Die zweite Geige - Lisa Graf-Riemann - E-Book

Die zweite Geige E-Book

Lisa Graf-Riemann

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Schiefe Töne in Bad Reichenhall: Fall zwei für Hobbyermittler Alexander »Sascha« Maiensäss Eigentlich hat er dem Dasein als Hochstapler abgeschworen. Nach seiner Zeit als Kurschatten und falscher Physiotherapeut wollte sich Alexander »Sascha« Maiensäss von Ärger fernhalten und endlich sein Medizinstudium zu Ende bringen. Doch als eine Geigerin spurlos verschwindet und obendrein eine nackte Leiche in einem Luxushotel auftaucht, nimmt der Lebenskünstler und Hobbyermittler erneut die Fährte auf. Krimiautorin Lisa Graf-Riemann lässt auch in Band zwei ihrer Krimireihe den sympathisch-chaotischen Lebemann in so manche Falle tappen. Prompt gerät Sascha in den Bann einer Frau, die nicht nur sehr attraktiv, sondern auch eine echte Heldin in ihrem Beruf ist. Aber schon bald stellt sich heraus: Sie ist eine noch gerissenere Betrügerin als Sascha selbst. Behält er den richtigen Riecher? - Band 2 der Krimi-Buchreihe rund um Privatermittler Alexander »Sascha« Maiensäss - Schauplatz Bad Reichenhall: Neid und Missgunst schwelen hinter der illustren Kulisse des Kurorts - Ein Hochstapler und Gentleman-Verbrecher wird seriös: Lustiger Krimi mit charmantem Ermittler Humorvoll und unterhaltsam: Regionalkrimi mit einer exakt abgewogenen Portion Lokalkolorit Ständig von Geldsorgen geplagt und doch nie um eine kreative Lösung verlegen, stürzt sich Sascha gleich in zwei Fälle: die Vermisstensuche im Umfeld der Bad Reichenhaller Philharmonie und die Mordermittlung in einem luxuriösen Wellnesshotel. Gibt es gar einen Zusammenhang? Lisa Graf-Riemann war als Redakteurin und Polizeidolmetscherin tätig und lässt ihre Erfahrung in ihre Kriminalgeschichten mit einfließen. Die Autorin lebt in Berchtesgaden in der Nähe von Salzburg, was ihre Schauplätze und Figuren noch lebendiger werden lässt. Leichtfüßig und spritzig spinnt sie aus diesen Zutaten einen Bayernkrimi, der zu einem besonderen Lesevergnügen für alle Krimi-Fans wird!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 314

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lisa Graf-Riemann

DIE ZWEITE GEIGE

Ein Bad-Reichenhall-Krimi

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder von der Autorin ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2022

Copyright © 2022 by Lisa Graf-Riemann

Copyright Deutsche Erstausgabe © 2022 by Red Bull Media House GmbH

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Courier, Bauer Bodoni

Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagmotiv: Konzertrotunde am Königlichen Kurgarten,

Eigentümer: Zentrum Staatsbäder Bayern,

Bildgeber: Bayerisches Staatsbad Bad Reichenhall Kur-GmbH

Bad Reichenhall/Bayerisch Gmain; © Lino Mirgeler/dpa/picturedesk.com

Karte Innenklappe: Nina Andritzky

ISBN: 978-3-7104-0301-9

eISBN: 978-3-7104-5058-7

Inhalt

Prolog

Samstag, 23. Mai 2020

Dienstag, 26. Mai 2020

Dienstag, 9. Juni 2020

Montag, 15. Juni 2020

Mai 2006

Sonntag, 21. Juni 2020

Montag, 22. Juni 2020

Dienstag, 23. Juni 2020

Mittwoch, 24. Juni 2020

Donnerstag, 25. Juni 2020

Freitag, 26. Juni 2020

Samstag, 27. Juni 2020

Oktober 2006

Dienstag, 30. Juni 2020

Mittwoch, 1. Juli 2020

Samstag, 4. Juli 2020

Montag, 6. Juli 2020

Dienstag, 7. Juli 2020

Donnerstag, 9. Juli 2020

Freitag, 10. Juli 2020

Montag, 13. Juli 2020

Dienstag, 14. Juli 2020

Mittwoch, 15. Juli 2020

Freitag, 10. Juli 2020

Mittwoch, 15. Juli 2020

Prolog

Elf Uhr vorbei. Und Zimmer neunzehn war immer noch belegt. Na gut, dann würde sie eben zuerst das Zimmer gegenüber machen. Bis sie damit fertig war, wäre der Gast in der neunzehn dann hoffentlich abgereist. Furchtbar, dass die Leute sich nicht an die Zeiten hielten. Immer waren welche dabei, die entweder zu früh anreisten oder ihre Zimmer zu spät verließen. Wie sollte man denn da vernünftig arbeiten? Tanja hatte den Eindruck, dass es immer schlimmer wurde. Wenn sie dann klopfte und ein nettes, fröhliches »Housekeeping« rief, waren die Gäste oft extrem beleidigt. Wie kleinlich und pedantisch, und das in einem Vier-Sterne-Hotel superior! Dabei ging es auf ihre, Tanjas, Rechnung, wenn sie in der vorgeschriebenen Zeit nicht fertig wurde. Frau Stadelgruber würde ihr was husten, wenn sie sich mit der verspäteten Abreise eines Gastes herausredete. Die Gäste interessierte das natürlich nicht. Gast ist Gast, er bezahlt und schafft an. Und Personal ist Personal. Petra von der Rezeption, in ihrem schicken dunkelblauen Hosenanzug, brachten einige Gäste, nicht alle, etwas mehr Respekt entgegen. Aber ein namenloses Zimmermädchen in Joggpants und Schürze über dem weißen Shirt, das konnte man einfach übersehen, als wäre es Luft. Ein Nobody, der im Akkord den Dreck wegmacht, und das auch noch gnadenlos unterbezahlt. Aber der Job war besser als gar kein Job, und Tanja war froh, wenigstens halbwegs auf eigenen Beinen zu stehen.

