer Räuberhöhle leben wolle, werde sie sich nicht einmischen. Früher hatte es zwischen den beiden ständig gekracht, obwohl sich Suzie schon um Jamie gekümmert hatte, als er noch klein war; in letzter Zeit war es aber besser geworden. Also war die Dachkammer kahl und weiß getüncht, ohne Teppiche und ohne Jalousie am Oberlicht, Jamies Bücher waren an den Wänden aufgestapelt, seine Klamotten lagen auf einem Haufen, und schlafen tat er in schmutzigem Bettzeug, das er alle paar Monate selber wechselte.

Schließlich räumte Suzie ihre Sachen weg und zog sich aus, um zu duschen; befangen, mit zusammengezogenen Schultern, nestelte sie an ihren Kleidern herum, als sei ihr bewusst, dass sie beobachtet wurde. Normalerweise war sie fröhlich und locker; als sie das erste Mal miteinander schliefen, war er schockiert gewesen, wie bereitwillig sie sich ausgezogen hatte.

»Warum hast du mir nichts von dem Schwan erzählt?«, fragte er und guckte über den Rand seiner Lesebrille hinweg zu, wie sie sich mit ihrem T-Shirt beinah strangulierte. Als sie sich endlich befreit hatte, standen ihr die noch immer regenstarren Haare wie eine Krause aus gesträubten Federn ums Gesicht, als sei sie wütend über seine Frage.

»Woher weißt du denn das?«

»Von Jamie. Du hast’s ihm doch erzählt.«

»Ach ja? Kann ich mich gar nicht dran erinnern.«

Sie setzte sich in Unterwäsche auf die gepolsterte Kommode am Fußende des Betts und schlang die Arme um den Oberkörper, ihr langer Rücken war gekrümmt, ihre Beinahe-Nacktheit war ihm so vertraut, als wär sie eines seiner Kinder.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich will dich ja nicht drängen, es mir zu erzählen, wenn es dich so aufregt. Das einzig Wichtige ist, dass du unverletzt bist.«

»Es wird dir nicht gefallen«, sagte Suzie.

»Was wird mir nicht gefallen?«

»Das Gefühl, das ich hatte, als ich das Ding auf mich zukommen sah.«

»Ach komm, erzähl schon. Warum sollte mir das denn nicht gefallen?«

Sie blickte auf; ihr Gesicht war überschattet von der Anstrengung des Denkens.

»Als das Ding da plötzlich vom Himmel fiel und auf mich zugestürzt kam, da dachte ich, es ist Francesca.«

»Du lieber Himmel.«

Francesca war Davids erste Frau, Jamies Mutter; Suzie hatte sie nie kennengelernt. Sie hatte sich umgebracht, war aus dem Fenster gesprungen, als Jamie drei war, nachdem sie sich von David getrennt hatte und in eine Sozialwohnung im neunten Stock eines Hochhauses gezogen war.

»Ich hatte überhaupt nicht an sie gedacht. Ich denke nie an sie. Und dann: Knallt da was auf meine Motorhaube. Ich wusste einfach, rein intuitiv, dass sie das ist.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Na bitte, wusst ich’s doch, jetzt bist du sauer.«

David setzte die Lesebrille ab und faltete sie zusammen.

»Ich bin weder sauer noch sonst irgendwas, ich bin bloß der Meinung, dass das überhaupt nichts zu bedeuten hat. Wenn man im Schock ist, bringt das Gehirn allen möglichen Müll nach oben.«

»Sie war doch kein Müll.«

Er war geduldig, wandte den Blick ab. »Ich meinte ja auch nicht sie, natürlich nicht. Ich hab bloß gemeint, dass du das, was dir heut passiert ist, irgendwie mit ihr in Verbindung bringst.«

»Wir haben nie über sie geredet.«

Er zuckte die Achseln. »Warum auch? Was könne es denn da noch zu sagen geben – nach all der Zeit?«

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für ein Schlag war, der mich da getroffen hat, was für ein schwerer Aufprall: Das Auto ist richtig hochgehüpft, hochgehüpft ist es. Für einen Schwan war’s eigentlich viel zu schwer. Und dann war plötzlich alles dunkel. Ich hatte gar keine Zeit, mir eine rationale Erklärung zu überlegen.«

»Aber inzwischen kennst du ja die rationale Erklärung.«

»Ja, könnte sein.«

Jetzt reichte es David allmählich: Suzie war doch immer so vernünftig gewesen, darum hatte er sie doch geheiratet.

