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Hipolinchen das kleine Gespenst spielt in der Burgstadt Hilpoltstein mit seiner mittelalterlichen Burg. Als Clara und Michl einen nächtlichen Abenteuerausflug auf das alte Gemäuer unternehmen, erwacht das kleine Gespenst und macht ihnen eine Riesenangst. Doch sehr schnell stellt sich heraus, dass das Gespenst ein ganz, ganz liebes Gespenst ist und nur so tut als wäre es böse und gefährlich. Als Clara dem Gespenst einen Blutstropfen spendiert, verwandelt sich das kleine Gespenst in die wunderschöne kleine Marie. Von nun an sind Clara und die kleine Marie Blutsschwestern für immer und ewig. Aber da gibt es noch den bösen Chef mit seinen beiden Gehilfen auf der Jagd nach dem Hedwigsbecher, dem magischen Kelch aus dem Mittelalter, der Wasser in Wein verwandeln kann. Der Tote zum Leben erwecken kann. Von da an beginnt ein erbitterter Kampf, Kinder und Gespenst gegen die bösen Verbrecher.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Hipolinchen
das kleine Gespenst
Eine Erzählung aus der Burgstadt
Hilpoltstein
von
A. O. Reiter
Impressum:
Autor: A. O. Reiter
E-Mail: [email protected]
Bischofsholz 13
91161 Hilpoltstein
Cover: A. O. Reiter
ISBN: 9783754676400
Ausgabe 2022
© Copyright by A. O. Reiter
Aus der Kinderbuchreihe
Lukas, Melli, der Dicke und die Kröte
sind als eBook erschienen:
Band 1:Das Geheimnis des Bahnhofs
Band 2: Der Planet der Sklaven
Aus der Kriminalbuchreihe
Die unheimlichen Fälle des Inspektor Ashley
sind als eBook erschienen:
Band 1: Ewiges Leben
Band 2: Gottes verlorene Kinder
Band 3: Das Serum
Band 4: Todessymphonie in Blond
Wie alles begann
Aus der Esoterikreihe als eBook:
Rutengehen leicht gemacht – Die alte Kunst der Wassersuche
Tod
Heute
Freitagnacht, 23.30 Uhr
Försterwiese
Konspirative Wohnung Badstraße
Neubaugebiet 2.00 Uhr nachts
Konspirative Wohnung Badstraße
Geisterjäger
Mission Geisterjagd – Ein Gespenst wird ermordet
Marie
Konspirative Wohnung Badstraße
Ein Gespenst in der Schule
Geisterstunde
Claras Entführung
3 Uhr nachts auf der Burg
4 Uhr nachts in Michls Schlafzimmer
Der Plan
Verfolgungsjagd
Epilog
Man schrieb das Jahr 1610. Es war eine kriegerische Zeit. Die Feinde durchbrachen im Osten die Bayrische Grenze. Sie kamen aus Böhmen, Ungarn oder gar noch weiter auf dem Ural. Es war ein kriegerisches Volk, blutrünstig, böse und immer auf der Suche nach Schätzen und Beute. Menschliches Leben bedeutete ihnen nichts. Sie nahmen alles an sich was es Wert war zu erbeuten. Schinken, Hafer, Gold und Silber. Sie stahlen Schweine und Rinder aus den Ställen um sie auf riesigen Feuern zu Braten und zu Grillen. Selbst die Butter stahlen sie den Menschen vom Brot. Es war eine wirklich böse Zeit.
Hungersnöte überzogen das Land. Was es noch schlimmer machte, das Volk litt unter der Versklavung der Lehensherren, denn auch sie mussten ihre Ritter und Knechte bezahlen und ernähren um das Land gegen die Angreifer zu verteidigen. Also nahm man es vom einfachen Volk. Den Bauern, den Bäckern, den Hufschmieden, den Waschfrauen. Sie entzogen ihnen alles, die Ernte, ihre Ersparnisse, den miserablen Verdienst. Der Tribut für die Pacht von Feldern und Äckern überstieg den Ertrag den sie einfuhren, den sie an die Lehensherren abzuliefern hatten, um das Vielfache. Das Volk verarmte und sie litten bittere Not. Es blieb kaum etwas übrig um die nötigsten Bedürfnisse zu stillen.
Und so geschah es auch vor den Toren Hilpoltsteins, des kleinen, aber überaus wichtigen Handelsstädtchens zwischen Nürnberg und Ingolstadt, wo die Händler gerne eine Rast oder eine Übernachtung einlegten um den Staub von ihren Klamotten zu klopfen oder auch den Staub aus der Kehle zu spülen, wobei ihnen die Marketenderinnen gerne behilflich waren.
Im Grunde genommen war Hilpoltstein eine reiche Stadt die vom Durchgangsverkehr lebte. Man durfte nicht vergessen, 1610 gab es weder Autos, LKWs, noch Züge. Alles wurde mit Pferdekutschen oder Holzfuhrwerken vor denen zwei kräftige Ochsen gespannt waren transportiert. Alles ging langsam und gemächlich vor sich, schließlich waren Ochsen keine Rennpferde und so war eine Reise von Nürnberg nach Ingolstadt ein mehrtägiges Abenteuer.
Doch nun standen seit zwei Wochen die Feinde vor dem Tor um die Stadt zu übernehmen und ihre Ressourcen an Nahrung, Gold, Waffen, Kämpfern und hauptsächlich Nahrungsmittel zu erbeuten, auch dem Bier waren sie nicht abgeneigt. Aber noch hielt die Stadtmauer die rings um Hilpoltstein verlief, stand. Mehr als einen Meter war sie dick und vier Meter hoch, so schnell durchbrach die kein Feind. Aber die Angreifer die seit Jahren plündert durch das bayerische Land zogen waren nicht auf den Kopf gefallen. Statt die Mauer zu durchbrechen, kletterten sie einfach darüber hinweg. Gar so mancher stürzte ab und brach sich dabei das Genick, aber immer wieder gelang den einen oder anderen über die Mauer zu klettern und mit seinem Schwert bitterböse Verluste bei den Hilpoltsteinern anzurichten.
Zu jener Zeit herrschte die Pfalzgräfin Dorothea Maria über die Stadt. Erst vor vier Jahren war sie hier mit ihren drei wunderschönen Töchtern angekommen um hier in Ruhe und Frieden zu leben. Leider verstarb ihr Mann Pfalzgraf Ottheinrich II. viel zu früh. Er war ein guter Mann und er war auch seinen Töchtern ein guter Vater, auch wenn er sich immer einen männlichen Erben gewünscht hatte. Noch am Sterbebett vermachte er ihr den Fleck Hilpoltstein als Witwensitz. Ihre Trauer saß tief und war ehrlich. Doch sehr schnell merkte sie, das Leben ging weiter. Sie war damals erst 42 Jahre alt, viel zu jung um für den Rest des Lebens in Wehmut zu versinken. Schließlich waren da ja noch drei Töchter um die sie sich kümmern musste. Also beschloss sie ihre Trauerzeit zu beenden und sich wieder dem aktiven Leben zuzuwenden. Schließlich lebte Ottheinrich, ihr geliebter Mann in ihrem Herzen weiter und wenn ihr nach Trauer war, so konnte sie immer noch im stillen Kämmerlein, wenn sie keiner sah, um ihn weinen. Aber jetzt musste das Leben weitergehen.
Ihr Mann war kein armer Mann und hinterließ ihr genügend Gulden und Länderreihen um bis an ihr Daseinsende ohne finanzielle Sorgen leben zu können. Also nahm sie ein kleines Vermögen in die Hand und beauftragte einen Baumeister die Burg von Hilpoltstein so umzubauen, dass sich ein angenehmes Wohnen und Auskommen darin führen ließ.
Und so geschah es, dass sie 1606 mit ihren drei Töchtern mit einem triumphalen Einzug von den Hilpoltsteinern willkommen geheißen wurde. Mit Blumen und Girlanden wurde sie sowohl von den Honoratioren, den Geschäftsleuten, aber auch vom einfachen Volk bejubelt. Man winkte ihr zu und ließ sie hochleben.
In den nächsten Jahren lernten die Hilpoltsteiner ihre Gräfin zu lieben und zu ehren. Sie war keine die hochnäsig mit der Kutsche durch die Gassen hofierte. Sie war keine die das Volk durch unverschämte Steuern ausbeutete. Sie war keine die ihr Ohr für die Sorgen der Menschen verschloss. Sie war keine, die unsinnige Befehle erteilte.
Nein, sie ging auch mal, zum Schrecken ihrer Hof-Garde, alleine durch die Gassen um sich den Zustand der Stadt anzusehen und wenn sie kam, brachte man ihr Respekt entgegen, verbeugte sich und wünschte ihr einen guten Tag. Sie war keine hochnäsige Aristokratin wie es zu jenen Zeiten üblich war.
Nein, sie beutete die Stadt nicht aus. Vielmehr schoss sie aus dem eigenen Vermögen etwas hinzu, wenn es nötig war. Das Volk auszubluten sprach gegen ihre menschlichen Regeln und ihr verstorbener Mann würde ihr das selbst im Tod niemals verzeihen. Sie wusste genau, das Volk gegen sich aufzubringen, würde ihr eigener Untergang sein, das wollte sie nicht und das konnte sie sich auch gar nicht leisten.
