Freie Liebe - Tessa Hadley - E-Book

Freie Liebe E-Book

Tessa Hadley

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Beschreibung

Sommer 1967. Die Welt ist in Aufruhr. Die Jugend geht auf die Straße. Doch die Fischers neigen nicht dazu, aus der Reihe zu tanzen. Ihre kleine Welt in einem Londoner Vorort ist grundsolide: Die hübsche Phyllis kümmert sich rührend um den Haushalt und um die beiden Kinder, den neunjährigen Hugh, ihren Goldjungen, und die fünfzehnjährige Colette, während Gatte Roger im Außenministerium Karriere macht. Doch als der kaum zwanzigjährige Nicholas Knight in einer schwülen Sommernacht heftig mit Phyllis flirtet und sie schließlich leidenschaftlich küsst, gerät alles durcheinander. Phyllis nimmt die Welt mit neuen Augen wahr und trifft eine Entscheidung, die allen Erwartungen an eine brave Ehefrau und Mutter zuwiderläuft.Scharfsinnig und mit großer Empathie erforscht Tessa Hadley das Innenleben ihrer Figuren, ihre Ängste und Sehnsüchte. Freie Liebe erzählt auf unwiderstehlich sinnliche, einfühlsame und kluge Weise von einer Frau, die sich aus dem Korsett eines bürgerlichen Lebens zu befreien versucht, von den Möglichkeiten und Grenzen romantischer Liebe, von Pflichten und Auf- brüchen - und den Folgen, die das Streben nach Selbstverwirklichung haben kann.

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Tessa Hadley

Freie Liebe

Aus dem Englischen von Christa Schuenke

Kampa

Für Eric und für

Dan Franklin

1

Es war ein herrlicher spätsommerlicher Freitagabend. Phyllis Fischer hatte das Fenster zum Garten weit geöffnet, bevor sie sich an ihren Toilettentisch setzte. Von draußen wehte das Leben herein, ein schläfriger Vorstadtabendstrom: das stete, beruhigende Plätschern eines Schlauchs in einer Staudenrabatte, das vertraute Klipp-Klapp von Heckenscheren, vom Tennisclub das ferne Ploppen der Bälle, das schrille, stakkatohafte Kreischen spielender Kinder, der Duft nach gemähtem Gras und gebratenem Fleisch, das Klirren der Eiswürfel in den ersten Gin Tonics des Wochenendes. Als die Strahlen der tief stehenden Sonne plötzlich schräg auf einen der beiden Flügel des Frisierspiegels fielen und sie blendeten, verstellte Phyllis den Spiegel, sodass das Licht stattdessen die kristallene Toilettengarnitur, die Flakons mit L’Air du Temps, Hamameliswasser und Reinigungsmilch umfloss. Sie beugte sich in ihrem Unterrock nach vorn, stützte die Ellbogen auf, um sich genauer im Spiegel betrachten zu können, spürte die leichte Brise, die ihre nackten Schultern liebkoste, roch die Seife auf ihrer Haut. Sie war vierzig und doch noch immer von einer lebhaften, erwartungsvollen Anmut: Ihr sandfarben gebräuntes Gesicht war über der Stupsnase mit zarten Sommersprossen getüpfelt, ihr ziemlich trockenes, helles Haar – nicht gelb, sondern eher von schattigem Gold, wie verwaschenes Stroh – war für den Abend voluminös zurückgekämmt und starrte vor Haarspray. Sorgfältig trug sie den blassen Lippenstift auf, presste die Lippen zusammen und schaute stirnrunzelnd in den Spiegel, denn sie fand ihren Mund zu groß – zu weich, nicht konturiert genug, als könnte ihm jeden Moment irgendeine Grobheit oder eine schroffe Bemerkung entschlüpfen. Eigentlich war sie ganz einfach, ein einfacher Mensch, leicht glücklich zu machen, froh, wenn sie andere glücklich machen konnte. Sie war mit ihrem Leben zufrieden. Es war das Jahr 1967.

Ihr Kleid für den heutigen Abend wartete wie eine gute Freundin auf seinem Bügel an der Schranktür: Empirestil, der Rock kniefrei, grüner Chiffon mit breiten roten und orangen Streifen, unter der Brust ein aufgestepptes geripptes Band, vorn zu einer Schleife gebunden. Sie hatte Mandy Verey gebeten, es ihr schnell noch zu bügeln, bevor sie heimging – zum Servieren des Abendessens brauchte sie Mandy nicht, es war ja kein formelles Dinner. Gut möglich, dass sich der junge Mann, den sie erwarteten, dieser Nicholas Knight, als Langweiler entpuppte; Phyllis erinnerte sich dunkel, dass er als kleiner Junge einer gewesen war. Sie hatte ihn vor langer Zeit kennengelernt, damals, als sie und Roger jung verheiratet waren und ihre Tochter Colette noch ein kleines Baby mit Bauchweh. Nicholas war damals neun oder zehn gewesen und hatte mit seinem großen schweren Kopf und seiner dicken schwarz gerahmten Brille etwas von einer Eule gehabt; vollgestopft mit Faktenwissen, wollte er ständig nach den Flaggen und den Hauptstädten der Welt abgefragt werden. Roger hatte sich seinem Drängen geduldig gefügt. Nicholas war der Sohn von Peter und Jean Knight, Rogers alten Freunden, die eigentlich Freunde seiner Eltern waren, älter als er. Phyllis freute sich schon darauf, dass Nicholas heute Abend zu Besuch kam, einfach, weil sie gern Gäste hatte – und selbst wenn er ein unansehnlicher Tollpatsch sein sollte, er war zumindest ein Mann. Sie mochte nun mal Männer, was sollte sie da machen? Obwohl ein Flirt mit ihm nicht in Betracht kam; vom Alter her war Nicholas wohl eher was für ihre Tochter.

Die spielenden Kinder draußen kreischten jetzt vor Aufregung, weil irgendeine Verfolgungsjagd ihren Höhepunkt erreicht hatte, in Schlangenlinien schlichen sie im warmen Licht auf ihren Geheimpfaden durch die Gärten, duckten sich hinter den hohen gestutzten Ligusterhecken oder zwängten sich durchs Dickicht der üppigen Sträucher: Rhododendron und Hortensien, giftiger gefleckter Lorbeer, stämmiger Bambus. Einige dieser Gärten waren gut und gerne einen halben Morgen groß und endeten in einem Wäldchen, dort hinten, wo es zum Fluss hinunterging und sie dem Zugriff ihrer Eltern entzogen waren, dort hatten sich die Kinder ihre Höhlen gebaut. Einen Garten gab es, der zu einem verlassenen Haus gehörte und total verwildert und überwuchert war, da hatten sie sich in allerlei Gruselmärchen hineingesteigert, in Geschichten von irgendwelchen toten Dingen, die dort angeblich waren. Sie kannten sämtliche Zaunlücken, durch die man schlüpfen konnte und sich die Sachen mit Moosflecken versaute oder an Nägeln zerriss. In einem der Nachbarhäuser in der Sackgasse, in der die Fischers wohnten, öffnete ein Erwachsener oben ein Fenster und schrie die Rasselbande an. Es machte Platsch, dann ein Geheul. Eines der Kinder hatte einen Trittstein in einem Fischteich verfehlt und hob erschrocken die tropfende Sandale samt durchnässter Socke hoch – doch zum Stehenbleiben war keine Zeit, die andern kannten kein Erbarmen. »Du Idiot!«, rief einer schroff. Amüsiert stellte sich Phyllis vor, dass Hugh, ihr Sohn, dort unten mit den anderen rannte, vielleicht sogar an der Spitze des Trupps, als Anführer. Eigentlich müsste sie jetzt aus dem Fenster gucken und rufen, Hugh solle hereinkommen, sein Abendbrot sei fertig – aber sie war immer noch im Unterrock, und außerdem konnte ihr die Ausgelassenheit der Kinder nicht die Laune verderben. Genau wie sie spürte Phyllis die Verheißung dieses Abends, die sich zusammenballenden Schatten, den stechenden Schmerz des Endes.

Roger Fischer kam von der Arbeit. Er war leitender Beamter im Außenministerium, ein angesehener, mit allen Wassern gewaschener Arabist. Unten in der Diele, im Farbenspiel des durch die Buntglasfenster der Verandatür einfallenden Lichts, zog er sich den Mantel aus, hängte ihn an die Garderobe, verkündete dabei seiner Familie, dass er wieder da sei, und warf einen kritischen Blick in den kleinen quadratischen Spiegel mit den abgeschrägten Kanten, nur der Ordnung halber, nicht aus Eitelkeit. Er sah anständig aus: ein mittelgroßer, stämmiger Mann, schon ein bisschen weich um die Taille, das Gesicht auffallend kinnlastig, Hundeaugen, dunkler Bartschatten, zurückgekämmtes schwarzes Haar. Küchendüfte im Flur, und durch die offene Esszimmertür sah er den gedeckten Tisch: Blumen, bunt kariertes Tischtuch mit passenden Servietten, Weingläser. Phyllis, immer noch oben an ihrem Toilettentisch, den Mascara am Auge, hielt inne und begegnete im Spiegel einen Moment lang ihrem Blick, der unergründlich war, doch zur Begrüßung hellte ihre Miene sich schon wieder auf, sie flötete ihr gewohntes Hallo. Roger würde zuerst bei der armen Colette hereinschauen, die sich wie immer mit ihren Hausaufgaben plagte. Phyllis hätte genug Zeit, um in ihre Nylons zu schlüpfen, das Kleid überzuziehen, sich etwas L’Air du Temps innen auf die Handgelenke und hinters Ohr zu tupfen.