»Ja«, sagte er entschieden, »inzwischen kennst du sie.«

»Ja.« Suzie stand auf und ging ins Bad, um zu duschen.

»Hast du Giulia diesen Unsinn auch erzählt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, niemandem.«

Und dann, nachdem sie geduscht hatte und die Nachttischlampen aus waren, schlief Suzie trotz allem sofort ein: auf der Seite, mit dem Rücken zu ihm, die Knie angezogen, leicht durch die Nase atmend und eine saubere Wärme ausstrahlend, die nach ihrem Shampoo roch. David aber lag ernüchtert wach. Viel später hörte er, wie sich Jamie katzenhaft durch seine Falltür herunterließ und durchs Haus streifte, sich in der Küche etwas zu essen nahm und sein Fahrrad durch die Haustür nach draußen bugsierte; der Junge fuhr nachts stundenlang Rad, und dann schlief er den halben Tag und schwänzte wahrscheinlich das College. David versuchte sich vorzustellen, wie das wohl wäre, schlafen zu gehen und aufzuwachen, wann es einem passte, total selbstbestimmt zu leben, ohne ständig an die anderen denken zu müssen, ohne die harten, einengenden Zwänge des Erwachsenenlebens.

 

David und Suzie waren sich zum ersten Mal in London begegnet, im Regent’s Park. Und weil sie beide dort noch nie zuvor und auch danach nie mehr gewesen waren, blieb der Park mit seinen breiten sonnigen Alleen, seinen von Rabatten mit langstieligen Blumen gesäumten Blickfluchten, seinen plätschernden Springbrunnen in ihrer Phantasie ein heller, freier Ort. David, der damals im Guy’s Hospital arbeitete, hatte einen freien Vormittag: Er fuhr Jamie in seinem Kinderwagen spazieren. Suzie, die im vierten Semester ihres Lehramtsstudiums an der Goldsmiths University war, schwänzte an diesem Tag ihre Vorlesungen. Jamie war eigentlich zu alt für den Kinderwagen, aber er weigerte sich zu laufen: Er saß da, die Knie hochgezogen fast bis unters Kinn, beugte sich begeistert vor, verwurstelte die schlabbrige alte gelbe Decke zu seinen rituellen Knoten, nuckelte an dem Zipfel, den er sich um den Daumen gewickelt hatte, und guckte, so geschützt, missmutig in die Welt. Er hatte sich an jenem Morgen im Park verletzt – wahrscheinlich hatte er, im Wagen sitzend, den Fuß am Boden schleifen lassen, und David war aus Versehen drübergefahren, das passierte alle naselang. Suzie war eine große Blonde in einem ärmellosen Kleid mit Blümchenmuster, die zufällig vorbeikam: Anfangs hatte ihr David bloß verübelt, dass sie sein Missgeschick mit angesehen hatte, seine Hilflosigkeit, sein schreiendes Kind. Das Jahr nach Francescas Tod war das schlimmste seines Lebens gewesen.

Suzie schleckte ein Eis. Sie blieb stehen und sah Jamie an.

»Ob er vielleicht auch eins will?«

David hatte ihn aus dem Kinderwagen gehoben und auf eine Parkbank gesetzt, um sich seinen Fuß anzuschauen (nur eine leichte Prellung); Suzie hatte ebenfalls auf der Bank Platz genommen und ihm zaghaft die Eistüte hingehalten.

»Wenn du das haben möchtest«, sagte sie, »dann musst du aufhören zu weinen und dich zu mir auf den Schoß setzen.«

Jamie hatte sie argwöhnisch angeschaut, war dann aber zu Davids Überraschung zu ihr auf den Schoß geklettert; er war kein Kuschelkind, ließ es aber zu, dass sie ihn an die Brust drückte, und dafür leckte er an ihrem Eis; nach und nach hörte er auf zu schluchzen. Es sah ein wenig ungeschickt aus, wie sie ihn in ihren sommersprossigen Armen hielt, sie hatte anscheinend nicht viel Umgang mit kleinen Kindern.