Zimmer zwanzig also. Auf den ersten Blick ganz okay. Klospülung vom Gast nach dem Benutzen selbst betätigt, vielen Dank auch. Leider keine Selbstverständlichkeit. Manche Menschen meinten, sie müssten ein kleines Souvenir hinterlassen, als Zeichen, dass sie hier gewesen waren. Als Überlieferung an die Nachwelt quasi. Und wenn schon nicht an die Nachwelt, dann zumindest ans Zimmermädchen. Seifenreste in Schlieren innen an der Duschabtrennung, wie bekam man das eigentlich hin? Egal, Tanja war schon dabei, sie verschwinden zu lassen.

Heute Abend würde sie ihn treffen, ihre neue Bekanntschaft aus dem Internet. Seit zwei Wochen schrieben sie sich jetzt. Tony nannte er sich. Wie er wohl sein würde? Lieb, nett, geduldig, wenigstens am ersten Abend. Oder so ein Poser, der am liebsten redete wie ein Wasserfall, von sich, von seiner Arbeit, seinen krassen Hobbys und seinen Reisen in die ganze Welt. Tanja hatte schon einige tolle Geschichten gehört, aber irgendwann reichte es ihr dann auch. Wenn sich die Kerle nicht für das Mädel interessierten, das ihnen aufwendig geschminkt und frisiert, in der geilsten Jeans und mit hochhackigen Pumps gegenübersaß, dann war doch eigentlich schon alles gelaufen. Bei manchen, die auch mal zuhörten, reichte das Interesse genau so lange, bis sie das Mädel im Bett hatten. Bei anderen nicht einmal bis dahin. Was die sich bloß dachten. Geld hatte sie keines und auch keine Matura, aber sie war jung, hübsch, hatte eine super Figur, außer in den Joggpants bei der Arbeit, und sie wünschte sich einfach nur, wie ein Mensch behandelt zu werden. Wenigstens für einen besonderen Abend. Dafür machte sie sich schick, lächelte, hörte zu, war nett. Aber wenn er nett war, der Tony, wenn er ihr gefiel und sie Lust hatte, ihm näherzukommen, wie brachte sie ihm dann bei, dass sie nicht zu ihr gehen konnten, weil bei ihr daheim die Mutti auf die kleine Selma Sophie aufpasste? Und wenn es bei ihm auch nicht ging? Vielleicht wohnte er nicht einmal in der Stadt. Ach was, darüber konnte sie sich immer noch Gedanken machen, wenn es so weit war. Nicht jetzt. Tanja sah auf die Uhr. Elf Uhr fünfzehn. Nun hatte sie schon eine Viertelstunde im Bad gebraucht. Also musste es mit Saugen und Bettbeziehen jetzt schnell gehen. Lederhose oder rosa Plisseerock, sexy oder romantisch? Man müsste halt wissen, was dem Tony besser gefiel. Jeans und T-Shirt auf keinen Fall, und schon gar keine Joggpants.

Elf Uhr fünfunddreißig. Zimmer zwanzig war fertig. Jetzt blieb nur noch die Nummer neunzehn. Der Gast hatte immer noch nicht ausgecheckt. Oder er hatte einfach bei der Abreise vergessen seine Karte abzugeben. Tanja klingelte an der Rezeption durch, aber Petra wusste auch nicht mehr. Bei ihr hatte der Gast sich nicht abgemeldet. Seine Karte fehlte.

»Klopf an und sag ihm, dass deine Schicht gleich um ist«, schlug Petra vor.

»Ruf du ihn bitte an«, bat Tanja. Sie hörte das Telefon vom Gang aus leise klingeln, aber der Gast hob nicht ab. Vielleicht hatte er doch schon ausgecheckt. Sie klopfte, rief ihr einstudiert fröhliches »Housekeeping«.

Keine Antwort.

Na gut, dann würde sie eben öffnen und ihren Putzwagen in die Tür klemmen. Es war Vorschrift, die Tür offen zu halten, wenn man eventuell mit dem Gast allein im Zimmer war. Ein nackter Mann im Bett, mit Morgenlatte, und dann das Zimmermädchen dazu. Freiwild.

»Housekeeping!« Tanja rief noch einmal vom Vorraum ins Zimmer hinein. Ein rascher Blick ins Badezimmer. Da lag ein Rasierapparat auf der Ablage. Einfach vergessen? Tanja zögerte. Sie machte zwei Schritte vorwärts. Die rechte Hand fest um den Pistolengriff ihres Reinigungssprays mit effektiven Mikroorganismen gekrallt, warf sie einen Blick ins Schlafzimmer. Der Gast war tatsächlich noch da. Es war ein Mann. Er lag nackt auf dem Kingsize-Bett, seine Arme waren mit Handschellen an den Rahmen gekettet. Nur das Gesicht konnte sie nicht sehen, denn darauf lag ein Sofakissen.

Bevor sie etwas denken, sich fürchten oder gar gruseln konnte, hatte sie schon die Gummihandschuhe angezogen und vorsichtig einen Zipfel des Kissens angehoben. Erschrocken ließ sie ihn wieder los. Sie suchte den Puls des Gastes an der Halsschlagader. Aber da war nichts. Das hatte sie schon befürchtet, denn der Herr war ziemlich kalt. Mit einem tiefen Seufzer atmete sie aus. Ihre erste Leiche in vier Berufsjahren. Dabei fanden Zimmermädchen in Filmen dauernd irgendwelche Leichen und kreischten dann wie verrückt, bis das ganze Haus zusammenlief. Tanja nicht. Vor einer gefesselten Leiche musste sie ja keine Angst mehr haben, selbst wenn sie nackt war. Dann nahm sie das Telefon zur Hand und sagte Petra Bescheid, dass ihre Schicht für heute nun wirklich beendet war.

Samstag, 23. Mai 2020

Auf dem Weg zum Badezimmer hörte Sascha seltsame Geräusche aus der Küche. Er blieb stehen, gähnte, strich sich mit der Hand die Haare aus der Stirn, legte den Kopf schief und lauschte. Es klang wie »ela hop, ela hop, ela hop«. Samstagvormittag, neun Uhr vorbei. Er musste zur Toilette, nur deshalb war er aufgewacht. Als er vom Bad zurückkam, war das alberne »ela hop« verstummt. Stattdessen summte jemand fröhlich vor sich hin, und dieser Jemand war niemand Geringeres als seine Großtante Paulina. Sascha kannte den Song nicht, aber es war ihm, als habe er ihn früher als Kind schon einmal gehört. Eine schöne Melodie. Nicht schwer, aber auch nicht so simpel wie irgendein Gassenhauer. Sicher ein Schlager älteren Semesters, genau wie Paulina. Als hätte jemand eine Triangel mit einem Metallstab angeschlagen, brachte die Melodie irgendetwas in ihm zum Schwingen. Jetzt war er eindeutig wach. Sascha huschte in sein Zimmer zurück und schlüpfte in seine Jeans und ein frisches erdbeerfarbenes Poloshirt.