Nein, sie hörte dem Volk zu, jeder konnte zu ihr kommen und seine Sorgen vortragen. Für jeden hatte sie ein offenes Ohr.
Nein, sie würde niemals Befehle erteilen die sie sich nicht auch selbst zumuten würde.
Nein, sie war keine böse Frau. Nein, sie war gut und weise und das Volk liebte sie immer mehr, je länger sie über diese Stadt herrschte.
Ihre Berater die aus mehreren sogenannten ehrenwerten Bürgern dieser Stadt bestanden, drängten sie schon lange das Volk mehr zu melken, wie sie es nannten. Doch das wollte sie nicht, viel zu sehr liebte sie ihre Hilpoltsteiner. Am liebsten hätte sie diese verlogenen Heuchler die nur auf den eigenen Vorteil bedacht waren, die sie wie die Schmeißfliegen umgarnten, an den Galgen gebracht, aber das verbot ihr die Hofetikette. Also musste sie damit leben und sie wusste sich durchaus ihrer zu erwehren.
Und so geschah es, dass die Hilpoltsteiner Bevölkerung und das hohe Haus der Pfalzgräfin Maria Dorothea mit ihren Töchtern immer enger zusammenrückte. Nicht dass es ein „Du“ und „Du“ Verhältnis war, nein, es war Respekt auf gegenseitigem hohem Niveau. Beide Seiten wussten, sie konnten sich gegenseitig vertrauen und sie konnten sich gegenseitig aufeinander verlassen. Zu jener Zeit, da jeder der auch nur im Entferntesten irgendwie dem Adelsgeschlecht angehörte, ob er nun ein Graf oder sonst ein Barönchen oder gar ein „Von“ war und nur dachte er wäre dadurch dem normalen Volk weitaus hoch überlegen, zu dieser Zeit war dieses Hilpoltsteiner Verhältnis schon etwas außergewöhnlich ganz Besonderes.
Das Leben war schön, das Leben lief gut. Alle hatten zu Essen. Keiner konnte sich beschweren. Seit sie da war, sie die die Pfalzgräfin, seitdem ging es mit der Stadt aufwärts, sie war die gute Seele. Schon viele Männer hatten um sie geworben, hatten um ihre Hand angehalten, doch sie lehnte sie alle ab. Sie wollte keinen Mann mehr, ihr Ottheinrich wohnte in ihrem Herzen und das war gut so. Selbst um die Kranken und Aussätzigen kümmerte sie sich. Versuchte ihnen zu helfen oder versuchte ihnen zumindest einen menschenwürdigen Tod zu gönnen.
Alles schien perfekt zu sein. Doch dann kam dieses verfluchte, gottverfluchte Jahr … Anno Domini 1610 … indem diese vorsintflutlichen bestialischen primitiven Völker aus dem Osten mit ihren Streitäxten, Kampfsternen und Schwertern die Bayerischen Grenzen niederrannten … und nun standen sie vor den Mauern und Toren Hilpoltsteins.
Soeben waren fünf Feinde über die Mauer gekommen, von der Seite des Stadtweihers her, wo keiner geglaubt hatte, dass die Mauer zu bezwingen war, wo sie doch dort am höchsten war. Verflucht war ihre Unachtsamkeit, doch nun waren sie da. Ließen ihre Schwerter auf jeden hernieder sausen der sich ihnen in den Weg stellte. Zehn Hilpoltsteiner hatten sie bereits niedergemetzelt als endlich ein Dutzend von Dorotheas Rittern zur Verteidigung eintrafen und auf die Angreifer mit ihren Waffen einschlugen. Zwei der Angreifer starben auf der Stelle, getroffen von mächtigen Schwerthieben der Verteidiger. Doch die restlichen Drei standen nun Schulter an Schulter und ließen keinen der Ritter an sich herankommen. Auch wenn sich ein enger Ring an Rittern um sie gebildet hatte, gelang ihnen immer wieder ein blitzschneller Ausbruch um einen der Ritter das Schwert in die eisernen Kettenhemden zu stoßen oder einen mit messerscharfen Spitzen besetzten Morgenstern an den Helm zu donnern. Irgendwie war das Verhältnis lächerlich.
Zwölf Ritter in eisenbesetzten Rüstungen kämpften einen Kampf gegen drei Angreifer die nur in Lederharnischen gehüllt waren, eigentlich sollten sie verlieren und im Staub ihr Leben aushauchen. Jedoch dauerte es keine zehn Minuten, da lag die Hälfte der Ritter in ihrem eigenen Blut am Boden, ob tot, oder schwerverletzt. Die Angreifer wütenden mit ihren Schwertern und Todessternen wie tollwütige Hunde, keiner hatte ihnen etwas entgegenzusetzen. Und was noch schlimmer war, sie drangen in ihrer Dreier-Formation immer weiter Richtung Burg vor, umringt von den restlichen sechs Rittern … aber nicht aufzuhalten.
Wieder traf ein blitzschneller Ausfall einen der Verteidiger durch einen Stich mitten ins Herz. Gegen das Schwert des Angreifers schienen die Rüstungen der Ritter nichts entgegenzusetzen zu haben. Ihre Schwerter durchdrangen die Kettenhemden als wären sie aus Butter. Stöhnend und mit völlig ungläubigem Blick ging der Getroffene zu Boden. Er verstand es einfach nicht, dass seine eiserne Rüstung etwas zu durchdringen vermochte und ihn zu Fall brachte. Mit diesem erstaunten Ausdruck im Gesicht verstarb er.
Jetzt waren es nur noch Fünf. „Einer von uns muss zur Gräfin und muss sie vor diesen Monstern warnen … ihr Ziel ist die Burg, das dürfen wir nicht zulassen.“ Schwer atmend schaute der Anführer den Jüngsten und auch den unerfahrensten in Sachen Kampftechnik in ihrer Gruppe an. „Los, nun lauft schon.“
Der junge Ritter zögerte einen Augenblick. „Mein Herr, ich kann euch doch hier nicht alleine lassen.“
„Verdammt, nun lauft schon. Nun tut es endlich. Wir verlieren hier die ganze Stadt. Das ist unsere einzige Chance … nun lauft. Gebt der Gräfin Bescheid was hier geschieht. Ihr müsst es ihr berichten.“ Die letzten Sätze schrie er so laut er konnte unter seinen Helm hervor, doch dies hatte seine Aufmerksamkeit für einen kurzen Augenblick getrübt.
Der Schwerthieb traf ihn völlig unvorbereitet und zertrümmerte ihm den Kiefer. Aber noch stand er. Die Schmerzen waren höllisch, aber sie befreiten seinen Geist. Jetzt ging es nur noch darum die Stadt zu retten. Und eine alles mit sich reißende Wut erfasste ihn und mit erhobenem Schwert und kaum noch verständlichen Lauten drang er schreiend auf seine Gegner ein. Sein Schwert raste dahin und raste dorthin, doch überall wo er hinschlug, wurde es abgewehrt. Der Gegner war zu gut … und da kam der Gegenschlag. Er sah ihn kommen, und er wusste nun war es vorbei. Der Schlag spaltete ihm den Schädel.
Der junge Ritter rannte wie noch nie in seinem Leben. Der Anstieg zur Burg war steil, aber das war ihm egal. Es ging um die Zukunft der Stadt, es ging um die Bevölkerung … eigentlich ging es um alles … um das nackte Überleben. Um die Zukunft Hilpoltsteins.
Zwei Burghöflinge mit ihren Lanzen versperrten ihm den Weg in die Festung. „Geht mir aus dem Weg, ich muss sofort zur Gräfin. Die ganze Stadt ist in Gefahr. Aus dem Weg“ schrie er. „Die Feinde befinden sich bereits innerhalb der Mauern und sie rücken auf die Burg vor. Nun geht beiseite.“ Allmählich erfasste ihn Wut über diese beiden starrköpfigen Wachen und mit zwei mächtigen Schwerthieben zerteilte er ihre Lanzen in nutzlose Bruchstücke und mit einen mächtigen Satz war er auch schon an ihnen vorbei und rannte den steilen Anstieg zur Burg hinauf. Es war im egal, dass sein Herz in seiner Brust unter der schweren Last der eisernen Rüstung hämmerte als ob es jeden Augenblick zerbersten würde. Es war ihm egal, dass seine Lungen nicht mehr genügend Sauerstoff bekamen und er bereits Sterne vor den Augen sah … aber auch das war ihm egal. Er hatte einen Auftrag und den würde er nun erfüllen. Es ging um die Rettung seiner Herrin Maria Dorothea, und den würde er nun erledigen, koste es was es wolle. Doch da war noch etwas, die älteste Tochter seiner Herrin hatte ihn in letzter Zeit bereits mehrfach ein so bezauberndes Lächeln zugeworfen, dass es ihm jedes Mal den Atem verschlug und seine Sinne völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Allein der Gedanke an sie, spornte ihn an noch schneller zu laufen. Er könnte es niemals ertragen, wenn ihr etwas zustoßen würde.