»Ich hab bloß Angst, er wird Sie vollkleckern.«

»Kann er ruhig machen. Ist eh nur ein alter Fummel.«

Als David darauf erwiderte, das Kleid sei doch sehr hübsch, war das die reine Höflichkeit, er achtete nicht groß darauf, was Frauen anhatten; aber Suzie hatte ihn missverstanden. Später gestand sie ihm einmal, sie sei damals nur stehen geblieben, weil er ihr gefallen habe.

»Wo ist denn seine Mutter?«, fragte sie und taxierte David unverhohlen.

Diese kleine Szene mit dem Kind, das sich beruhigt hatte und brav auf ihrem Schoß saß, war alles andere als beispielhaft für das, was später folgen sollte. Suzie hatte es nervend und schwierig gefunden, für Jamie die Mutter zu spielen, Jamie hatte es ihr nicht leicht gemacht. In dieser entscheidenden Stunde aber war Suzies unkomplizierte Offenheit David wie ein Ausweg aus dem dunklen Labyrinth seiner Probleme vorgekommen.

Zwei

Eines Morgens rief Carol Roberts an, um mal zu hören, was bei Kate so los sei. Sie und Kate waren zusammen zur Schule gegangen und danach in London auf dem University College gewesen; das war alles lange her. Von den Mädchen aus ihrer alten Clique war Carol vielleicht die, die sich am wenigsten verändert hatte: Im privaten Umgang war sie immer noch schüchtern, brüsk, ungraziös, großzügig; sie hatte immer noch ihre nicht zu bändigenden strohgelben Locken, die allerdings dunkler wurden und in Silber übergingen, was besser zu ihrer robusten, eckigen Statur und ihrem rötlichen Teint passte. Carol hatte jahrelang in Wales bei einer großen Wohnungsbaugesellschaft gearbeitet, die sie inzwischen leitete. Ihr Leben war zwar unglaublich vollgepackt mit Arbeit, und sie war ohne jeden Zweifel sehr erfinderisch und wahnsinnig beeindruckend in diesem Leben, über das sie sich niemals beklagte, auch wenn sie hin und wieder stöhnte und sich, einfach vor Erschöpfung, flach auf den Boden legte oder lauthals auf die anderen Gesellschafter schimpfte oder einen riesengroßen Schluck Gin in ihren Tonic verlangte, aber selbstverständlich würde sie sich trotz allem die Zeit nehmen, Kate zu besuchen.

 

Sie parkte ihr Auto am See und ging dann den steilen Zickzackweg durch den Steingarten hinauf, wie sie es immer tat, aus Nostalgie, weil sie und Kate früher hier gespielt hatten, dass sie in der französischen Résistance kämpften oder Revolutionäre auf der Flucht vor der Staatspolizei seien. Freundinnen waren sie erst geworden, als sie schon dreizehn oder vierzehn waren, aber Kate besaß eine blühende Phantasie, sie spielte immer noch ihre ausgedachten Spiele, auch als die meisten das längst hinter sich hatten. Am oberen Ende des Zickzacks angelangt, spähte Carol durch die Fenster in das leere Esszimmer, zwängte sich dann durch die wild wuchernden Lorbeer- und Escalloniasträucher an der Seite des Gebäudes und wartete, ohne zu klingeln, an der Haustür; von drinnen kam Musik. Carol war praktisch veranlagt, wurde aber bisweilen auch von starken Gefühlen heimgesucht. Eine Geige und ein Klavier spielten etwas aus dem neunzehnten Jahrhundert, etwas Leichtes, Liebliches, das eingängig sein und von der verlorenen Vergangenheit erzählen sollte. Carol war in diesem Haus seit jeher ein und aus gegangen. In den letzten Jahren war Kate an den Wochenenden oft heimgekommen, und Carol hatte sie dann jedes Mal besucht; sie war auch hergekommen, wenn Billie alleine war, und hatte stets darauf beharrt, dass das keine bloße Nettigkeit war, sondern dass sie die Mutter ihrer Freundin wirklich mochte. Sie sagte immer, für sie sei Billie so was wie eine Figur aus einem Roman von der Sorte, die sie nicht lesen könne, weil es ihr an der nötigen Empfindsamkeit fehle (Carol hatte Soziologie studiert, Kate Slawistik). Kate meinte, der Roman entwickle sich nach und nach in Richtung Finnegans Wake.