Als hätte Sascha sie bei irgendetwas ertappt, hörte Paulina schlagartig auf zu summen, als er in die Küche trat.

»Guten Morgen«, sagte sie beiläufig, ohne den Blick von der Kaffeetasse zu heben.

»Was summst du denn da?«, fragte er.

»Ach«, sie winkte ab und biss in ihre Semmel mit Sauerkirschmarmelade.

»Was war denn das? Das kenn ich doch.«

»Ein alter Schmäh, ungefähr so alt wie ich. Das kannst du gar nicht kennen.«

»Und wie heißt der Schmäh? Jetzt sag schon.« Sascha angelte sich eine Scheibe Brot, riss einen Kanten davon ab und stippte ihn in die schwarze Olivenpaste, die er am Vortag vom Markt geholt hatte. Auch der Almkäse stammte vom Markt, ebenso die eingelegten Tomaten. Ein Luxus, den er sich ab und zu gönnte, wenn er Geld hatte. Und zurzeit hatte er welches. »Also was war das?«

»Früher hat man Evergreen dazu gesagt, ich weiß nicht, wie man das heute nennt.«

»Hit heißt das heute«, antwortete Sascha, »und jetzt sag endlich, wie er heißt.«

»O mein Papa«, antwortete Paulina.

»Und was ist so besonders an diesem Papa, dass jemand über ihn singt?«

»Es ist seine Tochter, die sich an ihn erinnert, weil er schon gestorben ist. Ihr Papa war ein großer Künstler. Aber nicht so einer wie deiner, Alexander. Keiner, der Bilder malt, auf denen man außer Farbklecksen nichts erkennen kann. Der Papa in dem Lied war ein Zirkusclown, der hoch oben auf einem Seil getanzt hat und außerdem ein wunderschöner Mann war.« Sie goss heißes Wasser in den Porzellanfilter. Eine Kaffeemaschine gab es in der Villa Palmira nicht. Kaffee aufgießen ist doch keine Arbeit, für die man eine Maschine braucht, sagte Paulina immer.

»Seit wann bist du so romantisch, dass du alte Lieder über Zirkusartisten singst?«, wunderte Sascha sich. »Noch dazu wo dein Papa Apotheker war, kein Clown. Ist irgendwas mit dir?«

Paulina zuckte die Achseln.

»Sag bloß, du bist verliebt?«

Entrüstetes Kopfschütteln.

»Was ist dann mit dir los? Hast du Frischzellen bekommen?«

»Keine Frischzellen, nur ein paar von diesen Kügelchen.« Paulina schenkte Sascha ein. Ihre eigene Kaffeetasse füllte sie mit heißem Wasser auf, das war magenfreundlicher.

»Was für Kügelchen?«, fragte Sascha. Die Tapenade schmeckte würzig, salzig, zugleich leicht und wässrig, eben so richtig nach Mittelmeer.

»So kleine, homöopathische, du weißt schon.«

»Du und Kügelchen? Davon hast du doch nie etwas gehalten. Ein Tausendstel Tropfen im Bodensee, hast du immer gesagt. Von wem lässt du dir denn jetzt diese Globuli aufschwatzen?«

»Von der Frau Bach. Die kennt sich damit aus.«

»Bach? Ist sie Ärztin?«

»Heilpraktikerin ist sie, und es gehen jetzt ganz viele zu ihr. Man muss froh sein, wenn man einen Termin bei ihr bekommt. Aber die Mathilde ist schon länger bei ihr und hat mich mitgenommen.«

»Und das bei deinem Geiz. Das musst du doch bestimmt selbst bezahlen.«

»Ich bin nicht geizig, Alexander, ich bin nur sparsam. Und du wirst noch einmal froh drum sein, wie sparsam ich bin.«

»Wenn du jetzt dein ganzes Geld zu dieser Person trägst, dann nicht mehr.« Sascha wunderte sich wirklich. Mit Esoterik hatte Paulina im Normalfall gar nichts am Hut. Das war ihr ungefähr so fremd wie Hip-Hop.

»Die eigene Gesundheit sollte einem schon etwas wert sein«, behauptete sie. »Vor allem, wenn man die achtzig einmal erreicht hat und es überall zwickt. Da kann man auch einmal unkonventionelle Methoden ausprobieren. Frau Bach hat mit ihrem Pendel …«

»Was?« Sascha konnte es nicht glauben.

»Sie hat gleich herausgefunden, dass …«

»Dass du vierundachtzig bist und unter Gelenkarthrose leidest?« Sascha legte sein Brot zur Seite. »Das kann man auch ohne Pendeln ganz leicht feststellen.«

»Jetzt sei nicht unverschämt, Sascha. Bloß weil du jetzt wieder in Salzburg studieren willst, mit dem Geld deiner Freundin.«

Typisch Paulina. Gleich von sich ablenken und voll auf Angriff gehen.

»Wer ist jetzt unverschämt?«, fragte Sascha zurück.

»Ja, wo soll es denn herkommen, das Studiengeld für die Privatuni in Salzburg? Von der Bank vielleicht?«

»Die Uni kümmert sich eben um ihre Studenten«, behauptete Sascha.

»Und wer bitte sollte dir einen Kredit geben? Du hast doch nicht etwa die Villa beliehen?«, giftete Paulina, die eben noch eine Schnulze über einen wunderbaren Clown gesungen hatte.

»Kann ich ja gar nicht, weil du sie mir noch nicht überschrieben hast. Außerdem erbt sowieso zuerst meine Mutter.« Dieses Stichwort musste Paulina todsicher von ihm ablenken.

»Wo treibt die sich eigentlich wieder herum?«, stieg sie prompt auf Saschas beiläufig gelegte Spur ein. »Ich komm ja schon gar nicht mehr mit, in welchem Land sie gerade ist.«

»Soviel ich weiß, sitzt sie wegen Corona in Peru fest und kommt nicht raus. Es gibt keine Flieger mehr, die das Land verlassen.«

»Wahrscheinlich will sie nicht einmal raus«, mutmaßte Paulina. »Früher sind die Leute ja auch mit dem Schiff gefahren. Die Seeluft ist sowieso gesünder.«

Schade um die feinen Spezereien vom Wochenmarkt, dachte Sascha. Ein Gespräch über seine Mutter Sabine endete auch nie erfreulich.