 

Wenn Colette sich plagte, so lag das nicht daran, dass sie nicht schlau war. Sie war sogar sehr schlau, aber bei ihr war alles eine Plage. Die Hausaufgaben in Englischer Literatur hätten ihr eigentlich leichtfallen müssen, doch es stand zu viel auf dem Spiel. Sie sollte einen Aufsatz über die Metaphorik von Werden und Vergehen in Was ihr wollt schreiben, was sie normalerweise mit links konnte, nur dass sie mit ihrem Text in verschlüsselter Form ihre leidenschaftliche Zuneigung zu ihrer neuen Englischlehrerin auszudrücken versuchte, einer schlanken, irgendwie rätselhaften Frau um die vierzig, elegant, trocken, geschieden. Colette besuchte eine private Ganztagsschule für Mädchen und schleppte Tag für Tag, wenn ihr Vater sie unten abgesetzt hatte, ihre widerstrebenden Füße in den vorgeschriebenen braunen Schnürschuhen den steilen Hügel hinauf, durch das furchteinflößende schmiedeeiserne Lasst-alle-Hoffnung-fahren-Tor, hinunter in den Keller zur Garderobe mit ihrem mineralischen Geruch nach Hockeystiefeln und kaltem Schweiß, wo sie ihren flaschengrünen Regenmantel aus- und Hauspantoffeln anziehen musste. Die Mädchen an der Otterley High waren stramm, sportlich und fröhlich und nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt, Colette war eine einsame, gequälte Intellektuelle. Sie dachte darüber nach, ob sie, wie Viola, ein Weidenhüttchen vor der Tür ihrer neuen Lehrerin bauen sollte, doch ihr war klar, dass sie diese Rolle nicht spielen konnte. Viola musste bezaubernd und anrührend sein und sozusagen in die Westentasche passen. Colette aber war kräftig, hatte ein kantiges Kinn, einen üppigen Busen und dunkle Locken, und das in einer Zeit, in der nur glattes Haar als schön galt. Und obendrein trug sie eine Brille und hatte stur auf einem rosa Kassengestell bestanden. »Ich könnte dir doch eine kaufen, die attraktiver aussieht«, hatte ihre Mutter förmlich gebettelt. »Dein Vater wird das schon bezahlen.«

»Ich will aber keine attraktivere«, hatte Colette düster erwidert.

Sie hatte alles Mögliche gelesen, weigerte sich aber standhaft, auch jene Autorin zu lesen, nach der sie laut Aussagen ihrer Mutter benannt war. Sie konnte sich schon denken, was ihre Mutter damit bezweckt hatte, sie Colette zu nennen: Phyllis hatte sich ihr Kind als versponnene kleine Koboldin vorgestellt, mager und gelenkig und von französischem Aussehen und niedlich durch die Ponyfransen blinzelnd, die ihr in die Augen hängen. Jedenfalls ein Kind, das nicht sie war. Verbissen widmete Colette sich ihrem Aufsatz, bei fest geschlossenem Fenster und gegen all die abendlichen Verlockungen da draußen gefeit. Sie erledigte die Hausaufgaben, die sie übers Wochenende aufbekam, immer gleich am Freitag, als wollte sie sich die Zeit für irgendetwas anderes frei halten, und dabei wusste sie nachher gar nicht, worin dieses Etwas bestehen sollte. Durchs Fensterglas und die in ihrem Zimmer eingeschlossene, abgestandene Wärme hörte sie die Kinder draußen laut schreien und überstürzt davonrennen, und plötzlich überkam sie eine wehmütige Sehnsucht nach früher, als sie auch mit dazugehört hatte – ihr war, als sei das ein paar hundert Jahre her –, und dabei war sie ja erst fünfzehn.

Ein magerer kleiner Kobold war Colette nie gewesen. Ein Hitzkopf war sie gewesen, fassförmig und herrisch, und wenn sie rannte, waren ihre Fäuste wie zwei Kolben rauf- und runtergegangen – das wusste sie, weil ihr Bruder sie immer nachgeäfft hatte. Aber damals hatte sie Macht besessen; sie konnte sich noch erinnern, wie sie in ihrem Kleid und in Gummistiefeln breitbeinig oben im Steingarten stand, die Hände in die Hüften stemmte, den Bauch rausstreckte und ihren Freundinnen, die die ägyptischen Sklaven sein und die Pyramiden erbauen mussten, Befehle zurief. In ihren Phantasiegeschichten war es oft um Geschichtswissen gegangen, aber die andern wollten trotzdem mit ihr spielen, weil sie sich die besten Spiele ausdachte, die gruseligsten. Sie waren auf einem lecken Floß auf dem Fluss gefahren und um ein Haar ertrunken – Colette hatte ihre alte Brille verloren, und zwei Ruder, die sie sich bei einer von ihnen aus dem elterlichen Bootshaus geborgt hatten, waren auch weg gewesen. Abends in der Dämmerung hatten sie mit einer Taschenlampe in dem verwaisten Garten im verfallenen Gewächshaus gekniet und mit Kreide Zeichen auf den Steinboden gemalt, um die Geister zu beschwören. Tote Katzen und Ratten hatten sie dort gefunden, in diesem Garten, und einmal hatten sie in einem Bach einen Aal getötet, auf eine ganz gemeine Art, indem sie ihn gesteinigt hatten, weil sie sich nicht trauten, ihn anzufassen – hinterher hatten sie sich dafür geschämt und nie wieder darüber geredet.

Ihr Füller kleckste, sie wischte die Sauerei weg und hatte Tintenfinger; plötzlich war sie schweißgebadet und fragte sich, ob der unangenehme Geruch in ihrem Zimmer etwa daher kam, dass sie ihre Tage hatte. Als sie ihren Vater unten hörte, sprang sie auf und öffnete rasch das Fenster, und dann setzte sie sich wieder an den Schreibtisch und tat so, als sei sie total ins Lernen vertieft. Wenigstens kam ihr Vater immer zuerst zu ihr, um Hallo zu sagen, denn schließlich war Colette nach wie vor seine kleine Zuckerschnecke – auch wenn sie mittlerweile beide so taktvoll waren, das nicht weiter zu erwähnen. Er klopfte an, bevor er den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Na, schwer am Arbeiten?«, erkundigte er sich mitfühlend.

»Blöder, idiotischer Aufsatz. Was ihr wollt.«

»Schönes Stück.«

»Ich weiß, aber …«

»Grässlich, so ein wundervolles Stück so durch den Wolf zu drehen. Was ist denn das Thema?«

Colette verdrehte die Augen zu diesem komischen Schielen, das sie, wie ihre Mutter immer sagte, doch bitte bleiben lassen sollte. »Metaphorik von Werden und Vergehen.«

Roger lachte. Wie haushoch ihr Vater ihrer Mutter intellektuell doch überlegen war, dachte Colette. Das schlüpfrige Durcheinander, das dagegen bei ihrer Mutter im Kopf herrschte, ihre unlogische Art, mal mit Autosuggestion und dann wieder mit Intuition zu arbeiten, je nachdem, welche verborgenen Absichten sie gerade verfolgte, das fand Colette gefährlich, weil es für sie ein Buch mit sieben Siegeln war. Umweht von Parfümduft, mit glänzendem Lippenstift, erschien Phyllis hinter ihrem Gatten in der Tür, schmiegte sich an seine Schulter und gab ihm – wegen des Lippenstifts – ein nur vorgetäuschtes Küsschen auf die Wange. Wie sollte sich Colette als junge Frau fühlen bei einer Mutter mit einem Faible für solche kleinmädchenhaften Kleider wie dieses kurze Hängerchen hier mit den zur Schleife gebundenen Bändern um die hohe Taille?

»Colette isst heute Abend mit uns«, sagte Phyllis in ihrer zufriedenen, aufmunternden Tonlage. »Für Hughie mache ich gleich einen Toast mit Bohnen, damit er aus der Schusslinie ist, und dann ab ins Bett mit ihm.«

Roger lächelte standhaft seine Frau und dann auch seine Tochter an. »Na, dann wollen wir mal hoffen, dass der Anlass solch einer guten Gesellschaft auch würdig sein wird.«

»Komm bloß nicht auf dumme Ideen«, warnte Colette ihre Mutter finster.