»Ach Gott, du weinst ja«, rief Kate, als sie die Tür aufmachte; die Musik war zu Ende, Carol hatte auf die Klingel gedrückt und drinnen, aus den Tiefen des Hauses, jenes rostige Läuten vernommen, das einst die Aufmerksamkeit der Hausmädchen erregen sollte (die es freilich schon seit fünfzig Jahren nicht mehr gab).

»Bescheuert, oder?«, sagte Carol. »Das ist, weil ich euch spielen gehört hab.«

»Waren wir denn so schlecht? Hast du das gehört, Billie? Carol musste weinen, so furchtbar waren wir. Schick siehst du aus. Ich vermute mal, das ist deine Arbeitskleidung. Ich hab richtig Ehrfurcht vor dir, so im Hosenanzug. Du siehst ja wie ein Ratsherr aus. Oder wie eine Witwe. Eine Ratsherrnwitwe.«

»Ist alles in Ordnung bei dir? Stimmt das, du hast deinen Job aufgegeben und deine Wohnung vermietet? Max hat mich angerufen.«

»Ich sag dir, du, ich heule fast vor Kälte. Die Zentralheizung spielt verrückt, und der Mann sagt natürlich, wir brauchen einen neuen Kessel, und ich bin nicht bereit, ihm zu glauben, dass der alte nicht noch mal irgendwie repariert werden kann. Wir stecken also in einer Sackgasse. Vielleicht behältst du lieber den Mantel an, wenn ich du wär, ich würde ihn jedenfalls anlassen.«

Billie trug ein mit blauen Kornblumen gemustertes Kleid und eine weiße Strickjacke und saß im Salon im hinteren Teil des Hauses am Stutzflügel. Der Gasheizofen lief auf vollen Touren, und Carol fand es wahnsinnig warm im Raum.

»Carol ist da, Mummy.«

»Ach, wie schön«, sagte Billie und drehte sich am Klavier vergnügt lächelnd um, derweil ihre Hände immer noch über den Tasten schwebten; ihre rosige Haut war faltenlos, vom Alter matt und weich geworden. Vor langer Zeit hatte sie Carol einmal Klavierunterricht gegeben. Es war allerdings nicht viel bei ihr hängen geblieben, außer dass die Hände über den Tasten so geformt sein mussten, als würden sie Orangen halten.

»Die liebe Carol. Die haben wir ja schon ganz lange nicht mehr gesehen, die Carol. Nicht wahr?«

Carol gab Billie einen Kuss und zog Mantel und Jackett aus. Ihr Gesicht glühte vor Hitze; sie hatte sich damit abgefunden, dass sie in Gegenwart dieser zwei zierlichen, zartgliedrigen Frauen immer das Gefühl hatte, aus einer gröberen Fleischsorte als sie zu bestehen; Kates Gesicht mit seinen schattigen Vertiefungen und den langen Nofretete-Augen wirkte fein und kompliziert, Carols Gesicht hingegen war einfach. Kate trug wie üblich ihren etwas unübersichtlichen Lagenlook in Kastanienbraun, Grün und Creme, der auf gewisse Londoner Läden hindeutete, in die Carol, die sonst keine wie auch immer geartete Autorität fürchtete, sich nicht hineintraute; Kate hatte die Ärmelbündchen ihrer schwarze Ajourstrickjacke fröstelnd über die Hände gezogen, ihre Nasenspitze war gerötet. Carol ließ sich auf den Stuhl fallen, der am weitesten vom Gasheizofen entfernt stand; die Glasscheiben der französischen Fenster, die über die gesamte Außenfront des Raumes gingen, waren ganz beschlagen. Die wintertoten Glyzinien, die wie ein Vorhang vom Dach der offenen Veranda an der Rückseite des Hauses herabhingen, schluckten das Licht, sodass man mitten am Tag die Lampen einschalten musste.