»Trefft ihr euch heute vom Seniorenclub wieder beim Spieldiener?«, fragte er, um das leidige Geldthema zu wechseln.

»In alter Frische«, sagte Paulina. »Natürlich nur draußen im Freien.«

»Vergiss deine Maske nicht, falls du doch rein musst, aufs Klo.«

»Ich bin schon groß, Alexander«, sagte Paulina. Sie stand auf und tätschelte Sascha die Wange.

»Ich auch«, gab er zurück.

»Vielleicht wirst du’s endlich, wenn du es bis zum veritablen Herrn Doktor geschafft hast, kein Möchtegern-Physiotherapeut oder Angestellter in der Spielbank mehr.« Sie wackelte zur Küche hinaus. Dann murmelte sie noch etwas laut genug vor sich hin, damit Sascha es perfekt verstehen konnte. »Wird ja auch langsam Zeit.«

Bevor Sascha sich noch eine Antwort überlegen konnte, klingelte sein Handy.

»Ey, Sascha, hast du die Sache mit Tobi schon mitgekriegt?« Sein Freund Ulli.

»Welcher Tobi? Der Eder Tobi? Nein, was ist denn mit ihm? Hat er wieder irgendwo einen Preis gewonnen?«

»Die Arschkarte hat er gezogen«, sagte Ulli Böllmann. »Im Krankenhaus liegt er, und zwar auf Intensiv.«

»Tobi? Was ist denn passiert, ein Unfall? Ich hab ihn doch am Wochenende noch gesehen. Im Amadeo, am Nebentisch ist er gesessen.«

»Akuter medizinischer Notfall, sagen sie. Er ist plötzlich beim Training zusammengebrochen.«

»Das gibt’s doch nicht«, wunderte sich Sascha. Tobi war Skibergsteiger, ein Ass, super austrainiert, jung, stark. Was war denn da passiert? Aber Ulli wusste auch noch nicht mehr.

»Sag mal, was ganz anderes, willst du eigentlich weiterhin bei mir jobben?«, fragte Ulli. »Du brauchst doch jetzt bestimmt Geld für dein Studium oder hast du andere Quellen?« Sascha konnte sich schon denken, dass er dieselbe Quelle wie Tante Paulina meinte, nämlich seine Berliner Freundin Mira, die alle für stinkreich hielten. Mira war seine Kurschatten-Affäre, die er letztes Jahr bei Ulli Böllmann in der Physiopraxis kennengelernt hatte, als er noch als Aufleger von Fangopackungen und Undercover-Therapeut unterwegs gewesen war. Eine Tätigkeit, die nun als angehender Mediziner schon irgendwie unter seiner Würde war – und außerdem immer noch nicht ganz legal.

»Wenn dir deine Bademeistertätigkeit mit dem Fango zu popelig ist, dann mach doch eine Ausbildung«, schien Ulli seine Gedanken zu lesen.

»Spinnst du? Wann soll ich denn neben meinem Studium noch eine Ausbildung machen? Medizin ist doch kein Orchideenfach wie Ägyptologie oder so, wo man alle zwei Wochen eine Vorlesung besucht.«

»Das ist mir bekannt. Und jetzt mandle dich mal nicht so auf, Sascha. Das kann ja was werden, wenn du fertig bist. Dann kommst du gar nicht mehr durch die Tür, so hast du dich bis dahin aufgeplustert.«

»Okay, also, von welcher Ausbildung faselst du da? Ich hab gar nicht so viel Zeit, weißt du.«

»Du könntest eine Ausbildung zum Cranio-Therapeuten machen. Das geht an ein paar Wochenenden«, schlug Ulli vor.

»Spinnst du, das kostet doch wieder nur Geld.«

»Ist nicht so teuer. Und die Anatomiekenntnisse musst du dir gar nicht mehr draufpacken, die hast du ja schon.« Sascha überlegte. »Ach komm, jetzt stell dich nicht so an. Du weißt doch, was ein Piriformis oder ein Supraspinatus ist, Tibia-Köpfchen, Patellasehne – das kennst du alles.«

»Das schon, aber dann arbeite ich ja nur bei dir, um mir die Ausbildung leisten zu können. Und das ist doch dann eine echte Nullrunde für mich.«

»Musst halt ein bisschen mehr arbeiten. Als Cranio-Therapeut kann ich dir mehr bezahlen als fürs Fango-Anwärmen. Ich kann dir auch die Ausbildungskosten vorschießen, und du stotterst sie ab. Deine Kundinnen waren ja immer sehr zufrieden mit dir als Therapeuten.«

»Weißt du was, langsam verliere ich den Überblick über meine Schulden. Wie viele, bei wem und für was: Studium, Ausbildung, Hausrenovierung.«

»Ach komm, Sascha, jetzt reiß dich mal zusammen. Du bist doch noch jung. Jetzt hast du dir eine längere Auszeit vom Studium gegönnt und ein bisschen herumgesandelt. Da musst du jetzt halt kräftiger zupacken für eine gewisse Zeit. Danach, als Mediziner, kommt das Geld dann eh von allein.«

»Das glaubst du?«, fragte Sascha mit leichtem Zweifel in der Stimme. An die Möglichkeit, dass er sein Studium auch ein zweites Mal nicht durchstehen könnte, dachte anscheinend niemand außer ihm selbst. Kräfte bündeln, sich nicht verzetteln, das sollte doch jetzt die Devise sein. Er hatte immer noch das Geld von den Zockern damals aus der Spielbank. Davon wusste aber außer ihm und Mira niemand, nicht einmal Tante Paulina. Und wenn es nach ihm ginge, würde sie es auch nie erfahren, denn sonst käme sie vielleicht doch noch auf die Idee, von ihm Miete zu verlangen oder ihn von der gesetzlichen Erbfolge ausdrücklich auszuschließen, falls das ging. Wegen kriminellen, ehrlosen Verhaltens oder so etwas. Mira hatte tatsächlich angeboten, ihm einen Kredit zu geben, zinslos. Dafür stand ihm sein Ehrgefühl auch keinesfalls im Weg. Trotzdem: Schulden waren Schulden. Von daher war es vielleicht gar nicht so blöd, sie auf verschiedene Schultern zu verteilen.