»Du sagst doch immer, ich hab keine Ideen.«

»Doch, dumme hast du schon. Zum Beispiel, dass ich mich mit diesem Nicholas Knight anfreunden soll, wer das auch immer sein mag. Der wird mich garantiert total bescheuert finden, das kann ich dir jetzt schon sagen.«

»Er wird dich nicht bescheuert finden. Eher du ihn, vermutlich ist er ein furchtbarer Langweiler.«

»Wir müssen nett zu ihm sein«, sagte Roger, »selbst wenn er wirklich langweilig sein sollte. Seine Mutter ist eine sehr liebe alte Freundin. Ihretwegen liegt mir dieser junge Mann am Herzen. Wir wollen uns von unserer besten Seite zeigen.«

Phyllis fragte Colette, was sie denn anziehen wolle, worauf diese erwiderte, sie weigere sich, überhaupt irgendwas anzuziehen.

»Das dürfte Nicholas’ Konzentrationsfähigkeit allerdings steigern«, sagte ihr Vater.

 

In ihrer hellen, modernen, ganz in Gelb- und Blautönen gehaltenen Küche mit den von ihr selbst genähten Blümchenvorhängen vor dem Fenster über der Spüle band sich Phyllis eine Schürze um. Es war alles fertig, die mit Lorbeerblättern dekorierte aspikglänzende Schweinefleischterrine stand im Kühlschrank, die Charlotte russe in ihrer Palisade aus Löffelbiskuit auf der Arbeitsplatte, und im Ofen brutzelte das zarte Rind. Phyllis war eine abenteuerlustige Köchin, sie las Elizabeth David und schnitt sich immer die Kolumne von Len Deighton aus der Zeitung aus; im Lauf der Jahre hatte sie Roger dazu erzogen, dass er es mochte, wenn sein Braten mit Kräutern und Knoblauch zubereitet war. Aus ihren Urlauben in Frankreich brachten sie aufgefädelte Zwiebeln und Knoblauchknollen mit. Natürlich konnte sich herausstellen, dass ihr Gast schlichte Speisen bevorzugte; war nicht Jean Knight, jetzt fiel’s ihr wieder ein, diese alte Ulknudel gewesen, die am liebsten Salzkartoffeln aß? Na schön, falls Nicholas Sperenzchen machen sollte, war’s eben an der Zeit, dass er auch mal was Neues probierte.

Phyllis trat aus der Küchentür und ging am Haus vorbei direkt in den Garten. Die Kinderstimmen hatten sich beruhigt, und das warme, satte Licht kam ihr irgendwie kompakt und rätselhaft wie Bernstein vor; nichts rührte sich, bis eine Amsel ihren klickernden Warnruf ertönen ließ und im staubigen Halbdunkel unter der Hecke untertauchte. Und dann, noch eh sie ihn gerufen hatte, kam Hugh aus dem Wäldchen hervorgeschossen, allein, denn die andern waren offenbar schon zum Abendbrot nach Hause gerufen worden: Er war bis zur Taille nackt und hatte seine Indianerhose an, die mit den weißen Plastikfransen an den Seitennähten, und er zielte mit seinem Gewehr auf sie, kniete sich hinter der Hängematte auf den Boden und spähte durch sein Visier, schoss schließlich auf sie und machte dieses Pie-tschong dabei, das das Abprallen der Kugeln von den Felsen markieren sollte. Phyllis starb, wenn auch eher lustlos, weil sie sich nicht das Kleid versauen wollte – manchmal schaffte sie es fast, ihm Angst zu machen, wenn sie sich so überzeugend fallen ließ und zusammengesackt liegen blieb. Sie schloss die Augen, verschränkte die Arme vor der Brust, taumelte und stöhnte. Dann kam Hugh angerast und krachte so hart mit ihr zusammen, dass sie sich von seiner Wucht herumwirbeln ließ und sich lachend und protestierend an ihm festhielt, um nicht die Balance zu verlieren. Sein Kopf reichte ihr bis ans Kinn, er drückte sich mit seiner vermutlich dreckigen, rotzverschmierten Gusche an ihre Brust, sie kuschelte sich mit dem Gesicht in seine Haare und atmete seine sonnengewärmte, salzige Hitze ein, die Duftnoten von Gestrüpp und Laub, den metallischen Geruch seiner Waffe.

»Gib’s zu, Mutter, damit hast du nicht gerechnet.«

Bei ihm war sie immer »Mutter«, mit dieser liebevollen Ironie, nicht »Mummy«.

»Hughie, geh runter von mir, du ruinierst mir ja mein ganzes Kleid!«

»Die Parole lautet Wachsamkeit!«, sagte er. Und Phyllis dachte, dieses Glück kann nicht von Dauer sein.

Hugh war neun, er musste fort, musste aufs Internat, würde groß werden und sie vergessen. Phyllis gab sich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie ihren kleinen Sohn liebte, sie ging locker mit ihm um, mit so einer ganz speziellen Leichtigkeit, neckte ihn und machte Späße, denn sie glaubte, dieses Übermaß an Liebe, das sie für ihn empfand, könnte ihm schaden und seinen Charakter verderben. Fast hoffte sie, dass er später, wenn er größer wäre und zum Mann reifte, etwas von seiner Schönheit verlieren werde: Sein gutes Aussehen war ihr beinah unheimlich, wie bei einem Engel auf einem Gemälde, mit seinem weißblonden Haar, den großen runden blauen Augen, dem Teint, der im Sommer goldbraun wurde. Als sie ihn zur Welt brachte, wär sie fast gestorben, damals in der Entbindungsklinik, die Geburt hatte so lange gedauert und war so schwierig gewesen, weil er eine Steißlage war und die Ärzte ihn nicht drehen konnten. Und Hugh war es überhaupt nicht peinlich, dieses »Was-sich-neckt-das-liebt-sich«-Spiel mit seiner Mutter zu spielen, es interessierte ihn nicht, was seine Freunde dazu sagen mochten, er war bei allem, was er tat, sich seiner selbst vollkommen sicher.

Am Küchentisch sitzend, schaufelte er seinen Toast mit Baked Beans und Ketchup in sich hinein, baumelte auf seinem Schemel rastlos mit den Beinen, ließ den Blick ohne großes Interesse durch den Raum schweifen und erzählte ihr von seinen Abenteuern, wobei sie ihm kaum folgen konnte – dass es im Elm Rise eine Frau gab, die eine alte Hexe war, dass Smithy den ARP-Helm zwei Tage hintereinander gehabt hatte, was unfair war, dass sie dem Gegner irgendwas wegnehmen sollten, aber Barnes-Pryce hatte sich nasse Füße geholt, weil er eine Sandale verloren hatte, bei ihm zu Hause seien sie deswegen total ausgerastet. Als Hugh sein Schälchen mit Dosenmandarinen aufgegessen hatte, verzog er sich nach oben – Gäste waren ihm ein Graus, die stellten immer so scheußliche Fragen und wollten einen betatschen. Draußen war er sehr gesellig, zu Hause aber ein glühender Verteidiger seiner Privatsphäre. Allein seiner Mutter war es erlaubt, sein Zimmer zu betreten; ein mit Klebeband an der Tür befestigter Zettel ermahnte alle Unbefugten und ganz besonders Miss Colette Fischer, dass der Zutrit Strengstens Ferboten sei und Sehr Schwehre Strafen nach sich ziehe, inglusiwe Follta und Tod. Zu seinem Vater hatte Hugh eine oberflächlich-freundliche Beziehung, sie ließen sich gegenseitig in Ruhe – nur sonntags nahm Roger ihn mit zum Kricket-Training. Es gab eine stillschweigende Übereinkunft, dass alles, was zwischen ihnen beiden von Belang war, bis zu dem Zeitpunkt vertagt wurde, da man Hugh auf Rogers alte Internatsschule schickte. Wenn er erst einmal in Abingdon wäre, würde er seinen Vater schon verstehen.

Colette, die die Rechtschreibfehler auf dem Zettel ihres Bruders mit roter Tinte korrigiert hatte, ließ es sich nicht nehmen, jedes Mal, wenn Hugh nicht da war, in sein Zimmer zu marschieren und die Entwicklung seiner mannigfachen Sammelleidenschaften zu überwachen, die sich, wie sie insgeheim dachte, allmählich zur Manie auswuchsen. Das Zimmer war ein einziges Chaos, Berge von Taschenmessern, Briefmarkenalben, Zigarrenschachteln, Notizbüchern. Die Schmetterlinge steckte er eigenhändig in Marmeladengläser mit Lorbeerblättern, damit sie erstickten und er sie mit Glaskopfstecknadeln auf Deckenplatten aus Polystyrol pinnen konnte, wo sie nach und nach braun wurden und zerfielen. Wenn sie sich vorstellte, wie ihr kleiner Bruder abends ganz alleine total versunken im Schneidersitz in seinem Schlafanzug auf dem Bett hockte, wie er in feierlichem Ernst dieses Wirrwarr durchforstete und alle seine Habseligkeiten in Listen erfasste und katalogisierte, konnte sie nicht umhin, gerührt zu sein. Als er ein süßes, von jedermann geliebtes, lachendes Baby war, das sich stundenlang mit seiner blau glänzenden Plastikrassel vergnügen konnte und rosig in seinem Kinderwagen in der Sonne schlief, hätte sie sich nie vorstellen können, dass er einmal zu einer derartigen Ernsthaftigkeit fähig wäre.

