Hinterm Horizont - Harriet Miller - E-Book

Hinterm Horizont E-Book

Harriet Miller

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Beschreibung

Ist Gott nur theoretisch allmächtig? Oder kann er auch eine total kaputte Ehe retten? – Das fragt sich Magda Bender, als ihre Ehe nahezu vor dem Aus steht. Die Gewalt ihres Mannes öffnet sie für eine außereheliche Beziehung, was die Sache noch komplizierter macht. Es scheint klar auf der Hand zu liegen, dass dies das Ende der ehelichen Verbindung von Magda und Oliver ist. Doch Gott greift auf außergewöhnliche und wunderbare Weise ein…

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Harriet Miller

Hinterm Horizont

Nach einer wahren Begebenheit

Harriet Miller

Hinterm Horizont

Nach einer wahren Begebenheit

1. Auflage 2014

© Lichtzeichen Verlag, Lage

Coverfoto: shutterstock: Ivory27

ISBN: 9783869548715

Bestell-Nr.: 548871

E-Book Erstellung:

LICHTZEICHEN Medien

www.lichtzeichen-medien.com

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Erlaubnis des Verlegers in irgendeiner Form reproduziert werden.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Pfingsten 1988

September 1986

Ostern 1988

Kapitel 2

Dezember 1988

Februar 1989

Begegnungen 1974

Anna Pawlowa 1978

Kapitel 3

Mai 1989

April 1991

März 1992

Rita Radke 1983

Ballettschule im Paradies

Kapitel 4

November 1992

Januar 1993

Idar-Oberstein 1972

Davos 1973

Kapitel 5

Sommer 1993

Juni 1994

Alex 1980

Eine lange Geburt

Kapitel 6

März 1995

Lieber Alex

Kapitel 7

Lieber Alex

Kapitel 8

Mai 1995

Lieber Alex

Kapitel 9

Ostern 1998

Lieber Alex

Kapitel 10

Dezember 2001

Januar 2002

März 2002

Merle

April 2002

Kapitel 11

Mai/Juni 2002

Lieber Alex

Kapitel 12

Heimat

Kapitel 13

Lieber Alex

Kapitel 14

Osterurlaub 2004

Lieber Edgar

Schnee in den Herzen

Gespräche

Februar 2005

Kapitel 15

Trauer und Schmerz

Kapitel 16

Lieber Alex

Kapitel 17

Vorwort

Vor ein paar Jahren landete der Romanentwurf von Harriet auf meinem Schreibtisch. Je mehr ich davon las, desto mehr wurde ich hineingezogen in eine sehr persönliche Geschichte, in der die Autorin ihr Leben, ihre Ehe und ihren Glauben auf den Prüfstand legt. Ich bin überzeugt, dass das Buch seine Leser finden wird als spannende Geschichte und als seelsorgerliche Hilfe.

Albrecht Gralle

Dank

Mein allererster Dank gilt unserem großen Gott, der dieses Wunder in unserer Ehe gewirkt hat, als ich schon nicht mehr daran glaubte. Als nächstes danke ich Theo mit Ehefrau Helmy, Janna und Gisa sowie Albrecht, die mich in meinem Schreibprozess über Jahre begleitet und ertragen haben. Nicht vergessen möchte ich auch die Landespolizeidirektion Konstanz, denen ich viele komische Fragen stellen durfte.

Harriet Miller

KAPITEL 1

Pfingsten 1988

Mein Freund ist weiß und rot,auserkoren unter vielen Tausenden.Hoheslied 5,10

„Ja, ich will – mit Gottes Hilfe.“ Magdas Stimme zitterte leicht. Würde sie Oliver treu sein können? Ein ganzes Leben lang? – Gott, du kennst mich, auch meine Schwächen. Bitte hilf mir, mein Versprechen zu halten.

Die Menschen, die in der Felsenkirche zu Idar-Oberstein zur Hochzeit von Oliver und Magda Bender versammelt waren, ahnten nichts von Magdas Zweifeln. Sie schoben das Zittern in ihrer Stimme, wenn sie es überhaupt bemerkten, auf die Aufregung der jungen Braut. Sie sahen eine junge Frau mit strahlenden Augen, ihr hellbraunes langes Haar kunstvoll aufgetürmt unter dem halbdurchsichtigen Schleier. Sicher, sie war etwas blass um die Nase, doch wer mochte ihr das verdenken an so einem Tag? Sie stand neben ihrem Bräutigam vor dem Altar, der unablässig die Hand seiner frisch angetrauten Ehefrau hielt und sein Glück kaum fassen konnte.

Ist es ein Wunder, dass wir in der Felsenkirche heiraten?, schoss es Magda Bender durch den Kopf. Es war Olivers Vorschlag gewesen, weil sie sich hier kennengelernt hatten. Sie hatte begeistert zugestimmt. Gott war ihr beider Fels. Das war für sie der Grund, hier heiraten zu wollen. Gesagt hatte sie nichts von diesen Gedanken. Oliver sollte nicht glauben, dass sie unsicher war. Aber seit einigen Wochen, je näher die Hochzeit rückte ...

„So erkläre ich euch nun zu Mann und Frau.“

Der Gottesdienst war vorüber, und die Gesellschaft verteilte sich auf die Autos, die zu Füßen der Felsenkirche warteten.

Der Morgen kroch durch die Vorhänge ins Schlafzimmer. Magda erwachte, schlug die Augen auf und sah sich um. – Richtig: gestern hatten sie geheiratet. Neben ihr lag Oliver und schlief noch tief und fest. Oliver brauchte viel Schlaf. – Doch wer geht schon an seiner eigenen Hochzeit um zehn Uhr abends heim, wenn das Programm erst richtig anfängt? – Man heiratet schließlich nur einmal im Leben. Im Normalfall.

Magda schaute sich die Decke des Schlafzimmers an, die sie erst vorletzte Woche in Hellblau gestrichen hatten. – Wenn man genau hinschaute, sah man den Übergang von der einen zur anderen Farbmischung. Es war nicht einfach gewesen, genau dieses wunderschöne Himmelblau wieder hinzubekommen...

Sie drehte sich auf die Seite und betrachtete ihren Mann. „Mein Freund ist weiß und rot ...“ Immer wieder fiel ihr dieser Bibelvers ein. Olivers Schuppenflechte verlieh ihm dieses Aussehen, am ganzen Körper. – Magda schloss die Augen: und sah den Idarwald wieder vor sich.

Der Geruch feuchter Blätter, die nach dem Sommer zu Boden fallen, liegt in der Luft. Wir atmen kleine weiße Wölkchen aus beim Laufen. Oliver fragt, als ob es die normalste Sache der Welt wäre: „Was hältst du eigentlich davon, wenn wir heiraten?“ So, wie wenn er sich erkundigte:, Sollen wir diesen oder jenen Weg nehmen?“ Die Frage lässt mein Blut durch die Adern rasen, sodass mir ganz warm wird. Ich bleibe stehen. Meine Wölkchen haben sich vergrößert. „Keine schlechte Idee“, sage ich und küsse ihn voll auf die Lippen. „Und meine Krankheit? Macht dir das wirklich nichts aus? Schließlich weiß man nicht, in wieweit dies auf eventuelle Kinder übergeht.“

Ich denke an Isabella, die auch Psoriasis hat. Wir teilen schon seit ich denken kann unser Zimmer miteinander. Und bei Eddie wurde vor Kurzem eine Zementlunge festgestellt. Oh ja, ich weiß, was Krankheit ist, auch wenn Eddie schon seit sieben Jahren verheiratet ist.

Oliver braucht eine Antwort. Und ich erwidere ihm: „Ich weiß, dass es in Gottes Macht steht, Gebet zu erhören. Wir können doch unsere Beziehung im Vertrauen auf den lebendigen Gott beginnen. Wenn wir ihm unser Anliegen sagen, wird er es bestimmt nicht unbelohnt lassen.“

In die Richtung gingen ihre Gedanken auch in Bezug auf das, was an Ostern passiert war ... Aber darüber mochte sie jetzt nicht nachgrübeln! – Sie zeichnete mit dem Finger kleine Kreise auf die Bettdecke.

Nun tauchte Oliver aus seinen Träumen auf. Er räkelte sich und öffnete langsam die Augen. Als er Magda neben sich entdeckte, wie sie ihn betrachtete, lächelte er. Die Freude über dieses erste gemeinsame Erwachen war ihm anzusehen. Oliver rieb sich die Augen: „Hallo, Frau Bender“, grinste er und streichelte ihren Arm.

„Hallo, Herr Bender“, erwiderte sie leise, „hast du gut geschlafen?“ Ihre Augen strahlten.

