Hirschgulasch - Lisa Graf-Riemann - E-Book

Hirschgulasch E-Book

Lisa Graf-Riemann

4,4

Beschreibung

Kiew: Luba, Marjana und Wiktor erben eine Schatzkarte aus dem Zweiten Weltkrieg - aber der Schatz ist nicht in der Ukraine, sondern in Berchtesgaden vergraben. Um ihre Abenteuerreise nach Oberbayern zu finanzieren, lassen sich die drei als Falschgeldkuriere anheuern. Weil sie den Erlös aus dem Blütendeal nicht ordnungsgemäß abliefern, setzt die geprellte ukrainische Mafia einen Berufskiller auf sie an. Aber nicht nur das: Nach dem tödlichen Absturz eines russischen Höhlenkletterers sind dem Trio auch die Schönauer Kommissarin Magdalena Morgenroth und ihr Kollege vom LKA München auf der Spur. Da gibt es einen zweiten Todessturz im Sinkwerk des Berchtesgadener Salzbergwerks … Rasant, überraschend und voller Lokalkolorit: eine actionreiche und spannungsgeladene Mischung aus Krimi, Gaunerkomödie und Raodmovie.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 442

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (38 Bewertungen)
24
7
7
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lisa Graf-Riemann, geboren 1958 in Passau, studierte Romanistik und Völkerkunde und ist Krimi- und Sachbuchautorin. Sie schrieb Lehrwerke für die Erwachsenenbildung und einen »Fettnäpfchenführer Spanien«. Im Emons Verlag erschienen ihre beiden Kriminalromane »Eine schöne Leich« und »Donaugrab«.

Ottmar Neuburger, geboren 1959 in Simbach am Inn, studierte Physik und Germanistik. Er war Programmierer, Systemberater und Unternehmer und ist heute Vorstand einer Softwarefirma.

Die Autoren leben im Berchtesgadener Land, in Salzburg-Nähe. Im Emons Verlag erschien ihr gemeinsames Buch »111 Orte im Berchtesgadener Land, die man gesehen haben muss«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: istockphoto.com/RyanJLane Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-087-2 Kriminalroman Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter

Alles in Dir

In Dir, o Mensch, ist alles:In Dir ist der Schlaf und das Wache:In Dir ist die ZeitUnd die Fülle der Zeit:Der qualmende Dampfer,Die rollende Bahn,Der eiserne LärmUnd das Schweigen des Domes.Der Stein und der Mörtel:Das Haus und die Stadt.…In Dir, o Mensch, ist alles:Die mordende HandUnd das Künstler-Gehirn, –Das ruchlose, stinkende WortUnd das schwellende, schwebende Lied.Ist beides in Dir:Der schäumende Anfang,Das reifende Ende,Das Ende,Das wieder nur Anfang,Ist Alles, o Alles in Dir!

Gerrit Engelke, geb. 1890 in Hannover, gefallen am 13.10.1918in Cambrai (Frankreich)

Berchtesgaden, 29. Mai 2010

Der Trichter zwischen Göll und Hohem Brett, zweihundertfünfzig Meter im Durchmesser, ist das ganze Jahr mit Schnee und Eis gefüllt. Kein Mensch weiß, wie mächtig das Eis darin ist, ob es zehn oder hundert Meter misst. Jetzt im Frühjahr hat sich eine Kluft aufgetan zwischen dem schmelzenden Eis und dem Fels, der nach Osten hin fast hundert Meter aufragt. Ein schmaler Pfad zwischen Kluft und Felswand führt vom Göll hinüber zum Nachbargipfel.

Der Mann ist mit Pickel, Seil, Stirnlampe, Haken und Karabinern nachts vom Purtschellerhaus zum Hohen Göll aufgestiegen. Der Vollmond steht weiß am wolkenlosen Himmel und taucht die Landschaft in ein kaltes Licht. Es erinnert ihn an einen Anatomiesaal und die Schatten, die die Felsen werfen, an dunkle Gestalten, die sich über einen Seziertisch beugen.

Er ist allein aufgebrochen, und niemand ist ihm unterwegs begegnet. An einer leichten Kletterpassage zur Göllflanke hinauf, die mit einem Stahlseil versichert ist, hört er ein Geräusch hinter sich. Er sieht sich um, kann nichts erkennen, nur viele schwarze Schatten. Ein Stein, den er selbst losgetreten hat.