»Was ist jetzt, Sascha?« Ulli wurde ungeduldig. »Bei mir wartet schon der nächste Patient in der Kabine.«

»Ich überleg’s mir«, sagte Sascha.

Dienstag, 26. Mai 2020

Während oben auf den Bergen noch letzte Schneereste lagen, waren am Eingang zum Kurgarten die Felsenbirnen schon verblüht. Genau wie damals, als Elina zum ersten Mal nach Bad Reichenhall gekommen war. Fast ein Jahr war das jetzt her. Wie oft war sie jetzt diesen Weg schon gegangen? Kurstraße, Konzertrotunde, Kurpark, im Sommer der Musikpavillon. Genau dort, auf der Bank gegenüber dem Pavillon, hatte sie gesessen. Sie erinnerte sich so genau, als wäre es gestern gewesen. Sie war sehr zeitig angereist und dann viel zu früh mit dem Einspielen fertig gewesen. Essen und Trinken konnte sie vor Aufregung nichts, also setzte sie sich in den Park, um sich mental auf ihr Vorspiel vorzubereiten. Sie konnte ihre Stücke aus dem Effeff, und sie war eingespielt. Es hatte keinen Sinn, jetzt noch mehr zu üben. Die Frage war nur, ob ihre Nerven halten oder doch dieses heimtückische Lampenfieber die Oberhand gewinnen würde, das sie so fürchtete. Je näher der Termin für das Probespiel rückte, desto größer wurde ihre Angst. Es war wie ein Schlag, der einen von hinten in die Kniekehlen traf. Man konnte nicht anders, als zu straucheln. Ihr war flau im Magen. Wenn die Nervosität kam, fingen ihre Hände an zu zittern, und sie fürchtete, dass sie den Bogen nicht mehr richtig führen konnte.

Die Blumenrabatten im Kurgarten waren wie Farbtupfer auf einem Gemälde. Wenn man nahe davorstand, waren es lauter Individuen, und wenn man sie aus größerer Entfernung betrachtete, fügten sie sich zu einer Komposition. Wie die Noten in einem Musikstück oder die Musiker in einem Orchester.

Elina holte die Packung mit den Betablockern aus der Jackentasche und überlegte, ob jetzt schon der richtige Zeitpunkt war, eine Tablette zu nehmen, oder ob sie noch warten sollte. Da stand plötzlich diese ältere Dame mit den grauen Locken, den vielen Fältchen und dem rosa Lippenstift vor ihr. Das fast weiße Hündchen, das sie an der Leine führte, hatte Ohren wie eine Fledermaus und große runde Knopfaugen. Es ruckelte und zog ungeduldig an seiner Leine, stinksauer, dass sein Frauchen ausgerechnet jetzt stehen bleiben musste.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte die Dame und griff nach Elinas kalten Händen, um ihren Puls zu fühlen, während der Hund an der Leine zerrte. Die Geste überraschte sie so, dass sie erst gar nicht reagierte.

»Wieso wollen Sie denn diese Tabletten nehmen? Sind Sie krank?«, fragte die Dame mit dem Hündchen. »Liebeskummer?«

Elina schüttelte den Kopf. »Lampenfieber.« Sie griff nach dem Gurt, mit dem sie ihren Geigenkoffer auf den Rücken geschnallt hatte. Der Hund scharrte ungeduldig im Kies.

»Nehmen Sie doch dieses Zeug nicht«, sagte die Dame mit ihrer hohen, affektiert klingenden Stimme. »Sie brauchen so ein chemisches Doping nicht. Ich habe etwas viel Besseres für Sie. Kommen Sie mit.«

»Sind Sie Ärztin?«, fragte Elina.

»Homöopathin«, antwortete sie. »Vertrauen Sie mir. Ich habe viel Erfahrung, gerade mit Musikern.« Elina sah auf die Uhr und stand auf. Es war noch genügend Zeit und wenn diese Frau Erfahrung hatte …

Elina erinnerte sich so genau an diesen Tag, an diese Stunde, weil er der Beginn von etwas Neuem für sie gewesen war, etwas Entscheidendem. Sie setzte sich noch einmal auf die Bank, auf der sie damals mit kalten Händen und flauem Magen gesessen hatte, und schloss kurz die Augen, um sich noch besser zu erinnern.

Das Konzert D-Dur Köchelverzeichnis 218 von Wolfgang Amadeus Mozart hing ihr auch damals schon zum Hals heraus, so oft hatte sie es bereits vorspielen müssen. Jeder spielte es. Nicht wegen Mozart oder weil es etwas Besonderes gewesen wäre. Im Gegenteil, es war so etwas wie ein Pflichtstück. Sozusagen die Eintrittskarte für alles Weitere. Bei jedem Probespiel wurde Mozart verlangt. Das KV 218 in D-Dur oder das KV 219 in A-Dur. Elina hatte sich früh auf das 218 festgelegt. Sie spielte es seit vielen Jahren, und doch war Mozart nichts zum Einschlafen. Immer hieß es aufpassen, sogar bei dem Stück, das sie aus dem Effeff beherrschte. Das KV 218 war für die erste Runde vorgesehen. Danach, in der zweiten Runde – falls sie sie denn erreichte – folgte ein romantisches Stück als Kür. Brahms, Sibelius oder Tschaikowsky. Beethoven war zwar auch möglich, aber bei den meisten Kandidaten absolut unbeliebt. Damit konnte man es eigentlich nur falsch machen. Also entschied sie sich für Brahms, das Violinkonzert in D-Dur, Opus 77. Elina wollte es so spielen wie Hilary Hahn, die ihr großes Vorbild und nicht viel älter als sie selbst war. Elina war begabt, aber kein Wunderkind wie Hilary, und für eine Karriere als Solistin hatte es nicht gereicht. Es gab zu viele Wunderkinder in ihrer Generation. Wenn Anatol ihr nicht zugeredet hätte, wäre sie wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen, sich in Reichenhall bei den Philharmonikern zu bewerben. Mit den wenigen Jahren Orchestererfahrung und ihrer extremen Angst vorm Probespiel. Es ging ja nicht nur um Technik, sondern genauso um Klang, Rhythmus und Intonation, die Dynamikunterschiede bei Mozart, Präzision und Bogentechnik.