Zwischenzeitlich hatten sich die beiden Wachen von ihrem Überraschungsangriff erholt und gaben lautstark Alarm. Ein Alarm, der auf einen Angreifer hindeutete.
Gleich hatte er es geschafft, gleich würde er oben in der Burg sein. Der Anstieg war wirklich steil, kostete ihm seine allerletzten Reserven. Seine Lunge brannte wie Feuer, seine gesamte Brust schmerzte unter den verzweifelten Pochen seines Herzens das nicht mehr nachkam seinen Körper mit genügend Blut und Sauerstoff zu versorgen. Was ihm nicht mehr bewusst war, er schwang immer noch bedrohlich das Schwert über seinen Kopf als ob er alles töten und kleinschlagen wollte und so brach er endlich in den Burghof ein.
Das Alarmsignal der beiden Wachen hatte seine Schuldigkeit getan. Zwanzig Bogenschützen empfingen in mit gespannten Sehnen und aufgelegten messerscharfen Pfeilen. Ein dutzend Lanzen zielten auf seine Brust und ein weiteres Dutzend stand mit gezogenen Schwertern da. „Halt, bleibt sofort stehen.“ Eine schneidente Stimme erfüllte den gesamten Schlosshof. „Legt sofort das Schwert nieder, ansonsten werden euch meine Bogenschützen durchbohren. Und nun sagt mir wer ihr seid und was ihr wollt. Warum habt ihr meine Wachen überwältigt. Darauf steht im allgemeinen der Tod.“
Völlig erschöpft ließ sich der junge Ritter auf die Knie fallen, aber noch immer hielt er völlig unbewusst sein Schwert wie zum Angriff vor sich gestreckt.
„Nun lasst endlich das Schwert fallen oder ihr seid tot.“ Die Stimme des Kommandanten wurde nochmals um eine Nuance kälter. „Nun sagt mir was ihr vorhattet. Ihr kommt einfach mit gezogenem Schwert hierher, wen wolltet ihr töten. Sagt es oder ich lasse euch hier auf der Stelle aufspießen … und wer seid ihr, gebt euch zu erkennen.“
Der junge Ritter verstand gar nichts mehr. „Aber Herr ich bin es doch“ brachte er endlich mit fliegendem Atem ein paar Worte hervor und unbewusst stocherte sein Schwert in die Richtung des Kommandanten.
„Lasst sofort das Schwert fallen und klappt euer Visier hoch, ich will euer Gesicht sehen.“
Allmählich setzte sein Verstand wieder ein und mit Schrecken bemerkte er, dass er seinen eigenen Vorgesetzten mit dem Schwert bedrohte und ließ es sofort fallen. Irgendetwas lief hier komplett schief. Auch bemerkte er warum er so schlecht Luft bekam. Sein Visier war unten. Sofort sprang er auf die Beine und riss das Visier hoch. „Mein Lord verzeiht mir meinen ungebührenden Auftritt, aber die Stadt ist in höchster Gefahr … und ich will hier keinen töten“ setzte er beschämt hinzu.
Unbemerkt hatte sich Maria Dorothea mit ihren Töchtern auf dem Balkon der Burg versammelt von wo sich das Geschehen gut überblicken ließ. Und als der junge Ritter sein Visier hochklappte, durchlief der ältesten Tochter ein wohliger Schauer. „Das ist der junge Prinz von Eschwald, ach, seht ihn euch an wie schön und stolz er doch in seiner Rüstung aussieht. Er ist ein Prinz, ein richtiger Prinz.“ Dahin schmelzend schlug sie die Hände zusammen und ihre Blicke hingen schmachtend an den jungen Mann. „Ein Prinz, ein Prinz“ äfften ihr ihre beiden Schwestern nach. „Ach wie schön er doch ist“ äffte die Mittlere „und so stolz“ äffte die Jüngste. Dann brachen die Beiden in heiteres Gelächter aus. „Ihr seid so … gemein“ brach es nun aus der Ältesten hervor. „Ihr seid bloß neidisch, weil ihr noch keinen Mann habt.“
„Scchhh“ machte die Burgherrin zu ihren Töchtern. „Contenance, meine Damen. Beruhigt euch, hier ist etwas größeres im Gange, also seid still. Ich glaube das dort unten ist sehr wichtig.“
Als der Kommandant das Gesicht des jungen Ritters sah, erschrak er. „Von Eschwald, sie? Ich habe sie in ihrer verbeulten und verdreckten Rüstung nicht erkannt. Was geht hier vor sich?“ Sofort gab er den Befehl „alle Waffen runter, er ist einer von uns.“
„Mein Herr, sie haben die Mauer überrannt und sie kommen hierher. Sie haben die Hälfte meines Trupps und den Befehlshaber getötet. Man kann sie nicht aufhalten. Er hat mich losgeschickt um euch zu warnen. Das war mein Auftrag, Herr … und ich habe ihn hiermit erfüllt.“
„Gut mein Junge.“ Kameradschaftlich klopfte er ihn auf die Schulter. „Wie lange denkt ihr wird es dauern bis sie hier sind?“
„Fünf, höchstens zehn Minuten, länger nicht. Ich hatte keinen großen Vorsprung.“
Fünft, höchstens zehn Minuten … hmm, sinnierte der Kommandant kurz vor sich hin. Dann kamen die Befehle absolut schnell und präzise. Bogenschützen sucht euch einen Hinterhalt wo ihr nicht entdeckt werdet. Lanzenträger verschanzt euch hinter dem Tor. Lasst sie herein, aber nie wieder hinaus. Und ihr meine Schwertkämpfer bleibt bei mir.
Alles ging sehr schnell von statten, sie waren alle sehr erprobte Kämpfer. „Von wieviel Angreifern sprechen wir, ein Dutzend oder gar zwei Dutzend“ wollte er noch wissen.
„Von drei“
„Drei Dutzend? Mein Gott, das sind zu viele.“
„Nein, Kommandant, ich spreche nicht von drei Dutzend, ich spreche von drei Mann.“
Sekundenlang herrschte absolute Stille, doch dann brach es aus den Kommandanten heraus. „Von Eschwald sind sie wahnsinnig geworden? Wegen drei Angreifern machen wir hier so ein Theater, das ist jetzt nicht ihr Ernst. So etwas erledigen meine Stallburschen, sind sie denn von allen Sinnen verlassen?“ Die Augen des Kommandanten glühten wie Holzkohle. Er hatte ein halbes Heer erwartet, aber nicht drei lächerliche Angreifer. Das konnte doch jetzt alles nicht wahr sein.
„Aber Kommandant, jeder von ihnen kämpft für zehn. Die sind nicht zu schlagen. Glaubt mir, ich habe sie gesehen. Sie sind wie Monster, Monster aus der Hölle.“
„Lächerlich von Eschwald was sie da erzählen, ich werde sie degradieren und nach Hause schicken, dann können sie ihrem Vater solche Schauergeschichten erzählen, aber nicht mir.“
„Tut mir leid mein Kommandant, ich sage nur die Wahrheit.“ Diese Ankündigung des Kommandanten traf den Prinzen ganz, ganz tief in seiner noch so jungen Seele. Verletzte seinen Stolz bis ganz tief in seinen Innersten. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, er hatte alles richtig gemacht und seinen Auftrag gewissenhaft erfüllt. Diese Reaktion des Kommandanten verstand er nicht und konnte sie auch nicht akzeptieren. Unbewusst glitt sein Blick zum Balkon der Gräfin hoch und da stand sie … die älteste Tochter Maria Dorotheas. Ihre Augen trafen sich und blieben ineinander hängen. Langsam zog sie ein weißes Taschentuch aus ihrem Ärmel und winkte ihm kaum wahrnehmbar damit zu … oder sollte er sich etwa geirrt haben? Die Bewegung war so zart, so sanft. Nein, er war sich sicher diese Bewegung galt ihm, ihm ganz alleine.
Diese Erkenntnis versetzte ihn einen tiefen Stich in sein aufgewühltes Innerstes. Seine Herzensdame hatte soeben seine Erniedrigung durch den Kommandanten mit ansehen müssen. Nein, das konnte er nicht dulden, er war ein „von Eschwald“. Dies alles verstieß gegen seinen Ehrenkodex, er hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, er hatte nur die Wahrheit weitergegeben. In diesem Moment stand sein Entschluss fest. Mit lauter und fester Stimme, so dass alle es verstehen konnten rief er über den gesamten Burghof. „Kommandant, mein Herr, ich lehne ihre Degradierung ab. Erlaubt mir mich zu Rehabilitieren.“ Mit diesen Worten bückte er sich zu seinem Schwert das am Boden lag, hob es auf, hielt es vor der Brust mit der Klinge senkrecht nach oben, als ob er ein Kreuz trüge und salutierte. Dann klappte er sein Visier nach unten und stand kampfbereit da, bereit um alles abzuwehren was auf ihn zukäme.
Auf dem Burghof herrschte Totenstille. Noch niemals hatte es jemand gewagt so mit dem Kommandanten zu sprechen. Durch die Sehschlitze huschte sein Blick wieder nach oben zum Balkon. Und da sah er es in ihren Augen. Es war kein entsetzter Blick, es war kein abfälliger Blick, es war auch kein erschrockener Blick. Nein, das was er sah … war stolz, stolz auf ihn, stolz auf das was er soeben gesagt hatte … und ihm war nun endgültig klar … sie liebte ihn. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten.