 

Nicky Knight kam über eine Stunde zu spät zu diesem Abendessen bei irgendwelchen bestimmt fürchterlich faden alten Freunden seiner Eltern. Er hatte keinerlei Erinnerungen von früher an diese Leute und keine Ahnung, warum er diese Einladung überhaupt angenommen hatte. Ob dabei irgendwas für ihn rausspringen würde? Aber der Mann war beim Außenministerium, wo es von Faschisten und Kolonialtypen wimmelte – dass dort die Zukunft ihres Sohnes liegen sollte, das konnte ja wohl nicht mal seine liebe Mutter glauben, oder? Selbstgefällig, wie er war, hegte Nicky die Vorstellung, dass es beim MI5 eine Akte über ihn geben müsse und diese Akte mittlerweile gewiss prall gefüllt sei mit Gründen, die eine Karriere im Außenministerium unwahrscheinlich machten. Die Fahrt in dem zwischen Schrebergärten und öden Rückwänden bescheidener Häuser dahinzuckelnden Vorortzug nach Otterley, der brechend voll war mit schwitzenden Pendlern – lauter Anzugträger, die sich hinter ihren Zeitungen verbarrikadierten –, hatte ihn so sehr mitgenommen und in eine so tiefe Verzweiflung versetzt, dass er, kaum ausgestiegen, gleich erst mal ins nächste Pub gestürzt war, wo er jetzt gerade sein zweites Bier hinter sich hatte.

Nicky war kaum wiederzuerkennen, keine Ähnlichkeit mehr mit dem unsympathischen Kind von damals, als das ihn Phyllis Fischer vor vielen Jahren kennengelernt hatte. Wie ein richtiges Kind hatte er eigentlich nie ausgesehen. Die lange Nase, die volle Unterlippe, die langen Wimpern, an einem kleinen Jungen wirkte all das übertrieben, auch die komischen Ohren, groß wie bei einem Erwachsenen und nicht zuletzt mitverantwortlich für die Demütigungen, die er in der Schule zu ertragen hatte, wo sie ihn »fette Fledermaus« nannten – damals war er tatsächlich dick gewesen und ein Lockenkopf. Als er elf war, gingen seine Eltern ins Ausland, weil sein Vater ins Ölgeschäft eingestiegen war. Sie lebten erst in Kuwait und dann in Teheran, und Nicky hatten sie ins Internat gesteckt. In den Ferien durfte er sie besuchen. Er hasste seinen Vater. Peter Knight hatte sich in den Kopf gesetzt, dass sein Junge an seinem alten College in Cambridge studieren sollte, was der einzige Grund gewesen war, weshalb Nicky darauf bestanden hatte, in Leeds Geschichte zu studieren. Und heute war er lang und dürr, und seine Unbeholfenheit entsprach perfekt dem Zeitgeist. Die schwarzen Locken waren rausgewachsen, die glatten Haare hingen ihm ein gutes Stück über den Kragen, sodass er die Angewohnheit – oder beinah schon den Tick – hatte, sie andauernd zurückzuschütteln und mit den nikotinfleckigen Fingern darin zu wühlen, um sie sich aus den kurzsichtigen Augen zu schieben; seine Brille war zierlich goldgerändert. Die Haut unter den Augen war verquollen, die Nase auffallend krumm, geblähte Nüstern wie bei einem Rassepferd, und sein Gesicht schien schon gezeichnet von den Mühen des Denkens. Als Zugeständnis an den Anlass dieses Abendessens bei den Fischers hatte er ein nicht ganz sauberes weißes Hemd und einen marineblauen Blazer mit Messingknöpfen angezogen, den ihm seine Mutter gekauft hatte und den er als eine Art Parodie aufs Militär trug. Keine Krawatte, einerseits, weil die Krawatte der Inbegriff jenes Konformismus war, den er verachtete, andererseits, weil er nie gelernt hatte, wie man sie bindet. Auf der Schule hatte er am Ende eines jeden Tages peinlichst darauf geachtet, ja nicht die vorgebundene Schlinge zu lösen, und sie sich jeden Morgen wieder über den Kopf gezogen. Und wenn ihm der Knoten aus Versehen doch mal aufgegangen war, dann hatte er sich verschämt damit zur Hausmutter geschlichen.

Und nun hockte er dort im Pub und war ganz vertieft in eine Paperbackausgabe von Traurige Tropen, er malträtierte das Buch, wie er alle Bücher malträtierte, hielt es nach hinten umgeklappt, damit er beim Lesen rauchen und sein Bierglas festhalten konnte, er machte Eselsohren in die Seiten, ließ seine Zigarettenasche darauf rieseln und bekleckerte sie mit Bier.

Dem Buch als physischem Objekt einen Wert beizumessen sei kapitalistisch, erklärte er – seine Mutter hingegen behauptete, dass er schon als kleiner Junge immer seine Bilderbücher zerrissen habe, also schon lange bevor er gegen den Kapitalismus war. Wenn er die von ihr ausgeliehenen Bücher zurückgab, jammerte sie immer über die zerfledderten Seiten und die geknickten Buchrücken und versuchte sie mit geübter sommersprossengetüpfelter Hand wieder in Form zu drücken. »Weißt du, Nicky«, sagte sie dann stets mit verhaltenem Tadel in der Stimme, »das mit dem Verschlingen der Bücher ist nicht wortwörtlich zu nehmen … Das ist eine Metapher.«

Während draußen das Tageslicht allmählich abnahm, wurde das bräunliche Lampenlicht drinnen im Pub ein klein wenig heller. Alles, was in der Urzeit noch rein und heil war, dachte Nicky beim Lesen, ist in der modernen Zeit kaputt und verseucht. Eine Lévi-Strauss’sche Verzweiflung hatte ihn ergriffen; was blieb einem denn noch, außer der Stringenz und dem erhabenen Stil des Pessimismus. Er blickte hoch und schüttelte den Kopf, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Dann las er in Spiegelschrift die in die Milchglasfensterscheibe eingeätzten Worte Geschäftsräume und Raucherzimmer und hatte auf einmal so ein flaues Gefühl: Dieses Abendessen – er war spät dran. Vielleicht sogar schon zu spät, vielleicht konnte er sich gar nicht mehr bei den Fischers blicken lassen? Aber er hatte Hunger, und er hatte die Vorstellung von Koteletts, grünen Erbsen, gekochten Kartoffeln, Mintsauce. Er stand auf, um sich endlich auf den Weg zu machen; die Traurigen Tropen steckte er umgeklappt, wie sie waren, in die Tasche seines Blazers.

 

Sie hatten gerade ohne ihn mit der Terrine anfangen wollen. Colette, die fand, dass sie in diesem Kleid wie ein rosa Wackelpudding aussah, ging an die Tür und blinzelte, vom hellen Licht im Haus geblendet, nach draußen in die Einfahrt. Nicky war froh, das Haus endlich gefunden zu haben, doch als er ihrer ansichtig wurde, war seine Erleichterung wie weggeblasen. Das hatte er schon befürchtet, dass die Tochter von diesen Fischers so ein Kaliber war: dicklich und ohne jede Anmut, keine Chance, sich die Langeweile heute Abend mit Gedanken an Sex zu vertreiben. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sofort die Flucht ergriffen.

»Ach, hallo«, sagte Colette misstrauisch, ohne sich von der Stelle zu rühren und ihm den Weg in die Backsteinveranda freizugeben, wo Schirme, Gummistiefel und Regenmäntel aufbewahrt wurden, zusammen mit den Leinen und zerkauten Gummibällen, die einem längst verstorbenen Hundepärchen gehört hatten und die niemand wegzuwerfen wagte. Es kam ihm vor, als scheine hinter ihrem Rücken die ganze tödliche Verlockung eines bürgerlichen Lebens auf, wohlgeordnet und weichgepolstert, in warmes Licht getaucht und nach Abendessen duftend.

»Ich hab überhaupt keinen Orientierungssinn«, entschuldigte er sich.

Wie Feinde standen sie einander gegenüber. »Aber vom Bahnhof aus geht es doch immer bloß geradeaus.« Hätte Colette hinzufügen können, was sie sich aber nicht so recht traute, denn Nicky war ihr in jeder Hinsicht überlegen, nicht nur vom Alter her, sondern auch weil er so gut aussah, er hätte sie einfach auslachen können, und zudem wegen seiner Freiheit, die sie daran erkannte, dass er aus dem Pub kam, denn er roch nach Bier und Rauch. Wahrscheinlich war er im Queen’s Head gewesen, wo auch sie vorhatte, irgendwann in naher Zukunft mit dem Trinken anzufangen.