Anatol sagte: »Denk nur nicht zu viel über all diese Dinge nach. Du kannst das alles und machst es sowieso richtig. Deine Hände machen es genauso, wie es sein soll. Überleg gar nicht, was du da tust, spiel einfach.«

Als ob das so einfach gewesen wäre! Es genügte eben nicht, nur daheim beim Üben gut zu sein. Sie musste ihre Nerven unbedingt im Griff haben. Denn eine zweite Chance würde es nicht geben. Vielleicht war sowieso alles vergeblich. Denn selbst wenn sie die erste Runde überstand, hätte sie in der zweiten Runde vielleicht noch drei oder vier Konkurrenten, in der dritten Runde noch einen oder zwei. Selbst wenn sie sich am Ende durchgesetzt hätte, war noch nicht einmal sicher, dass sie tatsächlich mit dem Siegerkranz belohnt würde. »Bedaure«, hätte es dann immer noch heißen können, wenn sich das Orchester nicht auf einen Kandidaten einigen konnte. »Der richtige Kandidat für uns war leider noch nicht dabei.« Die Stelle würde dann neu ausgeschrieben, und sie würde frustriert nach Hause fahren. Ein zweites Mal brauchte sie sich dann nicht mehr auf diese Orchester-Stelle zu bewerben.

»Elvira Bach – Heilpraktikerin, Klassische Homöopathie« stand auf dem Schild am Eingang des schmucklosen, unauffälligen Hauses am Beginn der Fußgängerzone.

»Das sind Sie?«, fragte Elina.

»Das bin ich. Bach wie Bachblüten. Oder wie Johann Sebastian.« Die alte Dame lachte verschmitzt und zerrte ihren Hund über die Schwelle. Der Chihuahua leistete heftigen Widerstand. Elina hatte ihm seine Gassirunde versaut. Er würde niemals mehr ihr Freund werden.

»Wie heißt denn Ihr Hund?«, fragte Elina.

»Herbert«, antwortete Frau Bach. »Wie mein erster Mann. Ich wechsle immer in der richtigen Reihenfolge durch, dann kann ich mir die Namen besser merken.« Elina fragte sich, ob sie damit ihre Hunde oder Männer meinte.

Es fühlte sich an wie immer. Wenn Sascha die modernen, lichtdurchfluteten Hallen und Gänge der Paracelsus-Uni betrat, kam er sich genauso frisch und jung vor wie seine Kommilitoninnen und Kommilitonen. Sie liefen mit durchgedrücktem Rücken durch die Gänge, als wären sie bereits auf Visite im Krankenhaus, mit weißem Kittel und Stethoskop um den Hals. So ging das schon seit dem allerersten Tag ihres Studiums. Dieser Stolz und das strahlende Selbstbewusstsein der Novizen und Novizinnen färbte immer sofort auf Sascha ab. Er fühlte sich so, wie er dachte, dass sie sich fühlten: von sich und dem eigenen Weg überzeugt, siegessicher. So, als hätte man es mit dem Eintritt in diese Uni praktisch schon geschafft.

Es dauerte immer ein bisschen, bis er merkte, dass sie ihn doch nicht wie einen von ihnen ansahen, aber auch nicht wie einen Dozenten oder Professor. Er war irgendetwas dazwischen. Und da er weder Krokodile noch alberne Pferde mit Polospielern auf seinen Shirts trug, war klar, dass er doch eher nur ein Spätberufener war. Ein Mitstudent, gut zehn Jahre älter als die meisten dieser nach Weichspüler duftenden Frischlinge mit Babyspeck an den Hüften.

Es war sein Schicksal, sich jung zu fühlen und doch immer einer der Älteren zu sein. Er hatte sich zu viel Zeit gelassen, war zu viele Umwege gegangen, hatte zu viele Ehrenrunden gedreht, wie Tante Paulina es ausdrückte. Erst war es jahrelang der Sport gewesen, der ihn von einer »richtigen« Arbeit abgehalten hatte. Schießen und Langlaufen, Biathlon-Training rund um die Uhr. Nach dem Sportende dann das Medizinstudium. Mit seinem Abiturdurchschnitt von 2,2 hatte er sich ein Studium an einer staatlichen Uni abschminken können. Warten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, noch mehr Ehrenrunden beim Roten Kreuz, eine zwei- oder dreijährige Ausbildung im Medizinbereich, die ihm bestenfalls eine Ziffer hinter dem Komma gebracht hätte. Aber auch mit 2,1 oder 2,0 hätte er in Deutschland keine Chance bekommen. Also hatte Sascha sich an der Paracelsus-Uni in Salzburg beworben. In seiner Zeit als aktiver Leistungssportler war es ihm gelungen, etwas Geld zur Seite zu legen. Für den Anfang hatte es gereicht. Dann war ihm schnell die Kohle ausgegangen. Bei seiner Mutter hatte er es erst gar nicht versucht. Sie hatte selbst kaum genug. Sein Vater meinte, Sascha sei alt genug, sich selbst durchzubringen, womit er ausnahmsweise einmal recht hatte. Und Tante Paulinas Rente reichte zum Leben und für die nicht unbeträchtlichen Nebenkosten in der Villa Palmira, nicht jedoch für ein Studium des Großneffen an einer privaten Uni.

Allen Unkenrufen zum Trotz schaffte Sascha den Aufnahmetest und wurde nach dem Bewerbungsgespräch angenommen. Seine Sportkarriere wurde hier nicht als Umweg gewertet, sondern als Beweis seiner Leistungsbereitschaft. Er hatte gezeigt, dass er über viele Jahre ein Ziel verfolgt und hart dafür gearbeitet hatte, um schließlich für einige Zeit zu den Besten seiner Disziplin zu gehören. Es galt als ausgemacht, dass er einmal Facharzt für Sportmedizin werden würde, um Spitzensportler zu behandeln. Da fiel ihm Tobi Eder ein, der im Krankenhaus lag. Er musste sich bald erkundigen, wie es ihm ging und was mit ihm los war.