Plötzlich erscholl Kampflärm der immer näher kam. Die beiden Wachen die der junge Ritter bereits überwunden hatte wurden von den Angreifern einfach überrannt, gefolgt von den letzten vier Verteidigern die noch am Leben waren. Den steilen Bergzugang nahmen sie wie Maschinen die nicht mal richtig außer Atem kamen. Und da standen sie unter dem Burgtor in ihren ledernen Harnischen, blutverschmiert, dreckverschmiert. Drei Wesen aus einer anderen Welt. Die Muskulatur ihrer Arme und Beine pulsierte vom bisherigen Kampf, war aufgebläht und absolut durchtrainiert. Keiner der anwesenden Ritter konnte sich damit vergleichen. Ihre Gesichtszüge waren nicht das was man in Bayern gewohnt war. Hervorstehende Wangenknochen, große gekrümmte Nasenrücken, wilde dunkle Augen und streng nach hinten geflochtene Haare. Sie kamen aus einem völlig anderen Kulturkreis, einen völlig Fremdartigen, tief aus dem Osten. Und sie nahmen Witterung auf. Sie waren erprobte Kämpfer. Sie witterten es, dass hinter den Toren unter den sie nun standen, sich die Lanzenträger verbargen. Sie witterten es, dass die Bogenschützen sich im Hinterhalt verbargen. Ihre wilden schwarzen Augen gingen dahin und dorthin, sie rechneten sich ihre Chancen aus. Vielmehr war es ihr Instinkt der das Denken übernahm und sie vertrauten ihrer Wildheit, diese ungezügelte ursprüngliche Wildheit, dass ihnen das Töten Freude bereitete. So schlecht standen ihre Chancen gar nicht. Jeder von ihnen konnte es mit zehn dieser sogenannten Ritter aufnehmen. Sie waren steif, alle zeigten sie denselben Kampfstil, sie waren ganz einfach zu durchschauen. Doch eines war ihnen klar, wenn sie jetzt ein paar Schritte weitergehen würden, würde ein Krieg ausbrechen. Also machten sie sich bereit, in der einen Hand das Schwert, in den Gürteln unzählige Messer … und mit der anderen Hand begannen sie nun über ihren Köpfen die mit messerscharfen langzackigen Spitzen besetzten Morgensterne die an Ketten hingen in Schwung zu bringen. Nur ein einziger Schlag von dieser Waffe genügte, diese Waffe war absolut tödlich. Ein unheimliches Surren hing in der Luft und je schneller die Kampfsterne kreisten, umso höher wurde der Ton.
„Von Eschwald, nun könnt ihr zeigen was ihr könnt, greift sie an.“
Er wusste genau, dies war ein Todeskommando und es war ihm auch klar, dies war die Rache des Kommandanten für seine aufmüpfige Handlung von soeben. Ein kurzer Blick hinauf zum Balkon zur jungen Baroness, machte ihm klar, dass sie den Befehl des Kommandanten durchaus richtig verstand, was er bedeutete. Denn jetzt war es kein stolzer liebevoller Blick dem sie ihn zuwarf, jetzt stand blankes Entsetzten in ihren Augen. Entsetzen und pure Angst … Angst um ihn. Nein, das konnte er nicht zulassen, dass sie sich sorgte. Nein, jetzt würde er ihr zeigen was er konnte … schließlich war er ein „von Eschwald“. Es gab nur zwei Möglichkeiten, ein ruhmreicher Sieg, oder ein ehrenvoller Tod, eines von beiden, aber das würde jetzt das Schicksal entscheiden. Kurz bekreuzigte er sich, dieses Zeichen war ihm wichtig, dann marschierte er auf die drei Angreifer zu und brachte sich in Kampfposition.
Sofort sah er die Verwirrung in den Augen seiner Gegner, dass nur ein Kämpfer vor ihnen stand, doch dann ging ihre Verwirrung in hämisches Gelächter über. Mit einem seltsamen gutturalen kaum verständlichen Dialekt brach es spöttisch aus ihnen heraus „ist … das … alles … was … ihr … zu … bieten … habt? Ein … Einziger? Wie … lächerlich“. Und schon begannen die Kampfsterne über ihren Köpfen nochmals schneller zu kreisen.
„Von Eschwald’s“ Situationsanalyse war kurz und präzise. Mit der Kampftechnik die ihnen der Kommandant beigebracht hatte, aufrecht in die Schlacht zu ziehen, würde ihn auf der Stelle töten. Diese verfluchten Kampfsterne waren unberechenbar, sie würden ihm den Kopf vom Rumpf schlagen. Nein, er musste diese Dinger unterlaufen. Alles was er angreifen konnte waren ihre nackten Beine, alles andere war sinnlos und für ihn tödlich.
Und schon lief er los. Fünf, sechs gewaltige Sätze brachten ihn richtig in Schwung, der steil abfallende Burgberg tat sein Übriges und schon ließ er sich auf den Rücken fallen und schlitterte auf seiner Rüstung gleitend den Feinden entgegen.
Die Überraschung war perfekt, damit hatten sie nicht gerechnet … und auch noch nie gesehen. Dem Ersten durchtrennte er mit seinem Schwert die Achillessehne. Dem Zweiten rammte er das Schwert in den Oberschenkel, dass es aus der anderen Seite wieder austrat. Dann traf ihn ein Schlag, ein fürchterlicher Schlag. Es war der Dritte, der noch stand, die anderen Beiden lagen bereits heulend am Boden. Der Kampfstern des Dritten traf ihm am Kopf und die messerscharfen Spitzen durchschlugen seinen Helm und drangen in seinen Schädel ein.
Von einem Augenblick zum anderen veränderte sich die Realität um ihn herum. Nein, der Schlag hatte ihn nicht getötet, doch alles war anders geworden. Wie wenn alles aus Watte bestände, weich, komisch … und er fühlte seinen Körper nicht mehr. Alles schien sich wie in einem langsam dahingleitenden Zeitlupenzustand zu befinden. Seltsam, dachte er. Doch dann drangen Töne auf ihn ein. Zwei auf einmal. Der eine kam von oberhalb, vom Balkon, ein furchtbarer Entsetzensschrei. Hörte sich an wie ein langgezogenes „n … e … i …n“. Der Zweite kam vom Burghof, war aber nicht weniger langgezogen „A … n … g … r … i … f … f“. Ihm wurde noch klar, dass der eine Schrei von seiner geliebten Baroness stammte und der Zweite von seinem Kommandanten. Dann schwanden ihm die Sinne und im langsamen Dahingleiten wurde ihm noch bewusst, dass er nie wieder aufwachen würde.
Der Kampf war nur von kurzer Dauer. Von unzähligen Lanzen und Pfeilen durchbohrt lagen die drei Angreifer im Staube. Aber so unglaublich es klang, sie schafften es nochmals fünf Ritter mit in den Tod zu reißen. Mit ihren Kampfsternen wütenden sie bis zum bitteren Ende. Ihr eigener Tod schien ihnen nicht wichtig. Sie waren wirklich selbst im Todeskampf wie wilde Tiere. Tiere, aus einen für Bayern völlig fremdartigen Kulturkreis. Selbst im Nachhinein ließ sich niemals klären, wo sie herkamen, oder wer sie geschickt hatte. Ein wirklich finsterer und erschreckender Teil der bayrischen Geschichte und auch der von Hilpoltstein.
„Mutter, er liegt im Sterben. So tu doch endlich etwas.“ Tränen rannen der Ältesten über die Wangen. „Das hat er nicht verdient. Wir müssen ihm helfen.“
So etwas brauchte man Maria Dorothea nicht zweimal sagen. Augenblicklich meldete sich ihr gutes Herz. „Los Kinder, nach unten. Wir müssen die Männer versorgen.“ Jede andere Burgherrin hätte dies ihren Untertanen überlassen. Aber nicht sie, Maria Dorothea. Und schon waren die vier Frauen auf den Weg zum Kampfplatz.
Da wo der Kampfstern den Helm durchbohrt hatte, trat immer noch Blut aus, aber der Fluss wurde langsamer und versiegte schließlich. „Wir müssen ihm den Helm abnehmen. Kommt Kinder helft mir.“
Die Lederriemen unter dem Kinn waren fest, aber die Frauen schafften es schließlich. Das wallende braune lockige Haar das sich unter dem Helm versteckte, umrahmte nun das Gesicht des jungen Mannes.
„Mein Gott, seht ihn euch an wie wunderschön er ist und nun liegt er da und ist tot.“ Unter wildem Schluchzen und tränennassen Gesicht fiel die junge Baroness auf die Knie und bettete das Gesicht des Prinzen in ihre beiden Hände. Jetzt, da er so da lag und die Farbe aus seinem Gesicht gewichen war, wirkte es wie eine wächserne Maske, kalt, makellos … aber wunderschön. Ob sie wollte oder nicht, sie musste ihm einen letzten Kuss geben. Was ihnen das Leben nicht gegönnt hatte, würde sie jetzt im Tod nachholen. Langsam senkte sie ihre Lippen auf die seinen. Es war der erste Kuss in ihrem Leben und den musste sie mit einem Toten teilen, was für ein grausames Schicksal. Sie waren weich, ganz weich. Zu Lebzeiten hätte sie in ihnen versinken können, gemeinsam mit ihm diesen wunderschönen Prinzen. Aber nun war er tot, ermordet von wilden Tieren, Bestien. Beraubt seines noch so jungen Lebens. Nur zu gerne hätte sie es mit ihm geteilt. Sie hätten Kinder haben können. Hätten ein glückliches Leben führen können … doch nun lag er da, im Staub. Gestorben für diese Stadt.