Er zog seine Hand zurück und fing an sich ausgiebig zu kratzen. Magda sah ihm befremdet zu. Sie bemerkte zwar die Schuppen auf seiner Haut und verstand auch seinen Juckreiz. Dennoch fühlte sie sich zurückgesetzt. Oliver griff nach der Cremedose. „Tut mir leid, Magda. Ich muss erst mein Make-up auftragen. Aber dann ...!“ Verschwörerisch blinzelte er ihr zu. Ein unsicheres Lächeln überflog ihr Gesicht. Er schraubte die Cremedose auf und fragte: „War es sehr schlimm für dich, dass ich heute Nacht nur noch schlafen wollte?“

Sie nuschelte etwas Unverständliches und zuckte mit den Schultern. Dabei malte sie sich aus, wie schön es wäre, wenn ... Aber kann ich es wagen, ihm das so zu sagen? Er kann doch nichts dafür!Während Oliver die Salbe auf seinen Armen verteilte, musterte er sie; und sie überlegte unwillkürlich, ob er Gedanken lesen könne.

„Weißt du“, setzte er erneut an, „Ich war einfach nur am Ende gestern Abend. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich es noch schaffe, dich über die Schwelle der Wohnungstür zu tragen. Als ich dir allerdings half, dich aus dem Hochzeitskleid zu schälen, merkte ich, dass wenn ich jetzt keinen Schlaf bekäme, ich die ganze Nacht wach liegen würde. Kannst du das verstehen?“

„Ist doch okay. Ich fand es sehr zärtlich, wie du mir den Schleier vom Kopf genommen hast.“

Nochmals streckte er die Hand nach ihr aus um sie zu liebkosen. Ein Schauer überlief sie. Gleich würden sie ... Oliver fuhr jedoch gleich darauf abermals mit dem Eincremen fort.

Während sie ihrem Mann bei der Behandlung seiner Beine zusah und wie er den Rest seines Körpers auf Auffälligkeiten hin untersuchte, sann sie über die Hochzeitsreise nach, die ihnen verwehrt war. Das unterscheidet uns ebenfalls von anderen frisch verheirateten Ehepaaren, dachte sie. Keine Flitterwochen! Jeden Tag verkaufe ich Reisen in die schönsten Regionen der Welt, und wir können noch nicht einmal auf Hochzeitsreise gehen. Magda schluckte. Das ist nicht fair. Schließlich kann keiner was dafür, dass Oliver noch in der Probezeit ist.

Oliver schraubte die Cremedose zu und rutschte zu ihr unter die Decke. Der Geruch der Salbe stieg Magda in die Nase und ließ sie die Luft anhalten. Doch jetzt würden sie endlich alles nachholen, wonach sie sich beide schon so lange sehnten. Sie umarmten sich im Licht des späten Pfingstsonntagmorgens und begannen sich zu entdecken.

***

September 1986

Die Nahe-Überbauung in Idar-Oberstein war abgeschlossen. Die Kehrmaschinen kehrten in ihre Garage zurück, die Stukkateure räumten das Werkzeug beiseite. Die Stadt hatte sich herausgeputzt zu Einweihungsfeier, Stadtfest und Informationsveranstaltungen über die Region, um den Tourismus anzukurbeln. Eine Woche lang wurde Interessierten aus der Reisebranche die Möglichkeit geboten, die Gegend und ihre Besonderheiten kennenzulernen. Es gab allerhand zu bewundern in der Stadt, ebenso wie jede Menge zu hören über Geschichte und Geschichten. Die Gäste konnten an kostenlosen Führungen im Edelsteinmuseum, der Felsenkirche und der Weiherschleife teilnehmen. Frei- und Hallenbad durften sie ebenfalls in dieser Weise nutzen.

Magda Ackelbein, eine junge Reiseverkehrskauffrau, war schon am Dienstagnachmittag angereist, um sich einen Vortrag zum Thema „Mythos und Realität des Schinderhannes“ in der Göttenbach-Aula anzuhören. Das durfte sie sich nicht entgehen lassen. Denn als Kind hatte sie geglaubt, er sei nur eine Erfindung ihrer Mutter, die ihn ab und zu beim Namen nannte, wenn sie schimpfte. Nun entdeckte sie, dass es diesen Mann tatsächlich gegeben hatte.

Ein Stich fuhr ihr ins Herz, als sie den Redner sah. Er erinnerte sie an den Mann, den sie vergessen wollte – Urs. Vor einem halben Jahr hatte er ihr gesagt, dass er keine Gefühle für sie hegte. Nicht so wie sie für ihn. Sie hatte sich etwas vorgemacht. Seither stürzte sie sich ins Balletttraining, verlangte viel von sich bei der Arbeit; und Männer konnten ihr erst mal gestohlen bleiben. Doch dass dieser Mann so unverschämt Urs ähnlich sah...

Der Dozent erklärte die Rechtssprechung zur Zeit des Schinderhannes und wie er die Dinge auseinanderklamüsert hatte um dahinterzukommen, welch ein Mensch der Räuber gewesen war. Magdas Gedanken schweiften immer wieder zu Urs ab.

Sie erhob sich um zur Toilette zu gehen. Als sie die Tür abschloss, dachte sie: Und genauso schließt du jetzt mit dem Thema Urs ab. Hörst du, Magda? Schließ ab!

Sie setzte sich auf die Toilette. Sie ballte die Faust, wie um sich zu bestärken: Du brauchst ihn nicht. Nicht mehr!

Sie hob das Kinn, trat aus der Kabine und blickte in den Spiegel. Kopf hoch, Magda! Wie im Ballett. Und lächeln! Du schaffst das. Wenn morgen die Straßenfreigabe für die Nahe-Überbauung vorbei ist, stürzt du dich ins Leben!

***

Magda hatte sich pünktlich bei der Festhalle in Oberstein eingefunden um dem großen Ereignis beizuwohnen. Es mochten fünf- oder sechstausend Leute sein, die mit ihr auf die Verkehrsfreigabe warteten.

Die Zeit zog sich in die Länge. Um fünf hätte es losgehen sollen. Sie standen nun schon eine geschlagene Stunde hier, und es geschah nichts. Was war nur los? -

Doch, jetzt: Das erste Auto fuhr unter der Brücke durch, auf der sie stand. Die Menschen jubelten und klatschten. Nacheinander kamen nun auch andere Autos, um die Straße einzuweihen. Ob die eine Spezialerlaubnis haben?, blitzte ein Gedanke in ihr auf. Welch ein Ereignis! Sie hatte noch nie etwas Derartiges miterlebt. Sechs Jahre Bauzeit waren zu Ende. Die Abgase der Staus würden zum Himmel stinken, sagten die Leute. Sie wollten, dass der Verkehr von nun an rollen statt stehen möge. Sie wünschte es ihnen von Herzen.

Sie ließ sich vom Trubel mitreißen, strandete an einem Weinstand und stieß mit einigen Umstehenden auf die Nahe-Überbauung an. Der Wein schmeckte und wärmte. Trotz aller Vorsätze spürte sie: Diese Art, sich ins Leben zu stürzen, ist nicht meine. Auch wenn ich mich noch so anstrenge. Oder empfinde ich diese Ausgelassenheit als oberflächlich, nur wegen des Mannes gestern Abend, der so verdammt nach Urs aussah? – Sie grübelte, glaubte aber nicht so richtig daran. Sie fröstelte und wickelte sich fester in ihre Jacke, entschloss sich, im Hotel ihre Badesachen zu holen und ins Hallenbad zu gehen. Das Wasser würde ihr gut tun.

Seit einer halben Stunde zog sie ihre Bahnen. Das Wasser streichelte ihre Seele. Draußen dunkelte es. Magda liebte Hallenbadbeleuchtung, wenn der Abend kam. Das Licht drinnen und die Nacht draußen gaben ihr ein Gefühl von Behütetsein.

Sie schloss die Augen und tauchte so lange wie möglich. Ihre Kondition würde es ihr danken.

Sie genoss es, an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu gehen. Doch mit der Zeit spürte sie, wie ihre Kraft nachließ. Noch einmal tauchen, und dann würde sie gehen.

Als sie nach oben kam und die Augen öffnete, fand sie sich fast in den Armen eines jungen Mannes wieder.

„Oh Entschuldigung“, sagte sie und wurde rot. „Das ist mir aber peinlich.“

Er war genauso überrascht wie sie und völlig verdattert. Seine mandelförmigen Augen erinnerten sie an einen drolligen Hund, und sein Haar klebte ihm am Kopf dass es sie zum Lachen brachte.

Wenn sie sich begegneten, überkam sie immer ein Grinsen, das sie sich kaum verkneifen konnte. Sie mühte sich redlich, mehr zu lächeln als zu grinsen und entging einem weiteren Lachen nur, indem sie das Gesicht in die Fluten senkte. Es war etwas wie Freude in ihr, diesem Mann zu begegnen. Aber sie wusste nicht, was sie damit anfangen sollte.

***

Die restliche Woche lernte sie Idar-Oberstein näher kennen. Magda besuchte Vorträge und Führungen, kaufte Andenken aus Edelstein und verhandelte mit Hotels über Konditionen. Das letzte Gespräch würde am Montagvormittag stattfinden. Dann wollte sie nach Hause fahren.