Wäre bei seinem ersten Anlauf an der Privatuni alles gut gegangen, dann wäre er jetzt schon fertig mit dem Studium, vielleicht noch kein Facharzt, aber immerhin Arzt. Sascha lehnte sich über die Galerie im ersten Stock und sah auf das Foyer hinunter, durch das kichernd und schwatzend das Jungvolk in die Vorlesungssäle strömte. Im vierten Studienjahr hatte das Geld, das er in der Spielbank als Croupier verdiente, nicht mehr ausgereicht. Er hatte sogar ein paar Erbstücke seines Großvaters verkauft, wie die Loks der Märklin Eisenbahn und das Cello, das außer ihm nie wieder jemand gespielt hatte. Stress und Schlafmangel hatten nur vorübergehend für Höchstleistungen gesorgt. Auf die Dauer hatten sie Sascha ausgeknockt. Und dann war irgendwann Ende Gelände gewesen.

Er riss sich von seinen Erinnerungen los und klopfte an die Tür von Raum null zwölf.

»Herr Maiensäss, wie schön, dass Sie uns einmal wieder beehren.« Kanzlerin Kisskalt musterte ihn durch ihre Gleitsichtbrille hindurch. Sie trug einen dunkel gefärbten Bob und ein schwarz-weißes Etuikleid mit rotem Cardigan. Eine dynamische, zupackende Frau und ein Wunder an Diplomatie – eine Fähigkeit, die sie nach Jahren im Fundraising-Geschäft aus dem Effeff beherrschte. »Was führt Sie zu uns?«

»Ich möchte mein Studium fortsetzen«, sagte Sascha und nahm auf dem Besucherstuhl Platz.

»Wie das?«, fragte die Kisskalt. »Haben Sie im Lotto gewonnen?«

Sascha schüttelte den Kopf. »Leider nein.«

»Banküberfall?« Sie sah wieder auf ihren Bildschirm, wo in der letzten Minute wahrscheinlich dreiundfünfzig wichtige E-Mails eingegangen waren.

»Dafür bin ich zu ungeschickt«, antwortete Sascha.

»Sie haben aber nicht vor, ein Stipendium aufgrund Ihres außergewöhnlichen Fleißes und Ihrer legendär guten Prüfungsnoten zu beantragen, oder?«

Sascha schüttelte den Kopf. Sie meinte es bestimmt nicht so hart, wie es klang. Die PMU war mit ihren vierzig bis fünfzig Erstsemestlern pro Jahr im Grunde wie eine kleine Dorfgemeinschaft. Man kannte sich, man erinnerte sich sogar an die Aussteiger. Vielleicht besonders an die, weil es nicht so viele waren. Und im Fall von Sascha war es fast ein Skandal gewesen, weil er einen Teil seiner Studiengebühren schuldig geblieben war. Sogar die Ratenzahlungen, die man ihm angeboten hatte, waren ins Stocken geraten.

»Ich kann meine Schulden jetzt auf einen Schlag zurückzahlen und die Gebühren für das vierte Jahr vorstrecken.«

»Also doch nicht zu unbegabt für einen Überfall?« Die Kanzlerin löste endlich ihren Blick vom Bildschirm, setzte ihre Brille ab und lehnte sich zurück. In ihrer linken Augenbraue funkelte ein silbernes Haar. »Oder haben Sie geerbt? Haben Sie nicht mit Ihrer Großmutter zusammengelebt?«

Dass sie sich sogar daran noch erinnerte! »Mit meiner Großtante lebe ich immer noch in einem Haus«, antwortete Sascha. Mit dem Erben lag sie noch falscher als mit dem Banküberfall. Doch woher Sascha sein Geld hatte, konnte er ihr unmöglich verraten. »Eine Schenkung zu Lebzeiten«, sagte er. Das kam der Wahrheit am nächsten.

»Sie sind ja ein richtiger Glückspilz, Herr Maiensäss. Ich gratuliere.« Sie streckte den Rücken und begann mit leichtem Schulterkreisen. Klassische Nackenschmerzen der Schreibtischtäter, Sascha konnte es an ihrem Gesicht ablesen. Sollte er es wagen? Er stand auf und ging um den Schreibtisch herum, bis er hinter ihr stand.

»Darf ich?«, fragte er und hatte seine Finger schon an ihren Nacken gelegt. Der wohltuende, sanfte Druck und die Aussicht auf Linderung ihrer Schmerzen ließen die Frau Kanzlerin ein paar Sekunden zu lang zögern. Also begann Sascha mit den Fingern die verknubbelten Triggerpunkte im Nacken zu ertasten und sie nach leichtem Aufstöhnen der Patientin in sanften, aber stetigen Kreisbewegungen zu massieren. Dorothee Kisskalt ließ locker und entspannte sich zunehmend. Sie seufzte einmal tief auf, schloss die Augen und gab sich Saschas Händen hin. Natürlich ließ er die Tür nicht aus den Augen. Zu blöd, wenn jetzt jemand hereingekommen wäre. Dabei war alles ganz harmlos. Er spürte, wie der größte Knubbel auf der linken Seite zu schmelzen begann wie Butter in der Sonne.

»Mhmm«, machte die Frau Kanzlerin, und »jaaaa«. Er war sich sicher, dass sie sich am liebsten ihrer Kleider entledigt und ihm den ganzen Rücken zur Behandlung angeboten hätte, aber es schickte sich nicht für eine Kanzlerin, sich frei zu machen für einen verkrachten Studenten. Weshalb Sascha den nächsten Seufzer dahingehend interpretierte, dass er seine Bemühungen langsam einstellen sollte, bevor der nächste Termin zur Tür hereinkam.

»So, so, Herr Maiensäss …«, schnurrte sie, als er wieder diskret ihr gegenüber Platz nahm. »Dann haben wir also immer noch keinen vollständigen Überblick über Ihre diversen Kenntnisse und besonderen Fähigkeiten. Aber wir werden Ihnen schon noch auf die Schliche kommen.«

War das nun eine Zusage?

»Ein gewisser Diego Maradona hatte den Beinamen ›Hand Gottes‹«, sagte die Kisskalt und schielte schon wieder auf ihren Bildschirm. »Wollen Sie ihn übertrumpfen?« Sascha verstand nicht gleich, was sie meinte. Wie könnte er die Hand Gottes übertrumpfen?