Etwas berührte sie, ein Hauch, ein winziger Hauch. Erst bemerkte sie es gar nicht, registrierte es nicht. Nur ihr Unterbewusstsein nahm es auf, in ihr Bewusstsein drang es gar nicht vor. Doch da kam ein zweiter Hauch … und so unglaublich es Klang, dieser winzige, kaum spürbare Hauch kam aus seinem Mund. Doch dieses Mal reagierte sie, wenn auch ungläubig aber sie wusste sofort was es bedeutete. „Er lebt, Mutter er lebt.“ Mit riesengroßen von Tränen überfluteten Augen sah sie ihre Mutter an. „Ihr müsst sofort etwas unternehmen, wir müssen ihn retten.“
Sanft schob Maria Dorothea ihre Tochter beiseite und legte ihr Ohr auf den Mund des Prinzen. Und tatsächlich eine winzige Brise von Atem entrang sich dessen Lungen, kaum wahrnehmbar, nicht der Rede wert. Mit den Fingern fuhr sie durch die Lockenpracht des Prinzen. Sie suchte die Verletzungen in der Schädeldecke … und sie fand vier. Vier große Löcher. Die Kampfsterne hatten ganze Arbeit geleistet. Dieser Mann war dem Tode geweiht. Selbst wenn er noch einen Hauch von Atem in sich hatte, diese Wunden würden nie, nie wieder heilen.
Frustriert sackte ihr Kopf zwischen ihre Schultern nach unten. Wie nur sollte sie das ihrer Tochter beibringen. Schon lange hatte sie bemerkt, dass es ihre älteste Tochter zu diesen noch so jungen Prinzen aus dem Hause der „Von Eschwald’s“ hinzog. Sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn sich hier eine Verbindung in Form einer Ehe entwickelt hätte in der auch ein paar Nachkommen zustande gekommen wären.
Doch Maria Dorothea war keine Frau die den Kopf in den Sand steckte, sie war Realistin. Das wurde ihr zwangsläufig nach dem Tod ihres geliebten Ottheinrich klar geworden, nur so konnte sie überleben. Also hob sie den Kopf wieder in die Höhe. Erhob sich von dem Verletzten, auch sie war neben dem Opfer niedergekniet und nahm nun ihre weinende Tochter in den Arm. „Mein Kind wir können nichts mehr für ihn tun. Lassen wir ihn in Ruhe, Frieden und in Ehren sterben. Er hat sich als überaus tapfer erwiesen. Das ist das Mindeste was wir für ihn tun können.“
Augenblicklich und mit vor Zorn sprühenden Augen riss sich ihre Tochter von ihr los. „Nein Mutter, du wirst ihn retten. Für die ganze Stadt bist du da, für alle. Du pflegst sie, du hegst sie auch wenn sie noch so krank sind … und für ihn, meinen geliebten Prinzen willst du nichts tun? Mutter warum. Warum tust du mir das an.“ Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen.
Die Worte ihrer Tochter trafen sie tief ins Herz, doch sie konnte ihren Schmerz nur zu gut verstehen. „Mein Kind, selbst wenn ich wollte, wir können nichts mehr für ihn tun. Seine Verletzungen sind einfach zu schwer. So versteh doch Kind, es liegt nicht in meiner Macht ihn zu helfen. Lassen wir ihn in Frieden sterben.“
„Nein Mutter“ schrie sie verzweifelt, „er ist doch noch so jung“. Unglücklich sackte ihr Kopf auf die Brust herab, dann begann sie hemmungslos zu schluchzen, all ihre Gegenwehr brach in sich zusammen. In ihrem Innersten wusste sie, ihre Mutter hatte Rechte, Prinz von Eschwald war dem Tode geweiht. Seine Verletzungen waren einfach zu schwer, sie hatte es selbst gesehen, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Behutsam nahmen ihre Schwestern sie in die Arme um sie zu trösten.
Nach einigen Augenblicken unterbrach die Jüngste die aufgekommene Stille. „Erinnert ihr euch an Mutters seltsamen Becher. Man sagt ihm doch magische Kräfte nach, wisst ihr nicht mehr?“
„Meinst du diesen Hedwigs-Becher oder wie er heißt? Was willst du denn damit.“ Ihre mittlere Schwester sah sie verwundert an.
„Naja, es gibt Geschichten darüber. Er soll Wasser in Wein verwandeln. Er soll Kranke gesund werden lassen. Naja, solche Geschichten eben. Versteht ihr denn nicht. Es könnte ihn retten.“
„Dieses alte verstaubte Ding, das schon seit Generationen in Mutters Besitz ist? So ein Quatsch. Wer glaubt denn an sowas.“ Die zweitälteste Tochter hielt von der Idee ihrer Schwester nicht das Geringste.
„Ach du, du glaubst an gar nichts … aber ich glaube daran und ich werde ihn jetzt holen ob es dir passt oder nicht.“ Und schon lief sie los. Soweit sie sich erinnern konnte, stand er in einer Vitrine in Mutters Schlafzimmer. Dort wo Mutters Schätze wie goldene Ketten und Ringe und andere Kostbarkeiten aufbewahrt wurden. Sie kannte diesen Ort sehr gut, denn manches Mal schlich sie sich dort hinein um sich dieses Glitzern und Funkeln anzusehen. Das war schon etwas Besonderes für sie und dorthin musste sie jetzt.
Ihre älteste Schwester kniete jetzt wieder neben ihren jungen Prinzen, strich ihm über das Haar und streichelte seine Wangen und ihre Tränen schienen kein Ende nehmen zu wollen.
Maria Dorothea zerriss es das Herz ihre Tochter so leiden zu sehen, das hatte sie nicht verdient. Zwei so junge Leben die sich mochten. Und nun kam der Tod über sie, machte ihre ganzen Zukunftspläne zunichte. Spaltete ihre Liebe in Trümmerstücke und hinterließ ein Chaos das nicht wieder gut zu machen war. Manchmal fragte sie sich wo dieser Gott eigentlich war, dieser angeblich so gütige Gott. Wenn man ihn am meisten brauchte, war er nie zu erreichen. Genauso erging es ihr mit ihrem geliebten Gemahl. Wenn man ihn brauchte, war dieser Gott anscheinend immer mit etwas anderem beschäftigt.
Selbst mit Tränen in den Augen bückte sie sich zu ihrer Tochter hinab und küsste sie auf ihr Haupt. „Bleib bei ihm mein Kind. Vielleicht erlangt er nochmal das Bewusstsein und dann solltest du bei ihm sein. Und lass dir Zeit, so viel du brauchst.“ Insgeheim wusste sie jedoch, dieser Mensch würde niemals wieder aufwachen, dazu hatte sie bisher schon zu viel Erfahrung im Umgang mit Verletzten gesammelt. Aber sie wollte ihrer Tochter nicht noch mehr Schmerzen zufügen als sie eh schon hatte. „Bleib bei ihm, ich muss mich jetzt um die anderen Verletzten kümmern.“ Und nochmals gab sie ihrer Tochter einen Kuss. Dann packte sie ihre andere Tochter bei der Hand und zog sie mit sich, „komm mein Kind, es gibt viel zu tun. Dort liegen verletzte Soldaten und Ritter die versorgt werden müssen, also schnell.“
Zwischenzeitlich hatte die Jüngste den Kelch gefunden und rannte mit ihm schon wieder nach unten zu ihrer Schwester. „Wie geht es ihm?“ rief sie schon von weiten. Doch ihre Schwester blickte nur kurz zu ihr hoch, um noch mehr Tränen aus sich auszuschütten. Was hatte sie eigentlich erwartet. Eine Antwort, dass es den jungen Prinzen besser ginge? Wie dumm von ihr. Natürlich ging es ihm nicht besser, er lag ja im Sterben.
Auf dem Kampfplatz wimmelte es nun von Menschen. Diener, Angestellte, Köche, Mägde, Stallburschen, alles versammelte sich nun auf dem Burghof. Jetzt da der Kampf vorbei war, kamen sie heraus. Um zu helfen oder nur um neugierig zu sein. Bei dem Prinzen stand ein kleines Mädchen und starrte ihn an. Vermutlich war es das erste Mal, dass sie jemanden sterben sah. Und genauso entsetzt war ihr Gesichtsausdruck.
Mit dem Kelch in der Hand kniete sie sich neben ihrer Schwester nieder. „Sollen wir es versuchen? Wenn du einverstanden bist, versuchen wir es. Es liegt an dir.“ Ihre Schwester brachte nur ein kurzes Nicken zustande. Für eine Antwort fehlte ihr die Kraft. Der Schmerz fraß sie allmählich von innen heraus auf.