Von Magdas Zimmer im „Schwan“ aus konnte sie die Dächer zwischen Hotel und dem Riesen-Gebäude der Edelsteinbörse sehen. Die Sonne beschien die Stadt am Sonntagmorgen, als wollte sie sich bei den Menschen für die Kühle in diesen Tagen entschuldigen. An diesem Morgen waren zwar interessante Vorträge geplant, aber sie sehnte sich nach Gemeinschaft mit anderen Christen. Und sie hungerte nach dem Wort Gottes. – Sieh mal an, ging es ihr durch den Kopf, wie Redensarten zu erlebter Realität werden. Hunger nach dem Wort Gottes ...

Gestern war sie in der Felsenkirche zu einer Führung gewesen. Das Gotteshaus faszinierte sie innen wie außen. Es war in den Felsen hineingebaut und nur durch einen Tunnel zugänglich. Vor sechs Jahren wurde er wegen Steinschlaggefahr begonnen und vor zwei Jahren fertiggestellt. Selbst die Orgel war eine Sehenswürdigkeit.

Wenn sie die drei Kilometer zu Fuß zurücklegen wollte, musste sie zeitig losgehen. – Die Straße zog sich hin, und sie genoss die Stille mit allen Sinnen. Es waren nur wenig Leute unterwegs.

Auf einmal hielt sie erstaunt inne. Die Bäume schienen mit einem Hauch von Gold überzogen. – Bilde ich mir das nur ein, oder ist das schon der Herbst? – Auf dem Bergkamm zu ihrer Rechten stand eine weiße Kirche und wies mit ihrem Kreuz zum Himmel. Nicht als Mahnung empfand sie das, eher als Fingerzeig: Schaut da hin, von wo euch Hilfe kommt. Als sie näherkam, sah sie, dass der Kirchturm getrennt vom Gotteshaus stand. Den Zauber dieses Bildes nahm sie mit auf ihren Weg.

Sie war nun schon einige Tage hier und staunte immer noch über die vielen Edelsteinschleifereien. Das Wort „Schatzkästchen“ schoss ihr durch den Kopf. Aber das traf es nicht ganz. Der Verkehr, der Idar-Oberstein immer wieder einen Verkehrskollaps beschert und somit die Nahe-Überbauung nötig gemacht hatte, war nicht spurlos an den Häusern vorübergegangen. Das war vor allem in Idar nicht zu übersehen; trotz aller Bemühungen der Stadt, sich von ihrer besten Seite zu zeigen.

Magda ging vorbei am Hallenbad, in dem sie am Mittwoch ihre Bahnen gezogen hatte und der Göttenbach-Aula, die ihr die Erinnerung an Urs wieder ins Gedächtnis rief. Sie ging schneller. Energisch bog sie einige Zeit später nach links ab und freute sich, als die Felsenkirche ins Blickfeld rückte. Sie atmete auf.

In der Kirche angekommen, setzte Magda sich in eine Bank und nahm die Atmosphäre in sich auf. Sie schloss die Augen und lauschte der Orgel. Ihr Klang stand dem Aussehen in nichts nach.

Sie spürte, dass sie jemand beobachtete und schaute sich um. Ein Typ, der ihr seltsam bekannt vorkam, starrte sie an. Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft: Wo habe ich diesen Mann schon mal gesehen? – Sie war in den letzten Tagen einer Flut von Menschen begegnet. Aber was verband sie mit ihm? Hatten sie miteinander gesprochen?

Plötzlich fiel der Groschen. Sie riss Augen und Mund auf und konnte gerade noch ein „Aaaah“ unterdrücken. Die haselnussbraunen Augen brachten die Erinnerung zurück. In Hose und Jacke besaß er kaum Ähnlichkeit mit dem Mann, dem sie vor ein paar Tagen in die Arme geschwommen war. Der ist ja ganz schön nervös, dachte sie, denn er rieb immerzu seinen Hals, der schon ganz rot war.

Die Predigt empfand sie als Gerede, das von Allgemeinplätzen nur so wimmelte. Doch sie hielt sich an den Liedern fest, die sie kannte. Sie sangen „Ein feste Burg ist unser Gott“. Magda kannte es auswendig. Sie sang mit Leib und Seele mit und musste, weil sie sich eine Schlagzeugbegleitung vorstellte, aufpassen, dass sie die Orgel nicht überholte. Es steckt so viel Wahres in diesen alten Liedern, dachte sie. Man spürt ihnen ab, wie viel Not die Menschen, die sie schrieben, erlebt haben und welche Stütze der Glaube ihnen war.

Sie konnte sich nicht konzentrieren. Die Kirche, der Mann vom Hallenbad, die Orgel, die Stimmung und wie die Sonne gerade auf ihre Bank durchs Fenster fiel, nahm ihre Aufmerksamkeit gefangen.

Sie strich über die Bank vor sich, und ihr kam, wie es ihr immer wieder passierte, ein Lied in den Sinn: „Diese Bank ist uralt und steinhart, und sie knarrt ...“ Magda grinste. Manfred Siebald, der das Lied komponiert und getextet hatte, schien ähnliche Gedanken zu kennen. Wie beruhigend.

Beim Ausgang nahm sie eine Zeitschrift mit, die sie schon immer interessiert hatte. Magda bedauerte, dass sie noch nie dazugekommen war, in eine hineinzuschauen. Vielleicht klappt es ja mal?

Der Typ vom Hallenbad sprach sie noch während des Hinausgehens an. Magda betrachtete ihn, während er mit ihr sprach. Ein blonder Wuschelkopf mit einem Stich Kupfer darin. Sein Profil wirkte wie in Stein gemeißelt. Die schmalen Lippen und langen Augenwimpern begeisterten sie besonders. Wie viele Frauen würden sich wünschen, solche Wimpern in natura zu haben, schoss es ihr durch den Kopf.

„Das ist ja toll, dass ich Ihnen hier in der Kirche wieder begegne“, sagte er, „erst treffen wir uns im Hallenbad und heute hier. Ich hab Sie noch nie hier gesehen. Sind Sie nicht von hier?“

Magda lachte. „Das heißt, Sie sind öfter hier?“

„Das kann man wohl sagen“, erwiderte er, „ich bin meistens hier, wenn Gottesdienst ist. Denn ich mag die Kirche, und die Predigten sind gut. Nur heute ...“

Wieder lachte Magda. „Ich habe auch nicht viel mitbekommen. Ich bin nicht von hier, und da zog mich so manches andere in seinen Bann.“

Sie waren unten am Tunnel angelangt. Jetzt war er es, der lachte. „Wahrscheinlich mussten Sie auch die ganze Zeit an Mittwoch denken.“

„Nö, wieso?“ Sie grinsten sich an, und er streckte ihr die Hand hin. „Ich bin Oliver Bender. Ich wohne ein paar Kilometer von hier.“

Sie griff zu. „Und ich bin Magda Ackelbein aus Konstanz.“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Konstanz?“

„Ja, die Stadt Idar-Oberstein hat Leute aus der Tourismusbranche eingeladen zur Feier der Nahe-Überbauung. Und da es bei uns im Büro im Moment etwas ruhiger ist, nahm ich das Angebot an.“

„Und wie lange bleiben Sie noch?“

„Morgen Mittag fahre ich heim.“

Er druckste herum und wagte es schließlich doch: „Wenn Sie morgen schon fahren – darf ich Sie dann heute Abend zum Essen einladen? Sozusagen als Wiedergutmachung für unseren Fast-Zusammenstoß im Hallenbad ...?“

Sie lachte: „Also mal ehrlich: Ich wäre diejenige die etwas gutzumachen hätte, wenn ... -Aber Ihre Einladung nehme ich mit Vergnügen an.“ Ihre graublauen Augen blitzten. „Besser, als allein im Hotel zu sitzen. Die meisten Leute sind schon abgereist ...“

Oliver atmete auf. Seine kranke Haut schreckte viele Menschen ab. Und deshalb machte er sich, was Frauen anbelangte, keine Hoffnungen. Doch dass er diese Frau in so kurzer Zeit zweimal hintereinander traf und dann noch in der Kirche – wo sie doch gar nicht von hier war ... „Wow!“, sagte er, „Das freut mich! Darf ich Sie irgendwo abholen?“

„Melden Sie sich einfach im Hotel Schwan an der Rezeption.“

Sie vereinbarten, dass er um sieben da sein würde. Magda sah ihm hinterher. Er rieb sich schon wieder den Hals ...

***

Sie lernten sich an diesem Abend näher kennen und gingen zum Du über. Beide entdeckten, dass der andere mit Gott lebte. Ist es das, was jedes Mal diese Freude in mir auslöst, wenn ich ihn treffe?, überlegte Magda. Sie erfuhr, dass Oliver vier Jahre älter war als sie und noch einen Bruder hatte. Sie sah die roten Flecken auf seiner Haut, die ihr schon am Morgen aufgefallen waren und die silbrigweißen Schuppen, die sie an Isabellas Krankheit denken ließen. Und es stimmte: Oliver litt ebenfalls unter Psoriasis. Er erzählte Magda, dass seine Mutter starb, als er zehn war und sein Vater sich in seine Arbeit als Arzt vergrub. „Ich glaube, ihn hat es wahnsinnig getroffen. Aber er sprach nie darüber. Mit niemand“, sagte Oliver. Danach führte Merle, eine Freundin meiner Mutter, den Haushalt weiter. Merle war eine ältere Witwe aus der Nachbarschaft, die sich damit für die Freundschaft mit Olivers Mutter erkenntlich zeigen wollte.