»Sie tun Ihre Wunder nicht nur mit einer, sondern mit beiden Händen«, fuhr sie fort, und als sie ihre Schultern leicht zu kreisen begann, war das unschöne Knirschen weg, das ihre Bewegungen zuvor begleitet hatte. »Sie zahlen also Ihre Schulden innerhalb von sieben Werktagen in einer Summe zurück, und dann besprechen wir Ihr Ansuchen in der nächsten Bewerberkonferenz. Einverstanden, Herr Maiensäss, Alexander?« Sie warf ihm einen sehr vertraulichen, fast verschwörerischen Blick zu, der ihn zuversichtlich, ja kurzfristig sogar euphorisch stimmte.

»Sascha«, sagte er.

»Sascha?«

»Ich werde Sascha genannt.«

»Meinetwegen. Also, Sascha, Sie hören von uns. Und wir freuen uns auf Ihre Überweisung. Reichen Ihnen sieben Werktage?«

»Ja, ich denke, das müsste reichen.«

»Nicht, dass Sie Ihr Wort nicht halten können und sich damit Ihren Einstieg vermasseln. Auf Ihnen ruhen Argusaugen«, sagte sie. »Falls Sie wieder Student bei uns werden.«

Sascha wagte ein leichtes Lächeln. »Dürfte ich mich denn für den Fall, dass ich noch einmal eine Chance an der PMU bekomme, schon einmal nach einem Platz für die Famulatur umsehen?«

»Da spricht nichts dagegen, würde ich sagen. Eben unter dem Vorbehalt, dass die Kolleginnen und Kollegen Ihnen eine zweite Chance geben. Wollen Sie ins Landeskrankenhaus?«

»Ich dachte an die Kreisklinik in Bad Reichenhall.«

»Ein Heimspiel also«, kommentierte sie und fing an zu tippen. Sascha betrachtete die Audienz für beendet und erhob sich.

»Vielen Dank«, sagte er. »Auf Wiedersehen, hoffentlich.«

»Auf Wiedersehen«, antwortete sie zerstreut. »Und denken Sie an die Überweisung.«

Er nickte. In der Tür drehte er sich noch einmal zur Kanzlerin um. »Nie die Schultern hochziehen beim Tippen. Immer dagegen arbeiten.« Sie sah ihm über den Rand ihrer Gleitsichtbrille nach. Dann schloss er die Tür hinter sich und ballte die Beckerfaust. Ja! Es hätte wirklich schlechter laufen können.

Frau Bach schien eine starke Vorliebe für die Farbe Weiß zu haben. Alle Möbel in ihrer Praxis waren weiß, sogar die Lederstühle und die Tulpen in der Vase auf ihrem weißen Schreibtisch. Nur an der Wand hing eine riesige Lampe aus Messing in Form einer Sonne, mit gezackten Strahlen. Herbert, der Chihuahua, war immer noch sauer auf Elina, weil sie ihm seine Gassirunde vermasselt hatte. Er zog es vor, den Behandlungsraum erst gar nicht zu betreten, sondern rannte im Gang einem Regenbogen-Plüscheinhorn hinterher, das er sich selbst mit seinem viel zu kurzen Schnäuzchen in die Luft warf.

Elina war mittlerweile schlecht vor Aufregung. Sie fragte sich, was sie hier überhaupt machte. Sie griff nach den Betablockern in ihrer Jackentasche. Zur Not konnte sie sie auch ohne Wasser schlucken. Allmählich wurde es Zeit, damit sie beim Beginn des Vorspiels wirkten. Sie sah zum Gang, wo Herbert wie ein petit train vorbeischnaubte. Am liebsten wäre sie jetzt aufgestanden und gegangen. Warum war sie überhaupt mitgegangen, statt sich zu sammeln und auf ihr Spiel zu konzentrieren? Elina griff nach ihrem Geigenkoffer.

»Moment.« Frau Bach stand jetzt direkt neben ihr und griff nach ihren Händen. »Eiskalt«, sagte sie. »Das habe ich mir schon gedacht. Ein besonders schwerer Fall von Lampenfieber.« Das wusste Elina auch selbst.

Frau Bach öffnete eine kleine Plastikkapsel, die aussah wie die Kappe eines Kugelschreibers, und ließ fünf Kügelchen in Elinas Hand gleiten. »Unter die Zunge legen und zergehen lassen.«

Elina gehorchte mechanisch. Sie wollte hier raus und sich endlich auf ihr Vorspiel einstimmen.

»Ich glaube, Sie sind eine ganz hervorragende Geigerin«, schmeichelte ihr die Heilpraktikerin. »Sie müssen gar keine Angst haben. Spielen Sie einfach.«

Ha, dachte Elina, genau die Art von Ermunterung, die sie jetzt brauchte. Jetzt müsste sie nur noch sagen, »Du schaffst das schon!«, dann wäre die Szene perfekt. Das kannte Elina zur Genüge von zu Hause. Ein simples »Du schaffst das«, ohne auch nur einen Gedanken darüber zu verlieren, wie derjenige das bewerkstelligen sollte. Das bisschen Geigenspielen. »Und wenn du es nicht schaffst, dann machst du eben etwas anderes«, hörte sie ihre Eltern unisono sagen. Aber das war Blödsinn. Sie machte seit gefühlt zwanzig Jahren nichts anderes, als Geige zu spielen, und konnte sich auch nichts anderes vorstellen. Sie hatte die Hochschule absolviert und einen guten Abschluss gemacht. Dass es für eine Karriere als Solistin nicht gereicht hatte, hatte sie auch ihrem wahnsinnigen Lampenfieber zu verdanken. Nach außen hin wirkte Elina ruhig und gefasst, innerlich fühlte sie sich jedoch entweder als verkanntes Genie oder als Versagerin. Es war alles immer so verdammt kompliziert. »Spielen Sie einfach!« Haha.

Elisa schleckte die fünf Kügelchen aus ihrer Hand, bugsierte sie unter die Zunge. Simsalabim, würde jetzt die Aufregung verschwinden und sie würde einfach spielen, natürlich wie eine Göttin, Anne-Sophie Mutter, Hilary Hahn, Elina Albig, der neue Stern am Himmel der göttlichen Geigerinnen.

Frau Bach rieb ihre Hände und umfasste damit Elinas Eisfinger. Ihre Wärme übertrug sich sofort, wie von einem Heizkissen.

»Die Kügelchen helfen Ihnen auch, wenn Sie nicht daran glauben«, raunte ihr die alte Dame zu. »Sie werden