Kurz blickte sich die Jüngste um, dann sah sie das Mädchen. Es hatte langes lockiges blondes Haar und ihre Augen leuchtenden in einem schimmernden hellblau das alles verzaubern konnte. Doch in diesem Moment der Not bemerkte sie diese kindliche Schönheit nicht. War im Moment völlig unwichtig. „Wie heißt du Kleine, sag mir deinen Namen.“
Erschrocken wich das Mädchen einen Schritt zurück und vor Angst wurden ihre Augen riesengroß. Sie war es nicht gewohnt von den Herrschaften angesprochen zu werden.
„Nun komm schon, hab keine Angst. Wie ist dein Name.“
„Marie“ kam zögerlich und leise ihre Antwort und nochmal trat sie einen weiteren Schritt zurück.
„Kleine Marie, du musst jetzt etwas ganz wichtiges für uns tun. Nimm diesen Kelch, lauf zum Brunnen und fülle ihn mit Wasser und dann kommst du sofort wieder zurück. Hast du das verstanden kleine Marie?“
Zögerlich kam die Antwort. „Ja Herrin, ich habe verstanden was ihr wollt.“
„Da, nun nimm ihn schon und pass gut auf ihn auf. Lass ihn nicht fallen.“
Ängstlich kam das Kind näher. So einen Auftrag hatte sie noch nie erhalten. Bisher saß sie nur immer in der dampfenden Küche um Kartoffeln zu schälen oder Geschirr abzuwaschen. Mehr hatte man ihr noch nie machen lassen. Umso mehr verwirrte sie dieser Auftrag.
Mit zitternden Händen und sehr ehrfürchtig nahm sie das Gefäß in die Hand. „Und nun lauf kleine Marie, bring ihn ganz schnell wieder zurück. Du hast jetzt eine ganz, ganz wichtige Aufgabe.“
Noch während die Jüngste sich um ihre älteste Schwester kümmerte, lief die kleine Marie los. Den Weg zum Brunnen kannte sie zur Genüge. Jeden Tag lief sie die Strecke um frisches Wasser zum Kartoffelkochen zu holen. Tagein, tagaus. Es war eine beschwerliche Arbeit, doch sie wollte sich nicht beklagen. Denn sie war eine Waise. Hatte weder Vater noch Mutter. Beide waren bei einem Brand ums Leben gekommen, sagte man ihr. Und die Herrin, Maria Dorothea hatte sie aufgenommen und ihr das Schicksal eines armen bettelnden Waisenkinds das für ein paar Kreuzer alles tun musste, erspart. Und so war sie dankbar für dieses Schicksal, dass sie eine Arbeit in der Küche gefunden hatte. Essen gab es hier genug und an den ständig brennenden Küchenfeuer, gab es immer eine warme Schlafstelle. Sie fror nicht, sie hungerte nicht. Sie konnte sich nicht beklagen.
Wie wild kreisten ihre Gedanken durch ihren kleinen Kopf und ohne, dass es ihr bewusste wurde, stand sie auch schon vor dem Brunnen. Erst jetzt nahm sie sich die Zeit den Kelch näher anzusehen. Bis jetzt hatte sie es nur mit Bechern aus Zinn zu tun gehabt, aber das, das war etwas ganz was anderes. Er bestand aus Glas und war ganz durchsichtig, so etwas hatte sie noch nie gesehen, gehört ja, aber gesehen, nein. Das Glas glänzte und schimmerte wie ein Diamant, auch davon hatte sie gehört, dass es so etwas geben sollte. Ehrfürchtig hob sie den Becher gegen die Sonne und da entfaltete er seine ganze strahlende Schönheit. Er bestand nicht nur aus durchsichtigem Glas, nein, er war auch verziert mit blauen, roten und grünen Einlegearbeiten die den Becher etwas Besonderes gaben. So etwas hatte sie noch nie in ihren kleinen Händen gehalten. Langsam drehte sie den Kelch zwischen den Fingern. Mal schillerte er rot, mal schillerte er blau und dann wieder grün. Für sie war es ein Wunder. Es war unvergleichlich so viel Schönheit in ihren Händen zu halten.
Doch plötzlich stahl sich etwas anderes in ihre Gedankenwelt. Sie hatte eine Aufgabe, eine Aufgabe von einer ihrer Herrinnen. Schnell stellte sie den Becher am Brunnenrand ab. Bestimmt würde die Herrin schon auf sie warten. Warum war sie nur so dumm und verbummelte hier ihre kostbare Zeit. Die Herrin wartete doch auf sie. Schnell ließ sie den aus Ziegenhaut bestehenden Wassersack nach unten gleiten. Aus Erfahrung wusste sie, man musste den Sack etwas Zeit geben bis er sich füllte. Und schon zog sie ihn an einem Seil wieder nach oben. Genauso wie sie erwartet hatte, war der Sack voll mit dem kostbaren Nass, doch sie brauchte nur ein paar Schluck um den Becher zu füllen.
Und da geschah etwas Seltsames. Das Wasser im Becher begann zu kochen und zu brodeln und verfärbte sich schließlich rot. Entsetzt schüttete das Mädchen den Inhalt sofort wieder aus und ersetzte ihn wieder mit frischem Wasser. Doch das Ergebnis war dasselbe. Sofort begann es wieder zu Brodeln und zu Kochen und schon färbte es sich wieder rot. Und ein drittes Mal versuchte sie es, doch das Ergebnis war wieder das gleiche. Kurz schnupperte sie daran, eigentlich roch es gar nicht so schlecht, es roch beinahe wie Rotwein den sie den feinen Herren ab und zu servieren musste. Und da beschloss sie, dass sie eigentlich nichts falsch gemacht hatte und dass sich das Wasser rot verfärbte, dafür konnte sie schließlich nichts. Und schon lief sie wieder zurück.
„Herrin, Herrin, ich kann nichts dafür“, rief sie schon von weitem. „Ich habe es mehrfach versucht, aber das Wasser verfärbt sich immer wieder rot.“
Fast ungläubig starrte die junge Baroness das Kind an. Dann fiel ihr Blick auf den Kelch den ihr das Kind entgegenstreckte. Die Flüssigkeit darin war wirklich rot, dunkelrot, rot wie Blut. Dann brach sie in Tränen aus, aber es waren keine Tränen der Trauer, nein, es waren Tränen der Freude. Es stimmte also doch, der Kelch besaß magische Kräfte. Nun würde alles gut werden. „Kleine Marie, hab keine Angst, du hast alles richtig gemacht.“
Vorsichtig, beinahe ehrfurchtsvoll nahm sie den Becher und roch daran. Die Legenden über den Hedwigsbecher schienen sich zu bewahrheiten. Es roch wie würziger starker Rotwein. Unweigerlich begann ihr junges Herz zu rasen. Vielleicht stimmte ja auch die zweite Legende, dass er heilende Wirkung hatte. Mit zitternden Händen beugte sie sich zu den schwerverletzten Prinzen hinab und tröpfelte ihn den gesamten Inhalt vorsichtig in den Mund. Nur langsam versickerte die Flüssigkeit in dessen Schlund bis sie schließlich in dessen Magen versickerte.
Fragend, leidend und von Schmerzen um den jungen Prinzen erschüttert, sahen sich die beiden Schwestern in die Augen. Was würde nun geschehen. Würde überhaupt etwas geschehen? Oder war das mit dem Becher alles nur Schabernack.
Und dann geschah wirklich etwas. Doch es waren nicht die beiden Schwestern die es bemerkten, sie waren zu sehr in ihren eigenen Schmerz versunken. Es war die kleine Marie die es bemerkte. Denn plötzlich hob sich die Brust des Verletzten, zwar nur flach aber sie hob sich, kaum wahrnehmbar. Aber Marie entging es nicht. Für sie war dieser Prinz mit dem lockigen braunen Haar das schönste männliche Wesen, dass sie je gesehen hatte. Bisher kannte sie nur den dicken fetten Koch der sie immer nur beschimpfte und antrieb schneller Kartoffeln zu schälen. Oder die völlig ungewaschenen Stallburschen die manches Mal durch die Küche schlichen auf der Suche nach etwas Essbaren. Aber das hier, dieser Prinz war schon etwas Besonderes. Also hingen ihre Augen wie gebannt auf ihn.
„Seht doch, er atmet“ stieß sie ungläubig hervor. Und nun sahen es auch die beiden Schwestern.
Und in der Tat, er atmete. Sehr flach, unregelmäßig, aber er atmete. Das Leben schien in ihn zurück zu kehren. Sofort nahm die Baroness den Kopf des Prinzen liebevoll in ihre beiden Hände und küsste ihn sanft auf den Mund. „Geliebter du musst leben, kämpfe darum, ich liebe dich so sehr.“ Und dann kamen wieder Tränen, doch diesmal waren es Tränen des Glücks und der Freude.