Magda und Oliver beschlossen, in Kontakt zu bleiben und tauschten Adressen und Telefonnummern aus, bevor sie sich trennten.

„Wow! Was für eine Frau!“, flüsterte er, als er in seinem Bett lag. Er war noch lange wach. Magdas große graublaue Augen vor sich, umkränzt mit den getuschten Wimpern. Und ihre hellbraunen Haare schimmerten über ihre Schultern wie ein Seidenumhang ... Dass Christus in ihrem Herzen war, erschien ihm wie eine Fügung Gottes. Er begann sich auszumalen, was werden könnte.

„Mensch, Oli, jetzt mach mal’n Punkt!“ Er erschrak über seine Stimme und hoffte, dass sein Vater im Nebenzimmer in Morpheus‘ Armen ruhte. „Es ist noch lange nicht so weit, wie du es gerne hättest“, flüsterte er sich selbst zu. „Das musst du schon Gott überlassen!“

Verzaubert hast du mich, Geliebte, meine Braut!

Ein Blick aus deinen Augen, und ich war gebannt.Sag, birgt er einen Zauber, der Schmuck an deinem Hals?Hoheslied 4,9

Magda liebte freie Wochenenden. Sie räkelte sich im Bett und öffnete ein Auge. Regentropfen rannen die Fensterscheibe hinunter. Sie schloss das Auge wieder und genoss die Wärme unter der Decke.

Magda hörte, wie die Tür ihres Zimmers aufging und stellte sich schlafend. Sie wusste wohl, dass es schon nach elf war. Etwas wurde ihr auf die Bettdecke geworfen. Es hörte sich nach Papier an. Sie besiegte ihre Neugier und ließ es bei der arglosen Miene auf ihrem Gesicht, von der sie hoffte, sie würde den Betrachter überzeugen. Sobald sich der Besucher verzogen hatte, setzte sie sich mit einem Ruck auf um zu sehen, was es war, das da auf ihrer Bettdecke lag. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ein Brief von Oliver! Schön! Der Kontakt mit ihm tat ihr gut. Sie liebte den Austausch mit ihm über Glaubensdinge und fühlte sich ihm dadurch mehr und mehr verbunden. Seine Meinung zu Dingen wie Taufe interessierte sie, denn damit beschäftigte sie sich gerade. Oder auch zu lesen, was in der Teestube zurzeit los war. In den Briefen lernte sie seine Freunde kennen und bekam eine Vorstellung von ihnen. Auch wusste sie inzwischen, dass er Vögel über alles liebte und viel Zeit damit verbrachte, sie zu beobachten. Sie nahm teil an seiner Sorge um einen Arbeitsplatz. Die Firma, in der er als letztes gearbeitet hatte, gab es nicht mehr, und nun stand er auf der Straße. Er stand natürlich nicht wirklich auf der Straße. Wohnen konnte er bei seinem Vater. Aber was den Beruf anbelangte ...

Voller Vorfreude und ein wenig beunruhigt wegen Olivers beruflicher Lage riss sie den Umschlag auf. Was er diesmal schrieb? Sie zog drei eng beschriebene Blätter heraus. Magda schüttelte den Kopf: „Oliver, Oliver. Diesmal meinst du es aber gut mit mir. Du weißt wohl, wie neugierig ich bin.“ Sie stopfte sich das Kopfkissen in den Rücken und überflog die Seiten. Der Brief begann mit „Liebe Magda“ und war auf den 01.01.1987 datiert. Sie pfiff sie leise durch die Zähne. So hatte er sie noch nie angesprochen! Nach den Neujahrswünschen erzählte er ihr von der vergangenen Nacht mit dem Jugendkreis. Er schrieb von einer Bibelarbeit, die ihn sehr berührte: der Messias im Alten Testament. Er streifte noch andere Themen, aber ihr Blick hakte sich am Schluss fest:

„Liebe Magda, was ich jetzt schreibe, ist Neuland für mich. Aber ich muss es endlich loswerden. Ein Vierteljahr gehen unsere Briefe schon hin und her. Und ich genieße den Austausch mit dir mehr, als ich in Worte fassen kann. Und ich möchte dich nicht im Unklaren darüber lassen, wie es um mich steht. Seit du von Idar-Oberstein weg bist, stehen ständig deine strahlenden Augen vor mir, als wenn es gestern gewesen wäre, dass wir uns trafen. Deine Augen begleiteten mich in so mancher schlaflosen Nacht seither. Ich war schon ein paarmal verliebt. Aber nie wagte ich es, mich zu offenbaren, weil ich Angst hatte, ich würde wegen meiner Psoriasis abgewiesen. Da du aber die Krankheit kennst, habe ich die Hoffnung, dass du dich nicht davon abschrecken lässt. Vielleicht empfindest du ähnlich wie ich? Deshalb wage ich es und halte doch den Atem an aus Angst, du könntest mir einen Korb geben.

Nun sitze ich an meinem Schreibtisch und schaue hinaus in die trübe Suppe vor meinem Fenster. Und da ist wieder dieses Gefühl, das mich drängt, dir alles zu schreiben. Ich glaube, ich könnte stundenlang mit dir reden, ohne dass mir langweilig würde. Und doch kann ich nicht einfach über dich verfügen. Du sollst wissen, dass ich dich nicht drängen will. Denke alles in Ruhe durch. Ich weiß, dass echte Liebe warten kann. Und dies ist wohl die Nagelprobe.

Ich möchte auf dich warten.

Dein Oliver“

Magdas Hände zitterten, als sie die Blätter zusammenfaltete und in den Umschlag zurückschob. Damit habe ich nicht gerechnet, dachte sie. Und doch – es musste so kommen. Irgendwie hatte ich es im Gefühl. Dieser ganze Austausch, die Übereinstimmung ...

Sie stand auf und machte sich für den Tag fertig. Doch jedes Mal, wenn ihr Blick auf den Brief fiel, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Mein erster Liebesbrief ...

***

Der Brief lag in ihrer Nachttischschublade zuunterst. Seit Tagenfragte sie sich, wie sie Oliver antworten sollte. Ihr Traummann war es nicht. Nicht zu vergleichen mit Urs. Und Gemeinsamkeiten hatten sie außer ihrem Glauben auch keine. Zu Vögeln hatte sie keinen Bezug, und von Ballett verstand er nichts. Aber vielleicht ließen sich mit der Zeit Übereinstimmungen finden? Er könnte Vögel beobachten, während sie im Ballett war? Oder so ...

Es drängte sie danach, Oliver grünes Licht zu geben. Er hatte ihr sein Herz offenbart. Das bedeutete ihr unendlich viel. Sie wusste, wie es ist, wenn Liebe ohne Antwort blieb. Doch war das genug?

Je länger sich die Zeit hinzog, desto bewusster wurde Magda, dass sie dabei war, sich in Oliver Bender zu verlieben. Bei jedem Gedanken an ihn nahm sie dieses Gefühl in der Magengegend wahr, das ihr sagte, dass auch er ihr nicht egal war. Die Würfel waren gefallen. Sie würde ihm zusagen.

***

Oliver und Magda wohnten zu weit auseinander, als dass sie sich oft sehen konnten. Alle drei Wochen fuhr Magda zu Oliver übers Wochenende oder er zu ihr. Dazwischen schrieben sie sich Briefe, um sich besser kennenzulernen. Oliver sprach in seinen Briefen davon, wie kostbar Sexualität sei und man das nicht verschleudern dürfe. Sie wollten beide bis zur Ehe warten.

Eine Leichtigkeit war das nicht. Vor allem, wenn sie sich besuchten und beide die Erfüllung ihrer Sehnsucht in den Armen hielten.

Magda hatte in der Zwischenzeit die Zeitschrift abonniert, die sie nach ihrem ersten Gottesdienst in Idar-Oberstein mitgenommen hatte. Das Magazin begeisterte sie mit seiner Themenvielfalt, aber auch vor allem, wie biblisch fundiert dort über ethische Dinge geschrieben wurde. Das bestärkte sie und Oliver in diesem Punkt, auch wenn es ihnen schwerfiel. Sie lieh ihm die Hefte, wenn sie sie gelesen hatte, und dann tauschten sie sich darüber aus.

Eines Freitagabends nach dem Abendessen saßen Oliver und Magda in seinem Zimmer beisammen. Er hatte seine schönsten Vogelbilder für Magda herausgesucht, um sie ihr zu präsentieren. Magda saß auf Olivers Bett und schaute sich ein Bild nach dem anderen an. „Oliver, ich verstehe nicht viel davon. Manche deiner kleinen Freunde sehen zwar ganz putzig aus. Aber ich glaube nicht, dass ich mir alles merken kann, was welcher Vogel ist. Ist das schlimm?“

Oliver, der hinter ihr saß, umfasste ihre Schultern und vergrub sein Gesicht in ihren langen Haaren. Wie das duftete ...! – „Nein, ist nicht schlimm. Ich werde es dir so oft erklären, wie du willst“, murmelte er.