»Wir spielen nur, um uns warm zu halten«, sagte Kate. »Wir müssen bald raus. Gleich kommt die Frau von Mopp & Bucket, und wenn die unsere Klos putzt und unsere Böden wischt, während wir hier weiter faul rumsitzen und nichts tun, dann könnte das revolutionären Unmut entfachen. Wollen wir nicht einen Parkspaziergang machen und dann runterfahren in die Stadt, einen Kaffee trinken und shoppen gehen? Ich hab mir ja, nachdem ich hier zu Hause angekommen war, geschworen, nie wieder Auto zu fahren, also erledigt Billie das für mich, ihr macht es richtig Spaß. Und wenn wir wieder zurückkommen, sind unsere Badezimmer sauber, und die Frau von Mopp & Bucket hat ihr Geld eingesteckt und uns rätselhafte kleine Zettel dagelassen. So würde sich’s doch leben lassen, findet ihr nicht auch?«

»Aber Billie hat doch noch nie eine Prüfung bestanden. Hat sie denn einen Führerschein? Billie, du darfst nicht zulassen, dass Kate dich zwingt zu fahren.«

»Es ist ganz einfach, Liebes«, beruhigte Billie sie. »Und es macht richtig Spaß. Wir fahren ja nicht auf den großen Straßen.«

»Carol muss sich aufregen. In ihrer Familie hat der öffentliche Dienst Tradition. Hör nicht auf sie. Wollen wir’s noch einmal spielen? Aber du darfst nicht kritisieren. Wir sind beide mächtig eingerostet. Und auch nicht weinen. Das ist genauso abschreckend.«

Carol gab sich ihrer Bewunderung hin. Früher, als sie selber noch Orangen überm Klavier gehalten hatte, fand sie ihre Finger immer bloß zu dick und ungeschickt, trotz Billies Geduld. Kate, die mit der Geige unterm Kinn vor dem Notenständer stand, sich im Takt wiegte und ihr dichtes schwarzes Haar zurückgeworfen hatte, war eine Gestalt von geradezu romantischer Selbstbeherrschung und höchster Sensibilität. Und Billie sah ganz und gar nicht so aus, als ob sie das Spielen verlernt hätte. Carol hatte selbst zu Kate gesagt, es wäre sicher gut für ihre Mutter, wenn sie ihre Fähigkeiten weiter ausüben würde und dabei bis an ihre Grenzen ginge. Carol war zutiefst berührt von der Musik, konnte aber die Stücke nicht auseinanderhalten und sich hinterher an keine Melodie erinnern, konnte Haydn nicht von Schubert unterscheiden und Mahler nicht von Debussy. In schwachen Augenblicken, wenn sie allein war, ertappte sie sich oft dabei, wie sie inbrünstig ein paar Fetzen von irgendeinem fürchterlichen Popsong summte.

Als sie fertig waren – bravourös, der vollendete Schlussakkord, mit dem Musiker immer in die niederen Sphären zurückkehren –, nahm Kate Carol mit nach oben, um sich den Mantel anzuziehen und dabei mit ihr zu reden.

»Geh noch mal Pipi machen, Mummy«, rief sie Billie von der Treppe aus zu. »Sonst musst du bestimmt unterwegs.«

Und Billie willigte fröhlich ein.

 

Kate hatte immer noch das lange Zimmer, das sie schon früher gehabt hatte; es hatte einen holzgetäfelten kleinen Erker, der auf den Garten schaute und mit seinen Bleiglasflügelfenstern an eingesperrte Mädchen erinnerte, die darauf warteten, erlöst zu werden. Zum letzten Mal renoviert worden war es, als Kate ein tyrannischer Teenager war und freie Hand hatte, und so waren die verblassten lila Wände mit Spuren von Blu-Tack und den Umrissen alter Poster übersät. Oberhalb der Zierleisten schimmerten überall die Gespenster eines Kinderzimmerfrieses durch die Farbe hindurch, der Rattenfänger von Hameln und Rumpelstilzchen und irgendwelche Prinzen, die sich durch Dornenhecken schlugen. Jetzt war das Zimmer vollgestopft mit all dem Zeug, das Kate aus London mitgebracht hatte: Bücher, die aus den Regalen quollen und sich auf dem Boden stapelten, Kleider, die an den Knäufen des Kleiderschranks und innen an der Tür hingen, ihr noch nicht eingerichteter Computer auf dem großen, tintenbeklecksten Schreibtisch, an dem sie einst fürs Abitur gebüffelt hatte, ein riesiger bunter chinesischer Papierdrachen, eine Edelstahlstehlampe mit weißen Glaskugeln. Gerahmte Drucke von einer Paula-Rego-Ausstellung, Fotografien von André Kertész und von einem Rachel-Whiteread-Haus standen an der Wand, zusammen mit anderer Kunst, die Carol aus Kates Londoner Wohnung kannte.