Er kennt den Weg, steigt sicher auf. Wenn er sich umdreht und hinuntersieht, starrt ihn nur der leere Felspfad an. Da ist niemand. Außer ein paar Gämsen, die ihn von ihren Nachtplätzen aus gewittert haben. Die Stille trägt jeden Laut. Vielleicht war es nur das Echo seines eigenen Tritts. Nach weiteren zwei Stunden Aufstiegs ist er an seinem Ziel angekommen und findet schließlich im Licht seiner Stirnlampe den orangefarbenen Punkt direkt neben dem Eistrichter, den die drei am Tag davor auf den Fels gesprüht haben. Als er ihnen gefolgt war.

Er sucht einen Spalt im Fels, in den er einen Keil schlägt; daran hängt er einen Karabiner und das erste Statikseil. Er schlägt einen weiteren Keil ein, um ein zweites Seil zu befestigen. Mit zwei Steigklemmen seilt er sich in die Randkluft ab. Eisbrocken, die sich zwischen Wand und Eis verkeilt haben, versperren ihm den Weg. An seinen Seilen hängend, drischt er mit dem Pickel so lange auf die Hindernisse ein, bis sie sich lösen und nach unten fallen. Er zählt im Geist mit: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, dann schlagen die großen Eisbrocken auf dem Boden auf. Er steigt weiter hinunter. Das Licht der Stirnlampe reicht nicht aus. Er kann nicht erkennen, was unter ihm ist. Zwischen Fels und Eis schwebend, greift er nach hinten und zieht eine Magnesiumfackel aus der Seitentasche seines Rucksacks. Er schlägt sie mit dem Schlagzünder gegen die Felswand, und ein gleißender Blitz leuchtet den dunklen Raum aus.

Er sieht, dass der Fels nach hinten weicht und sich direkt unter ihm eine fast eisfreie Schachthöhle öffnet, die so tief ist, dass er ihren Boden trotz der Fackel nicht erkennen kann. Er schätzt, dass das Trichtereis eine Dicke von ungefähr dreißig Metern hat. Aber es gibt kein Hindernis, der Eingang zur Höhle ist begehbar. Er wirft die Fackel in die Höhle hinunter. Sie fällt mindestens hundertfünfzig Meter senkrecht nach unten. Dann weitet sich der Raum, und die Fackel schlägt auf den Boden. Das Licht erlischt augenblicklich, und seine Augen starren in eine Dunkelheit, von der seine schwache Stirnlampe nur einen winzigen Ausschnitt beleuchtet.

Er muss umkehren. Er hat nicht erwartet, dass es so tief nach unten geht. Er hat gehofft, dass am Ende der Randkluft, nach einigen Metern, ein Felsvorsprung, irgendein begehbarer Weg in einen Höhlengang führen würde. Die Seile, die er dabeihat, sind viel zu kurz. Er muss abbrechen und am nächsten Tag, wenn ihm das Wetter keinen Strich durch die Rechnung macht, mit längeren Seilen wiederkommen.

Er schiebt die erste Seilklemme nach oben. Wieder ist ihm, als höre er ein Geräusch, das nicht von ihm selbst stammt. Er starrt hinauf in das kleine Stück Nachthimmel über ihm. Im nächsten Moment spürt er eine Bewegung des Seils, eine leichte, unheilvolle Vibration. Er greift ins Seil, will sich hochziehen, und da beginnt er langsam zu begreifen.

Während ihm die Angst, die auf die glasklare Erkenntnis dessen folgt, was sich dort über ihm abspielt, fast den Brustkasten sprengt, verliert er auch schon den Halt. Ein loses Seilende fällt von oben herab. Er hält sich mit beiden Händen am zweiten Seil fest, spürt auch dort den Widerstand der Seilfasern gegen die unbarmherzig scharfe Klinge eines Messers.

Mit einem Schrei, der vom Eis und Schnee des Trichters gedämpft, von den Felswänden jedoch vielfach zurückgeworfen wird, stürzt er zusammen mit dem nutzlos gewordenen Seil in die Tiefe. Er schlägt um sich wie ein Tier, gibt noch nicht auf. Versucht, nach irgendetwas zu greifen, einen Felsvorsprung zu erreichen, an dem er sich festhalten könnte, windet sich, lehnt sich gegen das Gesetz der Schwerkraft auf.