Ihre jüngste Schwester kniete daneben und konnte nur fassungslos zusehen was vor ihren Augen geschah. Sie hatte es gehofft, dass so etwas geschehen würde. Aber als es nun geschah, war sie völlig … verwirrt, überfordert, oder was auch immer. Sie brauchte noch einige Augenblicke bis sie begriff was hier geschah. Doch dann brach es völlig ungläubig aus ihr heraus. „Es wirkt, der Becher wirkt. Bei Gott das ist unvorstellbar. Was für ein Geschenk.“ Doch sehr schnell begriff sie, dass der junge Prinz noch nicht über dem Berg war. Unregelmäßige flache Atmung, hoher Blutverlust durch die Kopfverletzungen. Nein das sah alles noch nicht gut aus, sie musste handeln … und zwar sofort. „Kleine Marie, nimm den Becher und hole nochmal frisches Wasser. Bitte, ich werde dich dafür reichlich belohnen.“
„Herrin, das ist nicht nötig. Ich mache das gern für den jungen Prinzen“ und schon rannte sie los. Der Ziegenbalg sauste in die Tiefe und einige Augenblicke später zog sie ihn wieder hoch. Das frische Quellwasser ließ sie in den Kelch gleiten … und schon vollzog sich dasselbe wieder. Es begann zu kochen und zu brodeln und schon verfärbte es sich rot. Eigentlich sollte sie jetzt sofort losrennen um den Prinzen zu retten. Doch da geschah etwas Seltsames. Wieder hielt sie den Kelch in die Sonne und augenblicklich entfaltete er sein bezauberndes Farbenspiel. Rot, grün, blau und dann diese Blutfarbe der Flüssigkeit, es war einfach unglaublich wunderschön. Sie wollte es nicht, doch dann roch sie daran, schwer und süß roch es, kaum zu widerstehen. Das Beste was ihr jemals unter die Nase gekommen war. Erst wehrte sie sich dagegen, doch schließlich überkam sie es doch. Einen Schluck, nur einen Schluck würde sie sich gönnen, das konnte doch nicht so schlimm sein. Vorsichtig, beinahe ängstlich führte sie den Kelch an ihre Lippen … und es schmeckte wunderschön … so betörend gut. Sie nahm noch einen zweiten und schließlich trank sie den gesamten Kelch leer. Es schmeckte süß, verzaubert wie Nektar. Aber sie bemerkte auch, dass es ihre Sinne verwirrte. Doch was sollte es, es würde ja keiner merken, auch die Herrinnen nicht. Sie brauchte ja nur den Kelch wieder mit frischem Brunnenwasser zu füllen und schon war die Welt wieder in Ordnung. Wieder füllte sie den Kelch mit Wasser … und wieder geschah dasselbe Schauspiel. Das Wasser im Glas begann zu kochen und zu blubbern … und schon verwandelte es sich in tiefroten schweren Wein.
Wieder hielt sie es in die Sonne und wieder zauberte der Kelch ein wunderschönes Farbenbild wie in einer Welt der Wunder. Vielleicht sollte sie sich abermals einen Schluck gönnen. Ihre Sinne schwebten bereits im siebten Himmel. Völlig frei und schwerelos. Was konnte da schon ein weiterer Schluck ausmachen. Und sie gönnte ihn sich und auch einen zweiten und auch einen dritten und schon war der Becher wieder leer.
Alles in ihrem Kopf schien zu schweben. Sie fühlte sich so frei und unbeschwert wie noch nie in ihrem Leben … aber sie war auch müde, sehr müde. Also setzte sie sich auf den Brunnenrand. Zu stehen fiel ihr schwer, nur einen Augenblick wollte sie sich ausruhen.
Plötzlich durchzogen ihren Kopf düstere Wolken, war da nicht noch etwas. Gab es da nicht einen Auftrag den sie dringend erfüllen musste. Oh Gott ja, sie musste den jungen Prinzen retten, diesen wunderschönen jungen Mann. Schon wollte sie aufspringen und ihren Auftrag erfüllen, doch da überkam sie wieder dieser Nebel in ihrem kleinen Gehirn. Vielleicht sollte sie sich nicht doch noch einen kleinen Schluck gönnen. Aber nein, der wunderschöne Prinz brauchte es nötiger als sie.
Vorsichtig erhob sie sich vom Brunnenrand. Richtig schwindelig war es ihr in ihrem Kopf und ihren Beinen. Vielleicht hätte sie doch nicht so viel von dem verzauberten Wein trinken sollen, aber er schmeckte doch so süß. Leicht torkelnd beugte sie sich über den Rand um nach dem Ziegenbalg zu greifen. Der Kelch brauchte frisches Wasser.
Und da geschah es, sie griff daneben, griff einfach in die Luft wo nichts war. Verfehlte den Wasserbalg, verfehlte das Seil an dem er hing … und schon bekam ihr Körper das Übergewicht … und langsam wie in Trance, kippte sie nach vorne und rutschte über den Brunnenrand, langsam, behutsam. Und dann begann der Fall. Sie war so verblüfft, dass sie nicht mal um Hilfe schreien konnte. Außerdem ließ es die Wirkung des Weines auch gar nicht zu, dass sie in irgendeiner Form reagieren konnte. Ihr Verstand steckte in einem tiefen Wattebausch der alles um sie herum vernebelte. Steinring um Steinring, die von den Erbauern dieser Burg in mühevoller Arbeit eingemörtelt waren, zogen an ihr vorbei. Immer tiefer fiel sie. Doch irgendwie empfand sie keine Angst, zu benebelt von dem roten Getränk war ihr Verstand. Ihre Rechte umklammert noch immer diesen sagenumwobenen Hedwigs-Becher … und sie fiel … und fiel.
Der erste vernünftige Gedanke der durch ihren Verstand kroch, war, wie tief konnte eigentlich so ein Brunnen sein. Doch sie konnte ihn nicht wirklich zu Ende denken, denn da kam der Aufprall und sie tauchte in das frische kalte Quellwasser ein. Doch es tat nicht weh, es war nur ein wenig kalt, aber das störte sie nicht. Hauptsache dieser Fall nahm endlich ein Ende. Im Wasser drehte sich ihr Körper automatisch auf den Rücken und sie sah durch den Brunnenschlund nach oben. Das zeitliche Gefühl hatte sie schon lange verloren. Doch es schien Mittagszeit zu sein. Die Sonne stand direkt über dem Brunnen und schien zu ihr herab.
Eigentlich war es wunderschön. Sie empfand keine Schmerzen, der Wein hatte ihren Verstand in einen Zustand der Leichtigkeit und der Unbeschwertheit versetzt. Die Gefahr in der sie schwebte, es war bitterböse Todesgefahr, blendete ihr Verstand komplett aus. Euphorisch hob sie den Hedwigs-Becher in die Höhe, hielt ihn in die Sonnenstrahlen … und wieder begann der Becher zu strahlen. In allen möglichen Farben glitzerte er, erhellte den Brunnenschlund zu etwas, das er gar nicht war. Seine Wände schimmerten rot, blau, grün und reflektierten es in alle Richtungen. Es war ein unvorstellbares Glitzern das ihr Gemüt in Hochstimmung versetzte. Es war jetzt ihre Höhle, ihre persönliche Kristallglitzerhöhle die sie mit niemanden auf der ganzen Welt teilen wollte. Alles war so schön, alles war so gut, es war ein Rauschzustand in dem sie sich befand. Längst atmete sie schon keinen Sauerstoff mehr ein, es war Wasser das ihre Lungen füllte. Doch ihr Verstand ignorierte es.
Im Schwelgen dieses Farbenrausches sank sie langsam, ganz langsam und sanft bis zum Grund des Brunnes hinab und blieb dort liegen. Sie genoss dieses Geglitzer aus vollem Herzen bis die Sonne über ihr weiterzog und den Brunnenschacht dunkler und dunkler werden ließ, bis er zu dem wurde, was er eigentlich war … ein armseliges finsteres Loch. Doch das bekam die die arme kleine Marie nicht mehr mit.
Dies alles geschah im Jahre Anno Domini 1610. Was aus dem wunderschönen jungen Ritter Prinz von Eschwald wurde, ob er wieder genas oder ob er verstarb, ist in den Chroniken der Stadt Hilpoltstein nicht vermerkt. Aber zu wünschen wäre es dem jungen Paar schon gegönnt gewesen, dass sich ihre Liebe erfüllt hätte und auch ein paar reizende Kinder dieser Verbindung entsprungen wären.