»Du würdest dich wundern. Ich meine, wie leicht ich mich verlaufen kann. Sogar wenn’s immer bloß geradeaus geht.«

Im Esszimmer stand Phyllis auf, in der Hand das Messer, vor sich die glänzende rosa Terrine mit den weißen Speckstreifen; beim Warten auf den Gast hatten sie allesamt den Appetit verloren. Der erste steife Gin hatte sie in Hochstimmung versetzt, sodass sie seine Verspätung kaum bemerkt hatten, doch als Roger ihnen einen zweiten einschenken wollte, war Phyllis’ leichte Benommenheit in Gereiztheit umgeschlagen, und jetzt bekam sie Kopfweh. Trotzdem hatten sie beide ihre ironische Fassade aufrechterhalten – anders als Colette, die wütend durch die Gegend stapfte in ihrem rosa Kleid, das auch so eine Schleife unter der Brust hatte wie das ihrer Mutter, nur dass Colettes Oberweite etwas weniger handlich war. Sie hatte so lange in einem Schälchen mit gefüllten Oliven herumgepickt, bis keine mehr da waren. So froh man auch war, dass Nicholas sich endlich eingefunden hatte, es war einfach zu spät; ein Hauch von Enttäuschung lag über allem. Phyllis konnte ihren Groll auf Jean Knight, Rogers alte Bekannte, nicht verhehlen. Dieser Abend war auf Initiative von Jean zustande gekommen, weil sie aus heiterem Himmel an Roger geschrieben hatte, ob sie sich nicht ein bisschen um ihren Jungen kümmern könnten, der erst kürzlich nach London gezogen war und dort vielleicht noch nicht so viele Freunde hatte. Phyllis hatte auf den ersten Blick gesehen, dass Nicky nicht unbedingt von der Sorte war, die man gern zum Freund hätte.

Er erzählte ihnen, dass er sich verlaufen hatte, und obwohl ihm das keiner glaubte – sie rochen schließlich auch, was Colette gerochen hatte –, gaben sie sich erstaunlich viel Mühe, ihn zu bemitleiden und herauszubekommen, wo genau er sich verlaufen, welche Straßen er verwechselt hatte. Ob er etwa aus Versehen statt der Dorlcote Lane die Beech Avenue genommen habe? Er grinste immer nur zerstreut und unbefangen, putzte sich ständig die Brille am Hemdzipfel und schien herzlich wenig darauf bedacht, seine Lüge zu vertuschen. Sie boten ihm Gin Tonic an, und als er sagte, er hätte lieber ein Bier, waren sie verlegen, weil sie keines im Haus hatten. Roger habe zum Schwein eine Flasche Mosel aufgemacht, ob er den nicht mal probieren wolle? Er trinke, offen gestanden, alles, sagte Nicky, was sie aber nicht wirklich beruhigen konnte. »Außer vielleicht Met«, fügte er hinzu und merkte sofort, dass in ihrem Lachen eine unbehagliche Note mitschwang. Sie könnten aber auch gleich essen, schlug Phyllis mit leicht strengem Unterton vor. Er müsse doch gewaltig Hunger haben. Nicky schien irgendwie zu groß für ihr niedriges Esszimmer, und als sie sich an den Tisch setzten, knallte er mit den Knien unten gegen die Tischplatte, zerrte an der Tischdecke und dem die Tischplatte schonenden Friestuch darunter; Roger konnte gerade noch den Wasserkrug retten. Wie war es nur möglich, fragte sich Phyllis ärgerlich, dass dieser angetrunkene junge Tollpatsch in seinem dreckigen Hemd ihr Reich derart ad absurdum führte und es so winzig erscheinen ließ? Liebte sie doch dieses Haus mit zärtlichem Beschützerinstinkt. Alles hier war schließlich Kunst und Kunsthandwerk, Bleiglas, glänzende Kupferrohre, Parkettboden, gepolsterte Fensterbänke. Im Esszimmer gab es eine Anrichte mit lauter bemalten Tellern, die sie in Frankreich gekauft hatten; auf dem Feuerrost des Backsteinkamins prangte ihr Sommerarrangement aus Seidenpapier und Trockenblumen. Es war ihr erstes richtiges Heim in England, seit sie nach ihren Jahren in Kairo wieder zurück waren.

Sie kniff Nicky freundschaftlich in die Schulter, beschwichtigend, gleichsam als Waffenstillstandsangebot, und dabei beugte sie sich hinter seinem Rücken vor, um ihm seinen Gin Tonic hinzustellen: Er war schließlich ein Mann. Mit Männern pflegte Phyllis nicht nur durch Plaudern zu kommunizieren, sondern auch durch solche leicht erotischen Berührungen, mit denen sie sie beruhigte, ermunterte und anlockte, um sie dann auf Abstand zu halten. Sie war Roger noch nie untreu gewesen; vor ihm hatte sie nur einen einzigen anderen Liebhaber gehabt, ein schrecklicher Fehler. Nicky sollte jetzt dankbar zu ihr aufschauen oder sich entspannt zurücklehnen und ihre Hand an seiner Schulter genießen; doch ihre Finger waren kalt, weil sie damit im Eiskübel geangelt hatte – dessen Zange irgendwie abhandengekommen war –, sodass er, als er ihren Griff durch den dünnen Hemdstoff hindurch spürte, mit einer ganz unzweideutigen nervösen Heftigkeit zurückprallte und ihr dabei fast den Gin aus der Hand geschlagen hätte. Und sein Zurückprallen verblüffte Phyllis, obwohl sie ihre Verwirrung perfekt überspielte; lächelnd setzte sie sich hin und griff wieder nach dem Messer, um die Terrine anzuschneiden, und niemand hätte auch nur im Entferntesten ahnen können, dass sie gekränkt war. Doch innerlich brodelte sie förmlich nach dieser Demütigung. Nicky war vor ihrer Berührung zurückgewichen, und es kam ihr vor, als könne er es kaum ertragen, sie anzusehen: Er starrte finster vor sich hin und stach mit seiner Gabel auf das Tischtuch ein.

»Und, Nicholas?«, fragte Roger angestrengt jovial. »Wie gefällt’s Ihnen denn so in London? Schon ein bisschen warmgelaufen?«

Nicky lächelte dümmlich, blinzelte, schien ein paar Sekunden zu brauchen, bis die Frage bei ihm angekommen war. »Schon ein bisschen warmgelaufen?«, wiederholte er, als kämen diese Wörter aus einer fremden Sprache. »Ja, ich glaub schon.«

»Und jetzt? Was haben Sie für Pläne?«

»Das Problem ist«, erklärte Nicky nachdenklich, »ich seh die Zukunft nicht in dieser Form. Wissen Sie, also als Abfolge von Schritten, Fortschritt, Erreichen eines Endziels. Weil, das eigentliche Endziel ist schließlich, na ja, im Grunde ist das Endziel doch der Tod, nicht wahr? Darum wollte ich reisen, mich öffnen für andere Sichtweisen auf die Welt. Und jetzt, wo ich nicht mehr reise, möchte ich nicht einfach bloß ›einen Job kriegen‹, weil, dann geht das ja alles gleich wieder zu.«

»So ’n Quatsch«, sagte Colette, aber nicht laut; sie war sich sicher, dass ihr Vater diesen Nicholas Knight einfach bloß lächerlich finden musste. Doch Roger schien entschlossen, sich nicht geschlagen zu geben.

»Ihre Mutter sagt, Sie schreiben.«

Nicky zuckte zusammen. »Sagt sie das? Ach, na ja, Sie kennen doch Mütter. Wahrscheinlich hat sie irgendeinen glorreichen Aufsatz aufgehoben, den ich in der Grundschule geschrieben habe, und hat da ihre Hoffnungen drauf aufgebaut. Richtig ist allerdings, dass ich einen Roman geschrieben habe, letztes Jahr, als ich bei ihnen in Teheran war. Aber dann hab ich ihn verbrannt.«

Die Art, wie er die Terrine mit der Gabel auf dem Teller herumschob, ließ keinen Zweifel daran, dass er sie nicht mochte.

»Wirklich verbrannt, das ganze Ding?« Das nahm Colette ihm nicht ab. »Wetten, dass Sie’s noch irgendwo in der Schublade liegen haben, damit Sie’s später, wenn Sie mal berühmt sind, wieder rausholen können.«

Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich hab ihn wirklich verbrannt. Der Gärtner hat in einem alten Ölfass Unkraut verbrannt, da hab ich sein Feuer gefüttert, mit der Arbeit von Monaten, immer ein paar Seiten auf einmal.«

Sie konnte nicht umhin, beeindruckt zu sein. »Das war bestimmt ganz scheußlich.«

»Es war befreiend. Ich hab mich freier gefühlt danach. Es sollte um die Leute gehen, die ich im Iran und in Afghanistan getroffen hatte, aber in Wahrheit hatte ich keine Ahnung, was diese Menschen dachten. Das heißt also, es ging immer nur um mich, auf jeder einzelnen Seite, um das, was ich über sie dachte: Das war ziemlich grässlich. Als ich dann nach England zurückkam, um Stoffe zu finden, die ich wirklich durchdringen kann, hab ich festgestellt, ich will überhaupt keine Romane schreiben. Das ist eine tote Form.«

»Nein, das stimmt nicht«, protestierte Colette, aber Nicky ignorierte sie.