Da bekommt er etwas zu fassen, eine Felsnase. Der Schwung des Sturzes droht ihn fortzureißen, aber er krallt seine Finger um das Stück Stein und wird es nicht mehr loslassen, obwohl es die Hand mit den beiden gebrochenen Fingern ist. Der Schmerz raubt ihm fast die Sinne. Er hängt mit der linken Hand, sucht mit der rechten, aber der Fels zieht sich zurück an der Stelle, und der kleine Vorsprung, den er zu fassen bekommen hat, bietet nicht genügend Fläche für seine andere Hand.

Er schwingt sich mit den Beinen Richtung Fels, vielleicht kann er einen Fuß einklemmen, aber er erreicht ihn nicht, sucht wieder mit der rechten Hand, greift hinein, und ein paar Brocken lösen sich, er spürt sie über den Handrücken streichen. Er merkt, wie die Kraft aus seinem Arm weicht. Er hängt ruhig, ohne Bewegung, untersucht den Fels im Schein der Stirnlampe. Entdeckt eine Stelle, nach der er vielleicht greifen könnte. Da merkt er, wie sich der Brocken in seiner Hand bewegt. Der Fels gibt nach, bricht, er findet keinen Halt, fällt wieder hinaus in den dunklen Schacht, den Felsbrocken in der Hand. Er fällt mit den Füßen voran. Das LED-Licht seiner Stirnlampe saust mit steigender Geschwindigkeit nach unten. Es gibt keinen Widerstand mehr.

Sein Körper durchschneidet die Luft wie ein Schwert. Ein Schrei gellt aus seiner Brust. Wie lange wird er noch fliegen, im Sturzflug wie ein Falke, der auf seine Beute herabstößt? Er ist kein Falke, er hat keine Flügel, er wird sich nicht mehr hinaufschrauben mit der Beute in den Fängen. Oder sind ihm Flügel gewachsen? Wann ist das Ende erreicht? Ist es ein Traum? Wohin? Fallen. Es dauert so lang. Er hat das Gefühl, als beginne sein Körper sich aus der Senkrechten zu drehen. Ein Schwindel, Übelkeit, ich liege, ich muss auf die Füße. Ich muss.

Milz und Leber sind die ersten Organe, die reißen, der Bauch platzt auf. Der Schädel zerbirst. Das Herz explodiert. Es dauert nur Bruchteile von Sekunden.

***

Sepp Aschenbrenner ist schon vor Sonnenaufgang vom Carl-von-Stahl-Haus über das Hohe Brett zum Göll aufgebrochen. Er liebt diese frühen Aufstiege, wenn er sich die Berge nur mit den Tieren teilen muss, die Jungtiere in den vorbeiziehenden Gamsherden zählen, eine Geiß beim Säugen ihres Kitzes beobachten kann. Später am Tag, wenn die Wanderer kommen, ziehen sich die Tiere in entlegenere Gebiete zurück, und man braucht schon ein Fernglas, wenn man sie so beobachten will, wie Aschenbrenner das am frühen Morgen mit bloßem Auge tun kann.

Als er am Eistrichter ankommt, ist es bereits taghell. Er erreicht das schmale Felsband, auf dem er an der Randkluft vorbei zum Göll hinaufsteigen will, da sieht er etwas am Boden liegen. Er geht näher heran.

Es ist ein Klemmkeil. Daran hängt ein kurzes Stück Seil. Aus sicherer Entfernung schaut er über die Randkluft hinunter in den Trichter, kann jedoch nichts erkennen. Er ruft hinunter, bekommt keine Antwort. Es kommt ihm merkwürdig vor, und er verständigt die Bergwacht.

Sepp Aschenbrenner wartet. Trotz der Anspannung spürt er, dass er Hunger hat. Während er seinen Brotzeitbeutel aus dem Rucksack holt, meint er, ein Luftzug streife ihn oder ein Schatten fliege an ihm vorbei. Er sieht sich um, entdeckt einen Kolkraben, der auf einem benachbarten Felsen landet und ihn stumm beobachtet. Aschenbrenner wirft ihm ein Stück Salami hinüber, und der Vogel fängt es im Flug. Als das Knattern des Hubschraubers näher kommt, ist er verschwunden.