„Clara, du musst dich morgen in deiner neuen Klasse vorstellen. Ich lege dir hier einen Rock und eine weiße Bluse hin. Das ziehst du morgen an … damit du schön bist.“
„Aber Ma, ein Rock und eine weiße Bluse, das geht nicht. Die werden mich alle auslachen. So kann ich da nicht hingehen, das ist voll peinlich … und am Schluss verlangst du auch noch, dass ich Kniestrümpfe anziehe, das geht gar nicht.“
„Kniestrümpfe? Ah, gutes Stichwort.“ Claras Mutter kramte in ihren Klamottenschrank bis zu tiefst nach unten. „Da sind sie ja die guten Dinger. Weiße Kniestrümpfe, genau das Richtige.“
„Aber Ma, da sehe ich ja aus wie ein Trottel, wie ein Streberkind. Die werden mich schon alle am ersten Tag hassen.“
„Mein Kind es geht nicht darum was deine Mitschüler von dir halten, es geht darum was deine Lehrerin von dir hält. Und in dieser Begleitung hast du den perfekten Einstieg bei ihr, sie wird dich lieben.“
„Aber Ma, ich will meine alte Jeans und mein altes T-Shirt. Nur so fühle ich mich wohl. Ich kann das nicht anziehen, verstehst du denn nicht. Die werden alle über mich lachen.“
„Mein Kind, deine Jeans hat tausend Löcher, so stellt man sich nicht an seiner neuen Schule vor.“
„Aber Ma, alle Schüler tragen Jeans mit Löchern, das muss so sein, dann gehörst du dazu.“ Clara wurde immer verzweifelter. Ihre Mutter verlangte etwas von ihr, dass ihr absolut gegen den Strich ging und dass sie als absolute Außenseiterin abstempeln würde. So würde sie niemals Freunde finden können. Nicht in so einem Aufzug. Alles war schon genügend schwer ihre alte Schule in Hamburg verlassen zu müssen und hier in Hilpoltstein, in Franken, Fuß zu fassen. Aber ihre Eltern hatten es so gewollt. „Ma, warum verstehst du das denn nicht, so etwas geht nicht.“
Mutters Augen verengten sich plötzlich zu schmalen Schlitzen … was schon immer kein gutes Zeichen war, wenn sie so etwas tat. „Hör mir jetzt zu mein Kind, dein Vater baut sich hier eine neue Kariere auf und du wirst ihn unterstützen indem du morgen so zur Schule gehst wie ich es dir sage. Wir müssen uns hier integrieren. Integrieren an die Menschen. Integrieren in dieses Wohngebiet und integrieren an die Sprache die ich nicht wirklich verstehe. Und deshalb wünsche ich von dir … nein, ich befehle es dir, dass du morgen diese Sachen anziehst. Ich weiß schon was ich tue.“
Clara begriff, jetzt war ein Punkt erreicht, an dem ihre Mutter keine Widerreden mehr dulden würde. Ab jetzt würde sie richtig böse werden. Also gab sie klein bei, doch eine Bitte hatte sie noch. „Kommt ihr wenigstens morgen zur Einschulung mit?“ Kleinlaut und ängstlich stellte sie diese Frage, aber sie kam ganz, ganz tief aus ihren Herzen. Sie hatte wirklich bitterböse Angst morgen dahin zu gehen. Auch wenn sie sich schon als junge Frau fühlte, in ihrem Innersten war sie doch immer noch ein kleines unschuldiges Kind.
„Aber mein Kind, du weißt doch, dein Vater hat morgen seinen ersten großen Tag in dieser Erlangener Weltfirma. Der kann da nicht einfach wegen dir absagen.“
„Und du, hast nicht wenigsten du morgen Zeit für mich. Bloß so lange bis mich die Lehrerin vorgestellt hat.“ Mit feuchten Augen hing sie an ihrer Mutter.
„Clara nun mach dich nicht lächerlich. Du gehst morgen dahin, setzt dich in eine freie Bank … und gut ist es. Ich habe morgen auch einen wichtigen Tag in dieser Papierfirma. Ich kann dort stellvertretende Abteilungsleiterin werden. Das ist alles sehr wichtig für unseren Neubeginn in diesem Kaff, wie heißt es doch gleich … Hilp … ach ja, Hilpoltstein. So und nun gehst du zu Bett und morgen gibst du dein bestes. So wie dein Vater und so wie deine Mutter … und irgendwann sind wir eine stinkreiche Familie und können wieder aus diesem Kaff verschwinden und in eine richtige Großstadt ziehen.
Ohne ihrer Tochter ein tröstendes Wort oder auch nur einen liebevollen Gutenachtkuss zu geben, schwirrte sie ab und ließ ihre völlig verunsicherte Tochter alleine.
Für Clara wurde es die schlimmste Nacht ihres Lebens. Sie konnte einfach nicht einschlafen. Immer wieder schoss es ihr durch den Kopf wie sie sich vor die Klasse stellen sollte und alle lachten nur noch über sie. Es war bereits zwei Uhr, als sie endlich der Schlaf dahinraffte. Aber es war kein guter Schlaf. Immer wieder stöhnte sie und träumte von Sachen die ihr selbst im Traum zutiefst Angst machten.
Mit klopfenden Herzen stand sie, mit ihrem Röckchen, der weißen Bluse und den weißen Kniestrümpfen am nächsten Tag vor der Tür der 6. Klasse. Sie wusste genau, was jetzt auf sie zukam, glich einem Alptraum. Aber sie konnte nicht davor fliehen. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter, sie waren eine Erfolgsfamilie. Ihr Vater tat seinen Job in der Erlangener Weltfirma. Ihre Mutter tat ihren Job in dieser ansässigen Papierfabrik. Und nun musste sie ihren Job hier an dieser Schule tun, das war ihre Pflicht, Familienpflicht.
Zaghaft klopfte sie an die Tür. Doch als sie kein „Herein“ hörte, beschloss sie einfach einzutreten. Zaghaft öffnete sie die Tür einen Spalt und zwängte sich ängstlich hindurch. Ihre Schultasche hielt sie fest umklammert vor die Brust gedrückt. Presste sie wie einen Schild vor sich in der Hoffnung, sie könnte alles Böse von ihr abwenden.
Die Klasse schien voll besetzt zu sein, zumindest war das ihr erster Eindruck. Etwa dreißig Jungs und Mädchen. Und dann geschah das, wovor sie sich die ganze Nacht hindurch am meisten gefürchtet hatte … alle Augen, die Augen der gesamten Klasse richteten sich auf sie, starrten sie an. Sie fühlte sich als ob sie nackt wäre. Sie fühlte jeden einzelnen Blick auf sich ruhen, als wären es Nadelstiche. Sie fühlte wie ihr Herz zu rasen begann. Und als ob es nicht noch schlimmer werden könnte … lief sie plötzlich rot an und stand mit hochrotem Kopf da. Schlimmer hätte es nicht noch kommen können. Das war peinlich, so was von peinlich. Was tat ihr Körper ihr da gerade an. Sie schämte sich, schämte sich zu Tode. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre auf der Stelle davon gelaufen … oder ein Mauseloch hätte auch genügt in das sie sich hätte verstecken können. Warum nur hatten ihre Eltern nie für sie Zeit. Immer nur jagten sie ihrer Kariere hinterher. Ma genauso wie Pa. Am liebsten hätte sie jetzt ganz furchtbar geweint. Aber das tat man ja in einer Kariere-Familie nicht.
Doch da entdeckte sie die Klassenlehrerin. „Ah, da ist eure neue Mitschülerin. Komm herein mein Kind. Ich habe schon auf dich gewartet.“
Zögerlich trat Clara näher. Jetzt wurde ihr auch noch übel. Sie würde sich nun auch noch vorstellen müssen, wie sie hieß, woher sich kam, wie alt sie war und was ihre Hobbys waren … und sie fühlte wie sich ihr Kopf nochmals um eine Nuance weiter verfärbte. Sie wusste nicht wie sie das überstehen sollte. Am liebsten wäre sie jetzt ohnmächtig geworden. Verdammt wo waren ihre Eltern, warum ließen sie sie auch nur immer alleine. Jetzt hätte sie sie so dringend gebraucht. Ma, Pa, aber nein, sie kümmerten sich nur um ihre eigene Kariere. In diesem Moment hasste sie sie von Grund auf. Am liebsten wäre es ihr, wenn sie sie niemals wiedersehen würde. Sie hatten sie alleine gelassen, ganz alleine in dieser bösen Welt.
Doch es kam alles ganz anders als sie dachte. „Kinder hört mir zu, ich möchte euch eure neue Klassenkameradin vorstellen. Das ist Clara. Clara kommt aus Hamburg und ihre Eltern versuchen sich hier in unserer Stadt eine neue Existenz aufzubauen. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, dass es für Clara nicht leicht ist ihre gewohnte Umgebung, ihre alte Schule und vor allen Dingen ihren gewohnten Freundeskreis aufzugeben und hier einen Neuanfang zu versuchen. Das ist weiß Gott nicht einfach. Und deshalb wünsche ich, dass ihr zu eurer neuen Mitschülerin nett seid und sie in eurem Kreis aufnimmt.“ Langsam ließ die Klassenlehrerin ihre Blicke über die Schüler gleiten bis sie auf eine Gruppe Mädchen stieß die ihre Köpfe zusammen steckten und untereinander tuschelten. „Das gilt auch für euch meine Damen da hinten. Seid fair zu ihr, dann bin ich auch fair zu euch.“ Verblüfft sah Clara zu ihr auf. Das klang fast wie eine Drohung. „So mein Kind, dort hinten neben Michl ist noch ein Platz frei, setz dich zu ihm.“
Ein verhaltenes höhnisches Gelächter ging durch die Klasse. Denn keiner wollte neben Michl sitzen. Michl war der Dümmste der Klasse, zumindest sprachen seine schlechten Noten eine eindeutige Sprache. Und Michl galt als asozial. Er trug Klamotten die vermutlich bereits zwei ältere Brüder vor ihm getragen hatten und dies passte alles nicht so richtig in das Weltbild vom Rest der Klasse. Schlichtweg gesagt, Michl war stink arm und das verurteilte ihn zum Einzelgänger. Keiner wollte ihn zum Freund haben.