»Also, ich weiß noch nicht so recht, was ich mit mir anfangen soll«, fuhr er an Roger gewandt fort. »Weil, der Roman ist tot, und das politische System ist ein einziger Schweinestall – wenn ich das hier mal so sagen darf.«

»Immer frei von der Leber weg«, sagte Roger. »Wir liegen wahrscheinlich gar nicht so weit auseinander, wie Sie glauben. Nur dass ich mich mit meiner Rolle in diesem Schweinestall arrangiert habe.«

Das könne man ihm nicht verdenken, sagte Nicky, und Roger fragte ihn, ob er Marxist sei. Aber der Marxismus sei doch eine einzige Schinderei, maulte Nicky. Im Morgengrauen aufstehen, rausgehen und sich zum Narren machen, Flugblätter verteilen bei den Hafenarbeitern, die die Dinger gar nicht haben wollen, die einfach bloß wollen, dass man die Leute aus der Karibik nicht hier reinlässt. »Die schauen dich mit deinen weichen Händen an, als ob sie schon überlegen, an welche Wand sie dich stellen, wenn die Revolution, für die du dich abstrampelst wie ein Idiot, tatsächlich mal kommt.«

Colette schaute zu, gespannt, ob sich ihr Vater Nickys Schnoddrigkeit nicht endlich mal verbitten würde, doch der lächelte bloß. Und die Sozialisten, die gehen einem noch mehr auf den Senkel, moserte Nicky weiter: Vegetarismus, Ostermärsche, Folkmusic.

»Ich verstehe schon, was Ihr Dilemma ist«, sagte Roger. »Muss frustrierend sein, wenn man nicht mal mehr für die Überwindung von irgendwas kämpfen kann.«

»Ich schau mich einfach um«, sagte Nicky, »und warte mal ab, was passiert. Schreibe hin und wieder einen Artikel. Vielleicht gibt es ja noch eine andere Möglichkeit, etwas zu erreichen. Oder ich gehe wieder zurück in den Iran und lebe dort als Bauer. Sie würden für Ihre Arbeit bestimmt überallhin gehen, Mr Fischer. Sie tragen das Licht der Zivilisation in die entlegensten Winkel, oder was sonst die Regierung Ihrer Majestät tun zu müssen glaubt.«

»Heutzutage ist das ja vor allem ein Schreibtischjob«, sagte Roger. »Leider. Aber ich bin immer sehr gern gereist. Als ich ungefähr so alt war wie Sie jetzt, haben sie mich zur Verbesserung meiner Arabischkenntnisse in eine Außenstelle des Ministeriums im Libanon geschickt, unweit von Beirut, in einer alten Seidenfabrik. Das war eine herrliche Zeit.«

Nicky bemühte sich nicht mal, Interesse zu heucheln. »Ach ja, wirklich?«

Sie hätten mit Einheimischen zusammengewohnt, erzählte Roger, und abends hätten sie beim Licht von Öllampen à la Aladin Arabisch gelernt; an den Wochenenden hätten sie Bergwanderungen gemacht. »Aber Sie haben natürlich vollkommen recht – also mit dem, was Sie über Ihren Roman gesagt haben. Als wir nach und nach besser mit der Sprache zurechtkamen, wurde uns auch klar, dass wir keine Ahnung hatten, was unsere Gastgeber sich dachten. Eine heilsame Lektion für die Diplomatie.«

»Sie sind Linguist.«

»Altphilologie, Oxford. Keine schlechte Basis.«

»Roger liebt den Nahen Osten«, sagte Phyllis. »Wir haben uns in Kairo kennengelernt, ich hatte da unten einen Job angenommen, hab gedacht, ich will was sehen von der Welt. Dass wir wieder zurückgekommen sind und jetzt in England leben, das ist ganz allein meine Schuld. Ich hab Ägypten geliebt, aber Ägypten war mit mir nicht einverstanden, ich bin da unten krank geworden.«

»Wie lästig!«, sagte Nicky. Mit kindlicher Konzentration bestrich er seinen Toast mit Butter, fein säuberlich, ganz bis an die Ränder. »Was ich nicht ausstehen kann, sind die fröhlich lächelnden Gesichter der Auslandsbriten überall in diesen Ländern. Bitte nicht persönlich nehmen, Mrs Fischer. Ich weiß ja, ich war selber einer. Obwohl ich zu meiner Verteidigung sagen muss, dass Lächeln bei mir eher selten war. Aber besonders die im Ausland lebenden Briten und Amerikaner: tief verstrickt in die Verbrechen, und das schon so lange, und trotzdem diese fröhlichen, treuherzigen Gesichter, wie kleine Kinder, reingewaschen von all den Bluttaten, so hässlich, diese Unschuldsmienen. Und dagegen die Gesichter der Unterdrückten, schwer gebeugt von all dem Frevel, und uralt. So alt wie die Berge.«

»Ich seh schon«, sagte Roger, »Sie haben in der Tat das Zeug zum Schriftsteller.«

Phyllis hörte gar nicht richtig zu, was Nicky sagte, sein Missfallen aber registrierte sie durchaus. Sie hatte es immer noch nicht so ganz verwunden, dass er vorhin, als sie ihn in die Schulter gekniffen hatte, zurückgezuckt war. Neuerdings amüsierte sie bisweilen der Gedanke, dass sie nunmehr auf dem Weg war, eine alte Frau zu werden. Sie malte sich aus, wie sie heiteren Gemüts ins mittlere Alter überging, das erfüllt wäre vom Haushalt und von ihren Hobbys – und damit ausgefüllt. Aber diese ganze fröhliche Resignation, das erkannte sie jetzt, war Täuschung gewesen, nichts als Selbstbetrug. Im Grunde ihres Herzens hatte sie sich niemals ernsthaft Gedanken darüber gemacht, dass sich etwas geändert hatte oder jemals ändern musste; sie war einfach davon ausgegangen, dass ihr sexuelles Selbst im Kern für immer bleiben würde, ein Klümpchen radioaktiven Materials, aufgeladen mit seiner eigenen Kraft, ohne Zerfallsdatum. Jetzt hatte sie Angst, dass Nicky sich vor ihr geekelt hatte, als sie ihn berührte, genauso wie sie sich vor diesen lüsternen alten Männern ekelte, die sie betatscht hatten, als sie in seinem Alter war. Offenbar war nun sie es, die alt und abstoßend war. Hatte er mit dieser Geste nicht genau das ausgedrückt? Dass die Jungen solche Frauen wie sie, Frauen aus ihren Kreisen, abstoßend fanden. Wahrscheinlich würde sie nie mehr von irgendjemandem begehrt werden, außer von Roger.

Inzwischen waren sie alle mehr oder weniger betrunken, bis auf Colette, die aus der einsamen Höhe ihrer Nüchternheit über sie urteilte. Jedes noch so winzige Detail an Nickys Anwesenheit schien für Phyllis bedeutsam zu sein, weil sie von jetzt an von der Jugend und auch von der Schönheit ausgeschlossen war: die violetten Schatten unter seinen Augen, die straffen Falten in seinen Mundwinkeln, wenn er ironisch vor sich hin lächelte, die nikotinfleckigen Finger, die zitterten, als er sich, nachdem er seinen Toast aufgegessen hatte, eine Zigarette anzündete. Solange solche Dinge für mich in Reichweite waren, dachte sie, hab ich sie nie beachtet. Seine Bewegungen waren so lässig und spontan, er warf all die Konventionen, die bei den Fischers galten, einfach über den Haufen. Sie kam sich vor, als würde sie die ganze Zwanghaftigkeit und Förmlichkeit mit seinen Augen sehen. Nicky drückte seine Zigarette aus, einfach so in den Rest ihrer schönen Terrine. Phyllis hatte nicht gewusst, dass die Jugend diese Macht hatte, die Gegenwart von Menschen mittleren Alters einfach zerbröseln zu lassen.