Die Zone, 1. Mai 2010

Die atlantische Strömung staut sich bewegungslos über dem Hoch, das vom Schwarzen Meer herüberkommt. Der Luftdruck steigt, keine Wolke ist am Himmel zu sehen; ein leichter Wind bewegt sich von Süd-Ost nach Nord-West, wo er sich mit der atlantischen Strömung vereinigt.

Ideales Flugwetter. Dreißig Mi-6-Militärhubschrauber sind die ganze Nacht bei Scheinwerferlicht geflogen, um den havarierten Reaktorteil zu sichern. Jetzt stehen sie am Boden. Die größten Hubschrauber der Welt, so groß und stark, dass sie mit Lastwagen beladen abheben können. Kaum ist die Sonne über der Ebene aufgegangen, wechseln die Besatzungen. Sie starten. Die Rotoren beginnen sich zu drehen. Wuum, wuum, wuum, die Rotorspitzen erreichen Schallgeschwindigkeit, biegen sich unter der enormen Last nach oben. Gleich werden sich die Stahlriesen wieder in die Luft erheben.

Wiktor steigt in den Helikopter 17, der nur eine Minute nach Helikopter 15 startet. Mit einem Zehn-Tonnen-Trog am Seil bewegt sich der Hubschrauber zur Abwurfstelle. Links der Kamin, rechts der siebzig Meter hohe Kran und dazwischen die Ruine, in deren Tiefe immer noch die Glut des geschmolzenen Reaktorkerns zu erkennen ist.

Helikopter 15 wirft seine Last – Blei, Sand, Tonerde – in den Schlund, bevor er nach rechts abdreht, dicht vorbei am Kran. Der große Rotor hat den gelben Ausleger passiert, als der Heckrotor den horizontalen Gittermast des Krans berührt. Der Hubschrauber steigt steil nach oben. Stahlteile fliegen durch die Luft, dann legt er sich zur Seite und stürzt in die Tiefe. Nur noch neunundzwanzig Helikopter. Ein Unglück, kaum beachtet und erwähnt. Tschernobyl: die Schlacht gegen die Hölle, um Europa zu retten.

Wiktor war dabei, er wurde nicht gefragt. Oder doch, pro forma, aber es gab nur eine Antwort. Er erhielt eine Urkunde und hundert Rubel für seine Heldentat und einen Tritt in den Arsch, von dem er sich bis heute nicht erholt hat. Seit Jahren ausgemustert, zieht er durchs Sperrgebiet, immer auf der Suche nach etwas Wertvollem, einem Schatz, der sein Leben verändern könnte. Er, der Liquidator, von den Folgen seiner Strahlenkrankheit geplagt. Hier einen Schatz zu entdecken, das wäre gerecht, findet Wiktor.

Sein alter Armeelastwagen stottert, dann bleibt er liegen. Mitten in der Zone. Einen Tagesmarsch vom nächsten Posten entfernt. Einen Tagesmarsch vom Schrottplatz bei Prypjat. Auf dem Schrottplatz gibt es höchstens die kleinen Schätze. Tausende verseuchter Lastwagen, Dutzende verseuchter Hubschrauber, Ersatzteilspender. Schnell ausgebaut, schnell verladen, hundert Hryvnia, schnell vorbei am Posten, schnell mit Wasser und einem Hochdruckreiniger dekontaminiert, schnell verkauft. So schlägt er sich durch.

Jetzt hat er eine Panne, steckt in der Zone fest und hofft auf einen Geisterfahrer, der wie er irgendetwas sucht, das außerhalb der Zone nicht zu finden ist.

Am Horizont erkennt Wiktor eine Veränderung. Ein Punkt bewegt sich über den gewellten Asphalt. Wird zum kleinen Strich in der Landschaft. Der Punkt kommt näher. Es ist ein Motorrad.

***

Luba ist diesen Sommer das dritte Jahr mit ihrer Ninja in der Zone unterwegs. Sie kommt immer wieder, mit dem Geigerzähler im Gepäck, mit vollem Tank und mit einem Reparaturset für eine Reifenpanne. Denn hier gibt es niemanden, der ihr helfen kann.