Sie lehnte sich an ihn und ließ sich von ihm liebkosen. Die Bilder rutschten von ihrem Schoß. „Oh! Jetzt hab ich alles durcheinandergebracht. Oh nein!“

„Kein Problem“, flüsterte er, „ich sortier das wieder.“ Er küsste ihren Nacken, und ein Schauer überlief sie. Seine Hände glitten in ihr Dekolleté. Magdas Herz klopfte. So weit hatte er sich noch nie vorgetraut. Sie ließ ihn gewähren, auch als seine Fingersich unter die Träger ihres BHs verirrten. Sie spürte seinen Atem, der ihr Ohr streifte.

„Darf ich?“, fragte er.

Sie nickte.

„Du musst sagen, wenn ich zu weit gehe.“

„Ist schon okay.“ Sie wünschte es sich genauso wie er.

Oliver liebkoste sie so zart, dass sie meinte, ihr Herz müsste zerspringen. Als er an ihrem Schoß angelangt war, hörte er abrupt auf. Sie griff sich an die Stirn und wandte sich ihm zu. Er sah ganz erhitzt aus. „Magda, sei nicht böse. Aber du weißt, was wir ausgemacht haben. Und wenn ich jetzt weitermache, kann ich für nichts mehr garantieren.“

Eine Woge der Zärtlichkeit durchströmte Magda. Welch ein Mann, dachte sie. Sie lächelte und streichelte sein Gesicht. „Das finde ich toll von dir, Oliver! Dass du die Gelegenheit nicht ausnutzt. Das bewundere ich an dir.“

Es widerstrebte ihnen, sich voneinander zu lösen.

„Puh, gerade noch mal geschafft, was, Magda?“, zwinkerte Oliver ihr zu.

„Ja ...“ Sie musste erst einmal zur Ruhe kommen. Ein Sturm hatte ihre Gefühle in nie geahnte Wallung versetzt.

„Bist du mir böse?“

Erstaunt sah sie Oliver an. „Wieso sollte ich dir böse sein?“

„Weil ich zu weit gegangen bin ...“

„Ach, was! Ich wollte es doch genauso wie du.“

„Zumindest zeigt es, dass wir beide gesund und keine blutleeren Geisteswesen sind, wie es deine Kollegin manchmal vermutet.

Sie lachten, als sie Olivers Vogelbilder vom Boden aufsammelten.

„Hast du die Pyramide in dieser Zeitschrift gesehen?“, fragte Magda.

„Du meinst, die über gesunde Partnerschaft?“

„Das hat mir eingeleuchtet. Dass die zwischenmenschliche Ebene die breiteste ist. Und wir können ja ganz gut miteinander, oder?“ Sie war gespannt, was er dazu zu sagen hatte. Denn gemeinsame Hobbies hatten sie nach wie vor noch nicht entdeckt.

„Ja, wir können gut miteinander reden. Das schätze ich sehr an dir. Auch, weil ich sonst so wenige habe, mit denen ich mich in dieser Tiefe unterhalten kann. Das ist ein Gottesgeschenk. Findest du nicht?“

Magda nickte. „Und dass wir das als Geschenk von ihm sehen können, dafür sorgt die geistliche Ebene, die in der Mitte. Das ist eben bei wenigen Menschen der Fall, gell? – Ein richtiges Geschenk!“ Ihr Blick tauchte in den seinen.

„Tja“, sagte er lakonisch, „und die Spitze muss noch warten, …“

„Das Sahnehäubchen meinst du. So nannten sie es.“ Sie strich über seine Hand.

„Gehen wir an die frische Luft, bevor sie uns hier drin ausgeht. Kommst du mit?“

„Klar doch!“ Sie strahlte und sprang auf die Füße. Sein Blick umschmeichelte sie, als sie sich bückte um ihre Straßenballerinas anzuziehen. Die Haare über ihren Schultern! Stunden könnte er sie so ansehen. Selbst im wahren Leben ist sie eine Tänzerin, schoss es ihm durch den Kopf, sie ist keine Traumtänzerin. Mit ihr will ich Zusammensein -für immer! – Was das in der Realität bedeutete, dessen war er sich nicht im Klaren ...

***

Alles dunkel. Wahnsinn! – Magda sah auf die Uhr und entdeckte, dass es schon gleich zwei war. Ihr kam es gar nicht so spät vor. Doch die Verabschiedung von Oliver hatte sich, wie immer, in die Länge gezogen. Und heute fiel es ihnen besonders schwer. Die Sommernacht trug das ihre dazu bei, dass sie noch einen Nachtspaziergang machten, bevor sie in ihr Auto stieg und gen Konstanz fuhr. Auf der Heimfahrt musste sie mehrmals anhalten, um sich die Abschiedstränen abzuwischen. Das Wasser in den Augen trübte die Sicht. Gut, dass niemand sehen kann, was ich für eine Heulsuse bin, dachte sie.

Auf Zehenspitzen stieg sie die Holztreppe zum ersten Stock ihres Elternhauses. Es knarrte. Sie schlich in ihr Zimmer, schminkte sich ab und kuschelte sich bald darauf in die Kissen. Sie schnupperte. Mutter hatte das Bett überzogen. Der Duft begleitete sie seit ihrer Kindheit und lullte sie ein.

Das Gefühl der Geborgenheit trug sie in Olivers Arme. Er hatte sie mitgenommen auf eine seiner Vogelexpeditionen in den Hunsrück. Dass sie beide so allein in diesem Waldstück waren, zog sie wie zwei Magnete zueinander. Sie umfingen einander und küssten sich, bis ihnen der Atem wegblieb und sie ins weiche Blätterbett fielen. Ihre Zärtlichkeiten verstrickten sie in einen Zauber, dem sie sich nicht entziehen konnten. Oliver öffnete Magdas BH, ihre Brust hob sich ihm entgegen. Er wagte sich in immer unerhörtere Regionen vor. Bald trugen sie nichts mehr auf der Haut. Ihr Herz raste, als wollte es aus ihr hinaushüpfen. Sie hörte, wie sich Kinder näherten. Oliver war so vertieft in sein Tun, dass er nichts um sich herum wahrnahm. Magda stieß hervor: „Oli ...“. Die Kinder waren nicht mehr zu überhören, und er ließ von ihr ab. Oliver fuhr in seine Jeans, versuchte sich vor Magda zu stellen um sie vor den Blicken der Kinder zu schützen. Sie selbst versteckte sich hinter einem Baum. Und ihr schoss das Bild von Adam und Eva im Garten Eden durch den Sinn, die mithilfe von Feigenblättern ihre Nacktheit vor Gott verbergen wollten. Sie atmete so heftig, dass sie davon aufwachte. Ihr Herz klopfte noch immer bis zum Hals, als sie in die Dunkelheit ihres Zimmers starrte.

***

Ostern 1988

Magda legte den Kopf an Olivers Schulter. Sie hatten das Osterwochenende bei seinem Vater verbracht und befanden sich auf dem Heimweg nach Konstanz. Sie ließ ihre Gedanken Revue passieren, während sie durch die Nacht fuhren. Wie viel war geschehen während der eineinhalb Jahre, die hinter ihnen lagen. Vor zwei Jahren wusste sie noch nichts von Oliver, und nun standen sie vor der Hochzeit. An Pfingsten wäre es soweit.

Oliver bekam einen Arbeitsplatz als Assistent für Betriebsinformatik und fand eine Einzimmerwohnung in Konstanz. So war die Entfernung zwischen ihnen nicht mehr ganz so groß. Aber es drängte sie, ganz zu diesem Mann zu gehören, der ihr zum Vertrauten geworden war. Sie dachte daran, wie es immer schwieriger wurde, nicht miteinander zu schlafen, je öfter sie zusammen waren. Das bewog sie auch dazu, eine baldige Hochzeit anzustreben. Sie wollten von Herzen Gott gehorchen ...

Klar, dachte sie, die Unterschiedlichkeit von Oliver und mir ist nicht zu unterschätzen, und es ist manchmal ein Problem, auf einen Nenner zu kommen. Doch ich will darauf hoffen, dass es was werden kann.

Magda kuschelte sich in ihren Sitz. Die Autos erschienen ihr wie Lichtspuren. – Ist es ein Bild für meine Zukunft?, fragte sie sich, als ihr die Augen zufielen. Oder ...?

Sie dachte an die Wohnung, die sie am Wochenende angeschaut hatten. Vielleicht bekommen wir sie? Sie sah sich mit Oliver dort auf dem Balkon sitzen und frühstücken. Wir kaufen uns eine Hollywoodschaukel, auf der wir die Sonne genießen oder Bibel lesen und uns austauschen ... – Ich werde mir Mühe geben, Herr, Oliver eine gute Ehefrau zu sein, betete sie. In ihrer Erinnerung tauchte das Erlebnis vom Gründonnerstag auf.