 

Nicky hatte Phyllis Fischer erst richtig wahrgenommen, als sie ihn angefasst hatte. Bis zu diesem Augenblick hatte er sie durch den Nebel all der Dinge gesehen, die ihm an ihr ganz selbstverständlich vorgekommen waren: zum Beispiel, dass sie ungefähr so alt und so geschlechtslos war wie seine Mutter. Er hatte eine vertraute, Geborgenheit verbreitende Fürsorglichkeit wahrgenommen und jede Menge sinnloses Getue. Das war zwar alles nicht unangenehm, aber eben auch nicht interessant. Doch als Phyllis mit ihrer kalten Hand nach ihm griff, da war es, als würde er wachgerüttelt werden. Wenigstens etwas, das unter der verblödenden Banalität dieser Unterhaltung noch am Leben war. Er hatte den Gedanken an Sex an der falschen Stelle verortet. Nicht die Tochter war es, deren Reize ihm an diesem Abend die Langeweile vertreiben konnten, sondern die Mutter: jünger als er gedacht hatte und so eifrig, mit diesem hübschen sandfarbenen Teint und diesem Gesicht, das ihm aus irgendeinem Grunde wie geknebelt vorkam. Der große, leicht verlaufene Mund – rosa Lippenstift, der in die Rillen ihrer Lippenhaut einsickerte – verriet, dass sie trotz ihres perfekten Auftritts als ideale Gattin etwas Verspieltes an sich hatte, etwas Verantwortungsloses. Sie langweilte sich unter Garantie genauso sehr wie er, langweilte sich zu Tode. Bloß schade, dass sie dieses französische Essen kochte. Das Fleisch, das sie als Vorspeise serviert hatte, konnte er nicht anrühren, weil weiße Fettklumpen darin waren, und er hasste Fett. Das Rind war zumindest essbar, die Kartoffeln aber zu schwer, sie hatte sie in Scheiben geschnitten und mit Sahne und Butter gegart. Er versuchte, das Gratin dauphinois unter seinem Messer zu verstecken, ein alter Trick aus Internatszeiten.

Ihr Mann mit seiner eingefrorenen Konversation, seiner abgedroschenen Ironie war für Nicky selbstverständlich ein Feind. Roger war das personifizierte Establishment: sein Einser-Abschluss in Oxbridge, seine Kriegserfolge, ausgezeichnet in Monte Cassino – Nickys Mutter hatte ihm das alles aufgezählt, stolz darauf, mit einem Mann wie ihm befreundet zu sein. Was lag angesichts dieser unwiderstehlichen Kraft seines Rivalen näher, als dessen Frau zu verführen? Das heißt, sie tatsächlich zu verführen, ging natürlich nicht. Schließlich waren die Fischers mit seinen Eltern befreundet. Aber sie zumindest in Gedanken zu verführen. Er fragte sich, wenn er an der Schleife an Phyllis’ Kleid zöge, was sich da wohl öffnen würde? Als sie aufstand, um eine Salatschüssel von der Anrichte zu holen, sah er, dass das Schleifenband reine Dekoration war, tatsächlich war das Kleid am Rücken mit einem Reißverschluss aufzumachen. Er lehnte den Salat ab und stellte sich vor, wie er Phyllis’ Körper an sich drückte und ihr über die Schultern griff, um sie zu entblättern, während er sich mit ihrem Mann unterhielt und die lästige Tochter abwehrte. Seidig und kompliziert würde sie sein in seinen Armen, nur in Slip und Büstenhalter, und ihn mit rosa Lippenstift beschmieren, mysteriös erfahren.

Nicky hatte eine akzeptable Anzahl sexueller Abenteuer hinter sich, wenn auch kein einziges, das transformativ gewesen wäre, was ihm ein wenig Sorgen machte. Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her, um seinen unterm Tisch eingeklemmten Knien ein wenig Platz zu verschaffen. Die Schulgöre in diesem unmöglichen Rosa – Cornelia? Caroline? – war unerbittlich, ihr Blick verunsicherte ihn, und so konnte er nur ab und zu verstohlen zu ihrer Mutter rüberschauen, während seine Aufmerksamkeit notgedrungen weiter auf Roger Fischer ruhte. Es fiel ihm auf, dass Roger sein Essen mit der Gabel zerteilte, während die zur Faust geballte Rechte neben seinem Teller auf dem karierten Tischtuch ruhte.

»Ist das eine alte Kriegsverletzung, Sir?«

Keine Ahnung, wo dieses »Sir« auf einmal herkam. Vielleicht aus den Comics seiner Kindheit? Oder ein peinliches Überbleibsel aus seiner verhassten Schulzeit? Kaum hatte er es ausgesprochen, da war ihm auch schon klar, dass es sich allzu sehr wie Hohn anhörte, obwohl er es eigentlich gar nicht höhnisch gemeint hatte. Roger sah auf seine Hand, als habe er sie ganz vergessen. Irgendwas stimmte nicht mit ihrer Form, die gekrümmten Finger lagen kraftlos in der Handfläche, die Sehnen waren welk und eingefallen, die Haut straff gespannt und bläulich rot. Jetzt, wo er daran dachte, öffnete er sie mühsam. »Keine so ruhmvolle Sache«, sagte er. »Ich hab mir antrainiert, meistens die andre zu benutzen.«

»Aber Roger, natürlich ist es eine Kriegsverletzung!«, rief Phyllis, erfreut über diese Gelegenheit, sich als treusorgende Ehefrau zu präsentieren. »Nur nicht direkt aus dem Krieg selbst: hinterher, in Ägypten, wegen Palästina. Die Stern-Bande hatte einen Zug in die Luft gejagt, ein Metallsplitter hat ihm die Hand durchbohrt, er hätte sie beinah verloren. Wir kannten uns damals noch nicht, aber es ist mir berichtet worden – allerdings nicht von Roger, natürlich nicht! Seine Freunde haben’s mir erzählt.«

»Im Zug von Kairo nach Haifa, Februar ’48, war ’ne Menge Militär drin. Falscher Ort, falscher Zeitpunkt. Keine Heldentat.«

»Das stimmt doch nicht«, ereiferte sich Phyllis. »Er war sehr wohl ein Held, hat den Verletzten geholfen, obwohl er selbst so schlimme Schmerzen hatte. Hunderte Soldaten sind dabei umgekommen.«

»Nicht Hunderte, Phyl.«

»Man muss ihm dankbar sein. Ich meine, wir alle müssen dankbar sein. Ich für mein Teil bin es jedenfalls, das weiß ich.«

»Jetzt machst du mich aber wirklich verlegen. Gibt’s eigentlich noch Pudding? Ich hege die Hoffnung, dass wir noch Pudding bekommen, schließlich hast du Löffel hingelegt. Vielleicht ein Gläschen Madeira dazu? Soll ich den Madeira holen?«

»Ich vermute mal, dass Sie meine Generation verachten«, sagte Nicky bitter.

»Unsere Generation«, verbesserte ihn Colette, aber Mädchen zählten für Nicky nicht richtig mit, Mädchen hatten einfach Glück. Er verachte ihre Generation durchaus nicht, sagte Roger, ganz und gar nicht. Er sei bloß der Ansicht, dass sie die Möglichkeit hätten, sich mit klarem Kopf umzuschauen.

»Ich vermute mal«, fuhr Nicky fort, »wir werden niemals Helden sein, weil wir nie vor solche Prüfungen gestellt sein werden wie Sie damals. Aber wir wollen auch gar keine Helden sein. Ich zumindest nicht. Ich geb es gerne zu: Ich würde durch jede Prüfung fallen, die mir auferlegt wird. Und das ist mir auch egal. Ich bin ein Feigling und bin froh darüber. Die Welt wär besser, wenn die Feiglinge das Sagen hätten. Dann könnten wir alle ruhig schlafen und unsere Bücher lesen.«

»Aber einer muss schließlich die Betten machen und Essen kochen«, sagte Phyllis fröhlich, um dem Gespräch wieder eine etwas heiterere Note zu geben.

»Du machst die Betten doch gar nicht«, sagte Colette. »Das tut doch Mandy Verey.«

Zu ihrer Verblüffung sah sie, wie ihre Mutter daraufhin dunkelrot anlief, ganz so, als würde sie sich für irgendwas schämen, was sie jedoch nie tat. Phyllis dachte bloß, dass Nicky Knight sie nun endgültig verachten müsse. Nicht genug damit, dass sie alt und abstoßend war, jetzt hatte sie auch noch Bedienstete.

 

In diesem Moment klingelte draußen in der Diele das Telefon, und Phyllis ging raus und nahm den Hörer ab. Es war die Mutter von einem von Hughs Freunden, die sich beklagte, dass ihr Sohn mit nur einer Sandale nach Hause gekommen war. Phyllis gab sich ahnungslos. »Diese ungezogenen Jungs aber auch«, sagte sie mitfühlend, jedoch nicht ernsthaft genug. Patsy Barnes-Pryce schien ihr Vorwürfe zu machen.

»Also ich weiß nicht, die müssen doch denken, wir schwimmen im Geld.«

Wenn die Barnes-Pryces nicht im Geld schwimmen, wer dann?, dachte Phyllis. Patsys Mann war Börsenmakler, die Leute waren stinkreich. »Es wäre wirklich nett, wenn Sie oder Roger mal draußen nachsehen könnten«, sagte Patsy.