Sie liebt diese Strecke wegen der langen unbefahrenen Straßen. Kein Fahrzeug kommt ihr hier entgegen. Auf einer ihrer Fahrten ist ihr eine alte Frau auf einem Pferdegespann begegnet, einer der übrig gebliebenen oder wieder in die Zone zurückgekehrten Menschen. Es waren einmal dreitausend, die hier lebten, jetzt sind es nur noch vierhundert oder weniger. Ab und zu kreuzt ein Wolf oder Fuchs die Fahrbahn, ein Wildschwein oder Rotwild. Das Wild lebt und ernährt sich vom verstrahlten Boden und seinen Erträgen, so wie die Menschen. Der Boden hat die Strahlung aufgenommen, nicht jedoch der Asphalt. Man kann sich auf der Straße bewegen, am besten ohne ein vorausfahrendes Fahrzeug, das Staub aufwirbeln kann. Aber hier ist sonst niemand unterwegs.

Dabei gibt es Fahrzeuge in der Zone. Ganze Parkplätze voller roter Armeelaster, wie Spielzeugautos, achtlos zusammengeschoben von einem Jungen, der nicht aufräumen wollte vor dem Schlafengehen. Auch die weißen Hubschrauber sehen aus wie vergessenes Spielzeug, und doch ist alles echt. Und irgendwann vor vierundzwanzig Jahren sind sie noch geflogen und haben die Sandbehälter zum Löschen des Großen Brandes transportiert. Der Unfall war eine ökologische und wirtschaftliche Katastrophe für die gesamte Region. Er hätte es für ganz Europa werden können. Es hat nicht viel gefehlt.

Luba erkennt einen Armeelaster am Straßenrand und eine schwarze Gestalt auf dem Asphalt. Ein Mensch, er bewegt sich. Beim Näherkommen sieht sie, dass er mit den Armen fuchtelt. Was macht er da?

Es gibt so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz. Wie im Wilden Westen. Dass man keinen Menschen in der Wüste im Stich lässt. Nicht in Badwater, wo einen die Sonne und der über der Salzpfanne getrocknete Wind innerhalb von zwei Stunden austrocknen können, und nicht in den Wüsten Colorados oder in einer der Geisterstädte, in denen es nur vergiftetes Wasser und nichts zu essen gibt.

Dieser Kodex gilt auch in der Zone, und wie im Wilden Westen halten sich die Guten daran und die Bösen pfeifen darauf, wenn es sie um einen Vorteil bringt, und die ganz Üblen täuschen Hilfsbedürftigkeit vor, um sich einen Vorteil zu ergaunern.

Ihre Ninja wäre ein enormer Vorteil. Luba kämpft mit der Versuchung, Vollgas zu geben und darauf zu vertrauen, dass der Idiot, der ein paar hundert Meter vor ihr mitten auf der Straße steht und mit den Armen wedelt, zur Seite springt. Sie gibt kurz Gas. Er macht keine Anstalten, sich wegzubewegen. In letzter Sekunde bremst sie, stemmt sich mit aller Kraft gegen den Lenker und bringt die Maschine zum Stehen. Luba nimmt den Helm ab.

»Was gibt’s? Warum versperrst du mir den Weg?«

»Ich hab eine Panne, und du brauchst mich nicht so blöd anzumachen, Mädchen. Mir wäre auch lieber, ich wäre nicht auf deine Hilfe angewiesen. Ich möchte nur von hier bis zum Posten, dann komme ich selbst weiter.«

»Scheiße! Weißt du, warum ich hier bin? Sicher nicht, um für irgendeinen Dummkopf, der mit einem Schrottlaster in der Zone herumkurvt, Taxi zu spielen. Bist du schon mal Motorrad gefahren? Ich meine, so richtig, mit dreihundert Sachen?«

»Wenn du glaubst, du könntest mir Angst machen, vergiss es. Fahr einfach so, wie du denkst, lass mich beim Posten absteigen, und ich werde Danke sagen, dir Benzingeld geben, und du kannst dein kindisches Motorradrennen weiterspielen.«

»Steig auf. Wir fahren nicht zum nächsten Posten, ich hab vorher noch was zu erledigen.«

Die Frau fährt in der Mitte der Straße. Als Wiktor versucht, über ihre Schulter auf den Tacho zu schielen, reißt ihm der Wind fast den Kopf weg, sodass er sich schnell wieder hinter ihren Rücken zurückzieht. Wahrscheinlich hat sie die angekündigten dreihundert erreicht. Aber ihm macht sie damit keine Angst.