»Ich versuche, Elemente des einundzwanzigsten Jahrhunderts hier reinzubringen«, sagte Kate, »aber dieses Haus verschlingt mein ganzes postmodernes Zeug und spuckt es als Burne-Jones und Dante Gabriel Rossetti wieder aus.«

»Das ist doch nicht mal die Hälfte von deinen Sachen. Was hast du mit all dem anderen Zeug gemacht? Hast du das etwa einfach deinen Mietern überlassen, damit sie alles kaputt machen?«

Kate malte sich vor dem hohen Drehspiegel die Lippen rot an, presste sie zusammen und schüttelte den Kopf. »Ich hab alles, was ich finden konnte, ins Auto gepackt, den Rest ins kleine Gästezimmer gebracht und die Tür abgeschlossen.«

»Als wir damals im dritten Studienjahr dieses Haus in Kilburn gemietet hatten, sind wir einfach in das abgeschlossene Zimmer eingebrochen. Wir haben die Briefe von den Vermietern gelesen, ihre Sachen durchwühlt, uns ein Leben für sie ausgedacht und ihre Kleider getragen.«

»Wir waren furchtbar. An Leute wie uns hätte ich meine Wohnung niemals vermietet. Ich hatte darum gebeten, welche von der richtig langweiligen Sorte zu kriegen, und von dem kurzen Treffen, das wir hatten, hab ich den Eindruck, das hat geklappt.«

»Was willst du denn den ganzen Tag hier machen? Wie willst du das aushalten? Hast du ein Projekt, irgendwas, woran du arbeitest?«

»Ein Projekt. Was für eine uncharmante Idee. Du hörst dich ja an wie mein Chef.« Kate wechselte die Schuhe, tauschte die hochhackigen gegen ein Paar noch viel höhere schwarz-grüne, vorne eckig und mit grünen Lederschleifen, das sie sich aus einem Schrank mit mehreren Reihen höchst bemerkenswerter Exemplare ausgesucht hatte.

»Ach, übrigens, mich ärgert dein Komplott mit Max. Wehe, du redest mit ihm über mich!«

Das überhörte Carol geflissentlich. »Weißt du, das wird noch richtig schwer werden. Billie wird weiter abbauen.«

»Das musst du mir nicht sagen. Geld ist ja da. Ich werde eine Hilfe bezahlen.«

»Hättest du dich mal lieber weiter an Max gehalten. Er ist so ein netter Kerl.«

»Als ob du nicht wüsstest, dass genau das der Grund ist, warum ich nicht bei ihm geblieben bin. Mich an ihn halten! Warst du nicht mal Feministin?«

»Aber das tut dir schon wieder leid, oder? Tu doch nicht so, als hättest du nicht manchmal Panik, weil du alle Brücken hinter dir abgebrochen hast, und zwar wirklich alle. Nicht nur Max. Jetzt auch noch der Job und die Wohnung und London.«

Kate wickelte sich in ihren weiten schwarz-weiß karierten Mantel, der wie ein Cape aussah, große schwarze Knöpfe hatte und asymmetrisch geschlossen wurde. »Tja, ganz schönes Trümmerfeld mit meinen Brücken.«

»Spiel doch hier nicht die Neunmalkluge. Das ist keine Metapher. Du hast mal gesagt, du möchtest Kinder mit ihm haben.«

»Das war Unsinn. Da war ich nicht ganz bei Trost.«

»Aber es ist bald zu spät.«

»Meine Güte, Carol. Jetzt hör doch mal auf, dir mein Hirn zu zermartern! Das schickt sich nicht! Krieg du doch erst mal selber Kinder, verdammt. Für dich ist es auch bald zu spät.«

»Ach was, ich bin ein altes Arbeitspferd. Ich sterbe in den Sielen.«

»Auch Arbeitspferde haben Fortpflanzungsorgane, weißt du? Wenn wir schon bei solchen Redensarten sind.«

Und dann ließ sich Carol in ihrem schicken Hosenanzug, der bereits ein paar Knitterfalten hatte, abrupt rücklings auf Kates Bett fallen; ihre Füße in den flachen braunen Schuhen ragten über das Fußende hinaus. Die seidige bronzefarbene Tagesdecke von Habitat, die eigentlich für ein Doppelbett gemacht war, ergoss sich an den Seiten auf den Boden.