Oliver und ich gehen zur Burg Bosselstein hinauf, in der sich das Obersteiner Standesamt befindet. Die Hochzeit dort wird alle Vorstellungen übertreffen. Und die kirchliche Trauung in der Felsenkirche. Oliver sagt: „Weißt du, dass sie als Sühnetat von einem Mann erbaut wurde, der seinen Bruder ermordet hat? Er soll tot darin zusammengebrochen und zusammen mit seinem Bruder in der Kirche beerdigt sein.“ – Eine Sühnetat für Brudermord. Kann es sein, dass ein einzelner Mann mit Hammer und Meißel so eine Öffnung in den Felsen schlagen kann? Wie muss er unter seiner Schuld gelitten haben, dass er so etwas tat? – Fragen, für die sie zu müde war um jetzt darüber nachzudenken. Magda versank in ihren Träumen.

Oliver hielt an, und Magda schlug die Augen auf. Sie erkannte das Haus, in dem Oliver seit einem halben Jahr wohnte. „Oh, sind wir schon da!?“

„Ja, es war nicht mehr viel Verkehr. Jetzt bin ich aber so was von am Ende. Es wird Zeit, dass ich ins Bett komme. – Hast du gut geschlafen, mein Schatz?“

„Jaaa.“ Sie räkelte sich. „Dann geh ich heim, dass du schlafen kannst. Oder soll ich noch mit reinkommen?“

Er stieg aus und lud ihren Koffer aus um ihn zu Magdas Auto zu tragen. „Ich hab morgen Frühschicht. Ist besser, du gehst heim und kommst morgen Abend. Ich kann für uns kochen.

Oder?“ Er kniff sie in die Wange. „Oh ja, da freu ich mich. Soll ich was mitbringen?“

Er nahm sie in den Arm und strich ihr über den Rücken. „Ich geh einkaufen, mach dir keine Gedanken. Aber meinen Hausschlüssel kannst du mir geben, dass ich reinkomme.“

„Deinen Schlüssel? Den hast doch du!?“

„Nee, den hast du. Erinnerst du dich? Du bist noch mal zurück, um auf die Toilette zu gehen. Da gab ich ihn dir.“

„Hab ich ihn dir nicht zurückgegeben?“ Magda wühlte hektisch in ihrer Handtasche, während Gedanken und Gefühle in ihr durcheinanderpurzelten. – Nichts! Sie griff sich an den Kopf, schloss die Augen und dachte nach. Oliver lehnte sich an Magdas Auto. „Kann es sein, dass du ihn im Haus gelassen hast?“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Nein, nein. Ich weiß, dass ich abgeschlossen habe. Denn in der Eile fiel mir der Schlüssel runter, als ich ihn abzog.

Schließlich wollte ich dich nicht warten lassen.“

Oliver fasste sich in die Haare und kratzte sich. „Dann ist er bei meinem Vater! Du liebe Zeit!“ Die Kratzattacke war von einer Heftigkeit, die Magda wegsehen ließ. „Dann werd‘ ich ihn anrufen müssen. Ach Scheiße, was mach ich nur? Ich sollte schlafen, morgen muss ich arbeiten, und jetzt komm ich nicht ins Bett!“

Magda legte eine Hand auf seine Schulter: „Du könntest ...“

Oliver schlug die Hand weg. „Ich könnte gar nichts. Ich fahr zum Telefonhäuschen an der Kreuzung. Dort ruf ich meinen Vater an.“

„Soll ich mitkommen?“

Statt einer Antwort ließ er sie neben Koffer und Auto stehen und machte sich auf den Rückweg zu seinem Wagen. Magda verstaute das Gepäckstück im Kofferraum und rannte Oliver hinterher. Der ließ den Motor an, als sie die Autotür aufriss und ins Wageninnere fiel. Sie keuchte. „Geschafft!“

„Was geschafft? Mich zu nerven?“

„Nein“, jammerte sie. „Mit dir zu kommen.“

„Und was erwartest du von mir? Dass ich mich bei dir bedanke?“

„Nein! Es tut mir einfach leid. Das wollte ich nicht.“

„Es tut dir leid, es tut dir leid. Das sagst du immer, wenn du was ausgefressen hast. Und das nächste Mal machst du die gleiche Scheiße wieder.“ Sie hatten Fahrt aufgenommen, und sie waren in der Nähe des Telefonhäuschens. Oliver entdeckte einen Parkplatz und fuhr scharf rechts ran, sodass Magda zur Seite geschleudert wurde. „Jetzt mach mal halblang, Oli. Sooo musst du dich nicht reinsteigern, dass du noch einen Unfallbaust.“

„Ich hab keinen Unfall gebaut!“, dröhnte er.

„Aber du fährst wie ein Verrückter.“

Er machte den Motor aus und schlug mit der Faust aufs Lenkrad. „Ich bin nicht verrückt. Ich will nur ins Bett, und du hast meinen Schlüssel verschlampt.“

„Jetzt wirst du aber kindisch.“ Sie sah ihn von der Seite an. Doch bevor sie nachdenken konnte, hatte er ausgeholt, und sein Handrücken landete in ihrem Gesicht. Sie konnte es nicht glauben. Ihre Hand bewegte sich wie in Trance zu ihrer Wange. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie taumelte nach draußen. Nur weg hier.

Sie lief zu ihrem Auto, hastete den Berg hoch. Oliver sollte sich nicht erdreisten, hinter ihr herzukommen. An ihrem Wagen drehte sie sich um. Niemand folgte ihr. Sie wusste nicht, ob sie aufatmen oder sich ärgern sollte. Eigentlich hätte er sich entschuldigen können – müssen.

Sie ließ sich hinters Lenkrad ihres Käfers fallen und verriegelte die Tür. Dann legte sie Arme und Kopf aufs Steuer, und ihre Verzweiflung brach sich Bahn. „Gott, wie kannst du das zulassen?“, rief sie ins Wagendunkle hinein. Sie weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Bis sie sich selbst darüber wunderte, dass sie dasaß und heulte, wie eine Göre, die Haue bekommen hatte.

Müde startete sie den Motor und legte den Gang ein. Als sie an der Telefonzelle vorbeikam, war Olivers Auto weg. Sollte er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.

Zuhause konnte sie nicht einschlafen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder landeten sie an den gleichen Stellen. – Gott, wie kannst du das zulassen? – Wir wollten doch heiraten! – Ich sollte die Verlobung lösen. Doch wie soll ich das machen? Da müsste ich allen, die wir eingeladen haben, sagen, dass Oli mich geschlagen hat. Aber ich liebe ihn doch. – Wenn ein Mann einmal schlägt, schlägt er wieder. Ich müsste ... – Ihr Schlaf glich einem Fieber, Schrecken durchzuckten sie, und sie kämpfte mit der Bettdecke. Am nächsten Morgen wachte sie mit einem Brummschädel auf.

***

Es fiel ihr schwer, im Reisebüro zu tun, als ob nichts geschehen wäre. Gott sei Dank, kamen wenig Kunden – die meisten waren in den Osterferien. Auch gut, dachte sie und überließ Eliane die Kundengespräche, während sie sich daran machte, Kataloge zu sortieren.

Abschalten konnte sie nicht. Magda ertappte sich immer wieder dabei, wie ihre Gedanken abschweiften. Sie fragte sich, ob sie die Verlobung lösen sollte oder ob es eine Zukunft für sie und Oliver gab.

„Ich mach Frühstückspause“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Eliane. Eliane blickte von ihrer Schreibarbeit auf. „Du gefällst mir heute nicht. Bist du krank?“

Magda winkte ab. „Nein, nein, hab schlecht geschlafen heute Nacht.“

Eliane legte den Kugelschreiber zur Seite und sah sie mitfühlend an: „Sorgen?“

Magda zuckte mit den Schultern. „Weiß auch nicht. Ich muss mir Gedanken machen. Vielleicht hilft mir das. – Ich geh mal zum Bäcker. Okay?“ Damit war sie zur Tür hinaus.