Wiktor nimmt nichts wahr, nur den Lärm des hochtourigen Motors und den Krach des Windes, der an seinen Haaren zerrt. Dann geht die Motorradfahrerin vom Gas, und Wiktor sieht um sich herum die kleinen Waldhäuser, aus denen Bäume und Sträucher wachsen.

Was will diese Frau hier? Hier ist nichts mehr, nur noch kaputtes, wertloses Zeug. Die Dorfleute haben doch noch nie etwas gehabt. Zu Zeiten der Sowjetunion nicht, und dann war mit einem Schlag sowieso alles aus. Am 25. April 1986 haben sie die helle Strahlenwolke am Himmel gesehen. Wahrscheinlich sind sie noch auf die Dächer ihrer Katen gestiegen, um sie besser sehen zu können. Was haben sie gedacht? Dass eine Mondrakete startet? Dass das Chemiekombinat in die Luft fliegt? Dass ein Krieg ausgebrochen ist? Egal, was sie sich auch vorgestellt haben – dass sie in wenigen Tagen ihre Häuser würden verlassen müssen und nichts mitnehmen dürften, weil alles verstrahlt war, das haben sie bestimmt nicht gedacht in diesen Stunden. Die Stadt. Die schöne neue Stadt, in der alle Wohnungen fließendes Wasser und Heizungen hatten, in der es Spielplätze gab für die Kinder und ein Schwimmbad, aus ihr mussten alle Menschen weg. Sogar einen Park mit Riesenrad hatten sie in Prypjat.

Was hat diese Verrückte in ihrer schwarzen Lederkluft jetzt hier zu erledigen? Als sie den Motor abstellt, schlägt ihnen die Stille entgegen, dieses Fehlen von Geräuschen, das Wiktor kennt, aber nicht ertragen kann. Ein Schatten bewegt sich drüben am offenen Scheunentor. Ein Fuchs vielleicht oder eine Katze. Wiktor beginnt, ein Lied zu pfeifen, eines von denen, die seine Mutter ihm als Kind vorsang.

»Halt den Mund«, herrscht die Frau ihn an.

»Wen stört es, wenn ich hier pfeife?«

»Mich«, sagt sie und öffnet eine der Seitenboxen ihrer Kawasaki, kramt darin herum, ohne etwas herauszunehmen. Sie will offenbar nicht, dass er ihr dabei zusieht. Er tut ihr den Gefallen und geht auf das Gestrüpp am anderen Straßenrand zu.

»Wo willst du hin?«, fragt sie barsch.

»Pissen, wenn’s recht ist.«

Er wendet sich ab, aber nur so weit, dass er sie weiterhin aus den Augenwinkeln beobachten kann. Sie nimmt ein Plastiksäckchen aus der Box und schließt sie wieder ab. Dann schaltet sie ihren Geigerzähler an, der knattert, aber nicht übermäßig laut. Sie geht auf das Häuschen mit den kaputten Fensterläden und dem bemoosten Dach zu. Bewegt sich da etwas am Fenster?

Wiktor zündet sich eine Zigarette an. Als die Frau den Eingang erreicht, öffnet sich die Tür. Es stimmt also, was man sagt. Es leben immer noch Menschen hier in der Zone. Von der Welt verlassen, von den Behörden aufgegeben. Ein altes Mütterchen streckt den Kopf heraus. Sie ist ganz grau, ein schwarzes Kopftuch mit verblassten roten Blumen fasst ein faltiges bäuerliches Gesicht mit breiter Nase ein. Ihren wattierten Mantel mit den aufgenähten Flicken trägt sie wie einen Schutzanzug. Sie dreht den Kopf zu ihm. Er hebt die Hand, aber sie reagiert nicht. Die Strahlenwerte auf dem Display ihres Messgeräts prüfend, folgt die Motorradfahrerin der Alten ins Haus.