»Aber wir haben doch gar keinen Fischteich!«

»Nein, aber die Chidgelys haben einen, und die sind gerade in der Schweiz. Haben Sie denn nicht den Schlüssel? Ich dachte, Sie füttern ihre Katze.«

»Na ja, ich könnte ja mal nachsehen gehen«, sagte Phyllis unschlüssig, »also morgen früh.«

»Ich mach mir bloß Sorgen wegen der Füchse«, erwiderte Patsy bestimmt. »Ich meine, Sie sollten jetzt gleich gehen. Nehmen Sie eine Taschenlampe mit. Er sagt, sie ist bei der Nymphe.«

»Welche Nymphe?«

»Keine Ahnung. Aber wenn’s da eine Nymphe gibt, werden Sie sie ja wohl erkennen?«

Phyllis war ganz benommen, sie musste sich erst mal fassen: Die Barnes-Pryces rannten ständig in die Kirche, die wären empört, wenn sie den Eindruck haben müssten, dass sie getrunken hatte. Sie stand auf dem türkischen Läufer, wickelte sich die Telefonschnur um die Hand und wippte auf den bestrumpften Zehen – anscheinend hatte sie die Schuhe unterm Esstisch ausgezogen, das tat sie manchmal, wenn sie einen Schwips hatte – und hörte sich dabei zu, wie sie – zögernd, aber doch charmant und so, dass Patsy nicht beleidigt wäre – das Ansinnen abzulehnen versuchte. Sie hätten gerade Besuch, erklärte sie, sie seien mitten beim Abendessen. Und in Gedanken rief sie: Also wirklich! Draußen war es stockfinster! Und wie kam sie überhaupt dazu, Milos quietschnasse Sandale suchen zu gehen?

Sie liebte diese Diele, die ihr mit der eingelassenen Eichentreppe und den getäfelten Eichentüren vorkam wie ein Bühnenbild für ein Stück von irgendwem, der längst schon aus der Mode war. Und sie hatte das Gefühl, irgendwo in einiger Entfernung, weiter weg, nicht nur die Stimme von Patsy immer noch durch die Telefondrähte hallen zu hören, sondern auch ihre eigene, was total irreal war. Die einzige Realität war dieser gegenwärtige Moment, der sie umschloss in diesem tiefen Brunnen aus Stille und samtenem Schummerlicht, das durch die Lampen, die sie aus Korbflaschen gebastelt hatte, rosa getönt war und die Messingtöpfe mit ihren Gestecken aus Straußenfedern und getrockneten Samenkapseln aufleuchten ließ. Im Esszimmer, dessen Tür nur einen Spalt geöffnet war, wurde ohne sie weiterdiskutiert, Stimmen schwollen an und ebbten wieder ab. Phyllis spürte diesen gegenwärtigen Moment an ihren Nervenenden, die von Empfindungen kribbelten; ohne etwas sehen zu können, blätterte sie das Adressbuch durch, das weich und abgegriffen war, mit jeder Menge eingelegter Listen und hineingesteckter Visitenkarten, und in dem die Namen von ein paar verstorbenen Freunden und Verwandten pietätvoll durchgestrichen waren. Und in all der Stille ein rasender Puls: ihr eigener. Ihr Leben, es verging, es ging dahin. Als sie ihr Gesicht verschwommen in dem quadratischen Flurgarderobenspiegel erblickte, fand sie, dass sie konsterniert aussah, wie ein Opfer eines Überfalls.

»Die Sache ist nämlich die«, fuhr Patsy unbeirrt fort, »dass ich da so einen kleinen Burschen gefunden habe, einen Spezialschuhmacher, fürchterlich teuer. Milos Füße waren nämlich ein einziger Albtraum.«

Oben ging knarzend die Tür von Hughs Zimmer auf. Hugh hatte einen sechsten Sinn dafür, wenn es am Telefon um irgendwas ging, das mit ihm zu tun hatte, und so kam er hinausgeschlichen und setzte sich im Schneidersitz und mit verschränkten Armen in seinem gestreiften Schlafanzug auf den letzten Treppenabsatz vor der Abwärtsdrehung hinunter in die Diele. Schließlich willigte Phyllis seufzend ein hinauszugehen, nachzuschauen und Patsy dann wieder anzurufen. »Das ist irrsinnig nett von Ihnen«, heuchelte Patsy.

»Wetten, dass das die großartige Madame Barnes-Pryce war«, sagte Hugh weise, als Phyllis aufgelegt hatte. »Wegen des Sandalenskandals.«

»Unmöglich, die Frau!«

»Und ich sag dir noch was. Die Sandale ist da drin.«

»Was meinst du mit ›drin‹? In dem Teich? Aber sie sagt doch, er hat sie ausgezogen und bei einer Nymphe vergessen.«

»Hat er ja auch. Aber dann ist noch jemand anders gekommen und hat sie reingeschossen.«

»Doch nicht etwa du, Hugh?«

»Aber Mutter, was denkst du denn von mir? Großes Pfadfinderehrenwort. Aber ich hab’s gesehen.«

Phyllis konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Ihr Sohn war wie sie, dachte sie, er konnte sie verstehen. »Marsch zurück ins Bett«, sagte sie. »Weißt du, wie spät es ist?«

 

Während ihre Mutter am Telefon war, räumte Colette missmutig den Tisch ab. Die beiden Männer blieben verlegen allein im Wohnzimmer zurück; Nicky nahm sich vor, auf jeden Fall gleich nach dem Pudding zu verschwinden. Roger fragte ihn nach Cressing, dem Haus, das die Knights in Suffolk besaßen; während ihres mehrjährigen Auslandsaufenthalts war es vermietet gewesen, aber nun hatten sie sich endlich entschlossen, wieder daheim in England zu leben. Er selbst gehe nicht allzu oft nach Cressing, sagte Nicky, er bekomme Asthma in dem Haus, er sei allergisch gegen seine Kindheit – aber seine Mutter sei dort sehr glücklich. Sein Vater sei nicht gern auf dem Lande, er halte sich lieber in der Wohnung am Woburn Square auf. Als junger Mann, sagte Roger, als er während des Krieges dort war, sei er richtig verliebt gewesen in Cressing. Er habe dort immer seinen Urlaub verbracht, weil Peter Knight ein Freund von Rogers Vater war, die beiden Männer hätten eine Zeit lang zusammengearbeitet, obwohl sein Vater nicht annähernd so erfolgreich gewesen sei wie Peter. In den schweren Zeiten habe ihm der Gedanke an Cressing immer geholfen durchzuhalten. »Dass es irgendwo da draußen auf dem Lande so ein gemütliches altes Haus gibt, wissen Sie. Nicht besonders groß, aber mit einer Bibliothek und drumherum ein Graben mit ein paar Schwänen und eine Sternwarte. Lächerlich, klar, denn es war ja nicht mein Haus, gar nicht dran zu denken. Da, wo ich herkomme, hat man so was nicht, also in meinen Kreisen; in Ihren Kreisen wohl schon eher, was, Nicholas? Eigentlich bin ich ja gegen eine Grundbesitzerklasse, theoretisch.«

»Ach, meine Kreise. Mit meinen Kreisen will ich nichts zu tun haben.«

»Leichter gesagt als getan. Ich hatte ein Stipendium. Mein Vater war Buchhalter.«

»Auffällig ist übrigens«, sinnierte Nicky, der von der Beichte des Älteren peinlich berührt war, »dass meine Mutter jeden Tag irgendwelche Sachen entdeckt, die die Mieter, die während ihrer Abwesenheit dort wohnten, kaputt gemacht oder gestohlen haben. Richtig besessen ist sie davon. Als ob sie die ganze Zeit durchs Haus läuft und regelrecht nach irgendwas sucht, das ihr das Herz zerreißt: Sie kramt in den Schränken, bis sie irgendwo in der hintersten Ecke Scherben von einer Vase findet, die zu Bruch gegangen ist und von der sie nicht mal mehr wusste, dass sie sie hatte, bis sie plötzlich nicht mehr da war.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen, dass Jean sich auch nur im Mindesten für irgendwelche materiellen Besitztümer interessiert.«

»Wahrscheinlich ist das eine Überreaktion. Nach ihren Wanderjahren. Ach so, und ich soll Sie ganz herzlich von ihnen grüßen und Ihnen alles Liebe ausrichten. Jedenfalls von meiner Mutter. Mit meinem Vater rede ich eigentlich gar nicht. Ich hab keine Ahnung, ob der für irgendwen noch so was übrighat wie Liebe, außer für sich selbst und seine scheußliche Geliebte, ich möchte es aber bezweifeln.«

Roger strich verstört das Tischtuch glatt. Es war vielleicht kein guter Stil, dachte Nicky, dass er von der Geliebten angefangen hatte. Und dann, Colette brachte gerade die Charlotte russe herein, kam Phyllis mit Leichenbittermiene und ihren Gummistiefeln in der Hand aus der Diele and sagte, sie müsse nach draußen. »Wieso denn, wieso musst du nach draußen?«, fragte Roger besorgt und stand halb vom Tisch auf. »Wohin denn überhaupt?«

»Also ehrlich, so eine blöde Kuh! Entschuldigt meine Ausdrucksweise.«