Die Frühlingssonne umgab sie mit Wärme, die ihr Herz höher schlagen ließ. Beim Bäcker kam sie gleich dran. Magda beschloss, ihre Brezel im Freien zu essen, anstatt ins Reisebüro zu gehen. Allein ließ sich besser nachdenken. Sie fand ein Plätzchen auf einer Bank, setzte sich und hob ihr Gesicht der Sonne entgegen. Ein Spruch kam ihr in den Sinn: „Wende dein Gesicht der Sonne zu, so treten die Schatten hinter dich.“

Das Erlebnis vom gestrigen Abend wiederholte sich in ihrem Kopf. Hab ich was falsch gemacht? Natürlich: Ich hätte besser auf Olivers Schlüssel aufpassen sollen. Ob Olivers Vater ihn gefunden hat? Und wo Oliver letzte Nacht schlief? Auf der anderen Seite hätte er sich heute Morgen auch rühren können! Eine Ohrfeige ist kein Pappenstiel! – Magda fuhr sich über die Wange. Es erinnerte nichts mehr daran – fast nichts. Ihre Seele schmerzte. Eine Stimme in ihr erklärte: Du weißt, wenn Männer einmal schlagen ...! Eine andere Stimme hielt dagegen: Aber ich liebe ihn! – Das Gedankenkarussell wie am Vorabend begann. – Sie drückte die Brezeltüte zusammen. Aber als sie merkte, dass sie nichts gegessen hatte, aß sie dennoch, ohne Appetit. Sie warf die Tüte in den Papierkorb, beugte sich vor und faltete die Hände: „Lieber Gott“, flüsterte sie, „du kennst meine Bedenken, und dass wir schon alle Gäste eingeladen haben. Du weißt, dass ich Oliver liebe und ihn nicht bloßstellen will. Wir wollten doch heiraten! Es verwirrt mich, was passiert ist. Ich habe Angst, dass die Ehe in die Hosen gehen könnte, dass es eine schlimme Ehe wird. Aber mit dir in der Mitte muss es kein Desaster werden. Oder? Ich bin bereit, diese Ehe unter deine Führung zu stellen, das weißt du. Ich will dir zutrauen, auch wenn menschlich gesehen die Chance klein ist, dass das eine gute Ehe werden kann. Du kannst Wunder tun. Du kannst diese Ehe auch unter erschwerten Bedingungen segnen. Ich will es glauben. Für Oliver und mich.“ Als sie geendet hatte, stand sie auf. Dabei ging ihr wieder durch den Kopf: Er hätte sich entschuldigen können. Bestimmt ruft er am Nachmittag an. – Sie sah auf die Uhr und erschrak. Eliane wartet seit fünf Minuten! Sie rannte los und kam außer Atem im Reisebüro an.

Sie riss die Tür auf und keuchte: „Tut mir leid, Eliane. Ich hab’s verpennt.“ Nur gut, dass gerade keine Kunden da sind, dachte sie, oder schlimmer: Schlange stehen ...

Eliane lächelte: „Ist schon gut. Ich seh‘ ja, dass du nicht gerade auf der Höhe bist. Hoffentlich konntest du dich in der Sonne erholen. Und die zehn Minuten kannst du heute Abend dranhängen.“

Oliver meldete sich nicht. Und sie wollten doch am Abend zusammen essen! Magda hörte auf jedes Klingeln des Telefons. – Kein Oliver. – Unter diesen Umständen würde sie nicht zu Oliver fahren. Oder ob sie beim Essen über die ganze Sache reden könnten? – Nein, wenn Oliver wollte, dass sie kam, würde er bestimmt nochmal anrufen.

Als sie abends die Tür des Reisebüros hinter sich zuzog, zweifelte sie an sich selbst: Wäre es meine Aufgabe gewesen ihn anzurufen? Ist jetzt nicht er dran? So eine Sache mit dem Schlüssel kann man klären. Aber für eine Ohrfeige sollte man sich entschuldigen. Oder ob er jetzt nichts mehr von mir wissen will? – Ihr Herz krampfte sich zusammen: Nein, ich werde ihm nicht hinterherlaufen. Er ist dran.

Der Abend zuhause zog sich wie Käse beim Fondue. Die Gespräche beim Essen erregten kein Interesse bei ihr, und nach Arbeit stand ihr nicht der Sinn. Ballett war heute nicht. Heute waren die Kleinen dran. Sollte sie etwas lesen? – Sie ging in ihr Zimmer, das ihre Schwester Isabella vor einem Jahr geräumt hatte, als sie heiratete. In der Ecke, wo Isabellas Bett war, stand nun Magdas Schreibtisch. Sie hatte jetzt mehr Platz. Aber Ordnung war keine eingekehrt.

Magda sah sich um wie eine Fremde. Bis vor Kurzem hatte sie gehofft, hier herauszukommen. Mit Oliver eine Wohnung zu beziehen war ihr wie das Paradies vorgekommen. Er hatte so viel Zartgefühl besessen. Diesen Eindruck hatte sie zumindest gehabt. Bis gestern. Und nun??? – Ist es ein Glück, dass wir noch keine Wohnung haben. Heute Abend blättere ich bestimmt keine Zeitung durch. Warum Oliver sich nicht meldet? – Sie räumte auf. Mechanisch, ohne Herz.

Am nächsten Tag hielt sie es nicht länger aus. In der Mittagspause rief sie Oliver an. Er war an seinem Arbeitsplatz. Sein Vater sei in der Nacht nach Konstanz gekommen und hätte ihm den Schlüssel gebracht. Er hätte bei ihm übernachtet, weil die Praxis seines Vaters diese Woche zu sei. Kein Wort zu der Ohrfeige. Magda war enttäuscht. – Ist es mein Fehler?, fragte sie sich. Soll ich ihn darauf ansprechen? – Ihr fiel ein, dass in Predigten oft gesagt wurde, es ist nicht gut, nur darauf zu warten, dass der andere den ersten Schritt tut. So wagte sie es: „Es tut mir leid, dass ich so achtlos mit deinem Schlüssel umgegangen bin und was daraus geworden ist.“

„Mir auch“, hörte sie am anderen Ende der Leitung. Es tönte halbherzig und kalt. War das alles? Magda schluckte. War ihm nicht klar, was er ihr angetan hatte? Sie beendete das Gespräch und ging nach draußen. Die Sonne wärmte wie gestern. Doch ihre Bank war besetzt. Da die Mittagspause zwei Stunden dauerte, machte sie sich auf den Weg zur Uferpromenade und setzte sich dort auf eine der Bänke.

Abermals überfielen sie ihre Gedanken: Ist es meine Schuld? Ich hätte mich zügeln müssen in meiner Wortwahl. Aber rechtfertigt das eine Ohrfeige? Ich bin doch keine Göre! – Sie kam nicht weiter. Sie konnte Oliver sein Versagen nicht klarmachen, wenn er es nicht sehen wollte. Das Problem lag bei ihr. Sie musste ihm vergeben, ob er seine Schuld einsah oder nicht. Sie wollte diese Last nicht länger mit sich herumtragen. „Herr, ich möchte ihm vergeben “flüsterte sie. „Du siehst: Meine Gefühle machen nicht mit. Ich will, dass alles wieder in Ordnung kommt zwischen Oliver und mir. Bitte, gib mir die Kraft dazu. Bitte mach mich unabhängig von seinem Schuldbewusstsein. Amen.“ Sie sah auf den See hinaus. „In die Tiefe des Meeres“, murmelte sie.

***

KAPITEL 2

Dezember 1988

Typisch, der Feierabend im Reisebüro war zwei Tage vor Heiligabend nur mit Entschlossenheit durchzusetzen. Fünf Minuten vor Ladenschluss kam eine Stammkundin, die um diese Uhrzeit noch eine Extrawurst gebraten haben wollte. Da Oliver im Auto schon eine Viertelstunde auf Magda wartete, um mit ihr und den Veerkamps, einem befreundeten Ehepaar, in den Schwarzwald zu fahren, wimmelte sie die Frau nach zehn Minuten ab.

Magda freute sich auf die Tage bei Olivers Großmutter. Sie hoffte, es würde schneien. Ein paar Schneespaziergänge wären nicht zu verachten. Die Hoffnung blieb, auch wenn es regnete. Denn im Hochschwarzwald waren die Chancen auf Schnee höher als in Konstanz.

Sie fröstelte im Regen, aber Olivers Begrüßung war eine kalte Dusche: „Ich dachte, du kommst gar nicht mehr raus.“ Magda beschloss, das Gesagte nicht zu schwer zu nehmen. Sie wollten doch das Wochenende miteinander genießen. Also antwortete sie: „Den Eindruck hatte ich auch. Weißt du, die Frau ...“

„Ach was, die Frau“, unterbrach Oliver sie. „Ihr hättet früher schließen können, dann hättest du das Problem nicht gehabt! Ihr habt morgen auch nochmal auf.“

„Du weißt, dass Eliane zuschließt und nicht ich!“

Oliver ließ den Motor an und fuhr los um Cordula und Holger Veerkamp abzuholen. Auf der Fahrt durch Konstanz hing jeder seinen Gedanken nach.

Warum ist er so zu mir? Ich dachte, er freut sich auf das Baby! Das verstehe ich nicht.

Der Schwangerschaftstest! Meine Hand zittert beim Ablesen des Teststreifens. Das Ergebnis ist positiv, mein Herz sackt mir in die Kniekehlen. Meine erste Schwangerschaft! So weit bin ich noch nicht! Wie wird Oliver reagieren? – Ich weiß, ich bin auch manchmal eine harte Nuss. Aber diese Ohrfeige vor der Hochzeit ... Ja, ich bat Gott darum, die Ehe auch unter diesen Bedingungen zu segnen. – Hätte ich auf dem Standesamt doch Nein sagen sollen? Aber so was geschieht nur im Film, oder?

Ich – schwanger. Viel zu früh. Und Oliver freut sich. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich kannte doch seine Bedenken. Er schüttelte zwar erst den Kopf, aber dann fing er sich, und seither schien die Sonne für ihn. Wir reden kaum über die Schwangerschaft. Und ich glaubte, es sei alles in Ordnung. Warum benimmt er sich jetzt so??? – Ich dachte, glaubte, er versteht mich. Was soll das? Magda konnte nicht glauben, dass der einzige Grund seines Ärgers die paar Minuten sein sollten, die sie zu spät aus dem Reisebüro gekommen war.