Schwarzes Feld oder weißes. Die Zone ist wie ein Schachbrett. Es gibt Felder, die so stark verstrahlt sind, dass Menschen dort nicht lange überleben können. Auf den weißen Feldern hält man’s länger aus. Nicht jeder. Sie leben von dem, was der Boden gibt, was sie in den Wäldern finden, die hier in ein paar Jahren alles überwuchert haben werden. Die Bäume wachsen durch Fußböden und sprengen irgendwann die Dächer, wenn sie nicht von selbst einstürzen. Auch im Asphalt tun sich Trichter auf, aus denen kleine Bäume wachsen. Für Autos sind manche Strecken schon unpassierbar geworden. Die Verrückte auf ihrem Motorrad kann noch ausweichen und Hindernisse umfahren. Irgendwann wird sie absteigen müssen. Wenn sie dann überhaupt noch fährt.

Was hat sie der Alten mitgebracht? Essen kann es nicht sein, und wenn, dann nur eine mickrige Portion. Das Säckchen war klein, sah aus wie eine Tüte aus der Apotheke. Bestimmt ist die Alte krank oder ihr Mann, der vielleicht auch noch hier lebt.

Wiktor geht zu der Scheune, in der er den Schatten gesehen hat. Er horcht. Ist da ein leises Schaben, oder bildet er sich das nur ein? Ein Bewegen von Stroh oder Heu. Als er einen Schritt ins Halbdunkel macht, springt ihn etwas an und streift ihn an der Hand. Das Tier ist so schnell im Gebüsch verschwunden, dass er nicht erkennen kann, was es gewesen ist: Katze, Marder, Frettchen oder eine riesige Ratte. Er saugt an dem blutenden Kratzer an seiner Hand und spuckt das Blut aus. Dann geht er zum Haus und schaut durchs Fenster, das noch intakt ist.

Das Mütterchen und die Motorradfahrerin sitzen am Tisch, auf dem einige Tablettenpäckchen liegen, daneben ein brauner DIN-A5-Umschlag. Die Alte schiebt ihn mit ihren Pergamenthänden zu der Motorradfahrerin hinüber. Bevor die den Umschlag öffnet, sieht sie zum Fenster und gibt ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich verziehen soll. Na, die ukrainische Gastfreundschaft hat jedenfalls auch Schaden genommen mit der Katastrophe.

Wiktor geht ein paar Schritte und legt sich dann neben das Motorrad auf die Straße. Die Strahlung ist durch den Asphalt in die Erde gedrungen. Es ist besser, auf dem Asphalt zu liegen als auf dem Waldboden. Der Himmel ist unbarmherzig leer.

»Los, wir fahren«, sagt die Motorradfahrerin und kickt ihn mit ihrem Stiefel in die Seite. Wiktor rappelt sich auf und sieht die Alte in ihrem kleinen Vorgarten stehen, eine Hand auf die einzige verbliebene Zaunlatte gestützt. Die Motorradfahrerin bemüht sich, lässig zu wirken, aber Wiktor sieht, dass sie die Augen zusammenkneift.

»Sie wird sterben«, sagt er.

Sie antwortet: »Alle werden wir sterben, irgendwann.«

»Ja, aber sie stirbt bald.«

Sie setzt den Helm auf, dann dreht sie sich zum Haus und winkt der Alten, die regungslos dort steht und sie beobachtet. Schließlich startet das Motorrad, die junge Frau fährt los, und Wiktor spürt, wie sie schluchzt.

Sie fahren einige Kilometer durch den Wald. Efeuranken kriechen wie Zündschnüre über den Asphalt. Sie fährt nun langsamer. Ihre Lust auf Geschwindigkeit scheint ein wenig abgekühlt.

Als sie aus dem Wald kommen, zeigt der Geigerzähler kaum Radioaktivität an, und die Frau bleibt stehen. Sie nimmt den Helm ab, und Wiktor sieht, dass ihre Augen rot sind vom Weinen. Und trotzdem lacht sie.

»Die Alte, ich trau ihr alles zu. Vielleicht lebt sie noch ein Jahr, die ist verdammt zäh, du hast ja keine Ahnung.«

Wiktor nickt. »Ja, vielleicht.«

»Ich fahre nach Kiew. Wenn du willst, kannst du mitfahren. Ob ich dich nun beim Posten abgebe oder dich noch bis Kiew am Hals habe, ist jetzt auch schon egal.«

»Gut, ich fahre mit nach Kiew. Dort lade ich dich ins Café Puschkin ein. Einverstanden?«

Sie setzt ihren Helm wieder auf.