»Und jetzt bist du eingeschnappt.« Kate schaute stirnrunzelnd zu ihr hinunter.

»Nein, überhaupt nicht. Ich musste nur gerade denken, wie herrlich es wäre, jetzt die Augen zuzumachen. Nur ganz kurz.«

Kate schlich so leise, wie es in diesen Schuhen möglich war, durchs Zimmer, nahm ihre Tasche, suchte die Schlüssel, sprühte sich mit ihrem Parfüm ein. Das war schon immer Carols Spezialität gewesen. In der Schule war sie auch oft eingeschlafen, einmal sogar vor den hölzernen Spinden, in denen sie ihre Sportsachen aufbewahrten; als sie mit Interrail unterwegs waren, hatte sie in der Bahn im Gepäcknetz geschlafen; sie war auf Kates Dinnerpartys eingenickt oder neben ihr im Theater. Sie war immer nur ein paar Minuten weg, dann gingen ihre ziemlich hellen blauen Augen wieder auf, und gleich war ihre ganze Aufmerksamkeit und Verantwortung wieder erwacht. Kate, die sogar in ihrem dicken Mantel fror, hob eine Ecke der seidigen Tagesdecke hoch und deckte ihre Freundin liebevoll damit zu.

 

David ging forschen Schritts von der Gesundheitsbehörde im Cathays Park, wo er arbeitete, hinunter zum Millennium Centre in der Bay; es war ein klirrend kalter Abend, mondlos und still. Den Kamelhaarmantel bis oben zugeknöpft, den Schal fest um den Hals gewickelt, angespannt, teils, um seine Kernwärme zu schützen, teils aber auch in freudig-erregter Erwartung der Musik, die er bald hören würde: An der Welsh National Opera wurde Händels Jephta gespielt. Er kannte die Oper nur von Schallplattenaufnahmen und freute sich ganz unbändig darauf, sie live und in Farbe auf der Bühne zu sehen. Im maßwerkähnlichen Geäst der winterlichen Bäume vor dem Museum mit seinem Säulenvorbau hingen weiße Lichter; das Behördenviertel mit seiner versammelten Masse blasser Gebäude – Museum, Gerichte, Universität, das Welsh Office, das zentrale Polizeirevier – war der einzige Ort, an dem er sich immer ein klein wenig kolonisiert fühlte, denn in seiner Vorstellung glichen die alten Verwaltungsgebäude in Delhi oder Ottawa bei Nacht den hiesigen, die in melancholischer Erhabenheit vor sich hin träumten. Im Alexandra Dock, neben der langen Straße, die das Stadtzentrum mit der Bay verband und nicht für Fußgänger bestimmt war, glitzerte schwarzes Wasser, sodass die Stadt plötzlich auf einem schwarzen Meer zu schwimmen schien, gleichsam von ihrem Tagesdasein abgeankert. Wie die Leute über das neue Millennium Centre in der Bay dachten, der ganze Streit über die Architektur, wie der gekrümmte Rücken eines Gürteltiers – alles das interessierte ihn nicht; er wusste sehr wohl, dass er sich leicht von Äußerlichkeiten beeindrucken ließ, dabei waren die ihm gar nicht so wichtig, er war vor allem neugierig auf das, was innen drin war. Bisweilen stellte er sich seine Liebe zur Musik als unterirdisches Höhlensystem in seinem Innern vor, riesengroß und mit Kristallen an den Wänden und von oben unzugänglich.

Suzie wartete im Foyer auf ihn; sie war mit dem Auto gekommen – mit dem neuen, das sie nach ihrem Unfall hatten kaufen müssen –, damit sie nachher zusammen zurückfahren konnten. Er kaufte stets zwei Karten für die Oper oder für Konzerte, aber normalerweise ging er mit seiner Mutter oder seiner Schwester hin; Suzie hatte bis jetzt nie mitkommen wollen. Er blieb am Eingang stehen und suchte sie im munteren Gedränge der Leute, die aus