Oliver trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. Seine Gedanken galten den Terminen, die sein Chef ihm für die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr aufgebrummt hatte und dass er es nicht schaffen würde, sie alle abzuarbeiten. Und jetzt lässt Magda mich warten! Zu einer Uhrzeit, wo lauter Verrückte unterwegs sind! Veerkamps sitzen bestimmt wie auf glühenden Kohlen! Er bog wie im Tiefflug in die Straße ein, in der die Freunde wohnten, und wurde von einer Baustellenampel gestoppt. „Was ist denn jetzt wieder! Auch das noch! Dass die nicht warten können bis nächstes Jahr! Reine Schikane ist das“, raunzte er. Sein Blick bohrte sich in die Ampel.

Magdas Magen rebellierte vom Ruck des Bremsmanövers. Der nächste Häuserblock war der, in dem Cordula und Holger wohnten. Sie wollte aussteigen und klingeln, doch wurde sie von Brechreiz überrascht, dem sie nicht standhalten konnte.

„Kannst du nicht aufpassen!?“, schnauzte Oliver.

Sie jammerte: „Was hätte ich denn tun sollen, Oli? Das kam so schnell, dass ...“ Sie würgte erneut, der Gestank war erbärmlich. Diesmal schaffte sie es, die Beifahrertür aufzureißen. Aber es kam nichts, es blieb beim Würgen.

Magda stieg aus. Die Autos hinter ihnen scherten aus und überholten. T-Shirt und Jeans waren voll mit Erbrochenem. Sie holte ein Päckchen Papiertaschentücher aus ihrer Handtasche und säuberte notdürftig ihre Kleidung während Oliver zur Seite fuhr, damit die anderen Autos vorbeikamen.

Nun stieg auch er aus.

„Was ist los? Bist du krank?“

„Es geht gleich wieder. Bestimmt! Vielleicht ist es das Baby...“

„Jetzt schon?“

„Wann sonst?“

„Ich fahr dann mal rüber zu Veerkamps“, überlegte Oliver.

„Vielleicht können die mir einen Eimer Putzwasser geben.

Sonst krieg ich den Gestank nicht mehr aus dem Auto.“

Magda füllte ihre Lungen mit Frischluft und ging mit wackligen Beinen zum Haus von Veerkamps. Die Übelkeit ließ nach, doch wohl war ihr nicht. Cordula und Holger wünschten sich schon so lange ein Kind. Magda verspürte ein Gefühl, als hätte sie ihre Freundin hintergangen. Wie sollte sie es ihr sagen, ohne ihr wehzutun?

Cordula fackelte nicht lange: „Magda! Du wirst doch nicht krank!?“

Magda winkte ab. „Nein, nein, geht schon. Wahrscheinlich hab ich zu wenig gegessen ...“

Cordula sah ihr ins Gesicht: „Sag mal, bist du schwanger?“

Magda sah zu Boden. „Ja.“

„Was?“, rief Cordula. „Ich glaub’s ja nicht!“

Cordulas Miene und ihre klaren blauen Augen verrieten Magda, dass Cordula sie keineswegs ablehnte. Magda konnte es nicht fassen. Sie hatte ihre Freundin total falsch eingeschätzt und zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie es Cordula beibringen konnte! Und nun löste sich das Problem in Wohlgefallen auf. So was konnte nur Gott hinkriegen! Holger kam aus dem Wohnzimmer und rieb sich die Hände. „Klasse, dass ihr da seid. Dann können wir los, oder?“

Magda zögerte. „Öhm, wir bräuchten noch etwas ...“

„... Putzwasser“, ergänzte Oliver, der die Treppe hochkam.

„Mir wurde schlecht unterwegs“, beeilte Magda sich zu erklären.

Cordula eilte in die Küche und kam mit einem Eimer Wasser heraus. Oliver trug ihn zum Auto. Holger kam nach: „Ich helf dir, dann sind wir schneller fertig, was Oli?“

Sie beseitigten das Malheur so gut es ging. Holger meinte: „Oli, wir könnten doch mit unserem Auto nach St. Blasien fahren. Dann kannst du dein Auto in meine Garage stellen. Wir lassen die Scheiben runter, und es kann lüften.“

Oliver freute sich über das Angebot. Sie luden das Gepäck um und versorgten das Bendersche Auto, während die Frauen nach oben gingen, damit Magda sich umziehen konnte. Magda sagte: „Mensch Cordula, bin ich erleichtert, dass du dich freust! Ich hab’ mir die ganze Zeit Gedanken gemacht, weil ihr schon so lange auf Kinder wartet. Irgendwie fühle ich mich schuldig ...“

„Dass wir auf Kinder warten, heißt nicht, dass ich mich nicht mit euch freuen würde! Mädchen, du ...!“ Sie umrahmte Magdas Gesicht mit den Händen und drückte ihre Nase gegen die der Freundin. „Wir lassen die Bombe aber erst bei Olivers Oma platzen, oder?“

Magda nickte. „Dann haben wir noch ein wenig unser Geheimnis für uns.“

Olivers Großmutter, Frau Huttersberger wohnte in einem Schwarzwaldhaus mit schindelgedecktem Walmdach. Geschneit hatte es auch hier nicht. Das Licht in den Sprossenfenstern hieß sie willkommen.

„Schön, dass ihr gekommen seid!“ Frau Huttersberger rieb die Hände an ihrer Schürze ab. „Ihr könnt Euch in die Küche setzen. Das Essen ist gleich fertig.“ Sie brachte Bratkartoffeln mit Eiern und Schwarzwälder Schinken. Zum Nachtisch gab’s Weihnachtsgutsle im Wohnzimmer.

Oliver legte den Arm um Magda. Sie schmiegte sich an ihn und genoss seine Wärme. Welch ein Abend nach so einem Nachmittag, dachte sie. Zärtlichkeit lag in ihren Augen, als sie ihn anschaute. Doch Oliver nahm keine Notiz von ihr. Er begann wiederholt sich zu kratzen. Bin ich wieder Nebensache ... Sie rückte von ihm ab. Er merkt es nicht einmal. Schade ...

Olivers Großmutter erzählte von der Zeit, als sie im Alter ihrer Gäste war: „Mein Mann arbeitete vor dem Krieg als Rechtsanwalt. Leider gingen die Geschäfte mehr schlecht als recht. Die Leute hatten ja nichts. Doch es reichte zum Leben. Unser Sohn Gerhard blieb im Krieg, und mein Mann“, Frau Huttersberger räusperte sich, „kam als Kriegsversehrter heim. Sie haben ihm den linken Arm weggeschossen. Zeitlebens litt er unter Phantomschmerzen. Vor drei Jahren ist er gestorben. Er hat Tanja, Olivers Mutter, um fünfzehn Jahre überlebt. Wer hätte das gedacht? Jetzt hat er seine Ruhe. Keine Schmerzen mehr! Aber dass deine Mutter“, sagte sie zu Oliver und wischte sich über die Augen, „dass sie so früh hat sterben müssen ... Darüber komm ich nicht weg!“

„An was starb sie denn?“, erkundigte sich Cordula.

„Sie hatte Krebs“, antwortete Oliver. „Sie starb, als ich zehn war.“

Magdas Gedanken hakten sich an Herrn Huttersberger fest.

Ich hätte ihn gern kennengelernt. So wie Olivers Oma von ihm schwärmt ...

Ein Vogelpark im Winter war für Veerkamps und Magda kein Anlass in Ekstase zu verfallen. Doch Oliver pries die Wärmehalle des Vogelparks Wiesental in den höchsten Tönen. Deshalb machten sie sich tags darauf auf den Weg dorthin, wo Olivers Liebe zu den Vögeln begonnen hatte.

„Ist es nicht toll, wie unterschiedlich sie sind, die ganzen Vögel – kleine, große, bunte, schwarz-weiße, einfarbige ... Alles, was du denken kannst!“ Oliver geriet in Fahrt, als er den Freunden seine Lieblinge vorstellte. „Allerdings sind sie mir inzwischen in Freiheit lieber.“

„Ist das der Grund, warum du dein Spektiv zuhause gelassen hast?“, fragte Holger.

Oliver sah ihn belustigt an. „Soll ich Gefangene hinter Gittern mit der Videokamera überwachen?“

Holger zuckte mit den Schultern. „Hätte ja sein können ...“

Frau Huttersberger war ganz aus dem Häuschen über Magdas Schwangerschaft. „Dass ich das erleb, Mädchen“, sagte sie, „das hätt ich nicht gedacht! Mit meinen über achtzig Jahren. Das ist ein Weihnachtsgeschenk! Ich mach’ dir morgen früh was besonders Gutes zum Kaffee, gell? Und jetzt langst kräftig zu bei den Gutsle.“

***

Februar 1989

„Du glaubst es nicht, aber ich bin totschlagkaputt nach dieser Knochenarbeit heute“, bemerkte Magda, als sie den Abendessenstisch abräumte.