»Ich heiße Wiktor.« Er weiß nicht, ob sie ihn gehört hat. »Wie heißt du?«, fragt er.

»Was?«

»Wie du heißt, will ich wissen!«, schreit er.

»Luba.«

Sie startet und beschleunigt. Auf einer schnurgeraden Straße rasen sie durch den Nachmittag. Wiktor wird Kopfschmerzen haben am Abend. Der Fahrtwind reißt an seinem bloßen Kopf. Der Motorlärm erinnert ihn an seinen Einsatz am Kraftwerk. Die Arbeiter auf dem Dach, die sogenannten »Liquidatoren«, wurden nach wenigen Minuten schon ausgetauscht. Sie merkten nicht einmal, dass ihnen schlecht war, wenn sie vom Dach gingen, und konnten doch nicht mehr aufhören zu kotzen.

Er möchte wissen, was sie mit der Alten zu reden hatte, was in dem Umschlag war, den sie ihr zugesteckt hat. Das war es wohl, was er nicht mitbekommen sollte. Nicht die Medikamente. Sie waren doch alle krank. Wenn es nicht die Schilddrüse war, dann war es Leukämie. Früher oder später waren sie alle dran, die dabei gewesen waren, die sich in der Dreißig-Kilometer-Zone aufgehalten hatten oder immer noch aufhielten, wie das Mütterchen.

Sie hat nicht gesagt, dass sie nicht mit ihm ins Café Puschkin geht, und nichts davon, dass sie ihn loswerden will. Das ist doch schon mal ein Anfang.

Der Posten kommt nicht einmal aus dem Häuschen, die Schranke ist geöffnet, und Luba fährt durch, hebt die linke Hand zum Gruß, wie damals, bei der Parade am 1. Mai 1986, als die Bevölkerung immer noch keine Ahnung davon hatte, was wirklich passiert war.

Luba, denkt Wiktor. Sie kennen sie hier alle. Er wundert sich, dass sie sich erst heute begegnet sind.

Kiew, 1. Mai 2010

Die Zarenzeit, den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution, die zum ersten Mal für die leibeigenen Bauern Freiheit und Bildung brachte, den Stalin-Terror, in dem sie zu Millionen geopfert wurden, den Großen Vaterländischen Krieg, Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Tschernenko, Gorbatschow, ja sogar das Ende der Sowjetunion und die orangene Revolution hat das Café Puschkin unversehrt und fast unverändert überstanden. Die Kristalllüster, die holzvertäfelten Wände mit den Laub-Intarsien, alles ist intakt, genau wie vor hundert Jahren. Eine Attraktion Kiews, ebenso wie der fünf Meter lange Hausen, der manchmal im Dnjepr schwimmen soll.

Wiktor hat noch nie einen von diesen großen Fischen gesehen, aber das Café Puschkin, das kennt er gut, aus Nächten, in denen er gegen seinen Freund Miro Schach spielte. Miro, Miro, alles machten sie zusammen: die Offiziersausbildung, die ersten Frauengeschichten, die Pilotenausbildung und die Liquidation, und immer spielten sie Schach, wenn Zeit dafür war, am liebsten im Café Puschkin. Miro ist tot. An der Strahlenkrankheit gestorben, aber offiziell ist er einfach gestorben, wie immer schon Menschen gestorben sind.

Luba parkt ihre Maschine direkt vor dem Café. Drinnen zieht sie ihren Motorradanzug aus, und Wiktor sieht, wie attraktiv diese junge Frau ist. Doch er will nicht sentimental werden, nur ihr Geheimnis ergründen.

»Spielst du Schach?«, fragt er, als sie sich an eines der Tischchen setzen.

»Ja, aber nicht jetzt. Außerdem hättest du keine Chance gegen mich.«

Lubas Erinnerungen an das Café sind drei Jahre alt, genauer gesagt werden ihre ganz persönlichen Erinnerungen an das Café Puschkin diesen Herbst drei Jahre alt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!